Titel - Zeitschrift Ästhetische Bildung

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JG. 9 | 2017 | Sonderedition
Xiao Youmei und seine Harmonielehre
Kang Xiao
Seit dem 20. Jahrhundert fanden westliche Harmonielehren in China Verbreitung. Sie
dienten Chinesen dazu, westliche Musik zu verstehen. Unter den Musikpädagogen gehörte
Xiao Youmei zu den Ersten, die im Laufe ihres allmählichen Bekanntwerdens im Osten
westliche Musiktheorie lehrten. Nachdem Xiao in Deutschland im Fach Musikwissenschaft
promoviert worden war, arbeitete er als Musikpädagoge in China. Er verfasste mehrere
Lehrwerke, einschließlich solcher zur Harmonik. Der Erstdruck von Xiaos Harmonielehre fiel
in das Jahr 1927. Eine zweite und dritte Auflage folgten 1931 und 1932. Es handelt sich bei
Xiaos Buch um die wichtigste chinesische Harmonielehre aus der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Der vorliegende Beitrag setzt ein mit den Voraussetzungen, von denen Xiao
Youmei beim Erwerb seiner musiktheoretischen Kenntnisse ausgehen konnte, und geht über
zur Rekonstruktion der Umstände, unter denen er seine Harmonielehre schrieb. Anschließend werden Vorarbeiten für sie, ihr Inhalt, ihr Aufbau und die in ihr enthaltenen Übungen
dargestellt, einschließlich einiger Überlegungen zu Xiaos Strategie bei der Übersetzung
musiktheoretischer Fachtermini aus westlichen Sprachen ins Chinesische.
Einführende Vorbemerkungen
Der in den Jahrzehnten um 1700 herrschende chinesische Kaiser Kang Xi aus der QingDynastie (Beginn des 17. bis Beginn des 20. Jahrhunderts) schrieb zwei Bücher: Das
Konzept des Tonhöhen-Pfeifen und Die korrekte Bedeutung der Tonhöhen-Pfeifen [2.
Band].1 Etwa zeitgleich hatten der Jesuit Thomas Pereira (1645–1708) und der Missionar
Theodorico Pedrini (1671–1746) als erste die westliche Musiktheorie in China vorgestellt.
Durch sie verbreitete sich auch eine Übersetzung der westlichen Tonnamen do – re – mi – fa
– sol – la – si. Während die westliche Musiktheorie sich im Osten zusehends verbreitete,
entstanden auch in China selbst Bücher, die sich mit dem Gegenstand beschäftigten. Dazu
gehörte eine Kurze Einführung in die Harmonie《和 声 略 意》, bei der es sich um eine
einfach gefasste Erklärung des Buches Harmonielehre《和 声 学》von Zeng Zhimin durch
Gao Yanyun (älterer Name Gao Shoutian) handelt. Das erste umfangreiche Lehrmaterial zur
Vgl. Bücher des alten Kaisers.《 御 制 律 吕 正 义》续 编 卷 一,见 摛 藻 堂 本《 钦 定 四 库 全 书 荟 要 》子
部
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ZEITSCHRIFT ÄSTHETISCHE BILDUNG (ISSN 1868-5099)
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Xiao Youmei
Harmonik stammte aber von Xiao Youmei, welcher als Pionier der chinesischen professionellen Musikausbildung gelten kann. Nicht nur die instrumentalen oder sängerischen
Fähigkeiten der Studenten waren ihm wichtig, sondern auch, dass sie Theorien über Musik
kannten und verstanden. Nach Xiaos Dafürhalten gab es in China zu jener Zeit zwar eine
sehr strenge musikalische Ausbildung, doch ging es bei dieser mehr um praktische Dinge.
Xiao fehlte eine theoretische Vertiefung:2
„Zu erwarten ist, dass es eines Tages eine einheitliche Notation und Harmonik in China geben
wird. Für die melodisch so reichhaltige chinesische Musik wird das den Beginn einer neuen
Ära bedeuten. Unter der Bedingung, dass eine chinesische Geisteshaltung und Atmosphäre
beibehalten werden kann, sollen neue musikalische Formen entwickelt werden. Diese künftige
Musik wird im chinesischen Volk allmählich zu einem Erbe und ewig bleibenden Eigentum
werden.“3
Xiaos Harmonielehre 《和 声 学》ist das Resultat solcher Überlegungen. Mit ihr trug er über
die eigene Unterrichtspraxis zur Realisierung jener Zukunftsvision bei. Im Folgenden sollen
der historische Hintergrund von Xiaos Harmonielehre, die Merkmale von Xiaos pädagogischem Stil und vor allem die inhaltliche Position des Buches dargestellt werden.
Die Entstehung von Xiaos Harmonielehre
Ein handgreiflicher Grund, warum Xiao Youmei das Buch verfasste, war, dass er für seinen
Unterricht Lehrmaterial brauchte. Ab 1920 unterrichtete Xiao an mehreren Schulen in Peking
und Shanghai. Im September jenes Jahres hatte Tsai Yuanpei, der Direktor der Universität
Peking, Xiao eingeladen, dort als Dozent für Chinesisch und für Musikforschung tätig zu
werden. Seit dem 1. November 1920 lehrte Xiao an der Universität Peking Harmonielehre,
Musikgeschichte und Musikkunde.4 Zu jenem Zeitpunkt war er bereits Lehrer für Harmonik
an der Nationalen Hochschule Peking, damals einer Hochschule nur für Frauen.5
Am 2. Oktober 1922 unterbreitete Xiao schließlich den Vorschlag für ein Aufbaustudium im
Fach Musikvermittlung, und er arbeitete diesen Studiengang mit aus.6 Knapp ein Jahr später,
am 18. September 1923, veröffentlichte Xiao im Tagesmagazin der Universität Peking den
Beitrag Handreichungen für das Fach ‚chinesische Literatur‘, welcher einen Entwurf zur
neuen Ausgestaltung des Fachs Chinesisch an der Universität Peking einschloss. Allgemeine Musiklehre und Harmonielehre kamen in dem Entwurf als Wahlfächer vor. 7 Wer die
beiden Wahlfächer abgeschlossen haben würde, sollte darauf aufbauend praktische
2
Vgl. Yang: Beiträge zur Musiktagung der Philosophischen Klasse, S. 20.
