Dein Muhammad - Mein Muhammad

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„Dein Muhammad – Mein Muhammad“
Eine dialektische Annäherung an Grundsatzfragen
Ayşe
Ich stelle hier folgende Frage: Welche Bedeutung hat Muhammad für den Islamischen
Religionsunterricht?
Wir Muslime sind uns der Einschränkungen, uns ein Bild von Muhammad zu machen,
immer bewusst geblieben. Wir haben den Propheten niemals als göttliches Wesen, als
Inkarnation angesehen oder sonst wie über das Menschliche erhoben, sondern stets nur
als Verkünder der ewigen Botschaft. Als besonderen Menschen ja, aber nicht als
Heiligen – die Bezeichnung „heiliger Prophet“, die manchmal zu lesen ist, trifft die
Sache nicht.
Muhammad ist der Überbringer, der Vermittler, ein Lehrer, sozusagen ein Werkzeug
Gottes. Dennoch – schon früh entwickelte sich eine tiefe Verehrung für den
Gottesgesandten, die ihre Begründung und Rechtfertigung im Koran und in der Sunna
findet. Das mag in einigen Fällen nicht immer ganz der islamischen Theologie
entsprechen, gründet aber oft in einer tiefen Religiosität, oder aber in religiösen
Gewohnheiten der Menschen. Deshalb ist heute die Verortung Muhammads im
religiösen Leben der Musliminnen und Muslime weltweit in gewisser Weise sehr
verschieden.
Muhammads übergeordnete Aufgabe als Gesandter bestand zweifelsfrei darin, die von
Gott erhaltene Botschaft allen Menschen zu verkünden. Das bezeichnet der Islam als
tablīgh (‫)ﺗﺒﻠﻴﻎ‬, was im Koran geklärt wird:
Wenn sie mit dir argumentieren, dann sag: Ich und die, die mir folgen – wir
haben uns Gott ganz und gar ergeben. Und zu denen mit dem Buch und den
Gelehrten sage: Ergebt ihr euch auch? Wenn sie sich ergeben, sind sie geleitet.
Wenn sie sich umdrehen, bleibt Dir die Botschaft (fa-innamā calaikal-balāgh;
‫)ﻓﺈﻧﻤﺎ ﻋﻠﻴﻚ اﻟﺒﻼغ‬. Gott sieht, wer für ihn da ist (Koran 3:20).
Über diesen grundsätzlichen Aspekt hinaus aber stellt Muhammad auch ein schönes
Vorbild für uns Muslime dar. Das wird aus anderen Versen deutlich. Ich zitiere:
Wahrlich, im Gesandten Gottes habt ihr ein gutes und schönes Beispiel für
jeden (uswatun hasana; ‫)اﺳﻮة ﺣﺴﻨﺔ‬, der mit Hoffnung und Ehrfurcht dem letzten
Tag entgegensieht und unaufhörlich Gottes gedenkt (Koran 33:21).
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Der Koran gibt uns also die Koordinaten vor, an Hand derer wir unsere Vorstellung
von Muhammad gewinnen sollen. Die tradierten Überlieferungen versorgen uns mit
Details; sie zeichnen sehr deutlich die feinen Züge im Wesen Muhammads nach.
c
Ā‘ischa sagt beispielsweise, Muhammads „Charakter“ oder auch „Lebensweise“
(zusammengefasst arabisch khuluq; ‫ )ﺧﻠﻖ‬sei der Koran.
Was bedeutet dann in diesem Zusammenhang eigentlich „gutes Vorbild“? Gemeint ist
die Art und Weise, in der Muhammad den Koran ins Leben gesetzt, wie er ihn
umgesetzt, welche Praxis des Handelns sich aus der Botschaft von Gott ergeben hat.
In Verbindung damit sind bestimmte Aussagen im Koran und im tradierten Hadith als
Weisung zu verstehen, Muhammad zu folgen. Wir sollen ihm nacheifern, ihm
gehorchen und die spirituelle Verbindung zu ihm über unsere anderen sozialen oder
formalen Bindungen stellen. Dazu zitiere ich auswahlweise:
Prophet, sprich so: Wenn ihr Gott liebt, folgt mir, (und) Gott wird euch lieben
und euch eure Sünden vergeben […] (Koran 3:31).
Oder:
Dies sind Allahs Anforderungen. Und wer Allah und Seinem Gesandten
gehorcht, den führt Er in Gärten ein, durcheilt von Bächen, ewig darin zu
verweilen. […] (Koran 4: 13).
Oder:
Muhammad sagte: Wer mir folgt, folgt Gott, und wer mich missachtet,
missachtet Gott. Und wer dem folgt, den ich eingesetzt habe, der folgt mir, und
wer ihm nicht folgt, der missachtet mich (Hadith #21 aus der Sammlung
Hammam ibn Munabbih und Sahih Muslim).
Oder:
Muhammad sagte: Bei dem, in dessen Hand meine Seele ist: Es kommt der Tag,
an dem ich nicht mehr da bin. Wer mich dann sehen will, der wird es mehr
wünschen als mit seiner Frau, seinen Kindern, seinem Hab und seinem Gut
zusammen zu sein (Hadith #28 aus der Sammlung Hammam ibn Munabbih und
Sahih Muslim).
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Dem Propheten zu folgen bedeutet demnach, sich seine „Gewohnheit“ zueigen zu
machen, also nach der Sunna zu leben. Die zitierten Textbelege und viele andere
zeigen ganz klar: Kein Islam ohne Koran und Sunna. Über die Sunna erhält der
Muslim eine konkrete Anleitung, Gottes Wohlgefallen zu erlangen …
Senad
Moment mal … Ich hätte da jetzt gleich eine Zwischenfrage. Du sprichst von den
gegebenen Begrenzungen oder Einschränkungen unseres Muhammad-Bildes. Ich frage
nun: Woher kommen die? Sind das Grenzziehungen, die an Hand der von Dir
genannten Quellen objektivierbar sind, oder ist das eine kulturell gewachsene
Zurückhaltung, im Sinne eines Tabus? Oder ist das eine religiöse Geschmacksfrage?
