12.11.2013 Dilemma und Gewissenskonflikte in der Rolle des Vertrauensarztes 13. November 2013 Universität Basel Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle Interdisziplinäres Institut für Ethik im Gesundheitswesen Stiftung Dialog Ethik 1 www.dialog-ethik.ch Überblick • • • • • Entscheidungsvielfalt und Dilemmasitua<onen Rechtsrahmen Rolle des Vertrauensarztes Gewissenskonflikte 7 SchriFe Dialog 2 www.dialog-ethik.ch Rolle des Vertrauensarztes • Scharnierstelle zwischen Versicherung und Pa<ent 3 www.dialog-ethik.ch 1 12.11.2013 Aufgaben des Vertrauensarztes • Überprüfung der Behandlung bezüglich ihrer Angemessen hinsichtlich der W-­‐Z-­‐W Kriterien und der Einhaltung der DRG‘s • „Dabei behält er neben der WirtschaSlichkeit und der Zweckmässigkeit in Diagnos<k und Therapie das Wohl des Pa<enten im Auge“ • Dem Vertrauensarzt werden KonflikVälle zur Begutachtung vorgelegt • Gibt Empfehlungen an den Rechtsdienst der jeweiligen Krankenkasse • Sicherstellung der Gleichbehandlung 4 www.dialog-ethik.ch Ethische Herausforderung des VA • Allen das Gleiche (Sicherstellung der Gleichbehandlung) • Jedem das Seine (Individuell angemessene Behandlung) • Im Einzelfall kann angemessen sein, was unter Umständen nicht für alle gelten kann. Gewissenskonflikte 5 www.dialog-ethik.ch Aufgabe des Vertrauensarztes • Überprüfung der – Entscheidungsqualität – Handlungsqualität – Kommunika<onsqualität • Nach den W-­‐Z-­‐W Kriterien und den DRG 6 www.dialog-ethik.ch 2 12.11.2013 DRG und „gute“ Behandlung • Das funk%onal Gute -­‐ DRG • Das personal Gute – individuell angemessene Behandlung und Betreuung • Der DRG stellt ein aufgrund von sozialethischen Überlegungen festgelegtes funk%onales, aber kein personales Mass zur Verfügung • Funk<onale Werte sind keine moralischen Werte • Ansprüche der Organisa<on im Spannungsfeld mit Ansprüchen der Person 7 www.dialog-ethik.ch Herausforderungen des Vertrauensarztes • Überprüfung der Wirksamkeit: Hoher Spezialisierungsgrad der Medizin erfordert Spezialwissen. Massstab? • Zweckmässigkeit: – Individuell kann nur der Pa<ent beurteilen – Allgemein müssen die erwünschten die unerwünschten Wirkungen übersteigen • WirtschaSlichkeit: Kosten-­‐Wirksamkeits-­‐Verhältnis muss angemessen sein. Massstab? • DRG im Einzelfall? • Keine verbindlichen Massstäbe! 8 www.dialog-ethik.ch Rechtsrahmen 9 www.dialog-ethik.ch 3 12.11.2013 Schweizerische Bundesverfassung Sozialziele Ar<kel 41 • Bund und Kantone setzen sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Ini<a<ve dafür ein, dass: a.jede Person an der sozialen Sicherheit teilhat; b.jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält • Bund und Kantone setzen sich dafür ein, dass jede Person gegen die wirtschaSlichen Folgen von Alter, Invalidität, Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, MuFerschaS, Verwaisung und Verwitwung gesichert ist. • Sie streben die Sozialziele im Rahmen ihrer verfassungsmässigen Zuständigkeiten und ihrer verfügbaren Mi5el an. • Aus den Sozialzielen können keine unmiFelbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden. • Massstab? www.dialog-ethik.ch 10 Krankenkassenversicherungsgesetz (KVG) • Wirksamkeit (Fakten -­‐ Beweis) • Zweckmässigkeit (Ethische Entscheidung – Plausibilität) • WirtschaSlichkeit (Plausibilität und Beweise) • Massstab? 11 www.dialog-ethik.ch 12 12 wirksame Leistungen hohe Versorgungsqualität Krankenversicherungsgesetz KVG Art. 32: Bedürfnisse Gesellschaft „.... die drei Kriterien Wirksamkeit, abdecken „wirksam, zweckmässig Zweckmässigkeit und und wirtschaftlich“ WirtschaSlichkeit nicht hinreichend konkre<siert und opera<onalisiert sind.