„Dein Muhammad – Mein Muhammad“ Eine dialektische Annäherung an Grundsatzfragen Ayşe Ich stelle hier folgende Frage: Welche Bedeutung hat Muhammad für den Islamischen Religionsunterricht? Wir Muslime sind uns der Einschränkungen, uns ein Bild von Muhammad zu machen, immer bewusst geblieben. Wir haben den Propheten niemals als göttliches Wesen, als Inkarnation angesehen oder sonst wie über das Menschliche erhoben, sondern stets nur als Verkünder der ewigen Botschaft. Als besonderen Menschen ja, aber nicht als Heiligen – die Bezeichnung „heiliger Prophet“, die manchmal zu lesen ist, trifft die Sache nicht. Muhammad ist der Überbringer, der Vermittler, ein Lehrer, sozusagen ein Werkzeug Gottes. Dennoch – schon früh entwickelte sich eine tiefe Verehrung für den Gottesgesandten, die ihre Begründung und Rechtfertigung im Koran und in der Sunna findet. Das mag in einigen Fällen nicht immer ganz der islamischen Theologie entsprechen, gründet aber oft in einer tiefen Religiosität, oder aber in religiösen Gewohnheiten der Menschen. Deshalb ist heute die Verortung Muhammads im religiösen Leben der Musliminnen und Muslime weltweit in gewisser Weise sehr verschieden. Muhammads übergeordnete Aufgabe als Gesandter bestand zweifelsfrei darin, die von Gott erhaltene Botschaft allen Menschen zu verkünden. Das bezeichnet der Islam als tablīgh ()ﺗﺒﻠﻴﻎ, was im Koran geklärt wird: Wenn sie mit dir argumentieren, dann sag: Ich und die, die mir folgen – wir haben uns Gott ganz und gar ergeben. Und zu denen mit dem Buch und den Gelehrten sage: Ergebt ihr euch auch? Wenn sie sich ergeben, sind sie geleitet. Wenn sie sich umdrehen, bleibt Dir die Botschaft (fa-innamā calaikal-balāgh; )ﻓﺈﻧﻤﺎ ﻋﻠﻴﻚ اﻟﺒﻼغ. Gott sieht, wer für ihn da ist (Koran 3:20). Über diesen grundsätzlichen Aspekt hinaus aber stellt Muhammad auch ein schönes Vorbild für uns Muslime dar. Das wird aus anderen Versen deutlich. Ich zitiere: Wahrlich, im Gesandten Gottes habt ihr ein gutes und schönes Beispiel für jeden (uswatun hasana; )اﺳﻮة ﺣﺴﻨﺔ, der mit Hoffnung und Ehrfurcht dem letzten Tag entgegensieht und unaufhörlich Gottes gedenkt (Koran 33:21). 1 Der Koran gibt uns also die Koordinaten vor, an Hand derer wir unsere Vorstellung von Muhammad gewinnen sollen. Die tradierten Überlieferungen versorgen uns mit Details; sie zeichnen sehr deutlich die feinen Züge im Wesen Muhammads nach. c Ā‘ischa sagt beispielsweise, Muhammads „Charakter“ oder auch „Lebensweise“ (zusammengefasst arabisch khuluq; )ﺧﻠﻖsei der Koran. Was bedeutet dann in diesem Zusammenhang eigentlich „gutes Vorbild“? Gemeint ist die Art und Weise, in der Muhammad den Koran ins Leben gesetzt, wie er ihn umgesetzt, welche Praxis des Handelns sich aus der Botschaft von Gott ergeben hat. In Verbindung damit sind bestimmte Aussagen im Koran und im tradierten Hadith als Weisung zu verstehen, Muhammad zu folgen. Wir sollen ihm nacheifern, ihm gehorchen und die spirituelle Verbindung zu ihm über unsere anderen sozialen oder formalen Bindungen stellen. Dazu zitiere ich auswahlweise: Prophet, sprich so: Wenn ihr Gott liebt, folgt mir, (und) Gott wird euch lieben und euch eure Sünden vergeben […] (Koran 3:31). Oder: Dies sind Allahs Anforderungen. Und wer Allah und Seinem Gesandten gehorcht, den führt Er in Gärten ein, durcheilt von Bächen, ewig darin zu verweilen. […] (Koran 4: 13). Oder: Muhammad sagte: Wer mir folgt, folgt Gott, und wer mich missachtet, missachtet Gott. Und wer dem folgt, den ich eingesetzt habe, der folgt mir, und wer ihm nicht folgt, der missachtet mich (Hadith #21 aus der Sammlung Hammam ibn Munabbih und Sahih Muslim). Oder: Muhammad sagte: Bei dem, in dessen Hand meine Seele ist: Es kommt der Tag, an dem ich nicht mehr da bin. Wer mich dann sehen will, der wird es mehr wünschen als mit seiner Frau, seinen Kindern, seinem Hab und seinem Gut zusammen zu sein (Hadith #28 aus der Sammlung Hammam ibn Munabbih und Sahih Muslim). 2 Dem Propheten zu folgen bedeutet demnach, sich seine „Gewohnheit“ zueigen zu machen, also nach der Sunna zu leben. Die zitierten Textbelege und viele andere zeigen ganz klar: Kein Islam ohne Koran und Sunna. Über die Sunna erhält der Muslim eine konkrete Anleitung, Gottes Wohlgefallen zu erlangen … Senad Moment mal … Ich hätte da jetzt gleich eine Zwischenfrage. Du sprichst von den gegebenen Begrenzungen oder Einschränkungen unseres Muhammad-Bildes. Ich frage nun: Woher kommen die? Sind das Grenzziehungen, die an Hand der von Dir genannten Quellen objektivierbar sind, oder ist das eine kulturell gewachsene Zurückhaltung, im Sinne eines Tabus? Oder ist das eine religiöse Geschmacksfrage? Und wie weit geht das? Wenn ich nämlich alle mir verfügbaren Informationen aus den Textgrundlagen Koran und Hadith zusammenfasse, dann