Und wie weit geht das?
Wenn ich nämlich alle mir verfügbaren Informationen aus den Textgrundlagen Koran
und Hadith zusammenfasse, dann ergibt sich für mich ein sehr widersprüchliches Bild
– Muhammad scheint alle möglichen Gegensätze in sich zu vereinen. Das lässt sich
sowohl an charakterlichen Merkmalen festmachen, als auch mit Blick auf prinzipielle
Aussagen, die zur Lehre des Islams geworden sind: Zustimmung hier, Ablehnung da,
Nachsicht hier, Härte da, Erlaubnis hier, Verbot da …
Und dann kommt hinzu, dass Muhammad im Koran nicht selten ermahnt wird. Ich
weiß, dass einige Kommentare des Korans darüber spekulieren, dass das keine echte
Maßregelung, sondern eine Art didaktisches Szenario darstellt. Ich sehe hier aber den
Aspekt der Entwicklung hervorgehoben – Muhammad tritt uns aus den Quellen als
einer entgegen, der dazulernt. Und das stellt mich vor die Frage, wie ich das vom
normativen Gefüge, so wie Du es gerade ansteuerst, wieder zurückübersetzen kann,
wie ich den Entwicklungsgedanken wieder nutzbar machen kann. Idealisierungen
wirken dem aber entgegen, fürchte ich.
Ayşe
Nun, ganz so ist es ja nicht. In der wissenschaftlichen Bearbeitung des Hadith wird
nach bestimmten Kategorien unterschieden – und der Hadith ist die zentrale Quelle für
Aussagen zur Person und zur Biografie Muhammads. Dabei geht es nicht nur um die
bekannten Gütekriterien wie „stark“ oder „schwach“, „gesund“ oder „fragwürdig“, die
sich weit gehend auf die Gewährspersonen in den Tradentenketten beziehen. Nein, es
geht vielmehr vor allem um die weniger bekannten Bewertungen, wie allgemeingültig
oder speziell eine bestimmte Aussage ist, auf wen sie sich bezieht, oder inwieweit sie
sich überhaupt auf die Religion bezieht oder auf andere Dinge, und inwiefern sie durch
spätere oder durch andere Aussagen relativiert werden muss.
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Die von Dir angesprochenen Prozesse, denen scheinbare Irrtümer, Stimmungen oder
Meinungsänderungen Muhammads zu Grunde gelegen haben mögen, führen ja nicht
zum Abbruch der Kommunikation zwischen Muhammad und Gott oder Muhammad
und seinen Mitmenschen, sondern die Sache ging ja weiter. Als Muhammad starb, war
die Entwicklung des Islams abgeschlossen. Dahinter dürfen wir nicht mehr zurück,
und daran können wir auch nicht einfach vorbei. Im Übrigen lassen sich solche
Ereignisse an zwei Händen abzählen
Senad
Na ja, es gibt die Signifikanz der großen und die der kleinen Zahl. Ich sehe hier ja
auch nicht das Problem, dass wir solche singulären Ereignisse irgendwie einordnen
müssen, sondern das hinter ihnen liegende grundsätzliche Problem. Was bilden diese
Texte eigentlich ab – Wahrheit oder Wirklichkeit? Insbesondere Hadithe können gar
nicht anders als zweierlei in sich abzubilden: a) ihren je eigenen spezifischen
kulturgeografischen und sozialen Kontext, und b) insgesamt eine Entwicklung über
Jahre hinweg. Das macht die Zuordnungen, die Du hier vornimmst, ziemlich
kompliziert, insbesondere wenn man nicht mal die zeitliche Einordnung richtig
hinbekommt. Hier eine prinzipielle, zeitlose Aussage mit Anspruch auf Lehre, und da
eine zeitlich und situativ bedingte Aussage ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
Wie soll man das auseinanderziehen? Nach welchen methodischen Kriterien, und
entlang welcher Normen?
Eine ähnliche Herausforderung sehe ich übrigens auch beim Koran. Da habe ich auch
unlängst in dem Vortrag einer Lehrerin gehört, man müsse je nach Vers unterscheiden,
wie der Auslöser für eine Textaussage war, also die asbāb an-nuzūl, und dann noch
den textualen Kontext hinzuziehen. Sie war nach einer so genannten Gewaltpassage
gefragt worden. Es gelang ihr leider nicht, ihre Methodik so zu präzisieren, dass sie
mit der Frage zurechtgekommen wäre. Aber sie vertrat gleichzeitig den Anspruch, ihre
Schülerschaft in just diesen Kompetenzen schulen zu wollen. Das hinterließ einen
seltsamen Nachgeschmack.
Ein anderer als ich fragte sie dann: Was spricht denn dagegen, den ganzen Koran in
seiner materialen Textgestalt zuerst als historisch bedingt zu betrachten, bezogen auf
einen zeitlich und kulturräumlich begrenzten Kontext? Das brachte sie ein wenig aus
der Fassung. Aber ist nicht genau das der springende Punkt? Eben nicht nur den
Hadith in toto anders als gewohnt zu betrachten, sondern auch den Koran in hellerem
Licht zu lesen? Und ebenso den von Muslimen vertretenen Anspruch kritisch zu
prüfen, wie das göttliche Erhaltungsparadigma zustande gekommen ist, der Koran sei
unberührt und unverbogen, und was so eine Aussage damals geleistet hat?
