Dipl.-Psych. Roman Fischer & Dipl.-Psych. Wera Otto Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Universitätsklinikum des Saarlandes Homburg/Saar AUTISMUS-SPEKTRUM-STÖRUNGEN • Griechisch: autos = Selbst, ismos = Zustand/Orientierung • Leo Kanner (1894 - 1981) beschrieb 1943 den „early infantile autism“ • Hans Asperger (1906 – 1980) beschrieb 1944 die „autistische Psychopathie“ • • • • • • Frühkindlicher Autismus (F84.0) Atypischer Autismus (F84.1) Asperger-Syndrom (F84.5) Andere tiefgreifende Entwicklungsstörungen: Rett-Syndrom (F84.2) Andere desintegrative Störung des Kindesalters, bspw. HellerSyndrom (F84.3) Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (F84.4) • Unfähigkeit, Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer Beziehungen einzusetzen • Mangel an sozial moduliertem Blickkontakt • Mangel an sozialem Lächeln • Eingeschränkte Bandbreite von Mimik und Gesichtsausdruck • • • Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen (mit gemeinsamen Interessen und geteilten Gefühlen) aufzubauen • Keine Aktivitäten (auch Phantasie- oder Gruppenspiele) mit Gleichaltrigen • Keine oder negative Reaktion auf Annäherung anderer • Keine Freundschaften, kein Interesse an anderen Menschen Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit, die sich in der Beeinträchtigung der Reaktion auf die Emotionen anderer äußert Mangel an adäquater Verhaltensmodulation entsprechend dem sozialen Kontext • Kein Spenden von Trost oder selbst Trösten lassen, Mangel an Zärtlichkeit • Reduzierte Qualität/Unangemessenheit der Kontaktaufnahme • • • • Verspätung oder vollständige Störung der Entwicklung der gesprochenen Sprache, die nicht begleitet wird durch kompensatorische Strategien (Gestik, Mimik) Relative Unfähigkeit, einen sprachlichen Kontakt zu beginnen oder aufrechtzuerhalten, bei dem es einen gegenseitigen Austausch mit anderen Personen gibt Stereotype und repetitive Verwendung der Sprache oder ungewöhnlicher Gebrauch von Worten und Phrasen Mangel an spontanen Als-ob- oder Imitationsspielen • • • • • Beschäftigung mit stereotypen und begrenzten Interessen Offensichtlich zwanghaftes Festhalten an spezifischen, nicht funktionalen Handlungen und Ritualen Stereotype motorische Manierismen mit Hand- und Fingerschlagen oder -verbiegen bzw. komplexen Bewegungen des gesamten Körpers Vorherrschende Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht-funktionalen Elementen des Spielmaterials Sensorische Interessen Frühkindlicher Autismus Atypischer Autismus AspergerSyndrom Alter bei Erstmanifestation < 36 Monate Variabel > 36 Monate Verhältnis Jungen-Mädchen 3:1 3:1 8:1 Symptomatologie Beeinträchtigungen in allen drei Kernbereichen Keine vollständige Symptomatik Beeinträchtigungen in allen drei Kernbereichen; selten keine kommunikativen Einschränkungen Variabel Altersgerecht Variabel Unbeeinträchtigt (IQ > 70) Sprachentwicklung Verzögert Kognitive Funktionen Meist eingeschränkt (IQ < 70) KLASSIFIKATION NACH DSM-5 • • • • • • • • • Neurodevelopmental Disorders Schizophrenia Spectrum and other Psychotic Disorders Bipolar and related Disorders Anxiety Disorders Obsessive-Compulsive and related Disorders Trauma- and Stressor-related Disorders Dissociative