ergibt sich für mich ein sehr widersprüchliches Bild – Muhammad scheint alle möglichen Gegensätze in sich zu vereinen. Das lässt sich sowohl an charakterlichen Merkmalen festmachen, als auch mit Blick auf prinzipielle Aussagen, die zur Lehre des Islams geworden sind: Zustimmung hier, Ablehnung da, Nachsicht hier, Härte da, Erlaubnis hier, Verbot da … Und dann kommt hinzu, dass Muhammad im Koran nicht selten ermahnt wird. Ich weiß, dass einige Kommentare des Korans darüber spekulieren, dass das keine echte Maßregelung, sondern eine Art didaktisches Szenario darstellt. Ich sehe hier aber den Aspekt der Entwicklung hervorgehoben – Muhammad tritt uns aus den Quellen als einer entgegen, der dazulernt. Und das stellt mich vor die Frage, wie ich das vom normativen Gefüge, so wie Du es gerade ansteuerst, wieder zurückübersetzen kann, wie ich den Entwicklungsgedanken wieder nutzbar machen kann. Idealisierungen wirken dem aber entgegen, fürchte ich. Ayşe Nun, ganz so ist es ja nicht. In der wissenschaftlichen Bearbeitung des Hadith wird nach bestimmten Kategorien unterschieden – und der Hadith ist die zentrale Quelle für Aussagen zur Person und zur Biografie Muhammads. Dabei geht es nicht nur um die bekannten Gütekriterien wie „stark“ oder „schwach“, „gesund“ oder „fragwürdig“, die sich weit gehend auf die Gewährspersonen in den Tradentenketten beziehen. Nein, es geht vielmehr vor allem um die weniger bekannten Bewertungen, wie allgemeingültig oder speziell eine bestimmte Aussage ist, auf wen sie sich bezieht, oder inwieweit sie sich überhaupt auf die Religion bezieht oder auf andere Dinge, und inwiefern sie durch spätere oder durch andere Aussagen relativiert werden muss. 3 Die von Dir angesprochenen Prozesse, denen scheinbare Irrtümer, Stimmungen oder Meinungsänderungen Muhammads zu Grunde gelegen haben mögen, führen ja nicht zum Abbruch der Kommunikation zwischen Muhammad und Gott oder Muhammad und seinen Mitmenschen, sondern die Sache ging ja weiter. Als Muhammad starb, war die Entwicklung des Islams abgeschlossen. Dahinter dürfen wir nicht mehr zurück, und daran können wir auch nicht einfach vorbei. Im Übrigen lassen sich solche Ereignisse an zwei Händen abzählen Senad Na ja, es gibt die Signifikanz der großen und die der kleinen Zahl. Ich sehe hier ja auch nicht das Problem, dass wir solche singulären Ereignisse irgendwie einordnen müssen, sondern das hinter ihnen liegende grundsätzliche Problem. Was bilden diese Texte eigentlich ab – Wahrheit oder Wirklichkeit? Insbesondere Hadithe können gar nicht anders als zweierlei in sich abzubilden: a) ihren je eigenen spezifischen kulturgeografischen und sozialen Kontext, und b) insgesamt eine Entwicklung über Jahre hinweg. Das macht die Zuordnungen, die Du hier vornimmst, ziemlich kompliziert, insbesondere wenn man nicht mal die zeitliche Einordnung richtig hinbekommt. Hier eine prinzipielle, zeitlose Aussage mit Anspruch auf Lehre, und da eine zeitlich und situativ bedingte Aussage ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Wie soll man das auseinanderziehen? Nach welchen methodischen Kriterien, und entlang welcher Normen? Eine ähnliche Herausforderung sehe ich übrigens auch beim Koran. Da habe ich auch unlängst in dem Vortrag einer Lehrerin gehört, man müsse je nach Vers unterscheiden, wie der Auslöser für eine Textaussage war, also die asbāb an-nuzūl, und dann noch den textualen Kontext hinzuziehen. Sie war nach einer so genannten Gewaltpassage gefragt worden. Es gelang ihr leider nicht, ihre Methodik so zu präzisieren, dass sie mit der Frage zurechtgekommen wäre. Aber sie vertrat gleichzeitig den Anspruch, ihre Schülerschaft in just diesen Kompetenzen schulen zu wollen. Das hinterließ einen seltsamen Nachgeschmack. Ein anderer als ich fragte sie dann: Was spricht denn dagegen, den ganzen Koran in seiner materialen Textgestalt zuerst als historisch bedingt zu betrachten, bezogen auf einen zeitlich und kulturräumlich begrenzten Kontext? Das brachte sie ein wenig aus der Fassung. Aber ist nicht genau das der springende Punkt? Eben nicht nur den Hadith in toto anders als gewohnt zu betrachten, sondern auch den Koran in hellerem Licht zu lesen? Und ebenso den von Muslimen vertretenen Anspruch kritisch zu prüfen, wie das göttliche Erhaltungsparadigma zustande gekommen ist, der Koran sei unberührt und unverbogen, und was so eine Aussage damals geleistet hat? 4 Ayşe Beim Koran liegt die Sache völlig anders, Senad. Er ist für uns die gültige Selbstmitteilung Gottes – egal wie wir das historisieren, rekontextualisieren oder sogar einige seiner Aussagen kritisieren. Was also der Prüfung unterzogen werden muss, ist unser Verständnis vom Koran, unser Zugang zu ihm, nicht der Koran selbst. Das zeichnet den