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Ayşe
Beim Koran liegt die Sache völlig anders, Senad. Er ist für uns die gültige
Selbstmitteilung Gottes – egal wie wir das historisieren, rekontextualisieren oder sogar
einige seiner Aussagen kritisieren. Was also der Prüfung unterzogen werden muss, ist
unser Verständnis vom Koran, unser Zugang zu ihm, nicht der Koran selbst. Das
zeichnet den Islam ja gerade aus – diese Klarheit, diese Eindeutigkeit in der Position.
Mal ehrlich, gibt es noch irgendeinen anderen tradierten religiösen Text, der so
authentisch erhalten ist wie der Koran? Ich verstehe Deine Kritik, aber wenn Du nach
der religiösen Maßgabe fragst, dann musst Du bei den Menschen ansetzen, die in
dieser Religion leben. Du setzt mit Fragen an, die weder das Leben dieser Menschen
berühren, noch aus dem eigenen theologischen System des Islams stammen. Für
bekennende Muslime liegen hier Lehre und Beweis begründet: Die eingangs von mir
erwähnte Zurückhaltung ist das Resultat islamischer Theologie im Sinne des
Verstehens, nicht des Erklärens.
Im übrigen sollten wir uns davor hüten, Fragen nach der geschichtlichen Bedingtheit
der Heiligen Schrift, so wie sie in der christlichen Theologie gestellt wurden, einfach
so auf den Koran zu übertragen. Sonst tun wir so, als gebe es einen metatheoretischen
Ansatz, nach der Natur von Bibel, Koran und allen anderen Schriften zu fragen, ohne
dabei zu berücksichtigen, wie spezifisch der Gegenstand und die Frage an den
Gegenstand jeweils aufeinander bezogen sind. Der Koran setzt einen anderen Rahmen.
Senad
Oder umgekehrt – was wir als Muslime glauben, geht auf in der islamischen
Theologiegeschichte getroffene Entscheidungen zurück, die ihrerseits dem Koran
einen Rahmen gesetzt haben, aus Vorsicht vielleicht, aus Unkenntnis, oder aus Kalkül.
Deshalb verstehen wir Muslime nicht immer, was wir erklären, und wir können nicht
immer erklären, was wir verstehen. Was uns mit dem Risiko zurücklässt, die religiösen
Quellen völlig erratisch zu interpretieren, da uns die Kriterien für solche
Entscheidungen nicht mehr gegenwärtig sind. Also fangen wir in der Hermeneutik an,
unsere
eigenen
Vorstellungen
zu
plausibilisieren,
unsere
Religion
nachzurationalisieren und uns selbst zu positionieren, so wie es uns gelegen erscheint.
Ich will es mal auf die Spitze treiben: Je stärker wir den Zugriff auf Koran und Hadith
im Sinne religiös begründeter Schmerzgrenzen reglementieren, desto mehr schreiben
wie den Islam eigentlich um. Wir können Allah nicht dafür verantwortlich machen,
dass wir uns just dort hinter Muhammad und hinter dem Koran verschanzen, wo wir
uns eigentlich vor sie zu stellen hätten.
5
Ayşe
Aber genau hier und genau deswegen kommt der Prophet Muhammad ins Spiel: Er ist
das Korrektiv, denn er ist der beste und authentischste Interpret des Korans.
Senad
Oder der einzige, denn der Koran geht auf ihn zurück.
Ayşe
Nein, Senad, es ist so wie der berühmte pakistanische Dichter Muhammad Iqbal
geschrieben hat: Es sind nicht die Muslime, die den Islam bewahren, sondern es ist der
Islam, der die Muslime bewahrt. Ein Hadith wie der folgende macht das klar; er
begründet die normative Kraft der Sunna für den Gläubigen:
Wer mir nachfolgt, der ist von mir, und wer meine Sunna nicht liebt, der ist
nicht von mir.
Es geht dabei darum, was Muhammad getan hat (‫ ;ﻓﻌﻞ‬ficl), was er gesagt hat (‫ ;ﻗﻮل‬qaul)
oder was er unausgesprochen oder unkommentiert gelassen hat, und anderes mehr.
Das ist ja nicht erst später entstanden, sondern ganz im Gegenteil: Die Bewertung,
inwieweit bestimmte Dinge normativ geschlossen oder diskursiv offen gehalten sind,
ist ja bereits Gegenstand der Texte selbst.
Das muss also nicht von außen her an den Islam herangeführt werden. So verstehe ich
Islamische Theologie nicht. Wir haben in der Islamischen Theologie hier einfach ein
ganz anderes, aber bewährtes Format des Wissensmanagements. Die imitatio
Muhammadi ist also eine Nachahmung des prophetischen Handelns, die auf
Authentizität in der Sache beruht und die in einer bestimmten Methode gründet. Die
Sunna ist somit eine Richtschnur für uns Muslime in den großen und kleinen Dingen
des Glaubens und des Lebens: das Gottesbild und das Selbstbild, Charakter und
Körperpflege, Sozialverhalten und die Etikette des Essens und der Kleidung, Moral
und der adāb der Sprache, die Beziehung zu Gott und die Kleinigkeiten des religiösen
Ritus, Nächstenliebe und konkrete Anweisungen zum Umgang mit Konflikten.
Senad
Ja, ich weiß das. Aber mir wäre wohler, wenn du zum Glauben und Leben noch das
Denken hinzugenommen hättest. Die von Dir erwähnte Sunna wurzelt, wenn ich mich
recht erinnere, begrifflich ja im Sinnbild des Schleifens, des Schabens, des Wetzens,
im Sinne von „eine Sache herausschälen“ oder auch „verfeinern“ oder „voneinander
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trennen“. Und das ist die Frage, an die ich bei der Sache mit der Sunna immer wieder
stoße: Sie soll Identität ermöglichen, aber in welche Richtung? Im Sinne von
Zugehörigkeit, oder im Sinne von Unterscheidbarkeit? Ist denn die Lebensweise
Muhammads zunächst nicht einfach nur seine persönliche Angelegenheit gewesen,
und die imitatio deshalb zuerst die Angelegenheit derer, denen das wichtig war und
die, anders als wir, das lebendige Vorbild des Gottgesandten vor Augen hatten? Wen
ahmen wir eigentlich nach – Muhammad oder seine Nachahmerschaft?