Disorders Somatic Symptom Disorders Feeding and Eating Disorders • • • • • • • • • • Elimination Disorders Sleep-Wake Disorders Sexual Disfunctions Gender Dysphoria Disruptive, Impulse Control and Conduct Disorders Substance Use and Addictive Disorders Neurocognitive Disorders Personality Disorders Paraphilias Other Disorders • • • • • • A 00-01 Intellectual Developmental Disorders A 02-04 Communication Disorders A 05 Autism Spectrum Disorders A 06-07 Attention Deficit/Hyperactivity Disorders A 08 Specific Learning Disorders A 09-16 Motor Disorders KLASSIFIKATION NACH DSM-5 • • • • • • Zwei Verhaltensbereiche statt drei Für ASD müssen die Bereiche Soziale Kommunikation und Stereotypien/Rituale auffällig sein Sensorische Störungen (hyper-/hyposensibel) werden als neuer Indikator im Verhaltensbereich Stereotypien/Rituale aufgeführt Für beide Verhaltensbereiche werden je drei Schweregrade bzw. Funktionsniveaus angegeben Kriterium C: Beginn während der neurologischen Entwicklung Kriterium D: Bedeutsame Funktionsbeeinträchtigung im Alltag • • • • • Mit/ohne Intelligenzminderung Mit/ohne Sprachstörung Mit/ohne bekannte medizinische, genetische oder Umweltursache (ggf. Zusatzdiagnose vergeben) Mit/ohne Katatonie (ggf. Zusatzdiagnose 293.89 vergeben) Komorbidität mit anderen Entwicklungsstörungen und psychiatrischen Erkrankungen Entwicklungstörung Prävalenz/Proz. Verteilung Alle tiefgreifenden Entwicklungsstörungen 6-10/1000 • mit geistiger Behinderung ca. 50 % • mit milder Beeinträchtigung der Intelligenz ca. 30% • mit normaler/überdurchschnittl. Intelligenz ca. 20% Frühkindlicher Autismus • mit geistiger Behinderung 1-4/1000 ca. 70 % Atypischer Autismus 2-7/1000 Asperger Syndrom 0,8/1000 • • • • • • • • ~ 50-60 % ADS/ADHS ~ 20-56 % Angststörungen (spezifische Phobien, Trennungsangst, soziale Phobie) ~ 7-35 % Zwangsstörungen ~ 12-25 % Depressive Störungen ~ 10 % Oppositionelle Störungen des Sozialverhaltens ~ 3-7 % Bipolare Störungen 4,4-35 % Psychose Jeweils ~ 11 % Tic-Störungen und Tourette-Syndrom • Multifaktorielle Genese mit deutlichen Hinweisen auf starke genetische Beteiligung: • Duplikation 15q11 - 15q13 • Deletion 22q11 und -13 • Fragiles X-Syndrom, Tuberöse Hirnsklerose u. a. Syndrome Aufgrund von Zwillings- und Familienstudien wird heute von einer Heritabilität von über 90 % ausgegangen (Bailey et al., 1995); zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann über genetische Analysen jedoch keine Diagnose gestellt werden! • • • Rötelninfektion in der Schwangerschaft Einnahme von Valproinsäure o. a. Antiepileptika während der Schwangerschaft, in Einzelfällen starker Alkoholkonsum Erworbene Hirnschädigung (prä-, peri-, postnatal) • Früher angenommene Entstehung autistischer Störungen durch Masern-Mumps-Röteln-Impfstoff oder Quecksilber ist heute widerlegt! Psychoanalytisches Modell früher Traumatisierung durch ungünstige frühe Mutter-Kind-Interaktion bzw. Pflegefehler; Idee der „Kühlschrankmutter“ (Bruno Bettelheim) Eindeutig widerlegt, aber leider noch präsent! In Zusammenhang mit der extremen Vernachlässigung in rumänischen Kinderheimen sind Fälle von Autismus beschrieben worden (Rutter et al., 1999); allerdings ist diese Form der Deprivation äußerst