Gegen/Stand der Kritik

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Gegen/Stand der Kritik
Gegen/Stand der Kritik
Herausgegeben von
Andrea Allerkamp, Pablo Valdivia Orozco
und Sophie Witt
diaphanes
1. Auflage
ISBN 978-3-03734-762-1
© diaphanes, Zürich-Berlin 2015
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Layout: 2edit, Zürich
www.diaphanes.net
Inhalt
Andrea Allerkamp, Pablo Valdivia Orozco, Sophie Witt
Einleitung: Zum Gegen/Stand der Kritik
7
1. Der Gegenstand (der) Kritik als Frage nach ihrem Objekt
Jacques Lezra
Gegenstände in der Übersetzung
Eine Zukunft der Kritik
29
Jonathan Culler
Kritik und ihre differenziellen Felder
49
Pablo Valdivia Orozco
Kritik: Schatten der Literatur?
(Starobinski, Petrarca, Bruno, Valéry)
65
Andrea Allerkamp
Vom Traumkitsch zur Traumkritik
Benjamins kritische Theorie des Erwachens
91
2. Stand und Standort der Kritik
Carolin Blumenberg
»Einmal für allemal«
Kants Vernunftkritik als Setzung und Aufhebung des Falls
107
Sophie Witt
Szene der Distanz
Kritik und theatrale Autorisierung
123
Kathrin Thiele
Ende der Kritik?
Kritisches Denken heute
139
Rüdiger Campe
Kritik der Poetik, Theorie der Ästhetik
Zu einer Konstellation aus der Vorgeschichte
des modernen Literaturwissens
163
3. Gegenständigkeit oder Widerständigkeit von Kritik
Stéphane Lojkine
Dispositif bei Derrida, Foucault, Lacan
Emergenz eines Begriffs
183
Thomas Ebke
Der philosophische Tod der Philosophie
und die Geburt der Kritik
Adorno und Althusser
203
Jörn Etzold/Ekkehard Knörer
Kritik als Trennung
Gespräch zu Guy Debord
227
HerausgeberInnen und AutorInnen
Abbildungsnachweis
245
247
Andrea Allerkamp,
Pablo Valdivia Orozco und Sophie Witt
Einleitung
Zum Gegen/Stand der Kritik
Kritik und Krise
Als wertsetzende Unterscheidung zum einen und immer wieder vollzogene Praxis zum anderen gehört ›Kritik‹ zu einem der zentralen
Begriffe und Verfahrensweisen, die in Philosophie, Kultur- und Literaturwissenschaft mit verschiedenen Disziplinen und Disziplinierungen
zu tun haben. Kritik war schon seit der Antike in vielen Kontexten
anzutreffen. Im Sinne einer Urteilskunst bezog sie sich auf die mit
Kunst im weitesten Sinne (techné) hervorgebrachten Gegenstände und
war ebenso in der Rhetorik – in der politischen Beratungsrede wie auch
in der Rechtsprechung – zugegen und konnte gleichermaßen Anklage,
ergangenes Urteil, Beratung oder Beurteilung meinen.1 In der Neuzeit artikuliert sich diese geradezu ubiquitäre Präsenz von Kritik auch
begrifflich. Als Bestandteil eines Kompositums ist der Begriff der Kritik
im Grunde beliebig kombinierbar – in Ideologie-, Religions- oder Kulturkritik finden sich die unterschiedlichsten Formationen und Praktiken.
Wer Begriffsgeschichten zur Kritik befragt, wird früher oder später auf
die Tatsache stoßen, dass in der Regel ein bestimmter Kritikbegriff im
Fokus steht, der sich vor dem Hintergrund einer jeweiligen ­Disziplin
und ihrer Gegenstände bestimmen lässt. Dass ›Kritik‹ sich vom griechischen krinein herleitet – ›scheiden‹ und ›trennen‹, aber auch ›urteilen‹ und ›entscheiden‹ –, erinnert daran, dass es um Vollzugsmomente
von Abgrenzung und Entscheidung geht. Kritik unterscheidet, trennt,
distanziert (sich): »critiquer c’est séparer, discriminer«;2 Kritik findet
als ein Denken in Fällen statt. Derjenige, der kritisiert, lässt sich auf
konkrete Situationen ein. Zum einen referiert Kritik auf kategorische
Grenzziehungen, zum anderen muss sich ihre kritische Urteilskraft an
einzelnen Fällen immer wieder neu schärfen.