“ effizienter Mitteleinsatz Prioritäten setzen Fortschritt nutzen www.dialog-ethik.ch 4 12.11.2013 Kindes-­‐ und Erwachsenenschutzrecht • Das Mass bes<mmt der urteilsfähige Pa<ent • Das Mass bes<mmt beim urteilsunfähigen Pa<enten seine Stellvertretung: Aufgabe der ÄrzteschaS: Erstellung des Behandlungsplanes – Auflagen an die Informa<on • Dissens: Kindes-­‐ und Erwachsenenschutzbehörde 13 www.dialog-ethik.ch Kindes-­‐ und Erwachsenenschutzrecht • StaF der Anordnung standardisierter Massnahmen ist künSig von den Behörden Massarbeit gefordert, damit im Einzelfall nur so viel staatliche Betreuung erfolgt, wie wirklich nö<g ist. (BotschaS S. 7203) • Massstab? www.dialog-ethik.ch 14 Kindes-­‐ und Erwachsenenschutzrecht • Kein objek<v verbindlicher Massstab • Suche nach dem individuell Angemessenen • Nur Plausibilitäten in der konkreten Pa<entensitua<on • Bedarf an ethischer Entscheidungsfindung 15 www.dialog-ethik.ch 5 12.11.2013 Entscheidungsvielfalt und DilemmasituaFonen 16 www.dialog-ethik.ch Man kann nicht nicht entscheiden! Wie wird entschieden? 17 www.dialog-ethik.ch Grosses Entscheidungsspektrum Beispiel: Reanima<onssitua<onen (Umfrage über Verhalten in Europa*) Eine Schwangere wird am Ende der 24. SSW mit frühzei%gen Wehen eingeliefert. Es ist kein fetaler Stress nachweisbar, und das Gewicht des Kindes wird auf 560 g geschätzt. Bei der Geburt beträgt der 1-­‐Minuten Apgar-­‐Wert 1. Würden Sie? Reanimieren + Intensivbehandlung einsetzen? Reanimieren und Abbruch der Intensivbehandlung möglich? Reanima%on unterlassen? *Gee H, Dunn P, for the BAPM Execu<ve CommiFee. Fetuses and newborn infants at the threshold of viability. A framework for prac<ce. www.bapmlondon. org/publica<ons.htm. Published 2000 www.dialog-ethik.ch 18 6 12.11.2013 www.dialog-ethik.ch www.dialog-ethik.ch End of life decisions in the USA End-­‐of-­‐life decisions: 5910 pa<ents (Prendergast et al AJRCCM 1998; 158:1163) • • • • Full treatment with CPR 26% (4-­‐79% Full treatment without CPR 22% (0-­‐83%) No life saving therapies 10% (0-­‐67%) Interrup<on of life saving therapies 38% (0-­‐79%) www.dialog-ethik.ch 21 7 12.11.2013 Ethisches Dilemma z.B. Pflicht zur Lebenserhaltung Lebensschutz Wiederherstellung der körperlichen Integrität usw. z.B. Respekt gegenüber dem Abwehrrecht Pflicht zu Leidenslinderung Freiheit zur Selbstschädigung usw. www.dialog-ethik.ch 22 Ethisches Dilemma • Wir können nicht nicht Entscheiden • Wie auch immer wir entscheiden, wir kommen nicht umhin gleichwer<ge Werte zu verletzen. • Beispiel: Leben verlängern – Leiden lindern • Wie entscheiden? 23 www.dialog-ethik.ch Ethische Entscheidungsfindung 24 www.dialog-ethik.ch 8 12.11.2013 Organisa<onale Verantwortungsdimensionen Persönlicher Verantwortungsraum: Individuelle Moral, Lebensentwurf; Recht auf Leben und Abwehrrecht Organisa<onale Bereichsverantwortung Organisa<onale Gesamtverantwortung: DRG als funk<onales Mass GESELLSCHAFT: KULTUR (Menschenwürde, Menschenrechte, GesellschaSsklima, SiFen, Gesetze, Kindes-­‐ und Erwachsenenschutzrecht, Respekt gegenüber dem Abwehrrecht – Pflichten gegenüber dem Lebensschutz -­‐ Fürsorgeverpflichtungen) www.dialog-ethik.ch 25 ETHIK WISSENSCHAFT VON DER MORAL als WISSENSCHAFT VON DER MORAL Moral Moral Gruppen-­‐ moral Individueller Lebensentwurf Gruppen-­‐ moral Moral Individueller Lebensentwurf Gruppen-­‐ moral Individueller Lebensentwurf www.dialog-ethik.ch 26 Entscheidungsfindungsprozesse • Funk<onale Werte – Die Therapie funk<oniert gut – Beweis und Fakteneinschätzung • Moralische