Islam ja gerade aus – diese Klarheit, diese Eindeutigkeit in der Position. Mal ehrlich, gibt es noch irgendeinen anderen tradierten religiösen Text, der so authentisch erhalten ist wie der Koran? Ich verstehe Deine Kritik, aber wenn Du nach der religiösen Maßgabe fragst, dann musst Du bei den Menschen ansetzen, die in dieser Religion leben. Du setzt mit Fragen an, die weder das Leben dieser Menschen berühren, noch aus dem eigenen theologischen System des Islams stammen. Für bekennende Muslime liegen hier Lehre und Beweis begründet: Die eingangs von mir erwähnte Zurückhaltung ist das Resultat islamischer Theologie im Sinne des Verstehens, nicht des Erklärens. Im übrigen sollten wir uns davor hüten, Fragen nach der geschichtlichen Bedingtheit der Heiligen Schrift, so wie sie in der christlichen Theologie gestellt wurden, einfach so auf den Koran zu übertragen. Sonst tun wir so, als gebe es einen metatheoretischen Ansatz, nach der Natur von Bibel, Koran und allen anderen Schriften zu fragen, ohne dabei zu berücksichtigen, wie spezifisch der Gegenstand und die Frage an den Gegenstand jeweils aufeinander bezogen sind. Der Koran setzt einen anderen Rahmen. Senad Oder umgekehrt – was wir als Muslime glauben, geht auf in der islamischen Theologiegeschichte getroffene Entscheidungen zurück, die ihrerseits dem Koran einen Rahmen gesetzt haben, aus Vorsicht vielleicht, aus Unkenntnis, oder aus Kalkül. Deshalb verstehen wir Muslime nicht immer, was wir erklären, und wir können nicht immer erklären, was wir verstehen. Was uns mit dem Risiko zurücklässt, die religiösen Quellen völlig erratisch zu interpretieren, da uns die Kriterien für solche Entscheidungen nicht mehr gegenwärtig sind. Also fangen wir in der Hermeneutik an, unsere eigenen Vorstellungen zu plausibilisieren, unsere Religion nachzurationalisieren und uns selbst zu positionieren, so wie es uns gelegen erscheint. Ich will es mal auf die Spitze treiben: Je stärker wir den Zugriff auf Koran und Hadith im Sinne religiös begründeter Schmerzgrenzen reglementieren, desto mehr schreiben wie den Islam eigentlich um. Wir können Allah nicht dafür verantwortlich machen, dass wir uns just dort hinter Muhammad und hinter dem Koran verschanzen, wo wir uns eigentlich vor sie zu stellen hätten. 5 Ayşe Aber genau hier und genau deswegen kommt der Prophet Muhammad ins Spiel: Er ist das Korrektiv, denn er ist der beste und authentischste Interpret des Korans. Senad Oder der einzige, denn der Koran geht auf ihn zurück. Ayşe Nein, Senad, es ist so wie der berühmte pakistanische Dichter Muhammad Iqbal geschrieben hat: Es sind nicht die Muslime, die den Islam bewahren, sondern es ist der Islam, der die Muslime bewahrt. Ein Hadith wie der folgende macht das klar; er begründet die normative Kraft der Sunna für den Gläubigen: Wer mir nachfolgt, der ist von mir, und wer meine Sunna nicht liebt, der ist nicht von mir. Es geht dabei darum, was Muhammad getan hat ( ;ﻓﻌﻞficl), was er gesagt hat ( ;ﻗﻮلqaul) oder was er unausgesprochen oder unkommentiert gelassen hat, und anderes mehr. Das ist ja nicht erst später entstanden, sondern ganz im Gegenteil: Die Bewertung, inwieweit bestimmte Dinge normativ geschlossen oder diskursiv offen gehalten sind, ist ja bereits Gegenstand der Texte selbst. Das muss also nicht von außen her an den Islam herangeführt werden. So verstehe ich Islamische Theologie nicht. Wir haben in der Islamischen Theologie hier einfach ein ganz anderes, aber bewährtes Format des Wissensmanagements. Die imitatio Muhammadi ist also eine Nachahmung des prophetischen Handelns, die auf Authentizität in der Sache beruht und die in einer bestimmten Methode gründet. Die Sunna ist somit eine Richtschnur für uns Muslime in den großen und kleinen Dingen des Glaubens und des Lebens: das Gottesbild und das Selbstbild, Charakter und Körperpflege, Sozialverhalten und die Etikette des Essens und der Kleidung, Moral und der adāb der Sprache, die Beziehung zu Gott und die Kleinigkeiten des religiösen Ritus, Nächstenliebe und konkrete Anweisungen zum Umgang mit Konflikten. Senad Ja, ich weiß das. Aber mir wäre wohler, wenn du zum Glauben und Leben noch das Denken hinzugenommen hättest. Die von Dir erwähnte Sunna wurzelt, wenn ich mich recht erinnere, begrifflich ja im Sinnbild des Schleifens, des Schabens, des Wetzens, im Sinne von „eine Sache herausschälen“ oder auch „verfeinern“ oder „voneinander 6 trennen“. Und das ist die Frage, an die ich bei der Sache mit der Sunna immer wieder stoße: Sie soll Identität ermöglichen, aber in welche Richtung? Im Sinne von Zugehörigkeit, oder im Sinne von Unterscheidbarkeit? Ist denn die Lebensweise Muhammads zunächst nicht einfach nur seine persönliche Angelegenheit gewesen, und die imitatio deshalb