Die Welt ist Klang ZR99

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ZEITSCHRIFT FÜR RELIGIONSUNTERRICHT UND LEBENSKUNDE
HEFT 4/99 MUSIK UND RELIGION
DIE WELT IST KLANG – UND WIR SIND DIE KOMPONISTEN!
MARKUS CSLOVJECSEK
Wenn wir von einem dergestalt erweiterten Musikbegriff ausgehen, wenn also, so wie der
Grundsatzartikel dies entwickelt, die ganze Welt Klang ist, dann sind wir, in allem was wir tun
und lassen, die Komponistinnen und Interpreten unserer Welt. Wir alle, Komponisten und
Interpretinnen in Personalunion, ob wir dies wollen oder nicht. Dann sind wir verantwortlich, als
Mitschöpferinnen, für den Klang der Welt, dann ist es an uns die Tore zum Paradies zu öffnen,
von innen und von aussen; denn, gerade im Zusammenhang mit persönlichen Glückserfahrungen,
kennen wir ja das Paradies bereits aus eigener Anschauung. Elementare musikalische Strukturen
können uns bei dieser Aufgabe behilflich sein. Durch ihre Alltäglichkeit verstecken sie sich aber
sehr gut im täglichen Leben und es braucht die bewusste aktive Suche und Auseinandersetzung
um sich dieses Instrument zu erschliessen. Dazu kommt die Chance – und wenn man sie nicht
nutzt, wird sie zur Schwierigkeit – dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Musik die Praxis
braucht, sei es im Schulalltag oder in der bildungstheoretischen Diskussion. Die Wichtigkeit der
Handlungsorientierung von Unterricht wird kaum mehr ernsthaft in Frage gestellt. In der
Auseinandersetzung um Fragen der musikalischen Bildung aber, um Wert, Sinn und Inhalte von
Musik im Unterricht überhaupt, da wird die Schwierigkeit musikalische Sachverhalte verbal
festzuhalten kaum richtig ernst genommen. Sehr oft erschweren zudem die unterschiedlichen
praktischen Erfahrungen der einzelnen Gesprächspartner die Kommunikation.
Deshalb, liebe Leserin, lieber Leser1
darf ich Sie deshalb bitten, bevor Sie weiterlesen, ein Stück Wellkarton, ein Blatt Papier und
einen Bleistift zu besorgen - und vielleicht auch eine Tasse Kaffee. Befolgen sie diesen Rat, ob
Sie nun musikalischer Laie, professionelle Musikerin oder musikalisch unbegabt seien. So steigt
die Chance, dass uns vielleicht eine Verständigung gelingt. Neben den verschiedenartigen
musikalischen Erfahrungen erschwert tatsächlich noch ein weiterer Aspekt die rein sprachliche
Verständigung zusätzlich: etliches, was ich in diesem Aufsatz ansprechen will, entzieht sich
nämlich den Darstellungsmöglichkeiten des linguistischen Zeichensystems.
Wenn Sie sich nun mit diesen Utensilien ausgerüstet und eingerichtet haben, nehmen Sie sich
etwas Zeit, und lassen Sie geschehen was geschieht.
Bilder von spielenden Kindern (wenn möglich Seitenumbruch)
(Ev. andere Schrift)
Mal ehrlich, hast du nicht soeben gespielt - ...?
... Zeit akustisch gestaltet, nicht bewusst, sondern einfach so. Hat es dich nicht in den
Fingern gejuckt und du hast die Situation realisiert und den Kartonstreifen zum Klingen
gebracht.
1
Die kommentierte Handlungsanweisung basiert auf einem 1997 erschienenen Artikel im Gymnasium Helveticum,
51 Nr. 3, S.134 – 142 unter dem Titel: “Zur Frage der Zeichensysteme in der Praxis des Unterrichtens” und dem
gemeinsam mit Maria Spychiger 1998 im Verlag SVSF Hölstein herausgegebenen Heft “MUS IK oder MUS IK
nicht? – Musik als Unterrichtsprinzip”
Was ist es denn, das Sie und uns und vor allem unsere Kinder zum freiwilligen Tätigsein führt –
zum Spielen mit den eigenen Händen, mit der Stimme, mit dem Lineal oder mit Biertellern?
