Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen

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Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
in Grundlagenfächern des ingenieurwissenschaftlichen
Studiums
Christian Kautz (Hamburg)
Im vorangegangenen Beitrag stellen KURZ, METZGER und LINSNER Ergebnisse
einer Untersuchung vor, die für die betrachteten ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge und Kohorten eine starke Korrelation des Studienerfolgs mit den mathematischen Fertigkeiten der Studienanfänger aufzeigt. Neben der Befürwortung von
diagnostischen Maßnahmen sowie dem gezielten Einsatz von Interventionsmaßnahmen werfen die Autoren die Frage auf, ob die beobachtete Korrelation nicht
auch Ausdruck einer zu starken Fokussierung des ingenieurwissenschaftlichen
Studiums auf das Replizieren und Anwenden von Rechenalgorithmen („Kochrezepten“) ist. Diesem „unreflektierten Wiedergeben und Anwenden von auswendig
gelernten Vorgehensweisen” sei (neben weiteren Kompetenzen) „ein Verstehen von
mathematischen oder physikalischen Konzepten“ möglicherweise vorzuziehen. Dieser Vorschlag ist auch deshalb bemerkenswert, weil er unterstellt, dass die Fähigkeit
zur Beantwortung herkömmlicher Prüfungsaufgaben nicht als Indiz für das Verständnis der zugrunde liegenden Konzepte gewertet werden darf.
Diese Sichtweise wird nicht von allen Lehrenden technischer Fächer an Hochschulen
und Universitäten geteilt. Sie wird jedoch gestützt durch eine große Zahl von Untersuchungen in der Physik und anderen natur- und ingenieurwissenschaftlichen
Fächern innerhalb der vergangenen drei Jahrzehnte. D iese Untersuchungen haben
gezeigt, dass Studierende häufig auch nach Behandlung eines Themas in der Lehrveranstaltung Schwierigkeiten haben, Zusammenhänge zwischen relevanten physikalischen Größen in Worten auszudrücken und auf qualitative Problemstellungen
anzuwenden, oft sogar zeitnah zu einer entsprechenden Prüfung, wenn also die
üblichen Rechenalgorithmen bereits gut beherrscht werden. Ein besonders prägnantes Beispiel hierfür – weil die erfolgreiche Bearbeitung einer herkömmlichen
Aufgabe und deutliche Mängel beim Beantworten qualitativer Fragen innerhalb der
gleichen Klausur festzustellen sind – liefert ERIC MAZUR im ersten Kapitel seines
Buchs Peer Instruction (MAZUR 1997).
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Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
Die Beobachtung, dass die herkömmliche Lehre in den physikalisch-technischen
Fächern, bestehend aus Vorlesung, (Vor-)Rechnen von quantitativen Aufgaben und
der Durchführung einiger Standardexperimente, nicht ausreicht, um ein anwendungsfähiges Verständnis der Konzepte zu erzeugen, wirft eine Reihe von Fragen auf:
• Worin bestehen die Schwierigkeiten der Studierenden beim Konzeptverständnis?
• Lassen sich diese Verständnisschwierigkeiten erklären, d. h. auf identifizierbare Ursachen zurückführen? Wo dies (noch) nicht möglich ist, lassen
sich zumindest wiederkehrende Muster erkennen?
• Was lässt sich gegen die beobachteten Schwierigkeiten tun, bzw. wie können Lehrende ihren Studierenden bei der Überwindung dieser Schwierigkeiten helfen?
Diese Fragen sollen im vorliegenden Beitrag behandelt werden, wobei der Fokus hier
auf den ersten beiden Punkten liegt und zur Beantwortung der dritten Frage vor
allem auf andere Veröffentlichungen verwiesen wird. Anhand einer größeren Anzahl
von Beispielen wird in Abschnitt 1 gezeigt, in welchen Zusammenhängen solche
Fehlvorstellungen häufig auftreten. In Abschnitt 2 wird versucht, einige fachübergreifende Muster von Fehlvorstellungen so zu beschreiben, dass auch Leserinnen und Leser, die nicht selbst in der Lehre technischer Fächer tätig sind, einen
Nutzen daraus ziehen können. Interessierten Lehrenden sollen darüber hinaus erste
Anhaltspunkte gegeben werden, in welcher Gestalt und an welchen Stellen auch in
ihrem Fach derartige Verständnisschwierigkeiten zu erwarten sind. Der Beitrag soll
damit auch dazu anregen, Äußerungen der Studierenden in der eigenen Lehrveranstaltung auf das Auftreten möglicher Fehlvorstellungen zu betrachten und (vgl. u.
a. den nachfolgenden Beitrag von BRAUN) Methoden einzusetzen, die es den Studierenden erleichtern, solche Vorstellungen zu überwinden.
Ziel dieses Beitrags ist es ausdrücklich nicht, eine vollständige Auflistung aller
dokumentierten Fehlvorstellungen in technischen Fächern zu liefern, mit deren
Hilfe dann Studierende durch gezielte Instruktion „präventiv behandelt“ werden
könnten. Wie in verschiedenen Studien beobachtet wurde, hat z. B. ein ausdrückliches Hinweisen auf diese alternativen Vorstellungen in der Vorlesung meist nur
geringen Erfolg, selbst wenn dieser Hinweis durch Demonstrationsexperimente
unterstützt wird (KRAUS 1997; ORTIZ 2005).
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
Zunächst soll hier noch ein kurzer Überblick über die Entwicklung dieser Forschungsrichtung gegeben werden. Wie auch die hier getroffene Auswahl an Literaturangaben deutlich macht, wurde die Forschungstradition zum qualitativen Verständnis – und insbesondere zu Fehlvorstellungen – bei Studierenden (im Unterschied zu Schülern in der Primar- oder Sekundarstufe) hauptsächlich in den USA
begonnen (BEICHNER 2009). In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war
es vor allem die Arbeitsgruppe um LILLIAN C. MCDERMOTT an der University of
Washington in Seattle, die quantitative Erhebungen zum Verständnis von Studierenden in der Physik angestellt hat. MCDERMOTT und ihre Mitarbeiter konnten
dabei auf langjährigen qualitativen Beobachtungen ihres Kollegen ARNOLD ARONS
aufbauen, dessen Einsichten und Mahnungen noch heute aktuell sind (ARONS 1981,
1983, 1984a, 1984b, 1990, 1997).
Nur wenige Jahre später entstanden – teilweise inspiriert durch direkten Kontakt mit
MCDERMOTT – an mehreren Hochschulen in den USA weitere Arbeitsgruppen zur
Hochschul-Fachdidaktik der Physik und anderer Naturwissenschaften, die wie die
Physics Education Group an den jeweiligen Fachbereichen angesiedelt waren. Dies war
vermutlich überwiegend dadurch bedingt, dass die Gründer dieser Arbeitsgruppen
bereits Professuren in traditionellen Gebieten ihres Fachs innehatten, als sie sich
dann der empirischen Fachdidaktik zuwandten. Ihre Herkunft und Zugehörigkeit zu
den Science Departments hat sicherlich ihre Arbeitsweise stark beeinflusst, diese Arbeit
andererseits auch insofern erst möglich gemacht, als sie auf den Zugang zu den Lehrveranstaltungen des Fachs angewiesen waren und durch ihren naturwissenschaftlich
geprägten Stil zumindest teilweise bei ihren Kollegen Gehör fanden.
Ein entscheidender Entwicklungsschritt war die Entwicklung, Veröffentlichung
und zunehmende Verbreitung des Force Concept Inventory in der ersten Hälfte der
90er Jahre (HESTENES 1992). Ziel dieses Multiple-Choice-Tests war, das konzeptuelle Verständnis der Newton’schen Mechanik bei Schülern und Studierenden zu erheben. Dazu waren die etwa 30 enthaltenen Fragen überwiegend in Alltagssprache
formuliert und so gestaltet, dass sie ohne nennenswerte Rechnungen beantwortet
werden können. Für viele Lehrende waren die (schwachen) Ergebnisse ihrer Studierenden bei diesem vermeintlich so einfachen Test zunächst kaum zu glauben
(GRIFFITHS 1997; MAZUR 1997). Auch wenn die Aussagekraft des Tests zunächst
teilweise umstritten war (HUFFMAN 1995; HESTENES 1995; HELLER 1995), gewann
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
er doch weitgehend Akzeptanz als ein brauchbares Instrument zur Messung von
Lernzuwächsen in Lehrveranstaltungen der Physik.