Xiao: Gesammelte Schriften, S. 45f.
4 Namensliste der Vereinigung der Musikforscher an der Peking Universität, S. 35. Vgl. auch Tagesmagazin der
Universität Peking vom 24. Oktober 1920.
5 Im Januar 1920 wurde Xiao Leiter der Abteilung für Musikgymnastik. Er reformierte den Stundenplan:
Musikkunde, Grundlagen der Harmonielehre und Kontrapunkt waren nun Pflichtfächer. Vgl. die biographische
Notiz in der Harmonielehre, S. 1.
6 Vgl. wieder Tagesmagazin der Universität Peking vom 6. Oktober 1922.
7 Xiao: Handreichungen.
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Xiao Youmei
Harmonielehre und einfache Komposition belegen können. Ab Herbst 1926 lehrte Xiao als
Gastdirektor an der Musikabteilung der Nationalen Hauptfachschule für Künste Peking. Dort
unterrichtete er allgemeine Musiklehre und Harmonik.8
Xiao Youmei war bestrebt, seine Lehre systematisch anzulegen. Seit 1920 schrieb er an
folgenden fünf Lehrwerken: Allgemeine Musiklehre. Lehrbuch für die Unterstufe im Gymnasium, Singe-Schule für die Unterstufe des Gymnasiums, Harmonium-Schule für die
Unterstufe des Gymnasiums, Klavierschule für die Unterstufe des Gymnasiums sowie eine
Violinschule. Die Lehrbücher wurden ministeriell geprüft und zugelassen. Im März 1924 im
Shanghaier Verlag Commercial Press zuerst veröffentlicht, wurde die Allgemeine Musiklehre
neunmal wieder aufgelegt. Mit der Verbreitung des Lehrbuchs erhöhte sich das Niveau der
Musikstudenten zusehends. Xiao begann nunmehr, den Schwierigkeitsgrad des Lehrmaterials ein wenig zu steigern. Die Harmonielehre trug entscheidend zu der weiteren Anhebung
des Niveaus bei.
Der Vorgänger seiner Harmonielehre hatte Einführung in die Harmonie geheißen. Gleich
nachdem Xiao 1920 nach China zurückgekehrt war und zu unterrichten begonnen hatte,
hatte er sich auch an die Abfassung jener Einführung gemacht. Ihre einzelnen Kapitel
erschienen in Fortsetzungen im Musikmagazin der Musikforschenden Gesellschaft der
Universität Peking.9 Die wachsende Unterrichtserfahrung erlaubte Xiao, die Effekte seines
Lehrbuchs zu verfolgen, woraufhin er es ergänzte und in einer neuen Fassung herausbrachte. Auch für jede Neuauflage seiner Harmonielehre schrieb Xiao ein neues Vorwort, von dem
sich jeweils leicht die Veränderungen des Lehrmaterials ablesen lassen. Außerdem reflektieren die Vorworte den politischen Zustand jener Zeit. So schreibt Xiao im Vorwort zur dritten
Auflage:
„Januar: Just als ich mich zum Verlag [Commercial Press] begeben wollte, waren alle Bücher
dort in Brand geraten, da das Verlagshaus von Japanern bombardiert worden war. Deswegen
konnten wir das neue Unterrichtsmaterial nicht rechtzeitig für den Lehrbetrieb bereitstellen.
Gott sei Dank hatten wir für das Korrekturlesen aber das originale Manuskript mitgenommen,
so ist es noch vorhanden, aber die Tinte war verlaufen, und ich brauchte drei Monate, um alles noch einmal zu schreiben. Das gelang auch mit Hilfe von Liao Pushu, der die
Notenbeispiele neu schrieb. Dann übergab ich das Manuskript dem Verlag Shan u in zi fang
zum Druck und fügte hinzu, dieser müsse so schnell wie möglich geschehen: Bis Ende September müsse das Buch fertig sein, weil ich es bereits im nächsten Semester verwenden
wolle.“10
8
Vgl. Wang: Restauration des vollständigen Wortlauts von Quellentexten des Erbes, S. 41.
Und zwar startete die Publikation der Serie im Musikmagazin von Silvester 1920. Sie endete Silvester 1921.
10 Xiao: Harmonielehre, Vorwort zur 3. Auflage, unpaginiert.
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Xiao Youmei
Die Merkmale der Harmonielehre
I. Die Quellen von Xiaos Theorie
Xiao Youmeis Studienort Leipzig galt mit dem dortigen Konservatorium und der Universität
als ein Zentrum der europäischen Musiktheorie.11 Hier hatten einige wichtige Musiktheoretiker
unterrichtet.
Hervorgehoben
werden
sollen
in
diesem
Zusammenhang
die
Konservatoriumslehrer Ernst Friedrich Richter (1808–1879) und Salomon Jadassohn (1831–
1902), die beide auf den deutschen Musiktheoretiker und Komponisten des früheren 19.
