Philosophie und Religion - Philosophie und Ethik - Goethe-Institut 1 von 2 Philosophie und Religion - Philosophie und Ethik - Goethe-Institut http://www.goethe.de/ges/phi/eth/de6294965.htm Gibt es ein Menschenrecht? Der Philosoph Julian Nida-Rümelin im Gespräch Gibt es individuelle Rechte, die Menschen haben – unabhängig davon, was ihnen vom jeweiligen Rechtssystem an Rechten zugestanden wird? Gibt es Rechte, die sie vor aller politischen Ordnung haben? Und wie lassen sie sich begründen? Herr Nida Rümelin, die Philosophische Fakultät, deren Dekan Sie sind, hat gerade einen Essay-Wettbewerb mit der für manchen vielleicht provokanten Frage „Gibt es ein Menschenrecht?“ ausgeschrieben. Wie ist Ihre Antwort auf diese Frage? Wenn man fragt „Gibt es ein Menschenrecht?“ dann meint man damit, „Gibt es individuelle Rechte, die Menschen unabhängig davon haben, was ihnen vom jeweiligen Rechtssystem an Rechten zugestanden wird? Gibt es Rechte, die Menschen vor aller politischen Ordnung haben?“ Und ich meine: Ja, solche Rechte gibt es! Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen, diese Rechte gelten nicht nur unabhängig vom jeweiligen juridischen oder politischen Rahmen, sie gelten auch unabhängig von der kulturellen Situation, in der Menschen leben. Ich bin ethischer Realist, und deshalb sage ich: Die Menschenrechte, wie ganz zentral etwa das Recht auf Leben, die Würde der Person, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, wurden „entdeckt“, nicht lediglich zuerkannt. Nun gehören zum Kanon der Menschenrechte auch die Glaubensfreiheit, das Recht der kulturellen Selbstbestimmung und der freien Religionsausübung. Kollidieren hier nicht verschiedene Menschenrechte, wenn man etwa daran denkt, dass es zum Beispiel in einigen afrikanischen Ländern so etwas gibt, wie den von manchen auch religiös begründeten Ritus der Genitalverstümmelung junger Frauen? Eine Bemerkung vorab: Nicht alles, was in den Kodifizierungen der Menschenrechte enthalten ist, hat diesen Status des unverbrüchlichen Menschenrechtes, von dem ich gerade gesprochen habe. Wenn es etwa in Artikel 24 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt, jeder habe das Recht auf bezahlten Urlaub, dann ist dies sicherlich ein sozialpolitisch wünschenswertes Ziel, aber im strengen Sinne sicherlich kein „Menschenrecht“. Nun will ich das Recht auf bezahlten Urlaub nicht auf eine Stufe stellen mit dem Recht auf freie Religionsausübung. Doch auch Religionsfreiheit und kulturelle Selbstbestimmung unterliegen insofern einer Einschränkung, als sie dort enden, wo ihre Ausübung selbst Menschenrechte verletzt. Es liegt auf der Hand, dass dies im Einzelfall zu bestimmen nicht immer ganz so einfach ist. Bei dem von Ihnen angeführten Beispiel indes ist die Sache aus meiner Sicht ziemlich einfach. Und dies nicht nur, weil die Beschneidung tatsächlich wohl keine Frage der Religionsausübung ist, sondern „lediglich“ einen Initiationsritus darstellt, der eine Frau angeblich erst zur Frau macht. Selbst wenn dieser Ritus wirklich, wie manche behaupten, eine religiöse Basis hätte, verstieße er doch gegen das Menschenrecht der Frau, weil er die sexuelle Empfindungsfähigkeit der Frau beschädigt und damit ihr Recht verletzt, die erotische Dimension der menschlichen Existenz zu leben – ganz abgesehen davon, dass durch diesen Eingriff in der Praxis häufig auch das Leben der betroffenen Frau ganz unmittelbar gefährdet wird. Damit die aus Menschenrechtsperspektive vorzubringende Kritik an solchen Praktiken und generell an Menschenrechtsverletzungen gleich wo auf der Welt (auch in der sogenannten westlichen Welt sind Menschenrechtsverletzungen ja nicht unbekannt), tatsächlich auch Gehör findet und damit dazu beitragen kann, die