Also, das ist die Frage. Warum folge ich seiner Sunna? Weil sie auf Muhammad
zurückgeht, oder weil sich das für einen Muslim so gehört, oder weil ich dann für
andere als zugehörig erkennbar bin? Oder nicht doch eher, weil sie sinnvoll ist, oder
weil ich sie mag, oder weil sie in mein Leben passt, oder weil sie meinen persönlichen
Geschmack trifft und sich in meinen Lebensstil einfügt? Ich sage letzteres. Und das
setzt doch voraus, dass ich meinen muslimischen Lebensstil frei und unbevormundet
entwickeln können muss. Gerne hier und da nach dieser oder jener Maßgabe der
Sunna. Aber für mich ist die imitatio Muhammadi etwas für Fortgeschrittene, für die
Freizeit, für Freaks. Sie gehört als Wissensinhalt in den Islamischen
Religionsunterricht, als Gegenstand der Kognitivierung vielleicht, aber nicht als
Maßstab der Habitualisierung.
Ayşe
Würdest Du dann sagen, dass auch der Koran Maßgabe nur des Kenntniserwerbs und
nicht der Verhaltensänderung sein soll? Denn so wie ich es sehe, geht es im Koran um
die Ästhetisierung gewisser Verhaltensweisen. Und zwar grundlegender
Verhaltensweisen. Dein Ansatz klingt in meinen Ohren so, als möchtest Du da etwas
abbauen, wo wir etwas aufbauen müssen. Damit stünden wir doch gleich vor zwei
unlösbaren Problemen: Erstens, religiöses Lernen im Religionsunterricht ist etwas
anderes als die Kenntnisnahme des Islams im Geschichtsunterricht; es geht mehr ums
Leben und weniger ums Lesen. Und zweitens, und das ist dein eigenes Argument mit
der Kriterialität, können wir nicht hüben „hü“ und drüben „hott“ sagen – Koran und
Sunna gehören einfach zusammen.
Senad
In Ordnung. Dann lass mich das mal von einer anderen Seite her angehen: An wen
richtet sich eigentlich der Islam? Ist er mehr für uns Muslime da oder doch eher für die
Nicht-Muslime? Was kümmert die denn die Sunna Muhammads? Ich hege den
Verdacht, dass keiner der Zeitgenossen Muhammads Muslim geworden wäre, wenn
ihm gesagt worden wäre: Lebe so wie Muhammad.
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Mir will scheinen, dass es uns heute erst dann gelingen wird, die Grundschwingung
des Islams wieder erklingen zu lassen, wenn wir endlich diesem Anspruch auf die
Sunna seinen Platz zugewiesen haben, wenn wir uns von der imitatio freigemacht
haben, wenn wir bereit sind, uns nicht immer schon das Ergebnis unserer religiösen
Lernschritte vorkauen zu lassen. Ich sehe das nämlich nicht nur in Konkurrenz zum
Bildungsauftrag der Schule, sondern zur Selbstverwirklichung als Muslim – nicht die
Sunna selbst, verstehe mich nicht falsch, sondern das tradierte Verständnis von der
Sunna als unverhandelbare Richtschnur. Sie ist für mich zuerst ein Horizont zur
Erschließung des Islams, und erst in zweiter Linie Horizont für das wirkliche Leben.
Schau mal, vor welchen Problemen stehen wir denn heute? Ich meine als globale
Gemeinschaft, in der sich alle Menschen ergänzen müssen, als mitmenschliche
Solidargemeinschaft, als Muslime in Deutschland. Worüber sollen wir mit den Leuten
da draußen reden? Über Islamischen Religionsunterricht, über Moscheebau und
Minarett, über Burka und Schächten? Sind das wirklich unsere Hausaufgaben? Ist
„nach der Sunna leben“ das, was wir unseren Mitmenschen mitzuteilen haben, wenn
wir das Anliegen der Dacwa wirklich ernst nehmen wollen?
Und vergiss nicht, Du gehst in deinem Ansatz von Annahmen aus, die wir bei den und
Muslimen, mit denen wir es hier und heute zu tun haben, nicht mehr als gegeben
voraussetzen können: Selbstmitteilung Gottes, Echtheit Muhammads, Wahrheit des
Korans … das ist für viele so weit weg wie für uns beide das Oktoberfest.
Ayşe
Doch, Senad, genau das. Genau das ist der springende Punkt. Gerade in der von dir
beschriebenen Situation kann es doch nicht sein, in endlosen spekulativen
Diskussionen um die eigene Achse zu rotieren. Es muss doch darum gehen, durch den
klaren Bezug zu festen Formen und Regeln, durch den Islam als Standard, dem Leben
eine Richtung zu geben und die eigene Mitte zu finden. Das von Dir angesprochene
Verständnis des Islams braucht einen Anlass und ein Ziel: Warum und wozu Koran
und Hadith lesen und verstehen.
Die eigene Mitte ergibt sich doch nicht nur durch die Selbstbezogenheit, sondern
dadurch, in welche Beziehung das Selbst zu Gott tritt. Diese Dimension wird durch die
theologienahen Bezugswissenschaften ja gar nicht erfasst. Sonst sähen sie sich dem
Vorwurf ausgesetzt, keine Wissenschaft mehr zu sein. Wir pflegen im Islam aber einen
anderen Begriff von der Sozialisation oder der Selbstverwirklichung. Die Sozialisation
des Subjekts geschieht über seine aktive Aneignung der Welt. An diesem Prozess aber
ist derjenige beteiligt, der die Welt erschaffen hat und dem sie gehört. Gott steht über
allem. Und bei der Selbstverwirklichung geht es mir nicht darum, zu sein wer ich sein
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will, sondern so zu werden, wie Gott es für mich vorgesehen hat. Und das muss ich ja
erst einmal herausfinden.