Jahrhunderts Gottfried Weber (1979–1839) zurückgreifen, sowie – an der Universität – Hugo
Riemann (1849–1919). Deren Musiktheorie ist es, über welche Xiao seine Kenntnisse
erlangte.
Insbesondere die Bezeichnung der Akkordstufen mittels römischer Ziffern hat den Theoretiker Gottfried Weber bekannt gemacht. Außerdem hatte er die Stellung der Akkorde in
unterschiedlichen Tonarten definiert.12 Die römischen Stufenbezeichnungen finden sich bei
Xiao wieder, jedoch ohne Webers Groß- und Kleinschreibung der Stufen zur Kennzeichnung
des Tongeschlechts, und Xiaos Bestimmung der Tonartenverwandtschaften liegt ebenfalls
nahe an dem Beziehungsnetz, welches Weber in seinem Versuch einer geordneten Theorie
der Tonsetzkunst (1817–21) ausgeworfen hatte.
Abbildung 1: Die Tabelle der Tonverwandtschaften von Weber und die Modulationstabelle
von Xiao.
11
Xiao Youmei nahm von März 1913 bis Juli 1915 für fünf Semester am Leipziger Konservatorium Unterricht. Von
Oktober 1913 bis Juli 1916 studierte er außerdem für acht Semester an der Leipziger Universität, wo er die
Fächer Musiktheorie, Musikgeschichte, Pädagogik, Psychologie, Philosophie, Ästhetik und Anthropologie belegte.
12 Siehe Bernstein: Nineteenth-century harmonic theory, S. 782–788.
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Xiao Youmei
In Webers Tabelle der Tonartverwandtschaften (siehe Abbildung 1, links) liegen die Grundtöne bei Beziehungen ersten Grades auf der Horizontalen oder der Vertikalen direkt
nebeneinander. So sind mit C-Dur beispielsweise G-Dur, F-Dur, a-Moll und c-Moll erstgradig
verwandt. Alle Dreiklänge, welche diesen erstgradig Verwandten benachbart sind, sind aber
mit dem Ausgangspunkt zweitgradig verwandt, in diesem Fall Es-Dur, B-Dur, D-Dur, A-Dur,
f-Moll, g-Moll, d-Moll und e-Moll. Alle Tonarten, die den Zweitgradigen benachbart sind, sind
drittgradig verwandt, also As-Dur, E-Dur, es-Moll, b-Moll, h-Moll und fis-Moll. Xiaos Modulationskreise (siehe Abbildung 1, rechts) geben diese Beziehungen wieder. Beim oberen Kreis
steht C-Dur und beim unteren steht a-Moll im Zentrum. Auf den Kreisen sind die Tonarten
abgetragen. Links neben den Kreisen notiert Xiao, was die arabischen Ziffern bedeuten, die
neben die Geraden geschrieben wurden, welche die Punkte auf den Kreisen verbinden. Die
Intervalle werden jeweils vom zentralen Grundton aus gemessen. Im Einzelnen heißt das in
der Liste links für den Kreis mit C-Dur im Zentrum: 1. Prime (Moll zum gleichen Grundton,
Variante); 2. reine Quinte aufwärts; 3. reine Quinte abwärts (entspricht auch der reinen
Quarte aufwärts); 4. große Sexte aufwärts; 5. große Sekund aufwärts; 6. große Terz
aufwärts; 7. kleine Septime aufwärts (immer von c aus gezählt); 8. kleine Terz aufwärts; 9.
übermäßige Quart aufwärts (verminderte Quinte abwärts); 10. kleine Sexte aufwärts; 11.
kleine Sekund aufwärts; 12. übermäßige Prim (= übermäßige Oktave); 13. große Septime.
Bei dem unteren Kreis gibt es folgende Unterschiede: 4. kleine Terz aufwärts; 6. kleine Sexte
aufwärts; 8. große Sexte aufwärts; 10. große Terz aufwärts; 11. große Septime aufwärts.
Insofern Richter und Jadassohn ebenso wie zunächst deren Nachfolger, bei denen Xiao
Unterricht hatte, Elemente von Webers harmonischer Theorie am Leipziger Konservatorium
weiterverwendeten, konnten diese auf Xiaos Harmonielehre übergehen. Bereits Huang Zi
hatte eine große Nähe von Xiaos Lehre zu den Leipziger Lehren beobachtet: „Dieses
Lehrmaterial ähnelt der Theorie von Richter und Jadassohn sehr.“ 13 Jadassohn, Richters
Nachfolger am Konservatorium, hatte bei Liszt Klavier studiert, was seine Neigung zu
chromatischen Harmonisierungen befördert haben mag. Von Richters 1853 zuerst erschienenem Lehrbuch der Harmonie unterscheidet sich Jadassohns gleichnamiges Lehrbuch von
1883 dennoch nicht wesentlich.
Riemanns sich auf Rameau stützende Funktionstheorie ist eine weitere Quelle von Xiaos
Harmonielehre.14 Während seines Studiums in Leipzig besuchte Xiao zahlreiche Lehrveranstaltungen bei Riemann, und dieser war auch der Betreuer seiner Doktorarbeit. An Riemanns
Grundriß einer Musikwissenschaft [1908] anknüpfend hat Xiao in einem Buch über musikologische Forschungsmethoden in Europa gezeigt, welche fünf Teilbereiche des Fachs sich
bilden lassen: Akustik, Physiologie des Klanges, Ästhetik der Musik, Musiktheorie und
13
14
Huang Zi in seinem Vorwort zu Xiaos Harmonielehre.
Vgl. Wang: Restauration des vollständigen Wortlauts von Quellentexten des Erbes, S. 44.