Werte – Die Therapie ist gut – Plausibilität und moralische Einschätzungen • Aufgabe des VA: Funk<onale und moralische Abwägung 27 www.dialog-ethik.ch 9 12.11.2013 Tradi<onelle Medizinethik • Ethischer Orien<erungspunkt: „Heiligkeit des Lebens“ Lebenserhaltung Pflichten Ernährung, etc. Keine Güterabwägung mit menschlichem Leben Konsequenz: Technischer Impera<v Das medizin-­‐technisch Mögliche wird zum moralisch Geforderten www.dialog-ethik.ch 28 Würde-­‐ und Autonomieanspruch (SOLLEN) Entscheidungs-­‐ findungsprozess Urteilsfähiger Pa<ent: Anspruch auf „informed consent“ Nicht-­‐urteilsfähiger Pa<ent: Anspruch auf „mutmasslichen Willen“ Begrenzte Autonomiefähigkeiten (IST) Deskrip<ve, empirische Ebene (IST): Tatsächliche Autonomiefähigkeiten und Abhängigkeiten des Pa<enten 29 www.dialog-ethik.ch Grundbedingungen für ethisch vertretbares Entscheiden und Handeln • Norma<ve Voraussetzungen: – Menschenwürde und Menschenrechte – Verteilungs-­‐, Solidar-­‐ und Zugangsgerech<gkeit • Inhaltliche Kriterien: – Perspek<venvarianz – Ansatzvarianz • Formale Kriterien: – Transparenz – Nachvollziehbarkeit – Verbindlichkeit – Nachhal<gkeit 30 www.dialog-ethik.ch 10 12.11.2013 Ethische Entscheidungsfindungsverfahren • Ein ethisches Entscheidungsfindungsverfahren kommt nur dann zur Anwendung, wenn die Frage auSriF, wenn das Handeln, resp. das Unterlassen einer Handlung nicht selbstverständlich ist. Also erst dann, wenn die Frage auSriF: „Was sollen wir tun?“, d.h. nicht bei jedem Pa<enten. • Ein solches Verfahren hat folgende Elemente: – Eine ins<tu<onelle Struktur – Eine inhaltliche Ablaufstruktur – Eine Evalua<onsstruktur www.dialog-ethik.ch 31 Ins<tu<onelle Struktur • Wer darf ein ethisches Gespräch einberufen? • Gruppenstruktur (innerer und äusserer Kreis, Modera<on) • Gruppenzusammensetzung www.dialog-ethik.ch 32 Organisa<onale Gesprächsstruktur Stufe 1 Unabhängige® Moderator/in Angehörige veto Äusserer Kreis Interessierte Expert/-­‐innen Innerer Kreis Behandlungsteam Leute in Ausbildung Juris<sch Vvrantworl<che(r) Mediziner/in www.dialog-ethik.ch 33 11 12.11.2013 Organisa<onale Gesprächsstruktur Stufe 2 Externe(r) Moderator/in Behandlungsteam mit Expertenunterstützung Stellvertretung Juris<sch verantwortlicher Arzt/Ärz<n www.dialog-ethik.ch 34 Inhaltliche Ablaufstruktur • Entscheidungsfindungsverfahren stellen. – Transparenz – Verbindlichkeit – Einbezug aller relevanten Fakten (medizinische, pflegerische und soziale Faktoren) – verschiedenen Verhaltensop<onen sicher, ohne den jeweiligen Entscheid inhaltlich vorwegzunehmen. www.dialog-ethik.ch 35 7 SchriFe Dialog 1. Problem-­‐Analyse 2. Kontext-­‐Analyse 3. Defini<on des ethischen Dilemmas 4. Mehr als drei Verhaltensop<onen 5. Rechtliche und ethische Analyse der Verhaltensop<onen 6. Klimaklärung und Entscheid 7. Evalua<on des Entscheids www.dialog-ethik.ch 36 12 12.11.2013 1. SchriF • Erfahrung eines Sachverhaltes als ethisches Problem – Medizinische, pflegerisch und soziale Anamnese – Lebenserfahrung – Du -­‐ Erfahrung www.dialog-ethik.ch 37 2. SchriF: Kontextanalyse des ethischen Dilemmas • Wie hat sich das Problem entwickelt und wie war sein Verlauf? • Gibt die Lebensgeschichte des Pa<enten oder der Pa<en<n wich<ge Hinweise in Bezug auf das gestellte Problem? • Wo findet das Problem staF? • Wer ist am Problem beteiligt? www.dialog-ethik.ch 38 3. SchriF: Werteanalyse • Welches ethische Dilemma steht zur DebaFe? • Was für Werthaltungen der Betroffenen steht auf dem Spiel? • Welche Normen geraten miteinander in Konflikt? • Zur Formulierung des ethischen Dilemmas eigenen