Eine wenige Jahre später veröffentlichte Studie von über 60 Lehrveranstaltungen
konnte mithilfe dieses Tests einen deutlichen Unterschied zwischen herkömmlicher
und aktivierender Lehre nachweisen. Relativ zur rechnerisch möglichen Verbesserung zwischen Eingangsniveau und Abschlusstest konnten Veranstaltungen, die
aktivierende Methoden einsetzten, im Mittel wenigstens fast die Hälfte des Möglichen erreichen, herkömmliche Lehrveranstaltungen jedoch nur ein Viertel (HAKE
1998). Seitdem wurden und werden in verschiedenen anderen Fächern im MINTBereich weitere Concept Inventories entwickelt und eingesetzt, und der erwähnte
Quotient des umgesetzten „Lernpotentials“ ist als Hake-Faktor weithin bekannt.
Seit der Jahrtausendwende haben sich die Hochschul-Fachdidaktik-Communities in
den Natur- und Ingenieurwissenschaften neben der Untersuchung von Fehlvorstellungen der Studierenden verstärkt auch anderen Themen zugewandt. Im Zuge
dessen werden auch vermehrt neue theoretische Ansätze formuliert. Eine Einordnung von spezifischen Verständnisschwierigkeiten in ein weiter gefasstes Modell
von Vorgehensweisen von Studierenden bei der Lösung von Aufgaben ermöglicht
zum Beispiel das so genannte Resources Framework von HAMMER und REDISH
(REDISH 2014). Dieses Modell berücksichtigt, dass Antworten von Studierenden in
Lern- und Prüfungssituationen auch unter optimierten Bedingungen oft von anderen
Faktoren (außer dem fachlichen Verständnis im engeren Sinn) abhängen können. Die
Fortsetzung von Forschungsarbeiten zum Verständnis und Fehlverständnis bei
Studierenden in technischen Fächern bleibt dennoch weiterhin ein wichtiges und
spannendes Unterfangen.
1. Fachspezifische Verständnisschwierigkeiten
Im Folgenden werden fachspezifische Verständnisschwierigkeiten aus drei Teilgebieten der Physik diskutiert, die für die Grundlagen der Ingenieurwissenschaften
von besonderer Bedeutung sind: der Mechanik, der Elektrizität und der Wärmelehre. Andere Teilgebiete der Physik, wie Optik, Relativitätstheorie und Quantenphysik werden hier nicht berücksichtigt. Anschließend sollen jedoch einige fachübergreifende Aspekte beim Verständnis technischer Zusammenhänge diskutiert
werden.
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
Soweit möglich wurde versucht, Originalaufsätze als Quellen anzugeben. Einige der
nachfolgenden Aussagen gründen sich jedoch auf langjährige eigene Beobachtungen,
die nur teilweise dokumentiert und nicht veröffentlicht sind. In diesen Fällen sind
keine Quellen angegeben.
1.1 Mechanik
Im Folgenden werden einige der bedeutendsten Verständnisschwierigkeiten auf dem
Gebiet der Mechanik beschrieben. Auch wenn Fehlvorstellungen in verschiedenen
Themenfeldern der Mechanik oftmals zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen, wird hier nach den üblichen Teilgebieten Statik, Kinematik, Dynamik und
Hydrostatik getrennt.
Statik:
Mangelndes Verständnis von Kräften als Wechselwirkung von zwei Körpern: Studierenden
in Grundlagenvorlesungen der Physik oder der Mechanik ist häufig nicht bewusst,
dass es sich bei Kräften im physikalischen Sinn immer um Wechselwirkungen
zwischen zwei materiellen Körpern handelt. Dieser Mangel erschwert das Verständnis einiger anderer Zusammenhänge. Am deutlichsten tritt dies zu Tage bei der Unterscheidung zwischen realen physikalischen Kräften, für welche die genannte Bedingung gilt, und Trägheits- oder Scheinkräften, die bei der Beschreibung in nichtinertialen Systemen zusätzlich auftreten und für die sich kein ausübender Körper
finden lässt. Weitere Schwierigkeiten treten jedoch auch beim Erstellen von Freikörperbildern (z. B. durch Doppelnennung von Kräften), bei der Anwendung des
dritten Newton’schen Gesetzes oder Wechselwirkungsgesetzes, „F12 = F21“, sowie
bei der begrifflichen Trennung von zweitem und drittem Gesetz auf. Eine zunächst
etwas pedantisch anmutende Notation, die neben der Art der Wechselwirkung auch
die beiden interagierenden Körper bezeichnet, kann hier zumindest teilweise Abhilfe
schaffen (MCDERMOTT 1994).
Mangelnde Unterscheidung von Kräften und Momenten: Während die Lehre der Newton’schen Mechanik in der Physik nur Kräfte als Wechselwirkungen kennt und die
„Drehwirkung“ (als Drehmoment) einzelner Kräfte bezüglich bestimmter Bezugspunkte daraus ableitet, werden in der Technischen Mechanik in der Regel Kräfte
und Momente nahezu gleichzeitig als theoretische Grundelemente eingeführt.
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
Letztere werden aufgrund ihrer Verschiebbarkeit im Teilgebiet der Statik starrer
Körper häufig als freie Momente bezeichnet und treten (im Unterschied zu Kräften)
nur im Momentengleichgewicht, nicht jedoch im Kräftegleichgewicht auf. Diese
Unterscheidung ist jedoch für viele Studierende zunächst unklar, was häufig zu der
Vorstellung führt, einzelne Kräfte und Momente könnten sich gegenseitig ersetzen,
wären also statisch äquivalent (STEIF 2006).
Falsche Interpretation des Moments als Drehwirkung um einen bestimmten Punkt: Viele
Studierende interpretieren ein freies Moment als eine Drehwirkung um den Angriffspunkt des Momentes, also damit den Punkt im Freikörperbild, an dem das Moment
eingezeichnet ist. Damit werden zwei gleiche Momente mit unterschiedlichen Angriffspunkten häufig als nicht äquivalent wahrgenommen (BROSE 2011).
Kinematik:
Mangelnde Unterscheidung von Geschwindigkeit und Beschleunigung: Studierende haben
häufig Schwierigkeiten bei der Unterscheidung der physikalischen Größen Geschwindigkeit und Beschleunigung, sowohl bei eindimensionaler (TROWBRIDGE
1981) als auch (und noch häufiger) bei vektorieller Beschreibung von Bewegungen. So werden z. B. Abstandsänderungen zwischen zwei Körpern, von denen
einer eine hohe konstante Geschwindigkeit besitzt, der andere eine geringere Momentangeschwindigkeit bei gleichzeitiger Beschleunigung, häufig falsch bestimmt.
Die mangelnde Trennung von Geschwindigkeit und Beschleunigung lässt sich als
ein spezieller Fall der mangelnden Unterscheidung einer physikalischen Größe und
ihrer zeitlichen Ableitung deuten, die in vielen Teilgebieten der Physik (also auch
außerhalb der Mechanik) dokumentiert ist. Bei Kindern und Jugendlichen, vereinzelt auch bei Studierenden, tritt auch eine Verwechslung zwischen Ort und Geschwindigkeit auf, was bereits von PIAGET beschrieben wurde (PIAGET 1970;
TROWBRIDGE 1980).
Mangelndes Verständnis von Geschwindigkeit (und Beschleunigung) als Vektorgrößen: Die
Bedeutung der vektoriellen Beschreibung von Bewegungen bleibt für Studierende oft
lange unklar (FLORES 2004). Es wird z. B. nicht erkannt, dass bei einer krummlinigen
Bewegung mit konstantem Geschwindigkeitsbetrag die Beschleunigung ungleich
Null ist. Diese Verständnisschwierigkeit hat vermutlich schwerwiegende Konsequenzen im weiteren Verlauf der Lehre der Mechanik, denn ohne ein solides Verständnis
der Kinematik krummliniger Bewegungen nimmt die so genannte Zentripetalkraft
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
häufig einen geradezu mystischen Charakter an (SHAFFER 2005). Auch auf das
Verständnis von Situationen unter dem Aspekt von Kräften und Impulsänderungen
kann dieses Defizit Auswirkungen haben. Dies zeigt sich unter anderem beim
Verständnis des Drucks in der kinetischen Theorie idealer Gase. Hier bleibt dann
der Druck als Produkt von Teilchenfluss und Impulsübertrag einzelner Stöße häufig
unverstanden (KAUTZ 2005b).
