MY FAIR LADY Nach Bernhard Shaws „Pygmalion“ und dem Film von Gabriel Pascal Buch von Alan Jay Lerner Musik von Frederick Loewe Deutsch von Robert Gilbert Uraufführung am 15. März 1956, Mark Hellinger Theatre, New Yorker Broadway Eine Veranstaltung der Theater Nordhausen/ Loh-Orchester Sondershausen GmbH im Auftrag der Stadt Sondershausen Thomas Kohl, Désirée Brodka 4 5 Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher, sehr geehrte Damen und Herren, zum ersten Mal präsentieren wir Ihnen auf der Bühne im Schlosshof Sondershausen mit „My Fair Lady“ ein Musical. Mit seinen unvergesslichen Melodien ist es eines der populärsten überhaupt, das auch fast 60 Jahre nach seiner Uraufführung in New York überall auf der Welt zu hören ist. Ich freue mich daher ganz besonders, dass wir Ihnen dieses Erfolgsstück nun auch in Sondershausen zeigen können. Mehrere Wochen haben die Sängerinnen und Sänger, der Chor, das Ballett und das Loh-Orchester geprobt, schon vor der Premiere ertönten die beliebten Schlager von „My Fair Lady“ über der Stadt und weckten die Neugier. Jeden Sommer bin ich aufs Neue stolz darauf, das Ensemble der Schlossfestspiele hier in der Stadt begrüßen und willkommen heißen zu können. Nicht minder stolz bin ich natürlich auch darüber, wie seit nunmehr neun Jahren die Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen Sie, werte Besucherinnen und Besucher, nach Nordthüringen in unsere Stadt locken. Die Festspiele sind ein unverzichtbarer Teil unserer Kulturlandschaft geworden. Auch für unser junges Theaterpublikum haben wir wieder etwas zu bieten: Das jüngst für die Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen geschriebene Stück „Der Raub des Prinzen Hugo“ zeigt, wie die Geschichte von Schloss Sondershausen spannenden Stoff für das Theater bietet. Ich wünsche Ihnen einen genussvollen Abend mit „My Fair Lady“ im Schlosshof Sondershausen. Möge er Ihnen in allerbester Erinnerung bleiben! Herzlich, Ihr Joachim Kreyer Bürgermeister der Stadt Sondershausen Helmut Kleinen, Désirée Brodka, Thomas Kohl, Brigitte Roth 6 7 INHALT 1. Akt Das Blumenmädchen Eliza Doolittle trifft auf den Phonetikprofessor Henry Higgins. Der derbe Dialekt der jungen Frau weckt sein Interesse. Er glaubt, Eliza durch Sprachunterricht in sechs Monaten zu einer Dame erziehen und auf dem Diplomatenball im Buckingham Palace als Herzogin ausgeben zu können. Zufällig anwesend ist auch Oberst Pickering, Spezialist für indische Dialekte, der auf der Suche ist nach seinem Kollegen Higgins. Bevor Higgins Eliza eine Handvoll Münzen in den Korb wirft, lädt er Pickering zu sich nach Hause ein. Eliza ist verzaubert von der Vorstellung, ein angenehmeres Leben führen zu können. Als ihr Vater, ein Müllkutscher, vorbeikommt, steckt sie ihm auf sein Drängen widerstrebend etwas Geld zu. Eliza erscheint bei Higgins, um bei ihm Sprachunterricht zu nehmen. Higgins und Pickering gehen eine Wette ein: Wenn Higgins es schafft, Eliza dialektfrei sprechen zu lassen, dann zahlt er, Pickering, die Unterrichtsstunden. Eine harte Lehrzeit beginnt für Eliza bei dem strengen Higgins. Doch der Durchbruch gelingt, Eliza lernt, sich dialektfrei auszudrücken. Auf dem Pferderennen in Ascot, bei dem auch Higgins’ Mutter anwesend ist, soll sich Eliza einer ersten Prüfung unterziehen. Eliza erhält strikte Anweisungen für ihr Benehmen. Doch ihr Auftritt wird zum Fiasko. Allein Freddy Eynsford-Hill ist von ihrer unkonventionellen Art angetan. Zum Abschluss ihrer Lehrzeit bei Higgins soll sich Eliza auf dem Botschaftsballs im Buckingham Palace bewähren. Ihr Auftreten wird perfekt, der ungarische Phonetiker Prof. Zoltan Karpathy hält sie sogar für eine ungarische Prinzessin. 