zuerst die Angelegenheit derer, denen das wichtig war und die, anders als wir, das lebendige Vorbild des Gottgesandten vor Augen hatten? Wen ahmen wir eigentlich nach – Muhammad oder seine Nachahmerschaft? Also, das ist die Frage. Warum folge ich seiner Sunna? Weil sie auf Muhammad zurückgeht, oder weil sich das für einen Muslim so gehört, oder weil ich dann für andere als zugehörig erkennbar bin? Oder nicht doch eher, weil sie sinnvoll ist, oder weil ich sie mag, oder weil sie in mein Leben passt, oder weil sie meinen persönlichen Geschmack trifft und sich in meinen Lebensstil einfügt? Ich sage letzteres. Und das setzt doch voraus, dass ich meinen muslimischen Lebensstil frei und unbevormundet entwickeln können muss. Gerne hier und da nach dieser oder jener Maßgabe der Sunna. Aber für mich ist die imitatio Muhammadi etwas für Fortgeschrittene, für die Freizeit, für Freaks. Sie gehört als Wissensinhalt in den Islamischen Religionsunterricht, als Gegenstand der Kognitivierung vielleicht, aber nicht als Maßstab der Habitualisierung. Ayşe Würdest Du dann sagen, dass auch der Koran Maßgabe nur des Kenntniserwerbs und nicht der Verhaltensänderung sein soll? Denn so wie ich es sehe, geht es im Koran um die Ästhetisierung gewisser Verhaltensweisen. Und zwar grundlegender Verhaltensweisen. Dein Ansatz klingt in meinen Ohren so, als möchtest Du da etwas abbauen, wo wir etwas aufbauen müssen. Damit stünden wir doch gleich vor zwei unlösbaren Problemen: Erstens, religiöses Lernen im Religionsunterricht ist etwas anderes als die Kenntnisnahme des Islams im Geschichtsunterricht; es geht mehr ums Leben und weniger ums Lesen. Und zweitens, und das ist dein eigenes Argument mit der Kriterialität, können wir nicht hüben „hü“ und drüben „hott“ sagen – Koran und Sunna gehören einfach zusammen. Senad In Ordnung. Dann lass mich das mal von einer anderen Seite her angehen: An wen richtet sich eigentlich der Islam? Ist er mehr für uns Muslime da oder doch eher für die Nicht-Muslime? Was kümmert die denn die Sunna Muhammads? Ich hege den Verdacht, dass keiner der Zeitgenossen Muhammads Muslim geworden wäre, wenn ihm gesagt worden wäre: Lebe so wie Muhammad. 7 Mir will scheinen, dass es uns heute erst dann gelingen wird, die Grundschwingung des Islams wieder erklingen zu lassen, wenn wir endlich diesem Anspruch auf die Sunna seinen Platz zugewiesen haben, wenn wir uns von der imitatio freigemacht haben, wenn wir bereit sind, uns nicht immer schon das Ergebnis unserer religiösen Lernschritte vorkauen zu lassen. Ich sehe das nämlich nicht nur in Konkurrenz zum Bildungsauftrag der Schule, sondern zur Selbstverwirklichung als Muslim – nicht die Sunna selbst, verstehe mich nicht falsch, sondern das tradierte Verständnis von der Sunna als unverhandelbare Richtschnur. Sie ist für mich zuerst ein Horizont zur Erschließung des Islams, und erst in zweiter Linie Horizont für das wirkliche Leben. Schau mal, vor welchen Problemen stehen wir denn heute? Ich meine als globale Gemeinschaft, in der sich alle Menschen ergänzen müssen, als mitmenschliche Solidargemeinschaft, als Muslime in Deutschland. Worüber sollen wir mit den Leuten da draußen reden? Über Islamischen Religionsunterricht, über Moscheebau und Minarett, über Burka und Schächten? Sind das wirklich unsere Hausaufgaben? Ist „nach der Sunna leben“ das, was wir unseren Mitmenschen mitzuteilen haben, wenn wir das Anliegen der Dacwa wirklich ernst nehmen wollen? Und vergiss nicht, Du gehst in deinem Ansatz von Annahmen aus, die wir bei den und Muslimen, mit denen wir es hier und heute zu tun haben, nicht mehr als gegeben voraussetzen können: Selbstmitteilung Gottes, Echtheit Muhammads, Wahrheit des Korans … das ist für viele so weit weg wie für uns beide das Oktoberfest. Ayşe Doch, Senad, genau das. Genau das ist der springende Punkt. Gerade in der von dir beschriebenen Situation kann es doch nicht sein, in endlosen spekulativen Diskussionen um die eigene Achse zu rotieren. Es muss doch darum gehen, durch den klaren Bezug zu festen Formen und Regeln, durch den Islam als Standard, dem Leben eine Richtung zu geben und die eigene Mitte zu finden. Das von Dir angesprochene Verständnis des Islams braucht einen Anlass und ein Ziel: Warum und wozu Koran und Hadith lesen und verstehen. Die eigene Mitte ergibt sich doch nicht nur durch die Selbstbezogenheit, sondern dadurch, in welche Beziehung das Selbst zu Gott tritt. Diese Dimension wird durch die theologienahen Bezugswissenschaften ja gar nicht erfasst. Sonst sähen sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, keine Wissenschaft mehr zu sein. Wir pflegen im Islam aber einen anderen Begriff von der Sozialisation oder der Selbstverwirklichung. Die Sozialisation des Subjekts geschieht