Dynamik:
Nach der Behandlung der Newton’schen Mechanik in der Vorlesung sind die meisten
Studierenden zwar in der Lage, das zweite Newton’sche Gesetz („F=ma“) ungefähr
richtig zu zitieren. Ein funktionales (also auf konkrete Situationen anwendbares)
Verständnis ist in vielen Fällen dadurch jedoch nicht erreicht worden. Auch beim
dritten Newton’schen Gesetz ist das korrekte Zitieren (z. B. in der Form „actio
gleich reactio“) selten ein Problem. Hier fehlt aber häufig die Überzeugung, dass dies
tatsächlich eine treffende Beschreibung der Wirklichkeit darstellt und nicht nur von
einem Gedankenspiel oder einer willkürlichen Festlegung der Physiker herrührt. Die
folgenden Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den Newton’schen Gesetzen
finden sich häufig auch nach Abschluss der jeweiligen Lehreinheit. (Auf die häufig
und kontrovers diskutierte Frage, welche Funktion das erste Newton’sche Gesetz
hat, soll hier nicht eingegangen werden.)
Vorstellung, eine resultierende Kraft sei notwendig zur Erhaltung einer Bewegung: Die
implizierte Abstraktion von den üblicherweise auftretenden Reibungskräften ist
möglicherweise eine der größten Leistungen NEWTONS bei der Aufstellung seiner
Theorie der Bewegungen. Ganz sicher ist diese Abstraktion jedoch einer der
schwierigsten Aspekte für viele Studierende. Bei der Analyse von Alltagsvorgängen
oder der qualitativen Beschreibung von Bewegungsverläufen wird häufig angenommen, eine (nicht-verschwindende) resultierende Kraft sei nötig, um die gleichförmige Bewegung eines Körpers aufrecht zu erhalten. So wird zum Beispiel argumentiert, die Kraft der Lokomotive auf einen Eisenbahnwaggon müsse geringfügig
größer sein als die Summe der auf den Waggon wirkenden Reibungskräfte. Häufig
wird in derartigen Situationen auch vorausgesetzt, der Betrag der resultierenden
Kraft sei proportional zur Geschwindigkeit.
Betrachtung einer einzelnen Kraft als Ursache einer Bewegung: In der vereinfachten
Formulierung „F=m·a“ bleibt häufig unklar, dass das Symbol F hier die resultieren-
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de Kraft (oder Gesamtkraft) bezeichnet, also die vektorielle Summe aller auf den betrachteten Körper wirkenden Kräfte. Dies führt dazu, dass häufig einzelne Kräfte als
alleinige Verursacher einer Bewegung angesehen werden. In manchen Situationen,
z. B. der waagerechten Kreisbewegung eines kleinen Gegenstandes auf einem sich
drehenden Plattenteller, mag dies als verzeihbarer Fehler angesehen werden. Schon
bei geringfügig komplizierteren Anordnungen führt diese Vorstellung jedoch leicht
zu falschen Aussagen.
Fehlvorstellungen im Zusammenhang mit dem dritten Newton’schen Gesetz: Auch nach
einer mehr oder weniger ausführlichen Veranschaulichung des dritten Newton’schen
Gesetzes stehen die intuitiven Vorstellungen vieler Studierender in krassem Widerspruch zu diesem Sachverhalt. Nach deren Vorstellungen übt häufig der schwerere,
der schneller bewegte oder der „aktiv schiebende“ Körper eine größere Kraft auf den
anderen Körper aus als der leichtere, weniger schnell bewegte oder „nur geschobene“
Körper. Die typischerweise besonders schwachen Ergebnisse bei zwei derartigen
Aufgaben des Force Concept Inventory (jeweils in Situationen, die einen PKW und
einen LKW betreffen) belegen diese Fehlvorstellung sehr deutlich (HESTENES 1992;
GIRWIDZ 2003).
Mangelnde Unterscheidung zwischen Kräftegleichheit aufgrund von zweitem oder drittem
Newton’schen Gesetz: In Situationen, in denen auf einen ruhenden oder gleichförmig
bewegten Körper zwei gleich große, entgegengesetzt gerichtete Kräfte wirken (z. B.
eine Person in einem gleichmäßig nach oben bewegten Aufzug), geben Studierende
häufig an, dass die beiden auf den Körper wirkenden Kräfte aufgrund des dritten
(nicht des zweiten) Newton’schen Gesetzes gleiche Beträge haben müssen. Oft wird
auch angegeben, dass dieser Sachverhalt alternativ aus beiden Gesetzen abgeleitet
werden könne.
Mangelnde Interpretation des zweiten Newton’schen Gesetzes als Vektorgleichung: Zusätzlich zu mangelnden Fertigkeiten im Umgang mit Vektoren haben viele Studierende
Schwierigkeiten, zu erkennen, dass das zweite Newton’sche Gesetz nicht nur die
Betragsgleichheit sondern auch die Gleichgerichtetheit von resultierender Kraft und
dem Produkt aus Masse und Beschleunigung fordert (FLORES 2004).
Vorstellung der gegenseitigen Einschränkung von Rotations- und Translationsbewegung:
Auch unter fortgeschritteneren Studierenden ist die Vorstellung weit verbreitet,
dass eine Kraft, die zur Rotationsbewegung eines starren Körpers beiträgt, dadurch
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
in geringerem Maße oder gar nicht mehr zur Translationsbewegung (seines Schwerpunktes) beiträgt. Diese Vorstellung wird z. B. deutlich, wenn die Schwerpunktsgeschwindigkeit zweier Quader verglichen werden soll, von denen der eine eine
konstante Kraft im Mittelpunkt, der andere eine gleich große Kraft an seinem Rand
erfährt. Die häufige Argumentation, die Kraft werde für die Rotation „verbraucht“,
lässt erahnen, dass hier möglicherweise Aspekte von Kraft, Impuls und Energie
miteinander vermischt werden. Auch wenn sich manche der entsprechenden
Situationen durch Anwendung des Energiesatzes analysieren lassen, führt dieser Ansatz viele Studierende zum falschen Schluss, da der Begriff der Arbeit nicht konsequent angewendet wird und die Energiebetrachtung dadurch notwendigerweise unvollständig bleibt (CLOSE 2013).
Hydrostatik:
Falsche Anwendung des Zusammenhangs zwischen Druck und Tiefe in Flüssigkeiten: Viele
Studierende nehmen nicht wahr, dass der in der Formel „P=P0+ρ·g·h“ auftretende
Referenzdruck P0 zwar an einem beliebigen Punkt gewählt werden kann, jedoch
dem dort herrschenden Druck entsprechen muss. Darüber hinaus wird bei der Anwendung der genannten Formel häufig eine falsche Interpretation der Größe h zugrunde gelegt. Dies führt bei teilweise geschlossenen Behältern oft dazu, dass nur die
Höhe der unmittelbar über einem Punkt befindlichen Flüssigkeit gewertet wird,
ohne Unterscheidung, ob über der Flüssigkeit Umgebungsdruck oder ein anderer
Druck herrscht. Diese Problematik hängt mit der nachfolgend beschriebenen Schwierigkeit eng zusammen (LOVERUDE 2010).
Mangelnde Berücksichtigung von Kräften, die von Behälterwänden auf eine Flüssigkeit ausgeübt werden: Bei der Bestimmung von Drücken an unterschiedlichen Punkten in
einer Flüssigkeit werden Kräfte, die von Behälterwänden ausgeübt werden, häufig
nicht berücksichtigt. Druck wird demnach strikt als Gewicht der darüber liegenden Flüssigkeitsmenge pro Fläche angesehen, was sich in dem vorangehend beschriebenen Fehler äußern kann. Relevant erscheint hierbei auch, dass der scheinbare
Widerspruch im häufig in Lehrbüchern diskutierten hydrostatischen Paradoxon gar
nicht wahrgenommen wird, also die Tatsache, dass der (Innen-)Druck am Boden
eines Behälters mal dessen Grundfläche häufig nicht der Gewichtskraft der enthaltenen Flüssigkeit entspricht, sondern je nach Behälterform auch kleinere oder
größere Werte annehmen kann. Weitere Situationen, in denen Kräfte, die von
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Behälterwänden ausgeübt werden, eine wichtige Rolle für das Verständnis spielen,
sind solche mit Barometern oder barometer-ähnlichen Anordnungen (LOVERUDE
2010). Hierbei scheinen Verständnisschwierigkeiten im Zusammenhang mit dem
Begriff des Vakuums und Drücken unterhalb des Umgebungsdrucks eine Rolle zu
spielen.
Schwierigkeiten beim Verständnis der Auftriebskraft: Schwierigkeiten mit dem Verständnis von Kräften zwischen Flüssigkeiten und festen Körpern zeigen sich auch beim
Thema „Auftrieb“. Häufig auftretende Fehlvorstellungen sind z. B. die Annahme,
dass die Auftriebskraft (in inkompressiblen Flüssigkeiten) von der Masse des eingetauchten Körpers oder (bei vollständig untergetauchten Körpern) von der Tiefe
abhängt. Zudem wird oft nicht verstanden, dass die Auftriebskraft nicht an einer
Teilfläche eines Körpers angreift, sondern die Summe aller durch die umgebende
Flüssigkeit ausgeübten Kräfte darstellt (LOVERUDE 2003).