2. Akt Nach dem Ball beglückwünschen sich Higgins und Pickering gegenseitig und feiern ihren Triumph, würdigen Eliza jedoch mit keiner Silbe. Sie fühlt sich ausgenutzt und entschließt sich, Higgins zu verlassen. Doch auf ihrem ehemaligen Blumenmarkt erkennt sie niemand mehr. Auch für ihren vormals mittellosen Vater gab es Veränderungen, auf Veranlassung von Higgins erhält er nach dem Tod des amerikanischen Millionärs Ezra D. Wallingford nun eine Jahresrente von 4000 Pfund. Higgins und Pickering suchen nach Eliza, die sich bei Higgins’ Mutter aufhält. Er fordert Eliza auf, zu ihm zurückzukehren. Doch sie weigert sich, da Higgins sie schlecht behandle, und erzählt ihm, dass sie Freddy heiraten wird. Sie verlässt Higgins. Er muss sich eingestehen, dass er Eliza vermisst. Zu Hause hört er sich die Aufnahme der ersten Unterrichtsstunde an, als Eliza in der Tür steht. Désirée Brodka und Marian Kalus (links), Opernchor, Ballettkompanie WIE DAS MUSICAL ZU SEINEM TITEL KAM von Juliane Hirschmann Zu Beginn des Musicals zitiert der Komponist Frederick Loewe ein bekanntes englisches Kinderlied, das Anregung war für den Titel seines weltberühmt gewordenen Bühnenstücks: „London Bridge is falling down, falling down, falling down, London Bridge is falling down, my fair lady“. Darin geht es um – teils realistische, teils aber auch mehr kreative und kaum wirklich umsetzbare – Überlegungen zum Aufbau der eingestürzten Brücke über die Londoner Themse. Der Reim geht vermutlich zurück bis in das Mittelalter, die frühesten Aufzeichnungen finden sich jedoch erst im 17. Jahrhundert. Über den (historischen) Ursprung und die Bedeutung des Reims lässt sich nur spekulieren. Möglicherweise nimmt er Bezug auf die Zerstörung der Themse-Brücke im Jahr 1013, als sie auf Anweisung des englischen Königs Æthelred niedergebrannt wurde, um die angreifenden Truppen des Dänen Sven Gabelbart in mehrere Gruppen zu spalten. Aber wer ist „My Fair Lady“? Darüber lässt sich nur spekulieren: Vielleicht ist es Matilda von Schottland (ca. 1080–1118), die erste Ehefrau von König Heinrich I., die zwischen 1110 und 1118 eine ganze Reihe von Brücken für die Strecke zwischen London und Colchester bauen ließ. Oder Eleonore von der Provence, die Frau Heinrichs III.: Er übertrug ihr 1269 die Zollrechte zum Erhalt der Brücke, denen sie jedoch nicht nachkam. Sprachlich eröffnet „My Fair Lady“ mehrfache Bedeutungen: „Fair lady“ meint einerseits „schöne Dame“, kann aber ebenso „meine Marktfrau“ meinen, denn „fair“ bedeutet im Englischen auch „Jahrmarkt“, „Kirmes“, „Messe“. Schließlich ist „my fair“ im Cockney-Englisch gesprochen (der Dialekt Elizas) auch „Mayfair“, ein Stadtteil Londons. 8 9 VOM PYGMALION-MYTHOS ZUM MUSICAL „MY FAIR LADY“ vermutlich 1–8 n. Chr. Der römische Dichter Publius Ovidius Naso (Ovid) schreibt die „Metamorphosen“. In der Geschichte vom Bildhauer Pygmalion erzählt er vom reizvollen Traum des Künstlers, seiner eigenen Schöpfung Leben einzuhauchen. Pygmalion schafft sich aus Elfenbein eine Frauenstatur und verliebt sich in sie. Dank der Liebesgöttin Aphrodite wird diese Frau lebendig. Aus der Verbindung geht später das Kind Paphos hervor. sprechendes Blumenmädchen zu einer Dame erziehen: Er schafft sich also nicht aus Elfenbein eine Frau nach seinen Vorstellungen, sondern einen Menschen aus Fleisch und Blut. An die Stelle von Kunst tritt die Erziehung. 