Man steht gegenwärtig immer gut da, wenn man im Islam nach radikaler Reform ruft,
wenn man alles in Frage stellt, wenn man den Glauben gegenüber dem Verstehen
relativiert. Das ist ein Phänomen des Zeitgeistes – aber wer sich mit ihm verheiratet,
wird schnell Witwer.
Deshalb würde ich lieber noch einen Schritt weiter gehen. Mir reicht es nicht zu sagen,
der Koran sei die zeitlose und ewiggültige Mitteilung Gottes und der Hadith so etwas
wie eine begleitende Quelle mit gesteigerter Irrtumswahrscheinlichkeit. Nein, beides,
Koran und Sunna, sind die zwei untrennbaren Seiten ein und derselben Sache. Die
Interpretation des Korans und die Vergegenwärtigung Muhammads müssen wieder
enger zusammengeführt werden. Alle postmodernen Ansätze, die versucht haben,
diese beiden Aspekte des Islams gegeneinander auszuspielen, sind bislang gescheitert.
Das ist so, als wenn du einem Zehntausendmeterläufer in der letzten Runde zurufst, er
soll jetzt besser nur noch auf einem Bein weiterhüpfen, damit er besser vorankommt.
Senad
Ich würde ihm zurufen: Wirf deine Krücken weg und gib endlich Gas!
Ayşe
Krücken? Was der Koran uns über Muhammad mitteilt, ist doch keine Kleinigkeit, die
uns nach Belieben darüber herumdebattieren lässt, wie wir es mit der Sunna halten
wollen. Vergleichen wir das mal mit dem Propheten Mose: Er nimmt eine
herausragende Stellung unter den Propheten im Koran ein. Da kommen verschiedene
Offenbarungsformen vor – Inspiration, Rede, Traum … Gott hat aber nur mit Mose
unmittelbar, wenn man so will, unter vier Augen gesprochen. Muhammads Stellenwert
zeigt sich demgegenüber darin, dass Gott und die Engel ihn segnen. Ich zitiere aus
dem Koran:
Gott und seine Engel sprechen den Segen über den Propheten. Sprecht also den
Segen über ihn, ihr die ihr glaubt, und grüßt ihn mit dem rechten Gruß (33:56).
Und dann mahnt Gott im folgenden Vers, der sich einzig und allein auf Muhammad
bezieht:
Was die betrifft, die Gott und seinen Gesandten beleidigen: Gott verflucht sie
im Diesseits und im Jenseits; er hat für sie Strafe vorgesehen (33:57).
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Senad
OK, das greife ich jetzt mal auf, und ich will niemanden beleidigen: Du willst den
Schutzschild der Unfehlbarkeit des Korans auf den Hadith, auf die Konstruktion der
Sunna und auf die daraus resultierende Rekonstruktion Muhammads übertragen. Aber
warum nicht den umgekehrten Weg gehen und das Merkmal der Rekonstruktion von
Hadith und Sunna auf den Koran übertragen? Dazu laden solche Verse, wie Du sie
zitiert hast, doch geradezu ein.
Du hast gerade gesagt, ich baue was ab, wo Du aufbauen willst. Ich sollte deshalb
vielleicht von Dekonstruktion reden. Ich bezweifle nämlich, dass wir hier
zusammenkommen. Ich beziehe Dekonstruktion nicht auf den Koran als Gegenstand
textwissenschaftlicher Analyse, sondern auf uns beide, auf unsere grundlegenden
Differenzen im Verständnis von der Sache. Anders als mit meinem Instrumentenkoffer
schaffen wir es nicht, unseren eigenen Prozessen des Denkens, unseren Vorannahmen
und unserer Lust auf Verallgemeinerung auf die Schliche zu kommen. Wie bekommen
wir die impliziten Gründe für unsere Überzeugungen in den Griff, die sich dem
erkennenden Zugriff entziehen wollen? Ich meine nämlich, Du hast Dich in Deinen
Auffassungen in einer Art verfangen, die zu Kurzschlüssen führt.
Ayşe
Nur weil ich Dein Mantra der Konstruiertheit von Religion nicht mitsinge? Wer hat
sich denn hier verfangen? Du wirst es nicht glauben, aber ich gehe mit Deinen Ideen
nicht konform – weder was den Koran angeht, noch hinsichtlich der Sunna. Das kann
ich schon aus Gründen des Herzens nicht, aber noch mehr aus Gründen des Kopfes.
Wer nämlich solche Paradigmen erhebt, der muss Ross und Reiter nennen. Zu jeder
Konstruktion gehört ein Konstrukteur. Du solltest also die Motive und Intentionen
benennen können, welche der Konstruktion zu Grunde gelegt wurden. Und von wem
übrigens? Das sauge ich mir hier nicht aus den Fingern: Genau dieser Vorwurf ging ja
schon an Muhammad, er musste sich damit auseinandersetzen, und der Koran spiegelt
das an Stellen wie 6:105, 16:103, 25:4-6 oder 44:14 wider. Ich zitiere mal die erste:
So legen wie die Zeichen unterschiedlich dar, uns sie sagen: Das hast du dir
zurechtgelegt (darasta; ‫)درﺳﺖ‬. Aber wir machen die Sache damit für diejenigen
klar, die Bescheid wissen.