1.2 Elektrizität
Gleichstromkreise:
Mangelndes Verständnis eines geschlossenen Stromkreises: Untersuchungen an einer amerikanischen Hochschule haben gezeigt, dass nicht nur bei Schülern im Sekundarbereich, sondern auch unter Studierenden in Lehrveranstaltungen der Physik als
Nebenfach oft nur eine ungenaue Vorstellung von einem geschlossenen Stromkreis
vorhanden ist. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer war nicht in der Lage, die Anordnung der Pole bzw. Kontakte einer Batterie und einer Glühlampe in einem
einfachen Stromkreis richtig wiederzugeben (MCDERMOTT 1992).
Vorstellung, dass Strom verbraucht wird: Auch nach einer einsemestrigen Vorlesung zu
den Grundlagen der Elektrotechnik erwarten etwa 10% der Studierenden der
Elektrotechnik oder verwandter Fächer, dass bei einer Reihenschaltung von zwei
Glühlampen, eine der beiden Lampen weniger hell leuchtet als die andere. Einige
der Studierenden gaben bei einer schriftlichen Befragung ausdrücklich an, dass ein
Teil des Stroms von der „ersten“ (d. h. der näher am Pluspol der Batterie liegenden)
Lampe „verbraucht“ würde. In vielen Fällen wurde jedoch eine Begründung gegeben,
die mit den Begriffen „Spannung“, „Spannungsabfall“ oder „Potential“ argumentiert,
wobei auch hier vermutlich eine Vorstellung von „Stromverbrauch“ zugrunde liegt.
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
Unter Studierenden anderer Fachrichtungen, die ebenfalls Vorlesungen der Elektrotechnik belegen, tritt diese Fehlvorstellung in der Regel deutlich häufiger auf. In den
Studiengängen Maschinenbau und Verfahrenstechnik wurden z. B. Häufigkeiten von
über 25% festgestellt (MCDERMOTT 1992).
Batterie (oder ideale Spannungsquelle) als Quelle konstanten Stroms: Studierende nehmen häufig implizit oder explizit an, dass bei Veränderungen an einer Schaltung der
aus der (Spannungs-)Quelle austretende Strom konstant bleibt, oder dass in zwei
unterschiedlichen Schaltungen mit gleichen Batterien der gleiche Gesamtstrom (d. h.
Strom durch die Batterie) fließen muss (MCDERMOTT 1992).
Schwierigkeiten bei der Identifizierung von Reihen- und Parallelschaltungen: Die
korrekte Bestimmung von Reihen- oder Parallelschaltungen von Widerständen oder
anderen Bauelementen bereitet auch Studierenden im zweiten Semester oft noch
Schwierigkeiten. Dies tritt verstärkt dann auf, wenn die Bauelemente im Schaltbild
nicht immer genau unter einander (bei Reihenschaltung) oder nebeneinander (bei
Parallelschaltung) dargestellt werden. Werden Studierende aufgefordert, Definitionen
von Reihen- und Parallelschaltung anzugeben, beziehen sie sich häufig auf das Verhalten von Strom oder Spannung in der betreffenden Schaltung, was dann zu
logischen Zirkelschlüssen bei der Anwendung der Kirchhoff’schen Regeln führt
(MCDERMOTT 1992). Möglicherweise kommt hier auch zum Tragen, dass Studierenden häufig der Zweck operationaler (im Unterschied zu rein lexikalischen) Definitionen unklar ist.
Neigung zu sequentieller und lokaler Betrachtung von Stromkreisen: Für viele Studierende ist es schwierig einzusehen, warum eine Veränderung an einer Stelle in einer
Schaltung Auswirkungen auf Spannungen oder Ströme an anderen Stellen in der
Schaltung haben kann. Besonders häufig tritt diese Schwierigkeit in Situationen auf,
wenn Veränderungen an Punkten niedrigeren Potentials zu Auswirkungen an
Punkten höheren Potentials führen (MCDERMOTT 1992). Antworten von Studierenden auf Fragen zu Wechselstromschaltungen deuten an, dass diese Schwierigkeit
erneut akut werden kann, wenn neue Aspekte (wie Phasenbeziehungen und komplexwertige Impedanzen) auftreten (KAUTZ 2008).
Schwierigkeiten bei der Unterscheidung von Spannung und Potential: Die Größen
Spannung und Potential stellen für viele Studierende noch deutlich größere Hürden
dar als der Begriff des Stroms. Während zunächst allein die Unterscheidung
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
zwischen Spannung und Strom große Schwierigkeiten bereiten kann, bleibt auch
später noch für viele Studierende die Unterscheidung zwischen Spannung und Potential schwierig. So wird z. B. höheres Potential an einer Klemme eines Bauteils
häufig als eine höhere Spannung an diesem Bauteil missverstanden (MCDERMOTT
1992). Inwieweit der Begriff des Potentials das Verständnis der Spannung erleichtern
kann (z. B. indem die Kirchhoff’sche Maschenregel automatisch erfüllt wird), ist
Gegenstand laufender Untersuchungen (TIMMERMANN 2014).
Mangelndes Verständnis der Arbeitsgeraden als Anwendungsfall der Kirchhoff’schen
Maschenregel: Schwierigkeiten im Umgang mit den Begriffen Spannung und Potential
(bzw. mit der Kirchhoff’schen Maschenregel) zeigen sich auch beim Aufstellen und
Interpretieren von Arbeitsgeraden zur Beschreibung nicht-idealer Quellen. In
schriftlichen Aufgaben werden häufig Geraden mit positiver statt negativer Steigung im I-U-Diagramm eingetragen. Bei mündlicher Befragung sind Studierende
auch nach Behandlung des Themas in der Vorlesung häufig nicht in der Lage, den in
der Arbeitsgeraden ausgedrückten Zusammenhang zwischen Strom und Klemmenspannung zu erläutern (KAUTZ 2007).
Schwierigkeiten bei der Anwendung von Analogien: Analogien zwischen unterschiedlichen Phänomenen können das Verständnis eines Themas erleichtern und werden in
der Lehre deshalb häufig zur Erläuterung verwendet. Was hierbei zu beachten ist,
und warum dieses Vorgehen nicht immer zu einem tieferen Verständnis führt und
zuweilen auch neue Fehlvorstellungen hervorrufen kann, soll in Abschnitt 3 weiter
ausgeführt werden. Im Zusammenhang mit dem Thema „Gleichstromkreise“ ist dies
von besonderer Bedeutung, weil die Studierenden die Analogie zum Wasserkreislauf
häufig bereits aus der Schule kennen. Während diese Analogie prinzipiell durchaus
hilfreich sein kann, sind Studierende in den Anfangssemestern (also vor der Beschäftigung mit der Thermodynamik und Strömungsmechanik) meist nicht in der
Lage, die entsprechenden Größen (z. B. Druck und elektrisches Potential, Massenoder Volumenstrom und elektrischer Strom) zuzuordnen. Auch wenn hierzu kaum
Untersuchungen vorliegen, lässt sich aus den oben zitierten Ergebnissen zum Verständnis der Hydrostatik leicht extrapolieren, dass hier Schwierigkeiten auftreten.
Erschwert wird die Anwendung der beschriebenen Analogie sicher auch dadurch,
dass von Strömungen bestimmter Art (nämlich in geschlossenen Rohrsystemen)
ausgegangen werden muss, während aus dem Alltag vermutlich eher andere Strömungen vertraut sind. Ähnliches gilt für Analogien zum Bereich „Straßenverkehr“,
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
bei denen die notwendige Einschränkung auf stationäre Verhältnisse meist nicht
beachtet wird.
Wechselstromkreise:
Falsche Interpretation von Phasenbeziehungen in Wechselstromsystemen: Ein wesentlicher
Schritt bei der Lehre des Themengebiets der Wechselstromsysteme ist die Einführung der komplexwertigen Impedanzen von Induktivitäten und Kapazitäten
und der darin ausgedrückten Phasenbeziehungen von Strom und Spannung.