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Xiao Youmei
Musikgeschichte. Nicht von Riemann übernommen hat Xiao die Methode, Tonartenverwandtschaften zu konstruieren, doch teilte er dessen Idee der harmonischen Funktionen. So
hob er die T, S und D als Hauptakkorde hervor, er unterschied zwischen Haupt- und
Nebendreiklängen und sprach von den wichtigsten Vierklängen in der funktionalen Harmonik. Außerdem benutzte er zur Bezeichnung der Akkordeigenschaften wie Riemann das
Zeichen des Kreises, allerdings nicht für Moll (wie Riemann), sondern nach traditioneller Art
in Kombination mit Stufen für vermindert (siehe Abbildung 2).
级数
萧友梅标记法
里 曼 标 记 法 15
大调
小调
大调
小调
第一级
I
I
T
O
第二级
II
II O
Sp
O vii
第三级
III
III’
Dp
O
第四级
IV
IV
S
O
第五级
V
V
D
O
第六级
VI
VI
Tp
第七级
VII
VII O
T
Tp
S
D
7
O
Dp
Abbildung 2: Tabelle der Akkordchiffren von Xiao (links) und von Riemann (rechts); in der
Spalte links sind chinesisch die Stufen I bis VII angegeben. Die Spalten 2 und 3 geben Xiaos
Art der Stufenbezeichnung wieder, die Spalten 4 und 5 Riemanns Funktionszeichen für die
Dreiklänge jener Stufen (je links in Dur und rechts in Moll).
Es wird deutlich, dass Xiao die Leipziger Harmonielehrerichtungen beerbte je, wie es ihm
passend erschien. Dem Bedarf der chinesischen Musikausbildung gemäß setzte er ein zu
erreichendes Niveau an Kenntnissen und Fähigkeiten in der Harmonik an. Am wichtigsten
erscheint hier jedoch, dass er Riemanns Zweifel daran, dass die chinesische Musik für die
Harmonisierung geeignet sei, nicht teilte. Xiao befand stattdessen:
„Wir sollten eine andere, eine bessere und passendere Harmonik für chinesische Musik erfinden, sonst wird sie unseren Charakter und die uns eigenen Merkmale verlieren. Dieser
Bereich ist es wert, dass man ihn erforscht. Im Allgemeinen gefallen den Ohren unseres Volkes doch Terzen nicht so sehr, insbesondere nicht die große Terz. Für die westliche Harmonie
aber sind die Terzen unerlässlich.“16
15
Riemann Chiffren halten für mehrere Stufen mehr als eine Funktion vor. So können die Dreiklangstöne der III.
Stufe in Dur neben der eingetragenen Funktion Dominantparallele auch ein Leittonwechselklang der Tonika sein,
in Moll Leittonwechselklang der Dominante und so weiter.
16 Xiao: Sammlung der Musik von Xiao Youmei, S. 443.
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Xiao Youmei
II. Die Gliederung von Xiaos Harmonielehre
Die Zielgruppe des Buchs ist klar bestimmt. Hauptsächlich ist es für Anfänger unter den
Musikstudierenden gedacht, und zwar konkret zunächst für jene im Aufbaustudium Musikvermittlung der Universität Peking, an der dortigen Regulären Frauen-Universität sowie am
Vorläuferinstitut des Konservatoriums Shanghai. Als 1927 die Erstausgabe erschien, konnte
Xiao bereits auf eine siebenjährige Lehrerfahrung in dem Fach zurückblicken. In Xiaos
Unterrichtssystem bildete der Inhalt der Harmonielehre die musiktheoretische Basis,
während Kontrapunkt, Satztechniken der Fuge und Formenanalyse eine Weiterentwicklung
der musiktheoretischen Kenntnisse und Fertigkeiten bedeuteten. 17 Deswegen sparte Xiao
Material zur Harmonik des späten 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert aus. In dem Vorwort
zu Xiaos Harmonielehre bemerkte Huang Zi dazu: „Die Nonenakkorde und die Wagner’sche
Chromatik, Ganztonleitern bei Debussy und die atonale Musik von Schönberg bezieht Xiao
nicht ein.“ Und Xiao selbst erklärte in seinem eigenen zweiten Vorwort zu dem Buch, dass
das Lehrmaterial keine Beispiele zur neueren Harmonik beinhalte, weil es absichtsvoll auf
die Erläuterung grundlegender harmonischer Prinzipien beschränkt bleiben sollte. Außerdem
seien die neue Musiktheorie und deren unterschiedliche Richtungen noch nicht systematisiert und damit nicht reif für eine lehrbuchartige Abhandlung. Die neue Harmonik sei noch
ungefestigt. Gleichwohl hatte Xiao vor, in weiteren Büchern neuere Klangtechniken abzuhandeln.
Xiaos Harmonielehre gliedert sich in 21 Kapitel, die auf drei Semester aufzuteilen sind: im
ersten Semester die Kapitel 1–8, im zweiten Semester 9–13 und im dritten Semester 14–21.