Muhammad wurde vorgehalten, sich den Koran selbst gebastelt zu haben, mit
Fertigteilen aus dem Religions-Obi in Mekka – ein bisschen Lehre, ein bisschen Regel,
ein bisschen Gebet, ein paar schöne Geschichten, die eh schon jeder kennt, es gibt
tausend verschiedene Kacheln, aber alle Bäder haben Kacheln …
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Nebenbei gesagt: Der größte Teil der Sunna steckt nicht im Hadith, sondern schon im
Koran. In dieser Hinsicht vervollständigt die Sunna den Koran doch nur. Was ich
damit sagen will: Der Koran fordert auf, die bessere Alternative neben den Koran des
göttlichen Urhebers zu stellen. Das ist der so genannten tahaddin (‫)ﺗﺤﺪ‬, die
Herausforderung, mit der sich schon die altarabischen Dichter gegenseitig
aufgestachelt haben – und alle haben sich am Koran die Zähne ausgebissen. Warum?
Weil der Denkfehler nicht in der Fehlkonstruktion von Koran und Sunna liegt, sondern
in den bekenntnisartigen Floskeln einer Sichtweise, die Probleme damit hat, Gott als
Konstrukteur anzuerkennen. Also, wen oder was willst du nun auseinandernehmen?
Senad
Deinen Muhammad. Der ist mir nicht geheuer.
Ayşe
Um ihn durch Deinen zu ersetzen? Wir arbeiten offenbar in unterschiedlichen
Werkstätten, aber mit folgendem Unterschied: Ich habe einen Bauplan, während Du so
lange werkelst, bis Du meinst, dass etwas dabei herausgekommen ist. Lass mich jetzt
mal zu Ende basteln. Muhammad wird in 21:107 als „Gnade für die Welt“ ( ‫رﺣﻤﺔ‬
‫ ;ﻻﻟﻌﺎﻟﻤﻴﻦ‬rahmatun lil-cālamīn) bezeichnet. Muhammads Rolle als abschließender
Prophet und Verkünder der vollendeten Offenbarung ist im Koran bestimmt. Genauso
wird auch seine sich über die ganze Welt ausdehnende Wirkung explizit im Koran
genannt: Barmherzigkeit, und zwar für alle.
Ragib El-Isfahani unterscheidet in seinem Wörterbuch der koranischen Begriffe die
inhaltliche Begriffsbestimmung von rahma, Barmherzigkeit, zwischen Gott und
Mensch. Die göttliche Barmherzigkeit ist zu verstehen als die Gewährung und
Beschenkung seiner Geschöpfe mit Gaben (‫ ;إﺣﺴﺎن‬ihsān) sowie der Erweisung von
Gefälligkeit, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.
Barmherzigkeit als menschliche Eigenschaft umfasst mehr als nur Erbarmen.
Barmherzigkeit ist eine Haltung, die durch Gutherzigkeit, Mildtätigkeit, Liebe,
Anteilnahme und Güte gekennzeichnet ist. Muhammads Barmherzigkeit schlägt sich
in seinen Beziehungen zu den Geschöpfen Gottes und dem behutsamen Umgang mit
der Natur nieder. Wenn man bestimmte Stationen im Leben Muhammads in den Blick
nimmt, dann lassen sich daraus Impulse für Kinder und Jugendliche erarbeiten,
Orientierung zu gewinnen und Ziele für die persönliche Entwicklung anzusteuern.
Es ist also keine Fehlleistung der religiösen Sozialisation, wie Du das mal bezeichnet
hast, dass heute bei vielen muslimischen Jugendlichen Muhammad hoch im Ansehen
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steht, während sie mit Blick auf den Koran vom Tuten und Blasen keine Ahnung
haben. Darin spiegelt sich vielmehr eine ganz natürliche Haltung, die uns die Chance
gibt, erzieherisch und unterrichtlich einzuwirken und den Islam zu vermitteln, und das
vor allem über die Sunna.
Senad
Du redest von erzieherischer Einwirkung durch das religiöse Arrangement. Diese
Deine Vorstellung hat für mich die Anmutung des Totalitären, liebe Ayşe, vor allem
wenn der Bauplan dieser Konstruktion im Verborgenen gehalten wird. Religiöses
Lernen bedeutet doch nicht, so eine Konstruktion zu verinnerlichen, sondern ihre
Struktur zu durchschauen, ihre Funktion zu verstehen – und nötigenfalls den Plan
abzuändern.
Ich meine wirklich totalitär. Das kenne ich so von Leuten, die gerne zeigen, wie sehr
sie nach dem Vorbild Muhammads leben. Wer nicht so ist wie sie, wird als
andersartig, als fehlerhaft wahrgenommen. So wie dieser alte Mann im Keller seiner
islamischen Schule in Solo in Indonesien. Weiß Du noch im letzten Sommer, wir
waren beide da. Als er über Männer und Frauen redete, die nicht nach der Sunna leben.
Er nannte sie „unvollständige“ oder „falsche“ Muslime. Ich glaube er meinte alle, die
anders aussehen als er. Ein Begriff wie „Barmherzigkeit“ gehört aus so einem Geist
heraus eher in den Giftschrank als in die Schultüte.
Als totalitär verstehe ich hier auch, wenn versucht wird, eine monolithische, homogene
und allumfassende Halbplastik von Muhammad herzustellen – glattgespachtelt,
weichgezeichnet, glorifiziert. Wenn dann genau darin noch von einer Gruppe die
Deutungshoheit in Anspruch genommen wird, die auch darauf aus ist, damit Macht
über andere auszuüben, und die sich darin übt, ihrer Demut vor Gott durch ihren
Hochmut vor den Menschen Ausdruck zu verleihen, dann sag ich schon mal gute
Nacht. Was sagt denn Dein Muhammad zu innermuslimischer Pluralität der Ideen und
Lebensstile? Kommt dort nicht vor, oder?
Ayşe
Doch – Wahlfreiheit ja, Beliebigkeit nein.