Menschenrechte tatsächlich durchzusetzen, ist es allerdings notwendig, dass in den Kulturen selbst die Einsicht wächst, dass hier elementare Grundrechte des Menschen verletzt werden. Allein schon die Behauptung einer moralischen Begründungspflicht führt bereits zu kulturellen Veränderungen. Die Behauptung einer moralischen Begründungspflicht setzt die universelle Gültigkeit der Menschenrechte voraus. In der Tat. Allerdings wird man hier die oben genannten Einschränkungen machen müssen: Nicht alle kodifizierten Menschenrechte, wie das bereits erwähnte Recht auf bezahlten Urlaub, können diese universelle Geltung beanspruchen. Aber hinsichtlich der elementaren Grundrechte, Philosophie und Religion - Philosophie und Ethik - Goethe-Institut 2 von 2 können diese universelle Geltung beanspruchen. Aber hinsichtlich der elementaren Grundrechte, der „basic rights“, die Menschen für sich in Anspruch nehmen können, unabhängig davon, wo und unter welchen sozialen oder kulturellen Bedingungen sie leben, bin ich sehr wohl der Auffassung, dass sie universell gültig sind. Wie muss ein solcher universeller Geltungsanspruch begründet sein? Die sicherlich grobe und wohl auch leicht missverständliche Antwort lautet: Gar nicht! – Das ist jetzt freilich meine sehr persönliche, philosophische Antwort. Das ist nicht Konsens in der Rechtsphilosophie oder Ethik. Aber ich bin in der Tat der Meinung, dass die fundamentalen Menschenrechte Grundannahmen normativer Natur sind, die selbst keiner weiteren Begründung mehr bedürfen. Zu diesen „basic rights“ gehören neben dem Recht auf Leben auch Gleichheit (im Sinne gleicher Respekt, gleiche Anerkennung, gleiche Würde) und Freiheit (im Sinne des Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben). Die Menschenrechte sind eine Idee, die die Menschen miteinander verbindet Betrachten wir die weltpolitische Wirklichkeit: Ist die tatsächliche Verwirklichung des Menschenrechts eine realistische Hoffnung? Sagen wir einmal so: Allein die Tatsache, dass es hinsichtlich doch immerhin sehr konkreter Menschenrechtskataloge zumindest deklaratorisch einen sehr weitgehenden Konsens gibt, spricht dafür, dass die Menschenrechtsidee nicht etwa ein westlicher – je nach Sichtweise – Import beziehungsweise Export ist, sondern dass diese Idee in allen Kultur- und Religionskreisen anschlussfähig ist. Man darf in diesem Zusammenhang auch ruhig daran erinnern, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom Dezember 1948 nicht etwa von den westlichen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen gegen den Rest durchgesetzt wurde. Vielmehr gehörte zu den größten Kritikern zum Beispiel ein Staat wie Großbritannien, während zu den Hauptbefürwortern etwa die südamerikanischen Staaten oder Indien zählten! Es kann also keine Rede davon sein, dass die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte ein westliches Oktroi gewesen sei. Die Menschenrechte sind vielmehr eine Idee, die die Menschen, ganz gleich, wo sie leben, welcher Religion oder Kultur sie angehören, als Menschen miteinander verbindet. Der 1954 in München geborene Julian Nida-Rümelin ist Professor für Philosophie an der LudwigMaximilian-Universität München und Honorarprofessor an der Humboldt-Universität Berlin. Von 1998 bis 2000 war er Kulturreferent der Stadt München und 2001/2002 Kulturstaatsminister in der Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Er ist Mitglied der BerlinBrandenburgischen sowie der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Andreas Vierecke stellte die Fragen. Er ist einer der beiten Leiter des Südpol-Redaktionsbüros Köster & Vierecke und Chefredakteur der Zeitschrift für Politik. Copyright: Goethe-Institut e. V., Online-Redaktion Juli 2010