Vom Inhalt her lassen sich vier Teile unterscheiden. Die Seiten 1–8 bieten eine Zusammenfassung, auf den Seiten 9–134 ist von harmonieeigenen Tönen die Rede, die Seiten 136–
187 behandeln harmoniefremde Töne, und auf den Seiten 188–206 geht es um die Anwendung der Harmonie. Die Seiten 207–214 bringen Anhänge. 18 Xiao selbst stellte sein
Vorgehen so dar: Muster sei die Art, wie man eine Fremdsprache lernt. Zuerst kommt die
Grammatik, dann analysiert man die Satzbildung usw. Xiao verfährt als geschickter Pädagoge, indem er den Schwierigkeitsgrad von einfach bis schwierig gut austariert. Wiewohl die
Funktionen der unterschiedlichen Teile des Lehrmaterials nicht gleich sind, wird den
Studierenden dennoch erlaubt, die Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Im ersten Teil
(der Übersicht) bestimmt Xiao mit der Erklärung dessen, was Harmonie eigentlich sei, auch
deren Wortbedeutung: Das Wort ‚Harmonie‘ komme aus dem Griechischen; es bedeute
Zusammenfügen. Die Tonleiter habe in der altgriechischen Welt die Bedeutung eines
kontinuierlichen Weiterschreitens gehabt. Nach dem Mittelalter sei das Wort ‚Tonleiter‘ aber
17
18
Vgl. Xiao: Gesammelte Schriften, S. 281.
Die Übersicht ist dem Inhaltsverzeichnis der Harmonielehre auf S. 188 entnommen (3. Auflage).
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Xiao Youmei
als ein Resultat von miteinander verbundenen Klängen verstanden worden.19 Der umfangreiche zweite Teil, welcher großteils den harmonieeigenen Tönen gewidmet ist, war Xiao
besonders wichtig. In dem Teil über harmoniefremde Töne werden schließlich Verzierungen,
Vorhalte und Alterationen behandelt. Es geht Xiao nicht nur darum, dass die Eleven im Fach
Harmonielehre Stücke schreiben können, sondern auch darum, die Fähigkeit zum Analysieren zu entwickeln. Um das Verständnis der tonalen Harmonik zu fördern, analysiert er
exemplarisch immer wieder klassische Musik. Der Inhalt der vier Teile seiner Harmonielehre
lässt sich überblicksartig der Tabelle unten entnehmen (siehe Abbildung 3).
Zusammenfassung
Tonart
Tonleiter
Tonnamen
Intervalle
Dissonanzen
Auflösung
harmonieeigene Haupt- und Nebendreiklänge
Töne
Haupt- und Nebenseptakkorde, Umkehrung und
Nonenakkorde;
Harmonisierung einer Melodie;
Modulation (unter Verwendung von Dreiklängen, Septund Nonenakkorden);
Auflösung der Akkorde;
Trugschluss;
Ganzschluss und Plagalschluss;
harmoniefremde Verzierungen und Vorhalte;
Töne
Neapolitaner;
übermäßiger Sextakkord;
übermäßiger Quartsextakkord, übermäßiger Septakkord;
doppelt übermäßiger Quartsextakkord, doppelt
übermäßiger Septakkord;
Anwendung der Orgelpunkt;
Harmonie
Liegestimmen;
Verzierungen der Melodie;
Schreibarten der Begleitung (z.B. Akkordbrechungen,
Akkorde oder Tonleitern);
Abbildung 3: Die vier Teile des Buches und ihr Inhalt
Abbildungen sind bekanntlich eine effiziente Lernhilfe. Um den Lernprozess zu intensivieren,
fügte Xiao zahlreiche Abbildungen, Tabellen und Notenbeispiele in seine Harmonielehre ein:
Habe man viele Beispiele, Übungen und Bilder bei der Hand, so werde das Lernen für Lehrer
und Schüler zu einer Freude, wie es der von Xiao im ersten Vorwort seiner Harmonielehre
zitierte Yi Weizhai (易 伟 斋) in einem Stil sagte, der nach sehr altem Chinesisch klingt.20
Vgl. dazu auch Xiaos Allgemeine Musiklehre. Dort erklärte er das Wort ‚Harmonie’ noch anders als in der
Harmonielehre. Vermutlich hängt dies zusammen mit dem unterschiedlichen Niveau der Studenten, für welche
die Bücher gedacht sind. Vgl. auch Yang: Beiträge zur Musiktagung der Philosophischen Klasse, S. 2.
20 Xiao, Harmonielehre, erstes Vorwort. Das Original besagt in etwa: „Es gibt zahlreiche Übungen und der Kurs ist
gut aufgebaut – eine große Hilfe für den Schüler. […] Die Inhalte sind aber mit den vielfältigen Klängen
19
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Xiao Youmei
Einigermaßen speziell ist bereits Xiaos in Abbildung 1 rechts wiedergegebene Graphik zum
Modulieren, die auf dem kleineren Kreis die nah verwandten Tonarten verzeichnete, auf dem
großen die entfernter verwandten. Die Abstände zwischen den Tonarten sind dort in
Intervallen gemessen. Zu dieser Graphik erfand Xiao auch Übungen. In seinem Vorwort zu
der Harmonielehre hatte Huang Zi hervorgehoben, dass Xiao der Erfinder dieser Graphik sei,
und wenn man nach den Wegen moduliere, welche die Graphik weise, werde man keinerlei
Probleme bekommen.
In Xiaos Buch gibt es zwei Anhänge. Einer davon ist in Abbildung 4 wiedergegeben. Diese
Abbildung zeigt die Beziehungen sämtlicher Dur- und Molldreiklänge sowie der Septakkorde
zueinander, eingeschlossen den übermäßigen Quintsextakkord, den doppelt übermäßigen
Terzquartakkord und den übermäßigen Sekundakkord (siehe Abbildung 4).
Abbildung 4: Anhang 1 aus Xiaos Harmonielehre. Sämtliche wichtigen Akkordarten werden
hier in Beziehung zu anderen bezeichnet. 1. System = Dur, 2. System = Moll, 3.+ 4. System
= übermäßiger Quintsextakkord etc.
einigermaßen komplex. Um hier Verwirrung zu vermeiden, schlägt der Autor einige modellhafte harmonische
Formeln vor. Diese ermöglichen dem Schüler weitgehend, in Übereinstimmung mit den Regeln zu lernen.“
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Anhang 2 bringt ein viersprachiges Glossar der Terminologie zur Harmonielehre, und zwar
auf Chinesisch (Mandarin), Englisch, Deutsch und Französisch. Auch gibt es ein Register,
das verzeichnet, auf welcher Seite des Buches der jeweilige Terminus vorkommt.