Rahmenbedingungen spielen hier, wie überall eine nicht unwesentliche Rolle – nämlich
vorhandenes Material und eine entspannte Atmosphäre, Raum und Zeit, Menschen in ihren
Situationen und Beziehungen.
Der Motor, dann auch wirklich tätig zu werden, sitzt in jedem Einzelnen. Es ist der Spiel- und
Forschertrieb, die Neugierde, der Wissensdurst, das Bewegungsbedürfnis und die Sensationslust
im wahrsten Sinne. Es ist die Lust an Wahrnehmung und Empfindung, die Freude an Erkenntnis
und Darstellung – alles elementare menschliche Bedürfnisse.
Wahrnehmen, Empfinden, Erkennen, Darstellen – diese inneren und nach aussen drängenden
Feuer können wir konsequent für unsere Bildungsanliegen einsetzen. Zwei Binsenwahrheiten
führen uns in dieser Analyse weiter:
1. Lernen ist eine ernste Sache. Wir hören es immer wieder, die Bildung ist der Rohstoff
unseres Landes, wir müssen sorgfältig damit umgehen. Effektivität und Effizienz sind im
Bildungswesen anzustreben.
Aber: Lernen hat auch mit Freude zu tun!
2. Spiel und Musik bereiten Freude und sprechen die Gefühle an. Von Effizienz ist vorerst
kaum zu sprechen, eher von Freizeitgestaltung und Zeitvertrieb.
Aber: Beim Singen und Spielen, beim Komponieren, Bewegen und Gestalten ist der Verstand
genauso mit im Spiel.
Das Zusammenspiel von Lernen und Freude sollte uns, auch aus Gründen der Effizienz unseres
Unterrichts, immer selbstverständlicher werden. Spiel und Arbeit, Freude und Ernst lassen sich
ohne Widerspruch als Einheit begreifen – nur der Ernst im Spiel lässt das Spiel ganz Spiel
werden, wer das Spiel nicht ernst nimmt, ist ein Spielverderber. In der Musik stecken unzählige
Möglichkeiten, diese Einheit zu erleben bzw. diese in unserer Kultur zu Gegensätzen
gewordenen Aspekte wieder zusammenzufügen. Musik und Spiel bieten offenbar konkret die
Möglichkeit, die elementaren menschlichen Entwicklungstriebe für das Lernen und für das Leben
neu zu entdecken. Um sie in der Schule konkret nutzen zu können, ist aber ein grundlegendes
Umdenken gefordert:
• Ein Denken, das die Existenz unterschiedlicher Intelligenzen ernst nimmt: sprachliche
Intelligenz, musikalische Intelligenz, logisch-mathematische Intelligenz, räumliche Intelligenz,
körperlich-kinästhetische Intelligenz und die personalen Intelligenzen
• Ein Umdenken auch, das sich löst von der Zuweisung bestimmter Fächer an die Rationalität
und anderer an das Emotionale.
• Ein Denken und Handeln, das die Qualitäten der verschiedenen Zeichensysteme unseres
geistigen Lebens wahrnimmt und sie angemessen in Lern- und Entwicklungsprozesse
einbezieht.
• Ein Unterricht, der neben dem Individuum auch das gemeinsame Tun fördert.
Es ist deutlich wahrzunehmen, dass dieses Umdenken bereits im Gang ist. Man merkt es allen
neueren Lehrplänen an, auch den Programmen von Managerkursen oder an der Sachbuch Bestsellerliste: IQ ist out, EQ (Emotional-Quotient) und Kreativität ist in. Zur Zeit wird
allmählich erkannt, dass neben unseren ‚Schul-Zeichensystemen‘ (linguistisch und numerisch)
weitere ‘Sprachen’ das Denken und Handeln prägen und beeinflussen und dass gerade die
Verbindungen und Überlagerungen der einzelnen Zeichensysteme für die Zukunft von hoher
Bedeutung sind.
Also, du hast dich unterbrechen lassen beim Spiel!?
Nimm dir Zeit, und lass dich noch etwas weiter verführen.
Was schaffst du an Klängen auf dem Wellkarton? Lange, kurze Töne, auch laute und leise und sogar
hohe und tiefe. Probier verschiedene Spieltechniken aus und erarbeite dir ein Repertoire von
Ausdruckmöglichkeiten. Bekommst du deine Feinmotorik so in den Griff, dass du dir die entstehenden
Klänge schon im voraus vorstellen kannst? Was verändert sich durch unterschiedlichen Druck beim
Spielen, wie verhalten sich Geschwindigkeit und Frequenz zueinander?