Während die Existenz eines charakteristischen Phasenzusammenhangs für das jeweilige Bauelement den meisten Studierenden nach Einführung des Themas bewusst ist, treten sehr häufig Missverständnisse bezüglich der Frage auf, zwischen
welchen Größen diese Phasenbeziehung auftritt. So interpretierte in einer Untersuchung an mehreren deutschen sowie einer amerikanischen Hochschule etwa die
Hälfte der Studierenden den jeweiligen Zusammenhang als eine Verschiebung des
Stroms (durch eine Induktivität) um 90° gegenüber Strömen in umliegenden (u. a. in
Reihe geschalteten) Bauelementen bzw. als eine Verschiebung der Spannung (an
einer Kapazität) um 90° gegenüber Spannungen an umliegenden (u. a. parallel geschalteten) Bauelementen. Ein Zusammenhang mit der oben beschriebenen Neigung, Schaltungen sequentiell zu betrachten, ist hier sehr deutlich. Teilweise äußern
Studierende ganz ausdrücklich, dass der Strom z. B. durch einen Widerstand
fließe und anschließend durch die in Reihe geschaltete Induktivität verzögert werde
(KAUTZ 2011). Der für den Experten offensichtliche Widerspruch zu den
Kirchhoff’schen Regeln wird von den Studierenden nicht wahrgenommen.
Elektrische und magnetische Felder:
Informelle Beobachtungen deuten darauf hin, dass auf dem Gebiet der elektrischen
und magnetischen Felder eine Reihe von sehr grundlegenden Fehlvorstellungen
auftreten. Diese sind aber zum großen Teil noch nicht systematisch erfasst und
dokumentiert.
Mangelndes Verständnis der operationalen Definition von Feldern: Für viele Studierende
bleibt der Begriff des elektrischen oder magnetischen Feldes sehr abstrakt. So
können sie z. B. häufig nicht mit eigenen Worten erklären, welche Information die
Aussage „Das elektrische Feld am Punkt P beträgt 10 N/C (oder 10 V/m)“ bein-
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
haltet. Beide Formulierungen setzen offensichtlich auch voraus, dass das Konzept
der Proportionalität verstanden ist und angewandt werden kann.
Falsche Verallgemeinerung von Analogien zwischen elektrischen und magnetischen Phänomenen: Dass, wie oben bereits erwähnt, die Verwendung von Analogien in der Lehre
zuweilen auch zu neuen Fehlvorstellungen führen kann, zeigt sich besonders deutlich
auch im Falle der Analogie (bzw. mathematischen Symmetrie) zwischen elektrischen und magnetischen Phänomenen. Während z. B. die Ähnlichkeiten zwischen
elektrischen und magnetischen Feldlinienbildern für den Experten eine Erleichterung für das Verständnis darstellen können, interpretieren viele Studierende diese
Analogie als Identität und gehen davon aus, dass ruhende elektrische Ladungen von
magnetischen Feldern beeinflusst werden. So wird beispielsweise angenommen, dass
positive elektrische Ladungen von magnetischen Nordpolen abgestoßen werden, da
sich Feldlinien von beiden entfernen (ARONS 1997; KRAUS 1997). Weitere Bemerkungen zur Verwendung von Analogien finden sich in Abschnitt 3.
1.3 Wärmelehre
Ideales Gasgesetz:
Im Zusammenhang mit dem idealen Gasgesetz wurden verschiedenartige Verständnisprobleme beobachtet: einerseits solche, die auf ein mangelndes Verständnis einzelner darin auftretender Größen (Druck, Volumen, Stoffmenge, oder Temperatur)
zurückzuführen sind, und andererseits Schwierigkeiten mit dem Zusammenhang
zwischen diesen Größen, der im idealen Gasgesetz (PV=nRT) ausgedrückt ist.
Schwierigkeiten mit der operationalen Definition von Druck: Viele Studierende haben
Schwierigkeiten mit dem Zusammenhang zwischen Druck und Kraft. Wie in anderen
Fällen liegt die Schwierigkeit in der Regel nicht im Erinnern der richtigen Formel
(P=F/A), sondern häufiger im Identifizieren relevanter Kräfte (Wechselwirkung
zwischen Gas und festen oder beweglichen Behälterwänden) oder beim Verständnis des Kraftbegriffs oder des mechanischen Gleichgewichts. Dadurch wird das anschauliche Verstehen eines Isobaren Prozesses sehr erschwert. Bei der häufig verwendeten schematischen Versuchsanordnung eines vertikal verschiebbaren und auf
dem Gas „schwebenden“ Kolbens wurde z. B. die Position des Kolbens als ein Maß
für den Druck gedeutet, nicht (wie sich aus dem Kräftegleichgewicht ergibt) seine
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
Masse (KAUTZ 2005a). Ebenso bereitet hier die Abstraktion der quasi-statischen Zustandsänderung Schwierigkeiten, also konkret die Vorstellung, dass sich der Kolben ohne nennenswerte Beschleunigung bewegt. Vermutlich ist hier zumindest eine
grobe Vorstellung eines mathematischen Grenzprozesses notwendig, in dem die Beschleunigungsphasen einen immer geringer werdenden Einfluss haben.
Falsche Verallgemeinerung des Zusammenhangs zwischen Druck und anderen Größen in
bestimmten Situationen: Die sich aus dem idealen Gasgesetz ergebenden einzelnen
Zusammenhänge (d. h. Proportionalitäten oder Anti-Proportionalitäten) zwischen
jeweils zwei Größen werden im Unterricht häufig einzeln behandelt (und nach ihren
überlieferten Entdeckern benannt). Studierende interpretieren diese Zusammenhänge
häufig als allgemein gültig, d. h. unabhängig von der darin vorausgesetzten Konstanz der jeweils dritten Größe (bei darüber hinaus vorgegebener Stoffmenge). So
wurde z. B. in Aufgaben zum idealen Gasgesetz häufig eine umgekehrte Proportionalität von Druck und Volumen auch bei offensichtlicher Temperaturänderung angenommen. Noch häufiger wurde aufgrund einer Temperaturzunahme auf eine Erhöhung des Druckes geschlossen, auch wenn in einem weiteren gedanklichen Schritt
eine gleichzeitige Zunahme des Volumens gefolgert wurde. Diese enge gedankliche
Verbindung (und nahezu Gleichsetzung) von Druck und Temperatur hat vermutlich
verschiedene Ursachen. Neben allgemeiner Schwierigkeiten im Umgang mit
Gleichungen mit mehreren Variablen spielen hier ein mangelndes Verständnis von
Druck (siehe oben) sowie unrichtige oder nur teilweise richtige Vorstellungen von
den mikroskopischen Gasteilchen und deren Verhalten (kinetische Gastheorie) eine
Rolle. So wurde unter anderem häufig argumentiert, dass eine Zunahme der
Geschwindigkeit der Gasteilchen notwendigerweise (also auch bei gleichzeitiger
Volumenzunahme) zu einem höheren Druck führt (KAUTZ 2005b).
Erster Hauptsatz der Thermodynamik:
Auch hinsichtlich des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik wurde eine Reihe von
Verständnisschwierigkeiten beobachtet, die verschiedene Ursachen haben. Trotz
seiner fundamentalen Bedeutung für die gesamte Naturwissenschaft wird die Relevanz dieses Gesetzes in konkreten Anwendungsbeispielen von Studierenden häufig
nicht erkannt. Dies hängt vermutlich zum Teil mit einem unvollständigen Verständnis des idealen Gasgesetzes zusammen. Vielen Studierenden fällt es schwer zu
erkennen, dass bei gleichzeitiger Änderung von zwei Größen in manchen Situationen
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
(z. B. Zunahme von P bei gleichzeitiger Abnahme von V) mithilfe qualitativer Überlegungen keine Aussage zur Änderung der dritten Variable (hier T) möglich ist.
Gleichsetzen von adiabaten Bedingungen (Wärmeisolation) mit konstanter Temperatur: Die
Unterscheidung zwischen innerer Energie und Temperatur beinhaltet mehrere
Aspekte. Dazu gehört zum einen die Unterscheidung zwischen extensiven und intensiven Größen, die – wenn vielleicht nicht formal, dann zumindest intuitiv – verstanden sein muss. Schwierigkeiten mit dieser Unterscheidung sind bei Schulkindern ausführlich dokumentiert worden (ERICKSON 1985; DRIVER 1994). Zum
anderen geht es um eine zentrale Aussage des ersten Hauptsatzes, nämlich dass
Änderungen der Energie eines Systems über zwei verschiedene „Kanäle“ erfolgen
können: durch das Verrichten von Arbeit und durch das Übertragen von Wärme.
Solange dieser Aspekt nicht verstanden ist, werden Prozesse unter adiabaten Bedingungen (also bei idealer Wärmeisolation) mit Vorgängen bei konstanter
Temperatur gleichgesetzt (KAUTZ 2005a).