selten und kann in nahezu allen Fällen von ASS als Ursache ausgeschlossen werden! • • • • • • Anamnese, Informationen der Bezugspersonen Fragebögen Standardisiertes Interview mit Bezugspersonen (ADI-R) Verhaltensbeobachtung (ADOS) Intelligenztestung, Einschätzung des Entwicklungsalters Spezifische Tests (z.B. Sprachtest) • Anamnese • Vorstellungsgrund/Aktuelle Problematik • Eigenanamnese (Schwangerschaft, Geburt, Entwicklung im Säuglings-/ Kleinkindalter, Kindergarten-/Schulbesuch, soziales Umfeld, Medizinische Vorgeschichte, Fördermaßnahmen) • • • Familienanamnese (Eltern, Geschwister u. a. nahe Angehörige) Fremdanamnese (Informationen aus Kindergarten/Schule o. a.) Screening-Fragebögen: • Fragebogen zur sozialen Kommunikation (FSK) • Deutsche Version der Social Responsiveness Scale (SRS) • Autismus-Spektrum-Quotient (AQ-K) • Deutsche Version der Australian Scale for Asperger Syndrome (ASAS) • Deutsche Version der Modified Checklist for Autism in Toddlers (M-CHAT) • Internistisch-neurologische Untersuchung: • • • • • • • Ausschluss einer neurologischen oder Stoffwechselerkrankung Hinweise auf das Vorliegen einer genetischen Syndroms (Dysmorphiezeichen, Hautveränderungen) Grob- bzw. feinmotorische Defizite (Förderbedarf!) HNO-/Pädaudiologische Abklärung Sehtest Genetische Abklärung (Schlafentzugs-)EEG (Ausschluss eines Anfallsleidens) • Häufig sehr heterogenes Intelligenzprofil Intelligenztestung mit mehrdimensionalen Intelligenzverfahren notwendig • Deutsche Version der Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence III (WPPSI) Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder (HAWIK-IV) Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (WIE) • • • • Bei jüngeren Kindern und v. a. Kindern mit Sprachentwicklungsverzögerung Durchführung nonverbaler Instrumente • SON-R 2 ½ - 7 • SON-R 5 ½ - 17 Bei Bedarf weitere (optionale) Testverfahren • Sprachentwicklungstest (SETK, TROG-D) • Aufmerksamkeitsprüfung (bspw. D2, TAP) • Lese- und Rechtschreibdiagnostik (bspw. HSP, ZLT-II) • • • • • Autismusdiagnostisches Interview ADI-R Halbstrukturierte mündliche Befragung der Eltern o. a. Bezugspersonen, mit der autismusspezifische Symptome und Verhaltensauffälligkeiten erfasst werden Erhebung der Kernbereiche Soziale Interaktion, Kommunikation und Stereotype Verhaltensweisen sowie der generellen Entwicklung Fokus auf der Ausprägung der Symptomatik im Alter zwischen 4 und 5 Jahren Voraussetzung: Normatives Entwicklungsalter des/der PatientIn > 24 M. • Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen ADOS • Strukturierte Erfassung von Kommunikation, sozialer Interaktion und • • Spielverhalten Enthält standardisierte Aufgaben und Aktivitäten, bei denen das Auftreten oder Fehlen bestimmter Verhaltensweisen (unter Erzeugung gezielter Auslösesituationen) beobachtet werden kann Das ADOS gibt es in vier verschiedenen Modulen, welche anhand der Sprachentwicklung des/der PatientIn ausgewählt werden: • • • • • Toddler-Modul für Kleinkinder zwischen 12 und 30 Mon. 1 Keine Sprache (bis max. einfache Sätze) 2 Flexible Drei-Wort-Sätze (bis max. fließende Sprache) 3 Fließende Sprache (Kinder/Jugendliche) 4 Fließende Sprache (Jugendliche/Erwachsene) • Voraussetzung: Normatives Entwicklungsalter des/der PatientIn > 18 M. bei Modul 1-4 • • • • • Frühkindlicher Autismus vs. ASS/erweiterter Phänotyp Lebenslang persistierende Symptomatik: • Defizite in sozialer Interaktion und Kommunikation • Stereotypes Verhalten • Komorbiditäten Bisher sind relativ wenige Studien über die Entwicklung von Personen mit ASS bis ins Erwachsenenalter durchgeführt worden Meistens werden Fortschritte in prosozialen Verhaltensweisen und kognitiven Fähigkeiten beschrieben, jedoch besteht in vielen Fällen eine lebenslange Abhängigkeit von Familie, Angehörigen oder Institutionen (dies trifft auch auf viele Personen mit Asperger-Syndrom oder HFA zu) • • • • • Autismus galt bis in die 1950er und -60er Jahre als nahezu unbehandelbar Erste Langzeitstudien zur Entwicklung von Kindern mit Frühkindlichem Autismus (1950er und -60er Jahre): ¾ ungünstige und sehr ungünstige Verläufe, ¼ günstigerer Verlauf mit verbessertem Sozialverhalten Mit der Entwicklung erster Frühinterventionen (bspw. ABA, frühe 1960er Jahre, TEACCH, 1972) günstigere Prognose, bspw. Beschulung von deutlich mehr Kindern in Regelschulen Seit den 1980er Jahren günstigere Ergebnisse wg. deutlich intensiverer - d. h. u. a. hochfrequenter – Therapie Die Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer Vorgehensweisen zur Verhaltensmodifikation sind heute vielfach bestätigt; diese gelten als besonders effektiv, wenn strukturiert und gleichzeitig individuell zugeschnitten PSYCHOPHARMAKOTHERAPIE BEI AUTISMUS • Generell gilt: Keine kausale, sondern rein symptomorientierte Behandlung • Häufige belastende Symptome sind: • • • • • • Unruhe / Hyperaktivität Unaufmerksamkeit Reizbarkeit/Aggressivität Selbstverletzendes Verhalten Schlafstörungen Depressive Verstimmungen PSYCHOPHARMAKOTHERAPIE BEI AUTISMUS • Stimulantien: Methylphenidat (bspw. Ritalin ®, Medikinet ®) • Wird einschleichend verordnet, nur kurze Wirkdauer • Indikation: Motorische Unruhe, Unaufmerksamkeit, Aggressivität • Neuroleptika: Risperidon, Pipamperon (Risperdal ®, Dipiperon ®) • Indikation: Reizbarkeit, Aggressivität, Selbstverletzendes Verhalten • Nebenwirkungen: Sehr häufig Gewichtszunahme, evtl. Müdigkeit, EKG- Veränderungen, Steifigkeit, Dyskinesien • Atypische Neuroleptika: Aripiprazol (Abilify ®) • Indikation: Aggressivität/Reizbarkeit • Nebenwirkungsärmer als Risperidon, vor allem weniger Gewichtszunahme • Melatonin (Körpereigenes Hormon der Zirbeldrüse) • Indikation: Schlafstörungen • Reguliert den Schlaf- Wach-Zyklus • Sehr nebenwirkungsarm „Gleichzeitig jemandem die Hand geben, zu ihm aufsehen und dann noch „Guten Tag“ sagen sind für mich zuviele verschiedene Dinge auf einmal, die ich nicht miteinander zu einer Einheit verbinden kann.“ - Dietmar Zöller „Autisten sind Menschen, die in manchen, vor allem sozialen, Bereichen große Schwierigkeiten haben. Gleichzeitig können sie in bestimmten Gebieten sehr begabt sein.“ - B.R. • • • • • • • • Ehrlich Unermüdlich Scheuen keine langweiligen Aufgaben Regelgeleitet Unbestechlich im Urteil Stark in mathematischen Fächern Gut im Systematisieren und Analysieren Kommen auf ungewöhnlichen Wegen zu Lösungen „Autismus ist der nicht gelingende Umgang mit Verschiedenheit.“ - Ina Slotta