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Senad
Ich weiß nicht recht. Mir hat an so einer Stelle in der Diskussion mal ein Bruder mit
etwas längerem Bart als meinem den Koranvers 48:29 an den Kopf geworfen – die
Beule spüre heute noch:
Muhammad ist der Gesandte Gottes. Und diejenigen, die an seiner Seite stehen
(‫ ;اﻟﺬﻳﻦ ﻣﻌﻪ‬alladhīna macahu), gehen mit den Ungläubigen hart, miteinander
aber sanft zu Werke … aschiddā‘u calal-kuffār, ruhamā’u bainahum …
Du hast Recht – diese Sunna findet sich schon im Koran. Da steht’s ja schwarz auf
weiß: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.
Ayşe
Das passt hier doch gar nicht rein – bei diesem Vers, bei der ganzen Sure geht es um
etwas ganz anderes.
Senad
Genau davon rede ich ja die ganze Zeit: Wer legt denn fest, worum es gerade geht? Ich
habe den Vers ja nicht zitiert, sondern ich zitiere jemanden, der meinte, sich auf ihn
berufen zu müssen, um mich zu belehren. Er betet nicht mehr Gott an, er betet den
Islam an. Für meinen Geschmack hat er Muhammad vergöttlicht.
Ayşe
Das tue ich ja nicht.
Senad
Ich glaube doch. Wie hast du eben gesagt? „Muhammads Barmherzigkeit“?
Ayşe
Das ist doch ein sprachlicher Allgemeinplatz, Senad. Die Bedeutung von rahma hat
das muslimische Denken sehr stark geprägt und damit auch unsere Sprache
durchdrungen. Im Deutschen vielleicht weniger als im Arabischen oder im Türkischen.
Jedenfalls haben die Vorstellungen von Mystikern und religiösen Poeten hierbei eine
große Rolle gespielt. Im türkischen Anatolien (und der ganzen Türkei eigentlich) oder
im Iran wird zum Beispiel der Regen als rahmat bezeichnet.
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Denk mal an das deutsche Kinderlied „Es regnet, Gott segnet, die Erde wird nass“, in
dem dasselbe zum Ausdruck gebracht wird. Die Barmherzigkeit Gottes zeigt sich in
dem Leben spendenden Regen. In diesem Sinne ist der Prophet rahmat, denn durch
seine Predigten sowie durch die Erzählungen über ihn und die Berichte von seinen
Taten blühen die welken Herzen der Menschen wieder auf. Durch die Barmherzigkeit
des Gesandten floss die göttliche Gnade in die Herzen der Menschen. Muhammad ist
sozusagen die Manifestation der Gottesnamen ar-rahmān (‫ )اﻟﺮﺣﻤﺎن‬und ar-rahīm
(‫)اﻟﺮﺣﻴﻢ‬.
Senad
Ich kenne das Lied: Bunt werden Blumen, und grün wird das Gras. Der Regen bringt
Segen, heraus aus dem Haus! Steig schnell in die Kutsche, gleich fahren wir aus …
Vergiss nicht die Burka, gehst du aus dem Haus …
Ayşe
Ha ha, sehr lustig!
Senad
Gut, ich nehme das zurück. Lass mich stattdessen auch mal aus dem so heiß geliebten
Hadith zitieren:
Mir wurde mit Furcht und Angst geholfen, und mir wurden (wenige) Worte mit
viel Bedeutung gegeben (Hadith #37 aus der Sammlung Hammam ibn
Munabbih, und Sammlung Muslim).
Erkennst Du mein Problem? Mit racb ist Schrecken, Angst und Einschüchterung
gemeint, oder nennen wir es bei seinem lateinischen Namen: terror. In den
Kommentaren zu diesem Hadith steht: „Furcht in den Herzen der Gegner, so dass sich
der Kampf erübrigte.“ Das ist starker Tobak.
Oder diesen hier:
Hätten die Leute Israels das nicht getan, würde Essen nicht verschimmeln und
Fleisch nicht verderben. Hätte Eva das nicht getan, dann würde keine Frau je
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ihren Mann hintergehen (Hadith #57 aus der Sammlung Hammam ibn
Munabbih, und Sammlung Bukhari).
Diese Sache mit den Israeliten – das bezieht sich dem Kommentar nach auf die
Koranstellen 2:35, 3:49 und 7:19-21: Die Juden hätten Essen gehortet, und Eva habe
Adam verführt. Vielleicht beruht ersteres auf einer der bekannten
Selbstbezichtigungen, wie wir sie aus dem mündlichen und verschriftlichten jüdischen
Kommentar kennen und die sich im Hadith wiederfinden, ich weiß es nicht. Ich würde
ohnehin dazu tendieren, den Hadith so wie einen frühen Midrasch zu lesen,. Da steckt
dasselbe Wort drin wie in dem Vers, den Du zitiert hast: darasa – etwas
auseinandernehmen. Hier gibt es mehr Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und
Islam: die Suche, das Bemühen um Verständnis der Schriften und möglicher Lehre,
die sich daraus ziehen lässt. Beide Quellen, Koran und Hadith, wären demnach also
nicht selbst Lehre, sondern sie dokumentieren das Entstehen von Lehre. Darin sehe ich
Nachahmenswertes, nicht in den konkret benannten Personen und Sachverhalten, die
darin vorkommen.
Und noch ein Beispiel. Es bezieht sich auf den berühmten Vers 2:256, du weißt schon,
„kein Zwang im Glauben“. Hier kommt der Hadith in einer ganz anderen Dimension
zum Zug, nämlich als Bezugshorizont für die Interpretation des Korans. Bei Abu
c
Ubaid al Qāsim, er ist so um 839 AD in Mekka gestorben und gilt als einer der ganz
frühen und damit authentischen Korankommentatoren, findet sich dazu folgende
Aussage: „Der Vers mit lā ikrāha ist aufgehoben durch dschāhidil-kuffāra walmunafiqīn waghluzh calaihim“; er meint 9:73 – „kämpfe gegen die Ungläubigen und
die Heuchler und sei hart mit ihnen.“ Übrigens, das Wort ghaluzha (‫ )ﻏﻠﻆ‬kommt von
„anbellen, beschimpfen, schlechte Sprache verwenden“. Das ist der Gegenteilsbegriff
zu dem von Dir eingangs erwähnten tablīgh, das mit der Vorstellung von gehobener
Sprache und Eloquenz assoziiert ist.