Schwierigkeiten beim Verständnis von (mechanischer) Arbeit: Ähnlich wie für das Verständnis von Druck im Kontext des idealen Gasgesetzes sind auch für das Verständnis des Begriffs der Arbeit grundlegende Vorkenntnisse aus der Mechanik notwendig, die viele Studierende zum Zeitpunkt ihrer Beschäftigung mit der Thermodynamik nicht in ausreichendem Maße besitzen. Mechanische Arbeit wird, wie zuvor
bereits angedeutet, häufig nicht als ein Transfer von Energie von einem Körper oder
System zu einem anderen verstanden. Das Vorzeichen der Arbeit wird damit in
seiner Bedeutung als „Richtung“ des Energieflusses häufig nicht erkannt und
deshalb fälschlicherweise als koordinatenabhängig angesehen. Damit wird auch die
Bedeutung der gewählten Vorzeichenkonvention in der Thermodynamik für viele
Studierende nicht transparent oder bekommt selbst den Charakter eines Naturgesetzes. Zusätzliche Verwirrung schafft hier zuweilen der unterschiedliche Sprachgebrauch einzelner Dozenten oder Lehrbücher: Während die einen, formal richtig
aber scheinbar umständlich, von der „Arbeit des Körpers A am Körper B“ als positiv
oder negativ sprechen, verwenden andere den Begriff „Arbeit“ implizit als positive
Arbeit und drücken deshalb den gesamten Sachverhalt mit den Aussagen „Körper A
verrichtet Arbeit an Körper B“ oder „Körper B verrichtet Arbeit an Körper A“ aus.
Für Lehrende ist jedoch wichtig zu erkennen, dass die Schwierigkeiten der Studierenden in den meisten Fällen über sprachliche Verwirrungen weit hinaus gehen.
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
Eine sorgfältige Verwendung der fachlichen Begriffe ist zwar ratsam, reicht zur
Vermeidung der hier diskutierten Verständnisschwierigkeiten aber in der Regel nicht
aus (LOVERUDE 2002). Wie am Ende von Abschnitt 2 weiter ausgeführt wird, liegen
die Probleme sehr häufig auf der begrifflichen (d. h. konzeptuellen) Ebene, auch
wenn es sich bei oberflächlicher Betrachtung nur um eine Verwechslung von zwei
Fachwörtern zu handeln scheint.
Mangelnde Unterscheidung zwischen Zustandsgrößen und Prozessgrößen: Neben der
Unterscheidung zwischen Temperatur und innerer Energie bereitet häufig auch die
Unterscheidung zwischen Wärme und innerer Energie große Schwierigkeiten.
Diesem Problem liegt vermutlich in den meisten Fällen eine mangelnde Unterscheidung zwischen Zustandsgrößen und Prozessgrößen zugrunde. Studierende
nehmen häufig implizit an (und äußern dies gelegentlich auch explizit), dass die in
zwei verschiedenen Prozessen übertragene Wärmemenge gleich sein muss, wenn
diese die gleichen Anfangs- und Endzustände haben. Diese Überlegung führt darüber hinaus häufig zu der falschen Annahme, dass die gesamte übertragene Wärme
in einem Kreisprozess immer gleich Null ist. Analoge Vorstellungen treten auch im
Zusammenhang mit der Prozessgröße „Arbeit“ auf (MELTZER 2004).
Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik:
Wie für den ersten so gilt auch für den zweiten Hauptsatz, dass viele Studierende die
Relevanz dieses fundamentalen Gesetzes nicht erkennen. Dies zeigt sich unter
anderem daran, dass bei Aufgaben zur Durchführbarkeit thermodynamischer
Maschinen (Wärmekraftmaschinen oder Wärmepumpen bzw. Kältemaschinen) viele
Studierende spontan den vorgegebenen Entwurf nur auf die Einhaltung des ersten
Hauptsatzes (also Energieerhaltung) überprüfen. Darüber hinaus wurden jedoch
auch folgende spezifische Fehlvorstellungen im Zusammenhang mit dem zweiten
Hauptsatz und der Entropie festgestellt.
Falsche Interpretation des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik: Studierende in Lehrveranstaltungen der Technischen Thermodynamik haben häufig Schwierigkeiten
beim Verständnis des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik und interpretieren
diesen als ein generelles Verbot des Wärmetransfers von niedrigeren zu höheren
Temperaturen, sogar nachdem Kältemaschinen in der Vorlesung ausführlich behandelt wurden. Auch in Lehrveranstaltungen zur Wärmelehre als Teil der Physik
wurde diese Fehlvorstellung beobachtet (KAUTZ 2001; COCHRAN 2006).
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
Falsche Verallgemeinerung der Entropiezunahme bei spontanen Prozessen und falsche
Vorstellung von Entropie als Erhaltungsgröße: Studierende in Grundlagenvorlesungen
der Physik oder Chemie haben häufig die Vorstellung, Entropie sei wie Energie eine
Erhaltungsgröße. Konkret wird argumentiert, die Entropie von betrachtetem System
und Umgebung bleibe konstant, wenn diese wechselwirken und dabei Entropie
„austauschen“. Diese Vorstellung tritt oft gemeinsam mit der Idee auf, die Entropie
eines Systems müsse bei spontan ablaufenden Prozessen mit Veränderungen in
diesem System immer zunehmen (MELTZER 2008).
2. Fachübergreifende Muster von
Verständnisschwierigkeiten
Qualitatives Verständnis:
Verzicht auf qualitative Modellvorstellungen: Beispiele aus verschiedenen Fächern
zeigen, dass viele Studierende in technischen Fächern dazu tendieren, sich auf das
Auswendiglernen vorgegebener Formeln zu konzentrieren. Möglicherweise liegt
dies an mangelndem Bewusstsein, dass naturwissenschaftliche Grundzusammenhänge und die daraus abgeleiteten Formeln mathematische Darstellungen konzeptueller Modelle sind. Eine Rolle spielt vermutlich auch die mangelnde Erfahrung, dass
das Verständnis solcher Modelle einen Vorteil beim Bestehen von Prüfungen bedeuten kann. (Diesen Zusammenhang erwähnen, wie eingangs erwähnt, auch KURZ,
METZGER und LINSNER.) Daraus folgt jedoch, dass in der Lehre Situationen geschaffen werden müssen, in denen die Studierenden die Existenz und den Nutzen
von qualitativen Modellvorstellungen für sich feststellen können (LAWSON 1987;
O’BRIEN PRIDE 1998; LOVERUDE 2002; KAUTZ 2007). Andererseits gibt es Fälle,
nicht zuletzt auch in der Mathematik selbst, in denen Begriffe von den Studierenden
durchaus mit einer Interpretation verbunden werden, diese sich jedoch in wesentlichen Aspekten von der akzeptierten Sichtweise unterscheiden. Ein mögliches
Beispiel hierfür stellt die Vorstellung der komplexen Konjugation als Eigenschaft
einer Zahl dar (RIEGLER 2014).
Mangelnde Differenzierung zwischen Definitionen und physikalischen Gesetzen: Eine mit
dem Verzicht auf qualitatives Verständnis möglicherweise verwandte Problematik
stellt die mangelnde Fähigkeit dar, zwischen verschiedenen möglichen Bedeutungen
einer Gleichung (bzw. eines Gleichheitszeichens) zu unterscheiden. So stehen für
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
viele Studierende z. B. die Definition des elektrischen Feldes (Kraft auf einen Probekörper geteilt durch dessen elektrische Ladung) und das Coulomb’sche Gesetz (Feld
einer Punktladung in Abhängigkeit von der Entfernung) auf der gleichen Ebene. In
anderen Fällen nimmt ein physikalisches Gesetz für viele Studierende die Funktion
einer Definition an, besonders in Fällen, in denen die eigentliche Definition der betreffenden Größe nicht verstanden ist. Ein Beispiel hierfür ist die Interpretation des
zweiten Newton’schen Gesetzes als einer Definition der Größe Beschleunigung. Für
viele Studierende ist die Beschleunigung eines Körpers das, was man erhält, wenn
man die auf ihn wirkende Kraft durch seine Masse teilt. Gerade im Fall von Kreisbewegungen bringt dies häufig weitere Verständnisprobleme mit sich.
Mathematische Operationen:
Mangelndes Verständnis sinnvoller mathematischer Operationen zwischen physikalischen
Größen: Fast alle Lehrende in technischen Fächern können Beispiele aufzählen, in
denen Studierende verschiedene physikalische Größen (mit unterschiedlichen Einheiten) zu addieren oder subtrahieren versuchen. Häufig sind jedoch Fehler im Zusammenhang mit der mathematischen Verknüpfung von physikalischen Größen
weitaus subtiler. Zwei Beispiele aus der Elektrotechnik sollen dies verdeutlichen:
Auch wenn die Addition von Spannungen in parallelen Zweigen einer Schaltung
(z. B. den verschiedenen Strängen einer Dreiphasenschaltung) mathematisch
durchführbar ist, resultiert hieraus keine sinnvolle Größe. Eine Addition der Ströme
in den drei Strängen wäre hingegen sinnvoll, um die Stromfreiheit des Nullleiters in
einer symmetrischen Schaltung nachzuweisen. Eine konzeptuelle Schwierigkeit bei
der Unterscheidung von Strom und Spannung könnte Teil der Ursache sein. Ähnlich
verhält es sich bei der Addition von Feldstärken an verschiedenen Orten in der Umgebung elektrischer Ladungen (z. B. der Platte eines Kondensators), woraus sich in
der Regel keine sinnvolle Größe konstruieren lässt. Hier zeigt sich möglicherweise
ein Missverständnis des Begriffs der Superposition (also hier Addition von Feldstärken am gleichen Ort aufgrund verschiedener Quellen).