über seine aktive Aneignung der Welt. An diesem Prozess aber ist derjenige beteiligt, der die Welt erschaffen hat und dem sie gehört. Gott steht über allem. Und bei der Selbstverwirklichung geht es mir nicht darum, zu sein wer ich sein 8 will, sondern so zu werden, wie Gott es für mich vorgesehen hat. Und das muss ich ja erst einmal herausfinden. Man steht gegenwärtig immer gut da, wenn man im Islam nach radikaler Reform ruft, wenn man alles in Frage stellt, wenn man den Glauben gegenüber dem Verstehen relativiert. Das ist ein Phänomen des Zeitgeistes – aber wer sich mit ihm verheiratet, wird schnell Witwer. Deshalb würde ich lieber noch einen Schritt weiter gehen. Mir reicht es nicht zu sagen, der Koran sei die zeitlose und ewiggültige Mitteilung Gottes und der Hadith so etwas wie eine begleitende Quelle mit gesteigerter Irrtumswahrscheinlichkeit. Nein, beides, Koran und Sunna, sind die zwei untrennbaren Seiten ein und derselben Sache. Die Interpretation des Korans und die Vergegenwärtigung Muhammads müssen wieder enger zusammengeführt werden. Alle postmodernen Ansätze, die versucht haben, diese beiden Aspekte des Islams gegeneinander auszuspielen, sind bislang gescheitert. Das ist so, als wenn du einem Zehntausendmeterläufer in der letzten Runde zurufst, er soll jetzt besser nur noch auf einem Bein weiterhüpfen, damit er besser vorankommt. Senad Ich würde ihm zurufen: Wirf deine Krücken weg und gib endlich Gas! Ayşe Krücken? Was der Koran uns über Muhammad mitteilt, ist doch keine Kleinigkeit, die uns nach Belieben darüber herumdebattieren lässt, wie wir es mit der Sunna halten wollen. Vergleichen wir das mal mit dem Propheten Mose: Er nimmt eine herausragende Stellung unter den Propheten im Koran ein. Da kommen verschiedene Offenbarungsformen vor – Inspiration, Rede, Traum … Gott hat aber nur mit Mose unmittelbar, wenn man so will, unter vier Augen gesprochen. Muhammads Stellenwert zeigt sich demgegenüber darin, dass Gott und die Engel ihn segnen. Ich zitiere aus dem Koran: Gott und seine Engel sprechen den Segen über den Propheten. Sprecht also den Segen über ihn, ihr die ihr glaubt, und grüßt ihn mit dem rechten Gruß (33:56). Und dann mahnt Gott im folgenden Vers, der sich einzig und allein auf Muhammad bezieht: Was die betrifft, die Gott und seinen Gesandten beleidigen: Gott verflucht sie im Diesseits und im Jenseits; er hat für sie Strafe vorgesehen (33:57). 9 Senad OK, das greife ich jetzt mal auf, und ich will niemanden beleidigen: Du willst den Schutzschild der Unfehlbarkeit des Korans auf den Hadith, auf die Konstruktion der Sunna und auf die daraus resultierende Rekonstruktion Muhammads übertragen. Aber warum nicht den umgekehrten Weg gehen und das Merkmal der Rekonstruktion von Hadith und Sunna auf den Koran übertragen? Dazu laden solche Verse, wie Du sie zitiert hast, doch geradezu ein. Du hast gerade gesagt, ich baue was ab, wo Du aufbauen willst. Ich sollte deshalb vielleicht von Dekonstruktion reden. Ich bezweifle nämlich, dass wir hier zusammenkommen. Ich beziehe Dekonstruktion nicht auf den Koran als Gegenstand textwissenschaftlicher Analyse, sondern auf uns beide, auf unsere grundlegenden Differenzen im Verständnis von der Sache. Anders als mit meinem Instrumentenkoffer schaffen wir es nicht, unseren eigenen Prozessen des Denkens, unseren Vorannahmen und unserer Lust auf Verallgemeinerung auf die Schliche zu kommen. Wie bekommen wir die impliziten Gründe für unsere Überzeugungen in den Griff, die sich dem erkennenden Zugriff entziehen wollen? Ich meine nämlich, Du hast Dich in Deinen Auffassungen in einer Art verfangen, die zu Kurzschlüssen führt. Ayşe Nur weil ich Dein Mantra der Konstruiertheit von Religion nicht mitsinge? Wer hat sich denn hier verfangen? Du wirst es nicht glauben, aber ich gehe mit Deinen Ideen nicht konform – weder was den Koran angeht, noch hinsichtlich der Sunna. Das kann ich schon aus Gründen des Herzens nicht, aber noch mehr aus Gründen des Kopfes. Wer nämlich solche Paradigmen erhebt, der muss Ross und Reiter nennen. Zu jeder Konstruktion gehört ein Konstrukteur. Du solltest also die Motive und Intentionen benennen können, welche der Konstruktion zu Grunde gelegt wurden. Und von wem übrigens? Das sauge ich mir hier nicht aus den Fingern: Genau dieser Vorwurf ging ja schon an Muhammad, er musste sich damit auseinandersetzen, und der Koran spiegelt das an Stellen wie 6:105, 16:103, 25:4-6 oder 44:14 wider. Ich zitiere mal die erste: So legen wie die Zeichen unterschiedlich dar, uns sie sagen: Das hast du dir zurechtgelegt (darasta; )درﺳﺖ. Aber wir machen die Sache damit für diejenigen klar, die Bescheid wissen. Muhammad wurde vorgehalten, sich den Koran selbst gebastelt zu haben, mit Fertigteilen aus