Dieser situationsbezogene und vollziehende Charakter der Kritik –
ein schon der Antike zutiefst vertrauter Aspekt – unterstreicht, dass
die kritische Situation eine besondere, zeitlich und räumlich bedingte
1 Vgl. Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, München 1960,
S. 18ff.
2 Antoine Compagnon: Le Démon de la théorie, Paris 1998, S. 19.
7
Andrea Allerkamp, Pablo Valdivia Orozco und Sophie Witt
ist. Nicht umsonst stehen crisis und krinein in einer etymologischen
Verwandtschaft. Im akuten Moment der Krise werden zwei Zustände
voneinander geschieden. Die medizinische Krise – von Hippokrates
und Galen überliefert – ist für den Kranken als Frage von Leben und
Tod entscheidend. Die Krise ist eine gefährliche, schwierige Lage,
die für wirtschaftliche und politische Zustände genauso gilt wie für
sprachliche Akte und medizinische Verläufe. In ihrem akuten Zustand
bedingen sich Kritik und Krise gegenseitig. Die eigenen Voraussetzungen überdenken und explizieren, das muss Kritik genau dann, wenn
die Urteilskraft in einer Krise auf die Probe gestellt wird. Die Krise
der Kritik ist nicht zuletzt den vielfältigen Revisionen eines metakritischen Procederes – der Kritik von Kritik – geschuldet. Es entsteht eine
geschichtsbildende Dynamik, die man mit Antoine Compagnon als
»Rhythmus der Kritik«3 bezeichnen könnte und die Brüche, Zäsuren,
Wendepunkte und Diskontinuitäten produziert. Das musikalische Bild
vom Rhythmus fasst Kritik im und als Prozess ihrer historischen Bedingungen und Voraussetzungen. Es markiert das alternierende Moment
von Wiederholung und Erneuerung. Nicht selten wird dieses Moment
von Polemiken und Überbietungsgesten begleitet. Im Sinne einer Positionierung lässt daher die Frage nach der Aktualität von Kritik nicht los.
Das zeigt nicht zuletzt eine Reihe von ­Rettungsversuchen von Adorno,
Benjamin, Althusser über Foucault bis zu Butler, Latour, ­Rancière und
Haraway, die in diesem Buch diskutiert werden. Die Frage der ­Kritik
wirft die Suche nach den Einsatzstellen von Kritik auf – und zwar
im Sinne einer zweifelnden Standort-Bestimmung, die Revisionen und
Neusetzungen provoziert.
Die begriffliche Nähe von Kritik und Krise unterstreicht zugleich
den Akt der Kritik als einen aufklärerischen. In seiner Potenzialität,
ein moralisches, politisches wie auch epistemologisches Instrument
zu sein, geht dieser Akt mit (s)einer Krise einher, die das Versprechen
einer (grundsätzlichen) Umwälzung in sich trägt. So ist es gewiss zu
verstehen, dass sich am »Vorabend der Revolution«4 der Herrschaftsanspruch einer allgemeinen Kritik vorbereitet und Kant sein Jahrhundert zum »Zeitalter der Critik, der sich alles unterwerfen muß«,5 erklärt.
Die politische Bedeutung der Kritik, »die dem achtzehnten Jahrhundert
ihren Namen verliehen hat«, stellt für Reinhart Koselleck einen in sich
3 Compagnon: Le Démon de la théorie, a.a.O.
4 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise, 12. Auflage, Freiburg i. Br. 2013, S. 101.
5 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. III, 12.
Auflage, Frankfurt a. M. 1992, S. 13, AA Bd. 4, 9, Vorrede, Anm.: »Unser Zeitalter
ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß.«
8
Zum Gegen/Stand der Kritik
dialektischen, echt geschichtlichen »Tatbestand«6 dar, der aus dieser
Perspektive in einer allgemeinen Krise gipfelt: »Schließlich verdummte
[Kritik] zur Hypokrisie. Die Hypokrisie war der Schleier, den die Aufklärung ständig webend vor sich hertrug und den zu zerreißen sie niemals imstande war.«7 Das aufklärerische Versprechen, so könnte man
die enge Beziehung zwischen Krise und Kritik zusammenfassen, ist an
seinen eigenen Ansprüchen gescheitert. Diese These rückt ­Kosellecks
Dissertationsschrift Kritik und Krise in Nachbarschaft zu Theodor W.