Grafische Darstellungen technischer Systeme und quantitativer Zusammenhänge:
Schwierigkeiten bei der Differenzierung unterschiedlicher grafischer Darstellungen: Syntaktisch völlig verschiedene grafische Darstellungen gleicher oder unterschiedlicher
Aspekte einer physikalischen Situation werden von Studierenden häufig nicht klar
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
unterschieden. So wurde z. B. bei der Bearbeitung von Aufgaben zu elektrischen
Dreiphasensystemen beobachtet, dass 15% der Studierenden Aspekte von Schaltbild
und Zeigerdiagramm miteinander vermischten, also nicht unterscheiden konnten
zwischen den grafischen Darstellungen der Verknüpfung der Schaltungselemente
einerseits und der Darstellung der Amplituden und Phasen der auftretenden Ströme
oder Spannungen andererseits (KAUTZ 2007).
Falsche Interpretation von Koordinatenachsen als Raumrichtungen: Horizontale und vertikale Koordinatenachse sind aus der Schule (insbesondere aus dem Mathematikunterricht) häufig als x- und y-Achse bekannt. Das Auftragen anderer Variablen auf den
beiden Achsen eines Diagramms verlangt dann eine zusätzliche Abstraktion, die möglicherweise schon in der Schule thematisiert wird. Weiterhin besonders schwierig
sind nach unserer Erfahrung allerdings Darstellungen, die mit räumlichen Richtungen zu tun haben, deren Koordinatenachsen aber nicht den Koordinaten des
realen Raums entsprechen. Zwei typische Beispiele in technischen Fächern im
ersten Studienjahr sind die Darstellung elektromagnetischer Wellen und die Darstellung von Normal- und Schubspannungen im ebenen Spannungszustand. Im Fall
der elektromagnetischen Wellen werden oft zwei Komponenten des elektrischen
und magnetischen Feldes in einem perspektivischen Diagramm gegenüber der Ausbreitungsrichtung angetragen. Studierende interpretieren häufig die sinusförmige
Kurve als eine Begrenzung der Bereiche im dreidimensionalen Raum, in denen ein
nicht-verschwindendes Feld auftritt. Bereiche außerhalb dieser Kurve werden häufig
fälschlicherweise als feldfrei gedeutet (AMBROSE 1999). Im Fall der Spannungen
werden Normal- und Schubspannungskomponenten gegeneinander aufgetragen.
Diese sind abhängig von der gewählten Schnittebene (bzw. Schnittnormalen) und
beziehen sich insofern auf bestimmte Richtungen im Raum. Die horizontalen und
vertikalen Achsen stellen hier aber nicht die x- und y-Richtungen im Raum dar. Dies
wird unter anderem auch daran sichtbar, dass der Mohr’sche Kreis, also die Punktmenge der Normal- und Schubspannungen aller möglichen Schnittnormalen, bei
einer Drehung der Schnittnormalen mit doppelter Winkel„geschwindigkeit“ durchlaufen wird. Punkte, deren Schnittnormalen einen Winkel von 90° einschließen,
liegen sich im Mohr’schen Kreis diametral gegenüber (also um 180° gedreht). Für
Studierende drängt sich dennoch häufig das Missverständnis auf, die Koordinatenachsen entsprächen hier den x- und y-Raumrichtungen.
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
Vektoren:
Mangelndes Verständnis der Bedeutung von Richtungen bei Vektorgrößen: Vektoren
gleichen Betrags aber unterschiedlicher Richtungen werden häufig als identisch
angesehen oder die unterschiedlichen Richtungen als nicht wesentlich eingeschätzt.
Interessanterweise tritt dies sowohl bei Vektorgrößen auf, deren Richtung nur eine
übertragene Bedeutung hat (wie z. B. Richtung eines komplexen Wechselstromsignals als Darstellung einer zeitlichen Phase oder einer komplexwertigen Impedanz
als Darstellung resistiver und reaktiver Anteile) als auch bei solchen Vektorgrößen,
deren Richtungen eine Bedeutung im räumlichen Sinn haben (wie z. B. Geschwindigkeiten).
Zeitliche oder räumliche Ableitungen:
Mangelnde Unterscheidung zwischen einer physikalischen Größe und deren zeitlicher oder
räumlicher Änderungsrate: Die im Abschnitt zur Mechanik erwähnten Schwierigkeiten
bei der Unterscheidung zwischen Geschwindigkeit und Beschleunigung lassen sich
als Sonderfall einer allgemeineren Verständnisschwierigkeit deuten, nämlich
der mangelnden Unterscheidung zwischen einer physikalischen Größe und deren
zeitlicher oder räumlicher Ableitung. Weitere Beispiele sind Energie und Leistung
(in mechanischen, elektrischen oder thermodynamischen Systemen), magnetischer
Fluss und seine zeitliche Änderung (bei der Induktion) und die lokale Auslenkung
und ihre räumlichen Ableitungen (Neigung, Krümmung sowie höhere Ableitungen)
bei der Berechnung des Biegebalkens in der Elastostatik.
Spezifische Größen und Dichten:
Ähnlich den räumlichen Ableitungen von (in der Regel) Feldgrößen bereiten auch
spezifische Größen (z. B. Stoff- oder Energiemengen pro Masseeinheit) und Dichten
(z. B. Ladung oder Masse pro Volumeneinheit) häufig große Schwierigkeiten. In
einer Untersuchung zeigte sich etwa, dass manche Studierende eine Flächenladungsdichte als infinitesimale Größe deuteten, aus der sich keine endliche Ladung zusammenfügen lässt. Annähernd die Hälfte der Studierenden hatte Schwierigkeiten bei der
Unterscheidung der Ladungsdichte von der Ladung selbst und nahm an, dass sich die
Ladungsdichte beim Teilen eines geladenen Körpers ebenfalls ändere. Eine vergleichbare Schwierigkeit mit der Massendichte war in der gleichen Population ebenfalls vorhanden, trat jedoch weniger häufig auf. Möglicherweise stellt die generelle
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
Unterscheidung zwischen intensiven und extensiven Größen für viele Studierende
eine große Hürde dar (KANIM 1999).
Einen Sonderfall spezifischer Größen stellen Verteilungen über einer kontinuierlichen Variablen dar. Beispiele hierfür sind neben Häufigkeits- oder Wahrscheinlichkeitsverteilungen auch Intensitätsverteilungen. Anders als im Fall zeitlicher Änderungsraten und Dichten ist eine unmittelbare Interpretation der spezifischen Größe
(z. B. Wahrscheinlichkeit pro Intervall der Zufallsvariable) noch weniger anschaulich
bzw. es wird nicht erkannt, dass man erst durch Integration über ein endliches
Intervall eine endliche Wahrscheinlichkeit erhält. Bei einer Intensitätsverteilung
(z. B. über der Wellenlänge der emittierten Strahlung) kommt hinzu, dass die Intensität selbst bereits eine (mehrfach) spezifische Größe darstellt.
Die Dimension der Verteilung wird damit Energie pro Zeit pro Fläche pro
Wellenlängenintervall.
Hierarchie der Theorien und Modelle:
Beim Fortschreiten zu komplexeren Themen kommen bei Studierenden häufig
grundlegende Zusammenhänge ins Wanken bzw. werden Lücken im Verständnis
bereits gelernter oder sogar häufig verwendeter Konzepte deutlich. Die Lernenden
merken, dass bei den neuen Inhalten bestimmte Begriffe verfeinert oder Zusammenhänge neu beschrieben werden müssen, können aber nicht entscheiden, welche
Aussagen des vorher behandelten Modells sie nun aufgeben sollen. Ein Beispiel
hierfür ist das fälschliche Aufgeben der Kirchhoff’schen Regeln beim Übergang von
Gleichstrom- zu Wechselstromsystemen (s. Abschnitt 1.2). Andere Beispiele treten
beim Übergang von der Statik zur Elastostatik oder von der klassischen zur
relativistischen Mechanik auf.