1913 Am 16. Oktober wird Shaws „Pygmalion“ in Wien in der deutschen Übersetzung von Siegfried Trebitsch uraufgeführt. 1914 Am 11. April erfolgt die englische Erstaufführung im His Majesty’s Theatre 1748 In Paris wird die einaktige Pygmalionin London. Shaw erlebt fortan die UminOper von Jean-Philippe Rameau uraufgeterpretation seines als unkonventionell führt. empfundenen Schlusses, in dem Eliza 1762 Jean-Jacques Rousseau schreibt das und Higgins nicht zusammenfinden. Aber Regisseuren, Schauspielern und nicht Melodram über „Pygmalion“. Die Statue zuletzt dem Publikum ist dieses Ende zu wird ohne göttliche Hilfe zu einer lebendigen Frau, sie trägt den Namen „Galathée“. unromantisch, Pygmalion solle seine Galatea heiraten. 1856 Am 26. Juli wird in Dublin George 1918 Am 31. August wird Alan Jay Lerner Bernard Shaw geboren. in New York geboren. 1865 In Berlin erlebt Franz von Suppés Operette „Die schöne Galathée“ ihre Urauf- 1921 Shaw erfährt, dass Franz Lehár eine fühung. Nach ihrer Verwandlung entpuppt Pygmalion-Operette komponieren möchte. Shaw wendet sich vehement dagegen, sein sich Galathée als mannstoller Vamp, soSchauspiel als Grundlage für ein Musikdass Pygmalion froh ist, als Venus sie in theaterwerk zu nehmen: „Ich verbitte mir eine Statue zurückverwandelt und er sie solche Vergewaltigungen.“ Das Theaterverkaufen kann. stück sei gut genug „mit der ihm eigenen 1901 Am 10. Juni wird in Berlin Friedrich Sprachmusik“. Löwe geboren. Nach seiner Übersiedlung 1938 Unter Beteiligung von Shaw als in die USA im Jahr 1924 nennt er sich Drehbuchautor verfilmt der ungarische Frederick Loewe. Produzent Gabriel Pascal das Schauspiel. 1912 Von März bis Juni schreibt Bernard Die Tanzsaal-Szene schreibt Shaw eigens Shaw sein Theaterstück „Pygmalion“. für die Verfilmung, der ungarische Graf KarSprachforscher Higgins will aus eigener pathy ist dem Produzenten Gabriel Pascal Kraft ein ungebildetes, Cockney-Englisch nachempfunden. 1950 Bernard Shaw stirbt am 2. November Südamerika, Australien und Neuseeland folgen. Im Rahmen eines Kulturaustauim Alter von 94 Jahren auf seinem Landsches wird „My Fair Lady“ unter dem Titel sitz in Ayot St. Lawrence in England. „Moja Prekrasnaja Lady“ auch in Moskau 1952 Gabriel Pascal, der sich nach Shaws gezeigt. Der enorme Erfolg ist nicht zuletzt Tod von dessen Erben die Rechte sicherte, der Musik Frederick Loewes zu verdanken, bietet dem Autor Alan Jay Lerner den Pygin dem noch deutlich der europäische malion-Stoff für ein Musical an, nachdem Einfluss der Operette spürbar ist. Richard Rodgers und Oscar Hammerstein, 1961 In Berlin findet die deutsche Erstaufaber auch Cole Porter Pascals Vorschlag führung (Übersetzung von Robert Gilbert) verworfen hatten. im Theater des Westens mit Karin Hübner 1956 Am 15. März erlebt das Musical als Eliza, Paul Hubschmid als Higgins und „My Fair Lady“ in New York seine UraufRex Gildo als Freddy statt. In knapp zwei führung. Mit Rex Harrison als Higgins und Jahren sehen in 642 Vorstellungen knapp der 20-jährigen Julie Andrews als Eliza eine Million Zuschauer das Stück. Inszeniewird es ein überwältigender Erfolg. In den rungen in München, Hamburg, Frankfurt, folgenden sechs Jahren wird das Stück Köln und Düsseldorf folgen. am Broadway über 2700 Mal gegeben