III. Übersetzung der Terminologie
Als die westliche Musiktheorie nach China importiert wurde, musste man ihre Fachtermini
natürlich übersetzen. In dem Vorwort seiner Harmonielehre schrieb Xiao: „Als Erster dieses
Fachgebiet nach China zu importieren und gleich auf Mandarin ein Lehrbuch zu verfassen,
heißt, alle Termini neu bereitzustellen.“ 21 Xiao unternahm hier den Versuch, die gesamte
Terminologie der westlichen Musiktheorie mit einer traditionellen chinesischen Terminologie
zu vereinbaren. Dabei kam es unvermeidlich zu Kollisionen mit jener westlichen Terminologie, die über das Japanische nach China eingeführt worden war.22 Die Übersetzung in Xiaos
Harmonielehre stellt eine Mischung von chinesischen und westlichen Elementen dar. Es ging
Xiao darum, die westlichen Wörter ins Chinesische zu integrieren.
Xiao hatte bereits während der Abfassung seiner Allgemeinen Musiklehre mit dem Gedanken gespielt, bei der Übersetzung der Fachtermini die Kombination von westlichen und
chinesischen Termini zu erproben. So existierten beispielsweise für 干 音 (weiße Tasten)
und 枝 音 (schwarze Tasten) sowie für die Standardtonhöhe 黄 钟 音 von c1 bereits Begriffe
in der chinesischen Musiktheorie, welche Xiao nur übernehmen musste. Ein weiteres
Beispiel ist der Begriff Oktave, der im Chinesischen 一 均 heißt. Von dem chinesischen
Begriff der Oktave her leitete Xiao darum von tief bis hoch sämtliche Namen der Intervalle
ab. Ein weiteres Beispiel ist, wie er die Tonnamen übersetzt, nämlich in Anlehnung an die
Namen der pentatonischen Leiter. Xiaos Bezeichnung der Tonnamen unterschied sich damit
sehr deutlich von den Namen, die heute in China gebräuchlich sind. Als Beispiel seien die
Bezeichnungen für den Ton f angeführt. Dieser Ton, in der westlichen Theorie der Grundton
der Subdominante von C-Dur, wurde von Xiao so übersetzt, dass er den Wortbestandteil
‚Sub‘ mit dem chinesischen Wort ‚unten‘ (下, xia) direkt übernahm. Hinzu kommt der Name
zhe (徵) für das g der untransponierten Pentatonik, und schließlich nimmt Xiao noch das
Zeichen für ‚Ton‘ hinzu: 音. Das ergibt insgesamt 下 徵 音 als Namen. Heute aber wird dieser
Ton üblicherweise als 下 属 音 bezeichnet. Das mittlere Zeichen, welches den pentatonischen Benennungen entlehnt war, wurde ersetzt durch ein Wort für den Begriff Dominante.
Gleichwohl handelt es sich um Tonnamen, die unabhängig von der tatsächlichen Tonart
verwendet werden.
21
22
Xiao, Harmonielehre, 1. Vorwort.
Vgl. Huang / Wang: Xiao Youmei-Jahrbuch 2007, S. 253.
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Xiao Youmei
IV. Bedeutung der Übungen für Xiao
Für Xiao hat die Fähigkeit, praktisch mit Harmonik umgehen zu können, einen hohen Rang.
In sein Lehrmaterial nahm er daher zahlreiche Übungen auf, mit denen die Studenten das im
Unterricht Besprochene erproben können.
„In dem Buch gibt es insgesamt 620 Übungsbeispiele, aufgeteilt auf die einzelnen Kapitel. Ich
empfehle ein strenges Programm: Pro Woche sind zwölf Übungen zu erledigen, damit der
Plan von insgesamt drei Semestern (à 18 Wochen) eingehalten werden kann.“ 23
Ihrem Inhalt entsprechend gliedern sich die Übungen wie folgt: Es gibt 262 Übungen mit
einer vorgegebener Melodie, die zu harmonisieren ist (quasi chant donné), aber auch
vorgegebene Bässe, nämlich 288 (siehe Abbildung 5, oben Musterkadenzen, unten Übungen mit vorgegebenem Bass). Außerdem beinhaltet der Anhang 62 Übungen zur praktischen
Anwendung, eingeschlossen chromatische Akkorde. Bei den Übungen handelt es sich
großteils um solche zum vierstimmige Satz.
Abbildung 5: Xiao, Harmonielehre, Beispiel Nr. 16 (Musterkadenzen), sowie eine Übung zur
Harmonisierung von Bassgängen aus dem ersten Teil, auf den Seiten 16 und 23 des
Buches.
Xiao gibt zahlreiche Regeln von unterschiedlicher Verbindlichkeit. Uneingeschränkt beachtet
werden soll, dass man keine Quint- und Oktavparallelen schreiben darf, und Xiao empfiehlt
23
Xiao, Harmonielehre, S. 3.
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auch, die übermäßige Quart im horizontalen Verlauf nicht zu verwenden. Zudem bringt er
grundlegende Informationen über den Generalbass. Dieser sei die vorherrschende Schreibweise um 1700 gewesen; zwar in der Gegenwart nicht mehr in Gebrauch, sei er zum Üben
dennoch nützlich. Für die zu harmonisierenden Melodien trug Xiao etliche Volkslieder
unterschiedlicher Länder zusammen. Sie dienen als Grundlage für weitere Übungen selbst
beim Kontrapunkt und der Fuge sowie bei der Instrumentation.