dem Religions-Obi in Mekka – ein bisschen Lehre, ein bisschen Regel, ein bisschen Gebet, ein paar schöne Geschichten, die eh schon jeder kennt, es gibt tausend verschiedene Kacheln, aber alle Bäder haben Kacheln … 10 Nebenbei gesagt: Der größte Teil der Sunna steckt nicht im Hadith, sondern schon im Koran. In dieser Hinsicht vervollständigt die Sunna den Koran doch nur. Was ich damit sagen will: Der Koran fordert auf, die bessere Alternative neben den Koran des göttlichen Urhebers zu stellen. Das ist der so genannten tahaddin ()ﺗﺤﺪ, die Herausforderung, mit der sich schon die altarabischen Dichter gegenseitig aufgestachelt haben – und alle haben sich am Koran die Zähne ausgebissen. Warum? Weil der Denkfehler nicht in der Fehlkonstruktion von Koran und Sunna liegt, sondern in den bekenntnisartigen Floskeln einer Sichtweise, die Probleme damit hat, Gott als Konstrukteur anzuerkennen. Also, wen oder was willst du nun auseinandernehmen? Senad Deinen Muhammad. Der ist mir nicht geheuer. Ayşe Um ihn durch Deinen zu ersetzen? Wir arbeiten offenbar in unterschiedlichen Werkstätten, aber mit folgendem Unterschied: Ich habe einen Bauplan, während Du so lange werkelst, bis Du meinst, dass etwas dabei herausgekommen ist. Lass mich jetzt mal zu Ende basteln. Muhammad wird in 21:107 als „Gnade für die Welt“ ( رﺣﻤﺔ ;ﻻﻟﻌﺎﻟﻤﻴﻦrahmatun lil-cālamīn) bezeichnet. Muhammads Rolle als abschließender Prophet und Verkünder der vollendeten Offenbarung ist im Koran bestimmt. Genauso wird auch seine sich über die ganze Welt ausdehnende Wirkung explizit im Koran genannt: Barmherzigkeit, und zwar für alle. Ragib El-Isfahani unterscheidet in seinem Wörterbuch der koranischen Begriffe die inhaltliche Begriffsbestimmung von rahma, Barmherzigkeit, zwischen Gott und Mensch. Die göttliche Barmherzigkeit ist zu verstehen als die Gewährung und Beschenkung seiner Geschöpfe mit Gaben ( ;إﺣﺴﺎنihsān) sowie der Erweisung von Gefälligkeit, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Barmherzigkeit als menschliche Eigenschaft umfasst mehr als nur Erbarmen. Barmherzigkeit ist eine Haltung, die durch Gutherzigkeit, Mildtätigkeit, Liebe, Anteilnahme und Güte gekennzeichnet ist. Muhammads Barmherzigkeit schlägt sich in seinen Beziehungen zu den Geschöpfen Gottes und dem behutsamen Umgang mit der Natur nieder. Wenn man bestimmte Stationen im Leben Muhammads in den Blick nimmt, dann lassen sich daraus Impulse für Kinder und Jugendliche erarbeiten, Orientierung zu gewinnen und Ziele für die persönliche Entwicklung anzusteuern. Es ist also keine Fehlleistung der religiösen Sozialisation, wie Du das mal bezeichnet hast, dass heute bei vielen muslimischen Jugendlichen Muhammad hoch im Ansehen 11 steht, während sie mit Blick auf den Koran vom Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Darin spiegelt sich vielmehr eine ganz natürliche Haltung, die uns die Chance gibt, erzieherisch und unterrichtlich einzuwirken und den Islam zu vermitteln, und das vor allem über die Sunna. Senad Du redest von erzieherischer Einwirkung durch das religiöse Arrangement. Diese Deine Vorstellung hat für mich die Anmutung des Totalitären, liebe Ayşe, vor allem wenn der Bauplan dieser Konstruktion im Verborgenen gehalten wird. Religiöses Lernen bedeutet doch nicht, so eine Konstruktion zu verinnerlichen, sondern ihre Struktur zu durchschauen, ihre Funktion zu verstehen – und nötigenfalls den Plan abzuändern. Ich meine wirklich totalitär. Das kenne ich so von Leuten, die gerne zeigen, wie sehr sie nach dem Vorbild Muhammads leben. Wer nicht so ist wie sie, wird als andersartig, als fehlerhaft wahrgenommen. So wie dieser alte Mann im Keller seiner islamischen Schule in Solo in Indonesien. Weiß Du noch im letzten Sommer, wir waren beide da. Als er über Männer und Frauen redete, die nicht nach der Sunna leben. Er nannte sie „unvollständige“ oder „falsche“ Muslime. Ich glaube er meinte alle, die anders aussehen als er. Ein Begriff wie „Barmherzigkeit“ gehört aus so einem Geist heraus eher in den Giftschrank als in die Schultüte. Als totalitär verstehe ich hier auch, wenn versucht wird, eine monolithische, homogene und allumfassende Halbplastik von Muhammad herzustellen – glattgespachtelt, weichgezeichnet, glorifiziert. Wenn dann genau darin noch von einer Gruppe die Deutungshoheit in Anspruch genommen wird, die auch darauf aus ist, damit Macht über andere auszuüben, und die sich darin übt, ihrer Demut vor Gott durch ihren Hochmut vor den Menschen Ausdruck zu verleihen, dann sag ich schon mal gute Nacht. Was sagt denn Dein Muhammad zu innermuslimischer Pluralität der Ideen und Lebensstile? Kommt dort nicht vor, oder? Ayşe Doch – Wahlfreiheit ja, Beliebigkeit nein. 12 Senad Ich weiß nicht recht. Mir hat an so einer Stelle