und 1964 Mit Audrey Hepburn und Rex Harritourt parallel durch die USA und Kanada. Ende April kommt es in London heraus und son in den Hauptrollen wird „My Fair Lady“ von Regisseur George Cukor verfilmt. Der erlebt in sechs Jahren über 2200 Vorstellungen. Zahlreiche andere Städte in Europa, Film erhält 8 Oscars. Désirée Brodka, Marian Kalus 10 11 DER MYTHOS PYGMALION, ERZÄHLT VON OVID Da Pygmalion sah, wie die Mädchen verbrecherisch lebten, War er empört ob der Menge der Laster des Weibergeschlechtes, Die von Natur es besitzt: So blieb er denn einsam und ledig (...). Aber er bildet indessen geschickt ein erstaunliches Kunstwerk, Weiß wie Schnee, ein elfenbeinernes Weib, wie Natur es Nie zu erzeugen vermag, und … verliebt sich ins eigne Gebilde. Sieh die Gestalt einer wirklichen Jungfrau: Man dächte, sie lebe, Wolle sich plötzlich bewegen, sofern es die Scham nicht verwehrte. Dass es nur Kunst war, verdeckt die Kunst. Pygmalion staunte (…). Häufig betasten die Hände das Werk, zu erproben. Ist’s wirklich Elfenbein oder lebt es? Er gibt nicht zu, dass es Kunst ist. Und er küsst sie und glaubt sich geküsst, er plaudert, umarmt sie (…). Jetzt ist das Fest der Venus gekommen, gefeiert im ganzen Cyprischen Land. Schon sind weißknackige Färsen als Opfer Niedergestürzt, die gebogenen Hörner mit Gold überzogen: Weihrauch duftet umher. Pygmalion, als er gespendet, Trat zum Altar und betete scheu: „Ihr Götter, vermögt ihr Alles zu geben, so sei meine Frau – er getraut sich nicht „die Elfenbeinerne Jungfrau“ zu sagen, nur „eine ihr gleiche!“ Venus, die goldne, versteht des Gebetes Bedeutung – am Feste Ist sie persönlich zugegen –: Die Flamme entzündet sich dreimal, Zeichen der göttlichen Gnade, und züngelt empor in die Lüfte. Wieder zu Hause, besucht er das Bild der Geliebten, er gibt ihr, Über das Lager geneigt, einen Kuss und spürt eine Wärme; Wiederum naht ihr sein Mund, es betasten die Hände den Busen, Da erweicht sich die starre, elfenbeinerne Schönheit, Wird bei dem Druck der Finger geschmeidig (…). Während er staunt, voll Zweifel sich freut, sich zu täuschen befürchtet, Tastet er wieder und wieder, der Liebende, nach der Geliebten. Wirklich, sie lebt! es klopfen, befühlt vom Daumen, die Pulse. Und jetzt sucht und findet der Held von Paphos die vollen Worte, der Venus zu danken: Er darf jetzt endlich auf wahre, Wirkliche Lippen die seinigen drücken. Die Jungfrau errötet, Wie sie die Küsse verspürt, und hebt zu dem Lichte die scheuen Augen: die Liebenden sieht sie zugleich mit dem Himmel. Die Göttin Feiert die Hochzeit mit, die sie fügte. Und jene, als neunmal Sich die Sichel des Mondes zum völligen Kreise gerundet, Brachte die Paphos zur Welt, nach welcher die Insel benannt ist. (aus: Ovid, Metamorphosen, 10. Buch, Vers 243–297) ZU DER MUSIK VON LOEWE von Thomas Siedhoff Frederick Loewe gelingt es, dem Standesunterschied, den Shaw durch das unterschiedliche Vokabular und die Diktion der Sprache definiert, eine musikalische Entsprechung zu geben: Doolittle bleibt dabei musikalisch seinem inferioren Tonfall in haarsträubendem Cockney (von Robert Gilbert kongenial ins Export-Berlinerische übertragen) treu, seine sensationelle Karriere deutet sich nur im Dialog an, während sich Elizas Emanzipation auch musikalisch bemerkbar macht. Zwischen ihrem träumerisch schwärmenden „Wäre das nicht wundaschön“, dem begeisterten und stimmlich anspruchsvollen „Ich hätt’ getanzt heut’ Nacht“, ihrem energiegeladenen „Tu’s doch!