Für Xiaos didaktisches Vorgehen ist außerdem wichtig, dass er den Beispielen und Übungen
hundert Fragen und Antworten beigibt. In der ersten Auflage von 1927 waren noch nicht
enthalten. 1930 stellte Xiao fest, dass seine Fähigkeit, konzentriert Gedanken zu fassen,
beeinträchtigt war. So begab er sich ins Mo Gang-Gebirge in der Provinz Zhejiang. Während
des dortigen Aufenthaltes bearbeitete und ergänzte er die Harmonielehre, die in späteren
Auflagen auch diese 100 Fragen und Antworten umfasste. Inhaltlich betreffen die Fragen
und Antworten Einzelheiten, aber auch generelle Konzepte. Es seien ein paar Beispiele
angeführt: Frage Nr. 7 lautet: „Was ist hue gong?“, Nr. 28: „Was ist Tonalität?“ Manche
Fragen dienen der Wiederholung und Festigung des Gelernten, andere wiederum regen zur
Lösung eines Problems an wie beispielsweise Nr. 23. „Wird ein Melodieton oft wiederholt,
was empfiehlt sich dann für seine Harmonisierung?“ oder Nr. 55: „Wie viele unregelmäßige
Auflösungen eines Septakkords gibt es? Bitte Beispiele nennen.“
Xiao fordert die Studenten stets auf, die Musik, die sie spielen, auch zu analysieren, um ihre
allgemein-musikalischen Fähigkeiten auszubauen. Für die Analyse führt er beispielsweise
die Gavotte aus der zweiten Englischen Suite von Bach an. Die Beispiele zeigen, wie wichtig
Xiao war, neben dem Selberschreiben analytische Gedanken zu entwickeln.
Die Wirkung von Xiaos Harmonielehre
Xiao ist in China dafür bekannt, die westliche Musikerziehung ins Land gebracht zu haben.
Dazu gehörte auch, dass er den Unterricht in musiktheoretischen Fächern etablierte, und
zwar vor allem mit seinen Lehrbüchern, dem 1920 erschienenen Vorgänger der Harmonielehre, der Einführung in die Harmonie, und 1927 mit dieser selbst, welche 1931 und 32
bearbeitet und ergänzt neu aufgelegt wurde. Die Harmonielehre bestimmte zusammen mit
Xiaos übrigen Schriften stark die musikalische Ausbildung in China insgesamt. Gleichzeitig
handelt es sich bei Xiaos Lehrbüchern um die ersten in China entstandenen Lehrwerke über
westliche Musiktheorie. An allen Schulen, an denen er unterrichtete, verwendete Xiao
ausschließlich eigenes Lehrmaterial. 24 Unter Xiaos Schülern waren nicht wenige später
24
Der Komponist und Musiktheoretiker Ding Shande, welcher bei Xiao Harmonielehre studiert hatte, führt ein
einprägsames Bild an, das Xiao brachte, um die Akkordumkehrungen zu erklären. Er habe gesagt: „Die
Grundstellung eines C-Dur-Akkordes und seine erste Umkehrung unterscheiden sich, weil der Basston jetzt ein e
(ein mi) ist, und sie sind doch gleich. So wie ich, Xiao Youmei, wenn ich meine Schuhe ausziehe und die Schuhe
auf meinem Kopf jongliere, ja immer noch ich bin, Xiao Youmei.“ Zitiert nach Ding: Unvergessliche Erinnerungen,
S. 4.
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wichtige Persönlichkeiten des chinesischen Musiklebens. So kam 1936 Li Huanzhi, vormals
Student in Xiamen, nach Shanghai, wo er mit den Bassübungen aus Xiaos Harmonielehre
die Basis für das sein künftiges Schaffen erwarb. Bei Xiaos Harmonielehre handelt es sich
um das wesentliche Unterrichtsmaterial aus den 1930er-Jahren.
Nach dem Erscheinen von Xiaos Harmonielehre machten mehrere Musikerpersönlichkeiten
darauf aufmerksam, wie wichtig der Unterricht im Fach Harmonielehre und wie wichtig auch
harmonische Analysen seien. In der Folge übersetzten unter anderen Huang Zi sowie He
Luting, Zhang Hongdao, Wang Zhenya und Miao Tianrui entweder Harmonielehren ins
Chinesische oder sie verfassten eigene. 25 1957 wurde Zhu Shimins Übersetzung des
Buches der russischen Theorie-Brigade mit Igor Sposobin als Hauptautor fertig, welche 1979
und 1983 wiederaufgelegt wurde und die seit ihrem ersten Erscheinen weit verbreitet ist. Im
20. Jahrhundert waren Xiaos und Sposobins Harmonielehren in China jeweils für ungefähr
ein halbes Jahrhundert prägend. Beide musiktheoretischen Konzepte basieren auf Lehren
aus Leipzig. Aufgrund der unterschiedlichen politischen Situation gelangten sie aber auf
anderen Wegen nach China, und sie trafen nicht auf dieselben gesellschaftlichen Umstände.