in der Diskussion mal ein Bruder mit etwas längerem Bart als meinem den Koranvers 48:29 an den Kopf geworfen – die Beule spüre heute noch: Muhammad ist der Gesandte Gottes. Und diejenigen, die an seiner Seite stehen ( ;اﻟﺬﻳﻦ ﻣﻌﻪalladhīna macahu), gehen mit den Ungläubigen hart, miteinander aber sanft zu Werke … aschiddā‘u calal-kuffār, ruhamā’u bainahum … Du hast Recht – diese Sunna findet sich schon im Koran. Da steht’s ja schwarz auf weiß: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Ayşe Das passt hier doch gar nicht rein – bei diesem Vers, bei der ganzen Sure geht es um etwas ganz anderes. Senad Genau davon rede ich ja die ganze Zeit: Wer legt denn fest, worum es gerade geht? Ich habe den Vers ja nicht zitiert, sondern ich zitiere jemanden, der meinte, sich auf ihn berufen zu müssen, um mich zu belehren. Er betet nicht mehr Gott an, er betet den Islam an. Für meinen Geschmack hat er Muhammad vergöttlicht. Ayşe Das tue ich ja nicht. Senad Ich glaube doch. Wie hast du eben gesagt? „Muhammads Barmherzigkeit“? Ayşe Das ist doch ein sprachlicher Allgemeinplatz, Senad. Die Bedeutung von rahma hat das muslimische Denken sehr stark geprägt und damit auch unsere Sprache durchdrungen. Im Deutschen vielleicht weniger als im Arabischen oder im Türkischen. Jedenfalls haben die Vorstellungen von Mystikern und religiösen Poeten hierbei eine große Rolle gespielt. Im türkischen Anatolien (und der ganzen Türkei eigentlich) oder im Iran wird zum Beispiel der Regen als rahmat bezeichnet. 13 Denk mal an das deutsche Kinderlied „Es regnet, Gott segnet, die Erde wird nass“, in dem dasselbe zum Ausdruck gebracht wird. Die Barmherzigkeit Gottes zeigt sich in dem Leben spendenden Regen. In diesem Sinne ist der Prophet rahmat, denn durch seine Predigten sowie durch die Erzählungen über ihn und die Berichte von seinen Taten blühen die welken Herzen der Menschen wieder auf. Durch die Barmherzigkeit des Gesandten floss die göttliche Gnade in die Herzen der Menschen. Muhammad ist sozusagen die Manifestation der Gottesnamen ar-rahmān ( )اﻟﺮﺣﻤﺎنund ar-rahīm ()اﻟﺮﺣﻴﻢ. Senad Ich kenne das Lied: Bunt werden Blumen, und grün wird das Gras. Der Regen bringt Segen, heraus aus dem Haus! Steig schnell in die Kutsche, gleich fahren wir aus … Vergiss nicht die Burka, gehst du aus dem Haus … Ayşe Ha ha, sehr lustig! Senad Gut, ich nehme das zurück. Lass mich stattdessen auch mal aus dem so heiß geliebten Hadith zitieren: Mir wurde mit Furcht und Angst geholfen, und mir wurden (wenige) Worte mit viel Bedeutung gegeben (Hadith #37 aus der Sammlung Hammam ibn Munabbih, und Sammlung Muslim). Erkennst Du mein Problem? Mit racb ist Schrecken, Angst und Einschüchterung gemeint, oder nennen wir es bei seinem lateinischen Namen: terror. In den Kommentaren zu diesem Hadith steht: „Furcht in den Herzen der Gegner, so dass sich der Kampf erübrigte.“ Das ist starker Tobak. Oder diesen hier: Hätten die Leute Israels das nicht getan, würde Essen nicht verschimmeln und Fleisch nicht verderben. Hätte Eva das nicht getan, dann würde keine Frau je 14 ihren Mann hintergehen (Hadith #57 aus der Sammlung Hammam ibn Munabbih, und Sammlung Bukhari). Diese Sache mit den Israeliten – das bezieht sich dem Kommentar nach auf die Koranstellen 2:35, 3:49 und 7:19-21: Die Juden hätten Essen gehortet, und Eva habe Adam verführt. Vielleicht beruht ersteres auf einer der bekannten Selbstbezichtigungen, wie wir sie aus dem mündlichen und verschriftlichten jüdischen Kommentar kennen und die sich im Hadith wiederfinden, ich weiß es nicht. Ich würde ohnehin dazu tendieren, den Hadith so wie einen frühen Midrasch zu lesen,. Da steckt dasselbe Wort drin wie in dem Vers, den Du zitiert hast: darasa – etwas auseinandernehmen. Hier gibt es mehr Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Islam: die Suche, das Bemühen um Verständnis der Schriften und möglicher Lehre, die sich daraus ziehen lässt. Beide Quellen, Koran und Hadith, wären demnach also nicht selbst Lehre, sondern sie dokumentieren das Entstehen von Lehre. Darin sehe ich Nachahmenswertes, nicht in den konkret benannten Personen und Sachverhalten, die darin vorkommen. Und noch ein Beispiel. Es bezieht sich auf den berühmten Vers 2:256, du weißt schon, „kein Zwang im Glauben“. Hier kommt der Hadith in einer ganz anderen Dimension zum Zug, nämlich als Bezugshorizont für die Interpretation des Korans. Bei Abu c Ubaid al Qāsim, er ist so um 839 AD in Mekka gestorben und gilt als einer der ganz frühen und damit authentischen Korankommentatoren, findet sich dazu folgende Aussage: „Der Vers mit lā ikrāha ist aufgehoben durch dschāhidil-kuffāra walmunafiqīn waghluzh calaihim“; er meint 9:73 – „kämpfe gegen die Ungläubigen und die Heuchler und sei hart mit ihnen.