“ und dem mit bildungsbeflissenen Metaphern angereicherten „Ohne dich“ liegen die Dimensionen, die von der spontanen Soubrettenhaftigkeit zu einer Higgins imThomas Bayer, Désirée Brodka mer stärker angeglichenen Diktion führen. Umgekehrt geht es Higgins, der sein Idiom sicht“ verlassen muss, um hier mindestens im letzten Song „Ich bin gewöhnt an ihr Ge- andeutungsweise zu singen. Die Musik zu diesem Song sperrt sich gegen jede traditionelle Form, die Sprache behält, ganz „Professor Higgins ist konsequent als unauffällig wie so oft in diesem Stück, Negation der überlieferten Pygmaliondie Oberhand, denn schon die Exposition Gestalt konzipiert und nimmt beinahe macht den roten Faden der Handlung deutdie Attitüde eines Unmenschen an. lich: Sprache. Higgins’ Klage „Kann denn Besessen von seiner Leidenschaft, die Kinder keiner lehren wie man spricht?“ jedoch nicht zu Eliza, sondern zu seiner gibt dem Wort Vorrang – Loewe gelingt Phonetik, trimmt er eben deren aktudie Quadratur des Kreises: Musik zu einem ellen Gegenstand – das Mädchen aus Stück über Sprache zu erfinden. Die Ascotder Gosse – mit Zuckerbrot und PeitGavotte, die der steifen Aristokratie nur sche. Eliza ist für ihn Mittel zum Zweck kontrollierte Bewegungen ermöglicht, spielt und als Mensch, als ein fühlendes weniger zum höfischen Tanz als zu rhythbeseeltes Wesen gar nicht existent.“ misch fortschreitenden Tableaux vivants (Annegret Dinter) der feinen Gesellschaft auf. Im Botschafts- 12 13 walzer erfüllt der Gesellschaftstanz einerseits die Konvention des diplomatischen Parketts, andererseits aber auch die der Operette alter Schule. Freddys Romanze ist nicht als sentimentale und schwelgerische Hymne auf Eliza gedacht, sondern soll distanziert die etwas einfältige Genügsamkeit des Angebeteten zeigen. „In Shaws Pygmalion-Bearbeitung verläuft der Schöpfungsakt nicht einseitig, sondern vollzieht sich zwischen Higgins und Eliza, von der die Initiative zu ihrer Verwandlung ausgeht und an der sie ja selbst maßgeblich beteiligt ist. Bemerkenswert ist, dass Eliza im Grunde eine doppelte Verwandlung erfährt: zunächst zu einem dressierten, aufgeputzen Wesen, das auf dem Diplomatenball als Herzogin bestehen kann, und dann in einem zweiten Schritt zu einer lebendigen, warmherzigen und emanzipierten Frau, deren ursprüngliche Abhängigkeit von ihrem Lehrmeister sich sogar in Überlegenheit wandelt. Mit dem symbolischen Pantoffelwurf hat Eliza den Akt der Selbstbefreiung vollzogen.“ (Bernd Hobe) berichtete am 21. Juni für die Berliner Zeitung: „Weiter unten (auf dem Anmeldeformular, Anm. d. Red.) folgt der dezente Zusatz, dass sich der Träger der Anstecknadel, die zum Einlass auf die königliche Tribüne berechtigt, zur Einhaltung der Kleidervorschrift verpflichtet. Damit fangen die Schwierigkeiten an. Denn Hut ist nicht gleich Hut in Ascot. Für Männer in der Royal Enclosure, dem königlichen Ehrengastbereich, gilt Zylinderpflicht. Bei den weiblichen Renngästen wacht der Repräsentant Ihrer Majestät in seiner Rolle als Hohepriester für Etikette darüber, dass ‚die Basis der Kopfbedeckung einen Durchmesser mindestens von vier Zoll oder zehn Zentimetern hat‘. (…) Kopfschmuck beträchtlichen Ausmaßes ist also nicht nur erwünscht, sondern sogar ein Erfordernis für Royal Ascot, den fünftägigen gesellschaftlichen Höhepunkt im englischen Sommerkalender. Vor allem am Ladies Day, wenn die unerschrockene britische Damenwelt zeigt, welch