Gestalte bitte jetzt mit den zur Verfügung stehenden Materialien und Techniken ein klangliches Ereignis
von 10 Sekunden Dauer – Wiederhole dein Stück, bis keine Änderungen mehr nötig sind und übe es, bis
es ganz sicher gelingt. Nun kannst du es auswendig – ‚par coeur‘. Das ist deine Schöpfung2. Sie ist
entstanden aus Überlegung und Intuition, aus Gefühl und Verstand und nun ist sie in deinem Herzen. Sie
ist flüchtig, aber sie ist bei dir.
Du kannst sie jemandem vorspielen. Was meint die Zuhörerin dazu, erfindet sie eine zweite Stimme?
Ergänzt sie dich, imitiert sie oder kontrastiert sie dein Tun. Natürlich entsteht eine Art Musik, was drückt
sie aus und was läuft zwischen den zwei Menschen ab. Vielleicht gelingt es euch, darüber zu sprechen...
Versuche nun, deine Komposition für Kartonstreifen, Kaffeelöffel und Tasse festzuhalten. Der folgende
Rahmen soll eine Hilfe sein.
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10 sec.
Als Gestaltungsmittel für jegliche akustisch wahrnehmbaren Erscheinungen dienen: Klang, Melodie,
Rhythmus, Puls / Metrum, Lautstärken und Zusammenklänge. Konntest du alles Wesentliche festhalten.
Vielleicht brauchts noch eine Legende oder eine Gebrauchsanweisung damit es möglich ist, deine
Komposition nachzuspielen. Vielleicht wird es bald viele Interpretationen deines Werkes geben, denn
jeder Interpret muss es ja neu schöpfen. Das ist natürlich auch eine Chance, für dich, für deine Schöpfung
und für die Welt. Vielleicht aber geht deine Erfindung auch vergessen und dir kommt möglicherweise viel
später wieder in den Sinn, dass du mal einen lustigen Rhythmus für Kartonstreifen und Kaffeelöffel
erfunden hast; aber er ist nicht mehr zu finden, er ist wie verschwunden aus der Welt...
Natürlich lässt sich mit diesen Mitteln weiter experimentieren:
•
forme zum Beispiel mit der Stimme ein lautes aaaa - und dann ein ooo oder ein iiiiii, und nimm die
klanglichen Unterschiede war, die Vielfalt möglicher Klangfarben, welche Sprechen und Verstehen
erst ermöglichen,
•
oder probiere mit dem Kartonstreifen und dem Kaffeelöffel Melodien aus, (ist das überhaupt
möglich?)....,
•
oder realisiere den Rhythmus eines Kinderliedes und schlage dazu mit dem Fuss einen Puls.
(Wieder Schrift 1)
Solche und ähnliche musikalische Formen und Übungen ermöglichen vor allem auch in der
Gruppe konkrete modellhafte Erfahrungen in unterschiedlichen Disziplinen:
2 Falls Ihre Schöpfung ‘nur’ aus einer grossen Pause besteht, haben Sie soeben einen Ausschnitt aus einem Werk
eines berühmten zeitgenössischen Komponisten wiedergegeben: John Cage: 4’33’’[tacet] Cage sagte kurz vor
seinem Tod zu diesem Stück: “Dies ist immer noch meine beste Komposition.” Tatsächlich löste sie zuerst
Skandale und bis heute heftigste Diskussionen aus.
•
•
•
Die Sensation (mlat. sensatio: das Empfinden, das Verstehen) des Spiels mit dem
Kartonstreifen z. B., kann weder durch Worte noch mit Formeln oder Skizzen und Fotos
gleichwertig ersetzt werden.
Die Kultur des Aufeinanderhörens kann beschrieben und umschrieben werden. Beim
gemeinsamen Musizieren aber ist sie konkretes Erfahrungsfeld. Wenn zum Beispiel beim
Singen eines Kanons die einzelnen Stimmen sich gegenseitig verunsichern, ist
Selbstsicherheit und zugleich Offenheit gefordert. Die einzelnen Gruppen müssen sich
solidarisieren und von den anderen abgrenzen. Trotzdem müssen alle aufeinander hören –
Ohren zuhalten führt (nicht nur musikalisch) ins Chaos.