Verwendung von Analogien:
Wie in Abschnitt 1 bereits angedeutet, können mögliche Analogien zwischen verschiedenen Fachgebieten oder zwischen einem Fach und einem Bereich der Alltagserfahrung zwar zum Verständnis beitragen, stellen sich aber in vielen Fällen auch als
wirkungslos oder sogar problematisch heraus. Zur Verwendung von Analogien im
naturwissenschaftlichen Unterricht im Sekundarschulbereich liegen verschiedene
Studien vor (ZEITOUN 1984; DUIT 1991; TREAGUST 1992). Nach unserer Erfahrung
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
in technischen Fächern an Hochschulen müssen für eine erfolgreiche Verwendung
einer Analogie für die Lernenden mehrere Bedingungen erfüllt sein.
Erstens muss der Bildbereich (analogue), zu dem die Analogie hergestellt wird, selbst
hinreichend gut verstanden sein. Zweitens muss zu jedem einzelnen Begriff des
Themas (topic) der entsprechende Begriff aus dem Bildbereich zugeordnet werden
können, und drittens müssen die Grenzen der Analogie erkannt werden. Zudem
muss deutlich werden, dass es sich um eine Analogie handelt, also nicht um zwei
unterschiedliche Beschreibungen des gleichen Sachverhalts.
Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass in vielen Fällen, in denen Analogien
in der Lehre verwendet werden, zumindest eine der Voraussetzungen verletzt ist.
Bei der oben erwähnten Analogie zwischen elektrischen Stromkreisen und geschlossenen Wasserkreisläufen sind vermutlich alle drei Bedingungen problematisch; bei
der ebenfalls erwähnten Analogie zwischen elektrischen und magnetischen Phänomenen ist zumindest die Trennung zwischen den beiden analogen Bereichen für die
Lernenden häufig unklar. Im Fall der Analogie zwischen den Potentialen im
elektrischen und im Gravitationsfeld könnte die Schwierigkeit im mangelnden
Verständnis des Energiebegriffs in beiden Bereichen liegen.
Der Einfluss von Sprache:
Ohne Zweifel spielt Sprache eine wichtige Rolle beim Lernen. Auch das Verständnis
technischer Inhalte kann durch sprachliche Besonderheiten und die Verwendung bereits bekannter oder unbekannter sprachlicher Ausdrücke erschwert oder erleichtert
werden. Problematisch erscheinen vor allem Fälle, in denen Wörter im technischen Kontext eine andere Bedeutung haben als in der Alltagssprache (GLESSMER
2014). Dennoch stellt sich in vielen Fällen heraus, dass konzeptuelle Schwierigkeiten
häufig über eine falsche Zuordnung oder Verwechslung von Wörtern hinausgehen;
dass also gar nicht erkannt wird, dass es zwei unterschiedliche Konzepte gibt, die zu
trennen sind. Ein Beispiel hierfür ist vermutlich die mangelnde Unterscheidung
zwischen Geschwindigkeit und Beschleunigung (TROWBRIDGE 1981).
Ein weiteres Indiz dafür, dass sich viele der beschriebenen Schwierigkeiten nicht
(nur) auf sprachliche Probleme zurückführen lassen, sind auch die Ergebnisse beim
länder- und sprachenübergreifenden Einsatz von Diagnostiktests (Concept Inventories). Dass die relative Schwierigkeit einzelner Fragen bei Tests zur Mechanik
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
(FCI) und Elektrizität (CSEM) im internationalen Vergleich sehr ähnlich ist, deutet
darauf hin, dass die unterschiedliche Verwendung entsprechender Fachwörter im
Alltag hier nur geringen Einfluss hat. Dies ist umso bemerkenswerter als der
Alltagsgebrauch der entsprechenden (Fach-)Wörter sehr unterschiedlich sein kann.
So wird im Deutschen in der Alltagssprache über eine physisch starke Person
gesagt, sie habe „viel Kraft“; im Englischen dagegen spricht man eher von „a lot of
power“ (also dem technischen Begriff für „Leistung“).
3. Implikationen für die Lehre in technischen Fächern
Wie eingangs erwähnt, lassen sich Fehlvorstellungen bei Studierenden in der Regel
nicht dadurch vermeiden oder überwinden, dass explizit auf das mögliche Missverständnis hingewiesen wird. Stattdessen sind Lehr- bzw. Lernformen nötig, die den
Studierenden Gelegenheit geben, sich ihrer eigenen Vorstellungen bewusst zu
werden, diese schriftlich oder mündlich auszudrücken, gegebenenfalls deren Mängel
durch Beobachtung oder logische Argumentation aufzudecken und dann zu korrigieren.
Um dies zu erreichen, bieten sich viele verschiedene Möglichkeiten an, aus denen mit
Blick auf die Randbedingungen (Teilnehmerzahl, Umfang der wöchentlichen Präsenzlehre, Arbeitsumfang, Personalkapazität, Raumgröße etc.) geeignete Maßnahmen ausgewählt werden müssen. In einer Lehrveranstaltung für Teilnehmerzahlen ab etwa 40 ist Peer Instruction eine Erfolg versprechende Wahl (MAZUR
1997). Dieses Verfahren, bei dem die Studierenden mehrmals pro Veranstaltungstermin Gelegenheit haben, in einem mehrschrittigen Ablaufschema qualitative
Fragestellungen miteinander zu diskutieren, ist Gegenstand des nachfolgenden
Beitrags von ISABEL BRAUN in diesem Band. Als Ergänzung hierzu bietet sich die
Methode des Just-in-Time Teaching an (NOVAK 1999). Hierbei wird ein Teil der Präsentation von Inhalten in das Selbststudium außerhalb der Präsenzzeit ausgelagert.
Im Anschluss an selbständige Lektüre beantworten Studierende Fragen in einem
Online-Test, deren Antworten dann den Lehrenden zur kurzfristigen Ausgestaltung
der Lehrveranstaltung dienen (vgl. hierzu BRAUN in diesem Band). Beide Methoden
wurden bereits an vielen verschiedenen Hochschulen und in unterschiedlichen
Fächern erfolgreich eingesetzt. Zahlreiche Studien wurden in Einzelbeiträgen veröffentlicht (MELTZER 2012).
Verständnisschwierigkeiten und Fehlvorstellungen
Sehr bewährt haben sich auch strukturierte Arbeitsblätter mit überwiegend qualitativen Aufgabenstellungen, die von den Studierenden in Kleingruppen von 3 oder 4
Personen bearbeitet werden. Seit der Einführung dieser so genannten Tutorials in der
Physiklehre an der University of Washington hat sich das qualitative Verständnis
der Studierenden in den entsprechenden Lehrveranstaltungen deutlich verbessert
(MCDERMOTT 2008; Shaffer 2005). Auch in anderen Grundlagenfächern werden solche Materialien, die auf den Ergebnissen fachdidaktischer Untersuchungen basieren
und studentische Vorstellungen, wie die in Abschnitt 2 benannten, berücksichtigen,
derzeit entwickelt (KAUTZ 2010 und 2015) und evaluiert (KAUTZ 2011; BROSE 2011).
Wesentlich für den Erfolg der Lehre sind nach derzeitigem Wissen aber nicht bestimmte einzelne Methoden, sondern eine Reihe bestimmter Merkmale dieser Lehrund Lernformen. Dazu gehören neben der Berücksichtigung bekannter Fehlvorstellungen die Möglichkeit der Studierenden, ihre eigenen Ideen verbal auszudrücken,
ihre Erwartungen zu überprüfen, sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen (den
„Peers“) darüber auszutauschen, selbst Anwendungsbeispiele zu finden und über das
eigene Lernen zu reflektieren (MELTZER 2012). Für die Auseinandersetzung mit
einzelnen Fehlvorstellungen bietet sich eine Strategie an, die mit den Begriffen elicit,
confront und resolve beschrieben werden kann (MCDERMOTT 2001). Dabei steht elicit
für das „Herauslocken“ der möglicherweise falschen Vorstellungen aus den einzelnen
Lernenden; confront für das „Konfrontieren“ der Vorstellungen mit Hinweisen (in
Form von Beobachtungen oder alternativen Überlegungen), dass diese möglicherweise unzureichend sind; und resolve für das Erarbeiten eines Weges aus der Aporie
der vom Widerspruch gekennzeichneten Situation. Voraussetzung für das Gelingen
von Lehre in technischen Grundlagenfächern ist zunächst also die Auseinandersetzung der Lehrenden mit den Vorstellungen ihrer Studierenden. Mithilfe von Beispielen aus Fachliteratur und eigener Erfahrung sollte der vorliegende Beitrag hierzu
einen Anstoß geben.
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