kühne Vielfalt sie aus den Hutvorschriften entwickeln kann. (…) Wer sich dem Dress Code widersetzt und meint, dass er in Spaghettiträgern oder schulterfrei, wie auf den billigen Plätzen, die Royal Enclosure betreten kann, dem wird, wie ein Ascot-Sprecher formuliert, ‚vorgeschlagen, ein Schultertuch umzulegen‘. Vorrat sei vorhanden …“ Thomas Kohl, Uta Haase Am bedeutendsten auf der Galopprennbahn von Ascot ist die Royal Ascot-Rennwoche jährlich Mitte Juni. Höhepunkt ist der dritte Tag, an dem das Rennen um den seit 1807 vergebenen Gold Cup stattfindet. Doch der Royal Ascot ist weit mehr als ein sportliches Ereignis. Er ist vor allem ein gesellschaftliches. In diesen Tagen wird mit Luxusgütern geschlemmt, allein beim Royal Ascot 2003 wurden 150.000 Flaschen Champagner, DIE MODENSCHAU VON ASCOT 100.000 Flaschen Wein, 14.000 Flaschen 11. August 1711: Auf Initiative der engPimm’s, 6,7 Tonnen Lachs und 5 Tonnen lischen Königin Anne Stuart findet auf dem Erdbeeren verzehrt … Ascot Racecourse in Ascot, Grafschaft Und in diesen Tagen wird Ascot zum größten Berkshire, südlich von Windsor und 50 Kilo- Modelaufsteg der Welt: Seit Beginn des meter von London entfernt das erste 19. Jahrhunderts gibt es einen strengen Pferderennen statt. Das Pferderennen von Dresscode: „Hüte müssen getragen werden“. Ascot, bis heute eines der wichtigsten ErDas steht schon auf dem Anmeldeformular eignisse Englands, steht nach wie vor unter für die Galopprennwoche. Die Journalistin der Schirmherrschaft des Königshauses. Barbara Klinke war im Jahr 2013 dabei und Ensemble der Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen 14 15 DER SOZIALE AUFSTIEG – EIN MYTHOS? • In Deutschland ist laut eines OECDBildungsberichtes aus dem Jahr 2012 sozialer Aufstieg durch Bildung schwierig: Nur 20 Prozent erreichen einen höheren Bildungsabschluss als ihr Vater oder ihre Mutter. In anderen europäischen Ländern sieht es besser aus. Vor allem Großbritannien, Frankreich, aber auch Italien und Polen verzeichnen im weltweiten Vergleich hohe „Bildungs-Aufsteigerraten“. • Bildung ist aber noch nichts alles: Bei einer Untersuchung von Lebensläufen und sozialer Herkunft der Vorstandschefs der 100 größten deutschen Unternehmen zeigt sich: Jeder zweite Manager stammt aus Familien mit großem Wohlstand. Jeder Dritte stammt aus dem Bürgertum (etwa leitende Angestellte und Ärzte), aber nur rund 15 Prozent kommen aus der Mittelschicht (einfache Angestellte) oder der Arbeiterschaft. In der Politik ist sozialer Aufstieg leichter möglich. Auch in der Verwaltung oder in der Wissenschaft ist das Fortkommen unabhängiger vom familiären Hintergrund. (Handelsblatt, 30.03.2008) • „Das Märchen meines Lebens“ übertitelte Hans Christian Andersen seine Autobiografie. Der soziale Aufstieg des dänischen Märchenautors trägt tatsächlich märchenhafte Züge: Der arme Sohn eines Schuhmachers aus der dänischen Provinz zog in die Welt hinaus und wurde zum gefeierten Schriftsteller und zum Mitglied der oberen Zehntausend. • Der Traum, es vom Tellerwäscher zum Millionär zu bringen, ist in den USA besonders verbreitet. Die Amerikaner hatten Vorbilder: Die ersten Siedler in der Neuen „Die Erkenntnis, dass in der der englischen Klassengesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts ein unauflösbarer Konnex zwischen Sprache und Sozialstatus besteht, (ist) sicherlich auch eine der Hauptaussagen des Stückes (gemeint ist Shaws ‚Pygmalion‘; Anm. d. Red.) (…). Da aber ganz offenkundig schon ein bisschen Phonetik ausreicht, aus einer Rinnsteinpflanze eine Herzogin zu machen und damit das antiquierte englische Klassensystem auf den Kopf zu stellen, erhält das Stück (…) ganz nebenbei eine unverkennbar gesellschaftskritische Komponente (…).