Adorno und Max Horkheimer, aber auch zu Michel Foucault.8 Zwar
sind die Vorzeichen jeweils andere, doch der Grundtenor ist derselbe:
Kritik kann in ihr Gegenteil umschlagen, kann eine Krise verstetigen
(Koselleck) oder aber verdecken (Adorno/Horkheimer). Der Generalverdacht einer allgemeinen, instrumentell herrschenden Vernunft
erfordert eine Kritik der Aufklärung. Genau an dieser Stelle, an der sich
Aufklärung und Kritik dialektisch begegnen, setzt Foucaults »praktische Haltung« an.9 In seinem auch für diesen Band grundlegenden
Aufsatz zu Kant hält Foucault es für maßgeblich, in einer praxeologischen Wende die Krise produktiv zu machen. Gerade weil in der
Aufklärung auf exemplarische Weise das Doppel einer ebenso historischen wie auch systematisch relevanten Dimension der Krise von
Kritik deutlich wird, kann Foucault, so führt es Gerald Raunig aus,
für eine Umkehr-Bewegung mit doppelter Stoßrichtung plädieren. Zum
einen erlaubt das Wiederfinden der kritisch-politischen Tätigkeit »eine
historische Auffächerung von Aufklärung«.10 Zum anderen wird Kants
»Projekt der Kritik« insofern weitergeführt, als die »kritische Haltung«11
in einem nicht nur erkenntnistheoretischen Sinne zur Voraussetzung
von Kritik wird. Foucaults Projekt kann in dieser Perspektive als eine
ernsthafte ›Rückkehr‹ zu dem im Projekt der Aufklärung unabgegoltenen Potenzial der Kritik verstanden werden, wie es auch Judith
6 Koselleck: Kritik und Krise, a.a.O., S. 85.
7 Ebd., S. 102.
8 Ute Daniel: »Reinhart Koselleck«, in: Lutz Raphael (Hg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft, Band 2, München 2006, S. 170: »Wäre nicht 1947 ein Buch von Theodor
W. Adorno und Max Horkheimer mit dem Titel Dialektik der Aufklärung erschienen,
dann wäre Kosellecks Dissertation so betitelt worden.«
9 Vgl. Michel Foucault: »Was ist Aufklärung?«, in: Eva Erdmann u.a. (Hg.): Ethos der
Moderne, Frankfurt a. M. 1990, S. 177. Dort heißt es: »Die Kritik ist gewissermaßen
das Logbuch der in der Aufklärung mündig gewordenen Vernunft, und umgekehrt
ist die Aufklärung das Zeitalter der Kritik.«
10 Gerald Raunig: »Was ist Kritik? Aussetzung und Neuzusammensetzung in textuellen und sozialen Maschinen«, in: Transversal 4 (2008), http://eipcp.net/transversal/0808/raunig/de (aufgerufen: 16.6.2014).
11 Beide Zitate ebd.
9
Andrea Allerkamp, Pablo Valdivia Orozco und Sophie Witt
­ utler bekräftigt hat.12 In einer historischen Dynamik zwischen kritiB
scher Selbstreflexion und Infragestellung von Normativität vermag die
unbestimmte Verweigerung der kritischen Haltung Horizonte für neue
Praktiken zu eröffnen.
Nimmt man Butlers Vorschlag an, so kann das für die Kritik so typische Sich-Selbst-Befragen und Sich-Selbst-Absetzen nicht auf eine
bloße metatheoretische Krise reduziert werden. Das zu zeigen, ist ein
zentrales Anliegen unseres Bandes. Wenn Kritik kein Selbstzweck, sondern Positionierung ist, wenn sie sich als Gegenstand mit reflektiert,
so ist sie zugleich potenziell und eben nicht nur in einem engen theoretischen Sinne grundsätzlich. Das macht sie zu einem in der Praxis
überschüssigen Unternehmen mit einer eigenen Performanz. Als Ideologie-, Literatur-, Kunst-, Vernunft-, Religions-, Theater- oder Architekturkritik etc. kann Kritik ihre Formen und Gegenstände stets neu
erfinden, definieren, einfordern und herausfordern. Im Spannungsfeld
ihres Selbstverständnisses – als Aufklärung, Positionierung, Emanzipation und Krisenzustand bzw. Krisenauslöser – gewichtet Kritik ihre
Schwerpunkte und Urteilssätze freilich jedes Mal anders: als Kritik am
Schein, als Relation zu anderen, alternativen (Vor-)Kritiken, als Einmischung und Partizipation oder noch kategorischer als Voraussetzung
des Denkens.13 Sobald Kritik losgelöst von ihrem Gegenstand betrachtet wird, ignoriert man ihre situative Bezüglichkeit und läuft so Gefahr,
ihre Singularität zu unterschlagen.