sich die vier bioethischen Prinzipien: – – – – 1) Autonomieprinzip 2) Prinzip Schaden vermeiden 3) Prinzip Gutes tun 4) Gerech<gkeitsprinzip www.dialog-ethik.ch 39 13 12.11.2013 4. SchriF: Entwurf von mindestens drei Verhaltensmöglichkeiten • Ausser in NoVallsitua<onen gibt es immer mehrer Verhaltensmöglichkeiten www.dialog-ethik.ch 40 Regeln zur Beurteilung der Verhaltensop<onen • Gewichtung entsprechend dem Autonomieanspruch • Ausschöpfen der niderschwelligen Handlungsmöglichkeiten • Verallgemeinerbarkeit der Einzelhandlung www.dialog-ethik.ch 41 5. SchriF: Analyse der Verhaltensmöglichkeiten • Wie ist die Rechtslage? • Was für Ethikentwürfe stehen hinter den Verhaltensmöglichkeiten? www.dialog-ethik.ch 42 14 12.11.2013 6. SchriF: Güterabwägung, Verallgemeinerung, Konsensfindung und Verhaltensentscheid • Was für ein moralisches Klima wollen wir? • Lassen sich die Verhaltensmöglichkeiten verallgemeinern? • Wie ist die Hierarchie der Verhaltensmöglichkeiten? • Konsensfindung • Verhaltensentscheid www.dialog-ethik.ch 43 7. SchriF: Überprüfung des Verhaltensentscheides • Ist der Verhaltensentscheid immer noch rich<g und angemessen? www.dialog-ethik.ch 44 7 SchriFe Dialog • Organisa<onale Struktur • Gesprächsstruktur • Ethische Güterabwägungsstruktur 45 www.dialog-ethik.ch 15 12.11.2013 Integra<ve Verantwortungsethik Interdisziplinäre Entscheidungsfindungsverfahren sind die Methodik der integra<ven Verantwortungsethik. Sie stellen die Entscheidungsqualität sicher, wenn sie folgende Anforderungen erfüllen: • • • • Einbezug aller von einem Entscheid betroffenen Personen (Pa<entenautonomie ist prioritär) Perspek<venvarianz (Einbezug alle Wahnehmungsperspek<ven) Ansatzvarianz (Reflexion des Problems im Rahmen der verschiedenen Ethikansätze) Dimensionenvarianz (Persönlichkeitsethik/Beziehungsethik/GesellschaSsethik/Umweltethik) • • Verbindliche Ablaufstruktur (interdisziplinär erarbeitete Ablaufstruktur/Protokoll) Transparenz (Offenlegung der eigenen Interessen/Informa<on über den Inhalt und Ergebnis des Entscheides an alle direkt beteiligten Personen/Achtung: Datenschutz!) Diese Anforderungen lassen sich bei stellvertretenden Entscheiden nur interdisziplinär erfüllen. Im Rahmen der integra<ven Verantwortungsethik wird Autonomie als ein Prozess verstanden, in dessen Vollzug Verantwortung für das eigene Handeln übernommen wird. (vrgl. Ethischer Kohären<smus) www.dialog-ethik.ch 46 Zitat von George Bernard Shaw (1856 -­‐ 1950) „Der einzige Mensch, der sich vernünSig benimmt, ist mein Schneider; er nimmt jedes Mal neu Mass, wenn er mich trifft, während alle andern immer die alten Massstäbe anlegen, in der Meinung, sie passten heute noch auf mich.“ www.dialog-ethik.ch 47 Gerech<gkeitsproblema<k bei Rolle und Aufgabe des Vertrauensarztes • Gerech<gkeitsproblem: – Sozialethisch: Keine Sicherstellung der Gleichbehandlung (Fehlendes HTA und Qualitätskriterien, Labelwildwuchs) – Individualethisch: Keine verbindlichen, transparenten und nachvollziehbaren Entscheidungsfindungsstrukturen 48 www.dialog-ethik.ch 16 12.11.2013 Forderung • Staatlich unabhängiges Friedensrichteramt für Pa<enten – ÄrzteschaS – Versicherungen • Staatliche Prioritätensetzung • Opera<onalsierungshilfen bei der Umsetzung von W – Z – W und DRG‘ • Entscheidungsfindungskriterien bei der Suche nach der individuell Angemessenbehandlung: – – – – Verbindlichkeit Transparenz Nachvollziehbarkeit Vergleichbarkeit • Verbindliche Entscheidungsfindungsverfahren für die KESB 49 www.dialog-ethik.ch Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 50 www.dialog-ethik.ch 17