Al-Qāsim plädiert also für anschnauzen und verprügeln. Er beruft sich auf einen
bestimmten Anlass der Offenbarung von 2:256 und erläutert: „Der Sinn dieses Verses
ist, wenn Gott will, dass die, für die eine Schutzbestimmung gilt (z.B. die Juden in
Medina), ihre Abgabe (dschizya) entrichten müssen, sonst verlieren sie ihre Freiheit.
Für solche, mit denen Krieg herrscht, gilt dieser Vers nicht.“
Ich frage mich nun: Wohin führt bei Texten wie diesen eigentlich die von Dir ins Feld
geführte imitatio Muhammadi, in dem vermeintliches Fehlverhalten von Juden dafür
verantwortlich gemacht wird, dass Milch sauer wird, dass Fleisch verfault und dass
Obst verschimmelt? Und dann die Sache mit Eva – hier haben wir eine Aussage, die
das filigrane Konstrukt einer geschlechtergerechten Lesart der Religion mit einem
Schuss aus der Hüfte vom Sockel runterholt.
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Wir standen übrigens bei der Schulbucharbeit immer wieder vor dieser Frage: Text x
aus dem Koran passt prima, aber die Texte y und z müssen wir weglassen; Hadith x
trifft das was wir meinen, aber die Hadithe y und z machen das wieder zunichte; die
sperren wir lieber weg..
Damit, Ayşe, landen wir bei folgender Direktive der didaktischen Analyse des
Islamischen Religionsunterrichts: Grundsatz eins – wisse, was du besser verschweigst;
Grundsatz zwei – lass nicht zu viele Fragen zu.
Wo liegt jetzt die norma normans für die theologische Herleitung
religionspädagogischen Handelns – in den Quellen selbst, oder in unserer begründeten
Entscheidung, wie wir mit den Quelle umgehen wollen? Das scheint mir doch die
Schlüsselfrage zu sein.
Ayşe
Beides. Ich sehe hier das Zusammenspiel beider Aspekte – religionspädagogische
Expertise auf der Grundlage von Entscheidungen, die wiederum auf dem Koran und
auf der Sunna beruhen. Das Verständnis der Schrift ist eine Sache des Geistes, der
Haltung, der Einstellung. Der Koran zielt auf den rechten Geist, und die Sunna
konkretisiert das für das Verhalten.
Senad
Hast Du dafür ein Beispiel?
Ayşe
Ja. Mit Geist meine ich auch die intellektuelle Bescheidenheit, den Vorrang des
Glaubens vor dem Meinen, den Vorzug des Wissens vor dem Dafürhalten:
Ihr hört nicht auf zu fragen, Frage über Frage, bis ihr sagt: Gott hat alles
erschaffen, aber wer hat Gott erschaffen? (Hadith #93 aus der Sammlung
Hammam ibn Munabbih).
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Senad
Also Du meinst, erst von der Sache her denken, und sich von dort aus auf die Schüler
zubewegen?
Ayşe
Besser so herum als umgekehrt.
Senad
Sicher?
Ayşe
So sicher wie Gott das Licht ist und der Glaube Erleuchtung.
Senad
Oder so sicher wie der Eindruck von Licht in den Schläfenregionen des Großhirns
entsteht?
Ayşe
So sicher, wie der Koran von Gott stammt.
Senad
Oder so sicher wie Religionen ihr eigenes Schrifttum hervorrufen.
Ayşe
Nein, so sicher, wie Muhammad von Gott gesandt wurde.
Senad
Oder so sicher wie Muhammad sich auf Gott berief.
Ayşe
Deinen Religionsunterricht möchte ich mal sehen.
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Senad
Wie kommen wir also zusammen?
Ayşe
Das weiß ich auch nicht. Aber ich sehe folgende offene Kernfrage: Wie viel kritische
Anfrage an die religiöse Substanz darf sich Islamischer Religionsunterricht zueigen
machen, um noch als Religionsunterricht erkennbar zu sein? Mein Ansatz scheint Dir
zu eng zu sein, und Dein Ansatz ist mir zu offen. Wahrscheinlich besteht die Kunst der
Didaktik darin, dies in einer produktiven Schwebe zu halten und für Lernprozesse
nutzbar zu machen.
Senad
Das ist sicher noch keine Synthese, aber ein guter Start. Da hast Du mich auf Deiner
Seite. Aus philosophischer Sicht betrachtet würde ich sagen ..,
Ayşe
Nein, nein, Senad. Das sind jetzt Dinge, zu denen sich alle hier äußern können. Das hat
mehr mit den Erfahrungen im eigenen Leben zu tun als mit philosophischen
Sichtweisen.
Wie wäre es denn, wenn wir hier abbrechen und dazu einladen, sich untereinander und
dann in Diskussionsgruppen über folgende Fragen auszutauschen:
• Wo in Deinem Leben hast Du vor einem grundsätzlichen Problem in der
religiösen Orientierung gestanden?
• Wie hat Dich das gefordert? Was hast Du unternommen?
• Was folgert daraus für die Kompetenzen, die der islamische Religionsunterricht
ansteuert?
• Wie sollte ein Religionsunterricht aussehen, der junge Muslime genau darauf
vorbereitet?
• Was folgert daraus für die Ausbildung muslimischer Lehrerinnen und Lehrer?
• Wie denkst Du grundsätzlich darüber?
Dann erscheinen viele Dinge in anderem Licht als hier vom Podium aus.
(Idealtypisch verfasst von Tuba Isik-Yigit M.A. und Prof. Dr. Harry-Harun Behr.)
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