“ (Holger Pöschl) Welt wollten der europäischen Gesellschaft entfliehen und ihr Glück selbst in die Hand nehmen. • Benjamin Franklin, einer der Gründungsväter der USA, war 15. Kind eines Kerzenund Seifenmachers. Er begann als Druckerlehrling und brachte es innerhalb kurzer Zeit zum Wissenschaftler, Philosophen und Staatsmann. Mit 42 Jahren war Franklin so reich, dass er für den Rest seines Lebens ausgesorgt hatte. • Und noch etwas: Die Ernährung von Babys mit Muttermilch führt zu erhöhten Chancen auf sozialen Aufstieg und emotionales Wohlbefinden. Das zumindest ist das Ergebnis einer groß angelegten Studie von britischen Forschern, für die mehr als 17.000 Menschen aus dem Geburtsjahrgang 1958 und mehr als 16.000 aus dem Jahrgang 1970 befragt wurden. Das Stillen fördert der Studie zufolge die Entwicklung des Gehirns, die Intelligenz und die sozialen Aufstiegschancen. Gestillte Kinder zeigten weniger Stress-Symptome. Opernchor Textnachweise: Zeittafel, nach: Programmheft zu „My Fair Lady“, Volkstheater Rostock, Premiere 15. Mai 2010, S. 10/11; „Der Mythos Pygmalion“, in: P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Epos in 15 Büchern, übers. und hrsg. von Hermann Breitenbach mit einer Einleitung von L.P. Wilkinson, Stuttgart 2011, S. 324–326; Zitat Annegret Dinter, in: Bernhard Shaw, Pygmalion. Romanze in fünf Akten. Mit einem Kommentar von Andrea Neuhaus, Berlin 2012, S. 148; Zitat Bernd Hobe, in: Programmheft zu „My Fair Lady“, Volkstheater Rostock, S. 16; Thomas Siedhoff, Zur Musik von Loewe, in: Handbuch des Musicals. Die wichtigsten Titel von A bis Z, Mainz 2007, S. 386/387 (gekürzt); „Die Modeschau von Ascot“, unter Verwendung von: http://www.berliner-zeitung.de/panorama/ pferderennen-ascot-die-feine-englische-art,10808334,23485172.html; „Der soziale Aufstieg – ein Mythos“?, Zusammenstellung unter Verwendung von: http://www.derwesten.de/gesundheit/ernaehrung-mit-muttermilch-foerdert-chancen-auf-sozialen-aufstieg-id8111949.html#plx728903174; http://www.handelsblatt.com/karriere/nachrichten/sozialer-aufstieg-wo-bitte-gehts-zur-eliteseite-all/2940290-all.html; http://www.planet-wissen.de/kultur _ medien/literatur/maerchen/ portraet _ hc _ andersen.jsp; http://www.zeit.de/news/2012-09/11/bildung-nur-jeder-fuenfteschafft-mit-bildung-sozialen-aufstieg-11111012; Zitat Holger Pöschl, in: Shaw, Pygmalion. Mit einem Kommentar von Andrea Neuhaus, S. 152. Der Artikel von Juliane Hirschmann und die Zusammenfassung des Inhalts sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Die Probenbilder von Tilmann Graner entstanden eine Woche vor der Premiere auf der ersten Kostümprobe (www.foto-tilmann-graner.de). Impressum Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH, Spielzeit 2013/2014, Intendant: Lars Tietje, Käthe-Kollwitz-Str. 15, 99734 Nordhausen, Tel.: (0 36 31) 62 60-0, Redaktion und Gestaltung: Dr. Juliane Hirschmann, Layout: Landsiedel|Müller|Flagmeyer, Nordhausen, Programmheft Nr. 11 der Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen Postfach 11 20 | 99701 Sondershausen Telefon Telefax (0 36 32) 6 22-7 02 (0 36 32) 6 22-4 04 [email protected] www.schlossfestspiele-sondershausen.de