“ Übrigens, das Wort ghaluzha ( )ﻏﻠﻆkommt von „anbellen, beschimpfen, schlechte Sprache verwenden“. Das ist der Gegenteilsbegriff zu dem von Dir eingangs erwähnten tablīgh, das mit der Vorstellung von gehobener Sprache und Eloquenz assoziiert ist. Al-Qāsim plädiert also für anschnauzen und verprügeln. Er beruft sich auf einen bestimmten Anlass der Offenbarung von 2:256 und erläutert: „Der Sinn dieses Verses ist, wenn Gott will, dass die, für die eine Schutzbestimmung gilt (z.B. die Juden in Medina), ihre Abgabe (dschizya) entrichten müssen, sonst verlieren sie ihre Freiheit. Für solche, mit denen Krieg herrscht, gilt dieser Vers nicht.“ Ich frage mich nun: Wohin führt bei Texten wie diesen eigentlich die von Dir ins Feld geführte imitatio Muhammadi, in dem vermeintliches Fehlverhalten von Juden dafür verantwortlich gemacht wird, dass Milch sauer wird, dass Fleisch verfault und dass Obst verschimmelt? Und dann die Sache mit Eva – hier haben wir eine Aussage, die das filigrane Konstrukt einer geschlechtergerechten Lesart der Religion mit einem Schuss aus der Hüfte vom Sockel runterholt. 15 Wir standen übrigens bei der Schulbucharbeit immer wieder vor dieser Frage: Text x aus dem Koran passt prima, aber die Texte y und z müssen wir weglassen; Hadith x trifft das was wir meinen, aber die Hadithe y und z machen das wieder zunichte; die sperren wir lieber weg.. Damit, Ayşe, landen wir bei folgender Direktive der didaktischen Analyse des Islamischen Religionsunterrichts: Grundsatz eins – wisse, was du besser verschweigst; Grundsatz zwei – lass nicht zu viele Fragen zu. Wo liegt jetzt die norma normans für die theologische Herleitung religionspädagogischen Handelns – in den Quellen selbst, oder in unserer begründeten Entscheidung, wie wir mit den Quelle umgehen wollen? Das scheint mir doch die Schlüsselfrage zu sein. Ayşe Beides. Ich sehe hier das Zusammenspiel beider Aspekte – religionspädagogische Expertise auf der Grundlage von Entscheidungen, die wiederum auf dem Koran und auf der Sunna beruhen. Das Verständnis der Schrift ist eine Sache des Geistes, der Haltung, der Einstellung. Der Koran zielt auf den rechten Geist, und die Sunna konkretisiert das für das Verhalten. Senad Hast Du dafür ein Beispiel? Ayşe Ja. Mit Geist meine ich auch die intellektuelle Bescheidenheit, den Vorrang des Glaubens vor dem Meinen, den Vorzug des Wissens vor dem Dafürhalten: Ihr hört nicht auf zu fragen, Frage über Frage, bis ihr sagt: Gott hat alles erschaffen, aber wer hat Gott erschaffen? (Hadith #93 aus der Sammlung Hammam ibn Munabbih). 16 Senad Also Du meinst, erst von der Sache her denken, und sich von dort aus auf die Schüler zubewegen? Ayşe Besser so herum als umgekehrt. Senad Sicher? Ayşe So sicher wie Gott das Licht ist und der Glaube Erleuchtung. Senad Oder so sicher wie der Eindruck von Licht in den Schläfenregionen des Großhirns entsteht? Ayşe So sicher, wie der Koran von Gott stammt. Senad Oder so sicher wie Religionen ihr eigenes Schrifttum hervorrufen. Ayşe Nein, so sicher, wie Muhammad von Gott gesandt wurde. Senad Oder so sicher wie Muhammad sich auf Gott berief. Ayşe Deinen Religionsunterricht möchte ich mal sehen. 17 Senad Wie kommen wir also zusammen? Ayşe Das weiß ich auch nicht. Aber ich sehe folgende offene Kernfrage: Wie viel kritische Anfrage an die religiöse Substanz darf sich Islamischer Religionsunterricht zueigen machen, um noch als Religionsunterricht erkennbar zu sein? Mein Ansatz scheint Dir zu eng zu sein, und Dein Ansatz ist mir zu offen. Wahrscheinlich besteht die Kunst der Didaktik darin, dies in einer produktiven Schwebe zu halten und für Lernprozesse nutzbar zu machen. Senad Das ist sicher noch keine Synthese, aber ein guter Start. Da hast Du mich auf Deiner Seite. Aus philosophischer Sicht betrachtet würde ich sagen .., Ayşe Nein, nein, Senad. Das sind jetzt Dinge, zu denen sich alle hier äußern können. Das hat mehr mit den Erfahrungen im eigenen Leben zu tun als mit philosophischen Sichtweisen. Wie wäre es denn, wenn wir hier abbrechen und dazu einladen, sich untereinander und dann in Diskussionsgruppen über folgende Fragen auszutauschen: • Wo in Deinem Leben hast Du vor einem grundsätzlichen Problem in der religiösen Orientierung gestanden? • Wie hat Dich das gefordert? Was hast Du unternommen? • Was folgert daraus für die Kompetenzen, die der islamische Religionsunterricht ansteuert? • Wie sollte ein Religionsunterricht aussehen, der junge Muslime genau darauf vorbereitet? • Was folgert daraus für die Ausbildung muslimischer Lehrerinnen und Lehrer? • Wie denkst Du grundsätzlich darüber? Dann erscheinen viele Dinge in anderem Licht als hier vom Podium aus. (Idealtypisch verfasst von Tuba Isik-Yigit M.A. und Prof. Dr. Harry-Harun Behr.) 18