Notationsversuche führen zur intensiven Auseinandersetzung mit mathematischen Fragen um
Zeit und Strecke, um Ordnungen und um Verhältnisse. Zudem verknüpfen sie emotionale
Strukturen (die verinnerlichte Komposition) mit rationalen Anforderungen (die Aufgabe zu
formulieren, festzuhalten).
Aus diesen Grundkräften und Wirkungsweisen lassen sich unterschiedliche Qualitäten des
Zeichensystems Musik ableiten.
1. Musikalische Aktivität ist Bestandteil menschlichen Verhaltens
2. Musik ist eng verbunden mit den Gefühlen
3. Musik fördert die Kommunikation und die Kommunion
4. Musik hat mit Bewegung zu tun und regt an
5. Aktives Musizieren verbindet Kopf, Herz und Hand
6. Musikalisches Wahrnehmen und Produzieren fördert die musikalische Intelligenz
7. Musik ist Spiel mit der Zeit im Raum und mit dem Raum in der Zeit
Vielleicht gelingt es, mit unseren Utensilien und mit Freunden und Angehörigen oder mit der
Schulklasse, diese Qualitäten zu erproben, erfahrbar zu machen und vielleicht lassen sich weitere
entdecken oder Elemente konkretisieren. Entwickelt hat sich dieser Zugang zu Musik nämlich
auch in der Unterrichtspraxis.
Denn: “Musik als Unterrichtsprinzip” funktioniert wie das Vexierbild nebenan. Eine Vase –
nichts Neues unter dem Himmel. Oder doch? Und was soll das mit Musik zu tun haben? Wenn
man etwas länger oder etwas anders schaut, kommt etwas Unerwartetes zum Vorschein.
Ausgehend von Alltäglichem, Bekanntem können sich durch veränderte Blickwinkel neue
Einsichten eröffnen.
Vexierbild (ev. aus dem Heft)
Eine ganze Sammlung solcher Ideen sind in einer Reihe von Schulklassen entstanden, bei
Lehrpersonen der Volksschule. Diese waren mit ihren Schulklassen, viel mehr als in den
Stundentafeln üblicherweise vorgesehen, musikalisch tätig. Nach einiger Zeit der Arbeit in
diesem neuen Rahmen des Unterrichtens begann sich einiges zu bewegen: die Musik drängte sich
aus ihren Fachgrenzen heraus und begann ihre Qualitäten in anderen Bereichen und
Unterrichtsfächern zu entfalten, wurde sozusagen zu einer zusätzlichen Unterrichtssprache. Im
Zentrum steht dabei das konkrete Tun, der Spass am Spiel , die Freude an der Bewegung und am
Rhythmus, die Faszination der Stille, die Geborgenheit in der Ordnung und die Lust am Chaos,
das Glück des Gelingens, die Kunst des Fehlermachens, die Bewährung im Üben und
Durchhalten, das Wunder des Wahrnehmens.
Tatsächlich steckt der musikalische Bereich für die Schule voller Möglichkeiten. Aber es geht
nicht nur darum, diese zu entdecken und auszuschöpfen, sondern es geht auch darum zu merken,
dass das Musikalische immer schon mit dabei ist. Wir meinen damit nicht nur die Tatsache der
beinahe allgegenwärtigen Klangglocke über uns und die Macht und Wirkung der Medien. Wir
meinen auch die musikalischen Komponenten – Klangfarbe, Tempo, Rhythmus, Lautstärke, der
Wechsel von Zusammenklang und Missklang, Höhen und Tiefen – im täglichen Leben. Sie sind
in unseren Tätigkeiten immer mit von der Partie, können gar nicht ausgeschlossen werden.
Besser, man wird sich dessen bewusst, als dass diese Kräfte ihr Spiel autonom treiben! Die
Antwort auf die geheimnisvolle, im Titel “MUS IK oder MUS IK nicht?” des kürzlich
erschienenen Heftes zum Thema anklingende Frage, ist deshalb schon vorweggenommen: “ik
mus, es geht doch gar nicht anders – wo doch auch jede Mücke summt und jeder Spatz vom
Dache pfeift...!”
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