Die Verbreitung von Harmonielehren in China hat zweifellos die Fähigkeit der Chinesen
erhöht, westliche Musik zu verstehen. Gleichzeitig beförderten die Lehren die Entwicklung
der chinesischen Musik. Der Musikpädagoge Tsai Yuanpei hatte bereits 1920 geäußert, man
wolle westliche Instrumente und Noten importieren, um sie zu vergleichen mit dem, was man
schon habe. Die westliche Musiktheorie sei ein Bezugspunkt, und man könne an ihr prüfen,
was für chinesische Melodien passt und was nicht passt, was man übernehmen könne, wenn
man in China eine Art Weltmusik, eine globale Musik, schaffen wolle. 26 Der Grund dafür,
westliche Musik zu studieren, war für Tsai, dass wir so unsere eigene chinesische Musik
weiterentwickeln könnten, damit diese zu einem wichtigen Teil der Weltmusikkultur werden
könne. Xiao folgte dem Rat Tsais, und was die Rolle seines Lehrbuches auf dem Weg zu
einer globalen Musikkultur anging, äußerte er sich so: „Harmonielehre ist keine Musik; sie ist
nur eine Methode zum Finden von Klängen. Lasst uns diese Methode aber verwenden, um
unsere eigene neue Musik zu erschaffen.“27
25
In den 1930er-Jahren war Huang Zi (1904–1938) als Lehrer am Vorgängerinstitut des Konservatorium
Shanghai tätig; die Harmonielehre, welche er in jenen Jahren schrieb, wurde nicht publiziert. He Luting (1903–
1999), später Direktor des Konservatoriums Shanghai, übersetzte in den Jahren, die er als Lehrer an der
Kunstschule Wuhan verbrachte, Ebenezer Prouts Lehrbuch Harmony. Its Theory and Practice, das in einer ersten
chinesischen Version 1936 bei dem Shanghaier Verlag Commercial Press erschien; 1951 kam es zu einer
Neuauflage. Zhang Hongdao übersetzte Rimskij-Korsakovs Praktisches Lehrbuch der Harmonie, erschienen
1936, wieder bei Commercial Press, Wiederauflagen im Neue Musik-Verlag 1951, 1953 sowie 1955. Im Oktober
1949 wurde Wang Zhenyas Buch Die 5-Töne-Tonleiter und ihre Harmonie im Shanghaier Wen guang-Verlag
publiziert.
In den 1950er-Jahren wurden zahlreiche Harmonielehren übersetzt, darunter in der Übersetzung von Miao
Tianrui auch die von Percy Goetschius, zuerst 1949 im Shanghaier Wuan Yie-Verlag erschienen.
26 Nach dem in einem alten chinesischen Stil geschriebenen programmatischen Vorwort zur 1920 erschienenen
ersten Nummer des Musikmagazins.
27 Aus: Xiao: Das neue Leben der Musiker [Mai 1934]. In: Ye Chucang (Hg.) Neues Leben. Zitiert nach Xiao:
Gesammelte Schriften, S. 616.
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Kang
Xiao Youmei
Literatur
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Ding Shande: Unvergessliche Erinnerungen. In: Musik Kunst 1982, Heft 3, S. 2–4.
丁 善 德.难 以 忘 却 的 回 忆 . 音 乐 艺 术(上 海 音 乐 学 院 学 报)
Huang Shudong / Wang Pu (Hg.): Xiao Youmei-Jahrbuch 2007. Peking 2007.
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Tsai Yuanpei: Programmtisches Vorwort zur ersten Nummer des Musikmagazins. Shanghai
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Wang Pu: Restauration des vollständigen Wortlauts von Quellentexten des Erbes. Start mit
der Entdeckung eines Referats von Xiao Youmei aus seinen Studienjahren in Deutschland.
In: Das schlafende historische Material wecken. People’s Music Journal (2006), 10. Heft,
S. 39–41.
汪 朴 .唤 醒 沉 睡 史 料 还 原 先 辈 全 貌——从 发 现 萧 友 梅 留 德 期 间 的一篇 报 告 说 起
Xiao Youmei 萧 友 梅: Handreichungen für das Fach chinesische Literatur. In: Tagesmagazin
der Universität Peking vom 18. Sept. 1923
Ders.: Einführung in die Harmonie. Serie im Musikmagazin vom 31.12.1920, 1. Band, 9. und
10. Heft, bis 31.12.1921, 2. Band, 9. und 10. Heft.
Ders.: Allgemeine Musiklehre. Shanghai 1924.
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Ders.: Sammlung der Musik von Xiao Youmei. Shanghai 1993. 《萧 友 梅 音 乐 文 集》
Ders.: Gesammelte Schriften. Chen Lingqun / Luo Qin (Hg.), Shanghai 2004.《萧友梅全集》
Yang Zhongshui: Beiträge zur Musiktagung der Philosophischen Klasse (1920), 1. Bd. 3.
Heft. 杨 昭 恕. 哲 学 系 设 立 乐 学 讲 座 之 必 要. 音 乐 杂 志
Aus dem Chinesischen übersetzt von Huang Yu-Chun; Einrichtung: Gesine Schröder
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Kang
Xiao Youmei
Kang Xiao, geboren 1982, Doktor in Musikwissenschaft, assoziierter Professor am China
Conservatory Beijing, Managementdirektor des Journals Music in China. Vorstandsmitglied
der Society for Western Music in China (S.W.M.). Jüngere Publikationen: Zum stile concitato
in Monteverdis Madrigali guerrieri et amorosi; „Eine Symphonie der Stimmen“: Ein Chor aus
Wagners Parsifal; Über Glucks Reformoper Paride ed Elena; Über C.G. Durazzos historische Position; Die geheimnisvolle Frau: Kundry in Wagner Parsifal; Der Konflikt zwischen
dem Göttlichen und dem Bösen: Das zentrale Leitmotiv in Wagners Parsifal; Bearbeitungsgeschichte
und
Charakteristika
in
Luo
Zhongrongs
chinesischer
Orchestermusik
Mondbeschienene Frühlingsnacht.
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www.zaeb.net
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