Das deutsche Wort ›Gegenstand‹ ist eine Substantivbildung aus
­›gegen­stehen‹ bzw. ›entgegenstehen‹.14 Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart legt eine genaue Differenzierung vor:
»1) *Dasjenige, was einem andern Dinge entgegen stehet, dasselbe hindert,
das Hinderniß; in welcher Bedeutung es im Hochdeutschen veraltet ist.
2) *Der Widerstand, Resistenz; ohne Plural, und nur im Oberdeutschen.
3) *Der Gegensatz, das Gegentheil; eine im Hochdeutschen gleichfalls
nicht mehr gangbare Bedeutung, wo dieses Wort, 4) nur noch figürlich, ein
Ding bezeichnet, auf welches eine Veränderung gerichtet ist, von ­welchem
12 Vgl. Judith Butler: »What Is Critique? An Essay on Foucault’s Virtue«, in: Sarah
Salih und Judith Butler (Hg.): The Judith Butler Reader, Oxford 2004, S. 304–322.
13 Vgl. Rahel Jaeggi und Tilo Wesche (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt a. M. 2009,
S. 10–11.
14 ›Gegenstand‹ gehört anders als ›Kritik‹ zu den unübersetzbaren Schlüssel­
begriffen im Vocabulaire européen des philosophes: Barbara Cassin (Hg.): Vocabulaire européen des philosophes, Paris 2004, S. 480ff.
10
Zum Gegen/Stand der Kritik
man etwas saget oder behauptet, und oft ein jedes Ding außer uns überhaupt.«15
›Gegenstand‹ und ›Objekt‹ werden als Begriffe des Erkennens eingeführt, um das lateinische objectum zu übersetzen, das aus dem objicio
stammt – »ältere übersetzungen des lat. schulwortes sind gegenwurf,
vorwurf«16. Der Idee einer Manifestation des Standes – dem, was sich
aufrecht hält, sowie der Stellung, dem Stehen, dem Standort, aber auch
dem, was sich hält, was dauert, dem Zustand – fügt die Präposition
›gegen‹ zwei Bedeutungen hinzu: zum einen jene der Richtung, zum
anderen jene des Widerstands. Als philosophischer Begriff beerbt der
›Gegenstand‹ diese drei etymologischen Register: Gegenstand ist erstens Subsistenz oder Substanzialität, zweitens terminus ad quem einer
Empfindung (Gegenstand der Empfindung, der Wahrnehmung) und
drittens das Gegenüberstehende, was einem Gegenüber widersteht.17
Philosophiegeschichtlich ist es der kritische Idealismus Kant’scher
Prägung, der diese Fragen in das erkenntniskritisch zentrale Thema
der Objektivität übersetzt: Der Gegenstand, so ließe sich der komplexe
Übersetzungsprozess von transzendentalen Philosophien zusammenfassen, die den Fokus vom objektiven Sinn oder Objekt hin zur Frage
nach der Produktion von (subjektiven) Erkenntnis-Akten verlegen,
bezeichnet eine kognitive Manifestation, die durch Sinnesreize und
durch Denkprozesse ausgelöst wird. Die Ausgangsbedingungen für
die kritische Methode gründen sich in dem Gegenstand, sofern erst
das Erfassen und Reden über den Gegenstand die Voraussetzungen
des Erkennens selbst zu explizieren erlaubt. Kritik ist deshalb keine
ein für alle Mal zu erfassende Methode des Denkens. Vielmehr spielt
sich ihre Ausübung auf dem Metaschauplatz eines Denkens ab, das
am Gegenstand Nähe und Distanz, Anteilnahme und Zurücknahme zu
problematisieren, die Frage nach Umsetzbarkeit und Transformation
zu verhandeln hat.
Unser Titel »Gegen/Stand der Kritik« verbindet die für Kritik kanonisch gewordene, unter- und entscheidende Frage nach dem ›Was‹ mit
den Fragen nach dem ›Wie‹ oder dem ›Wovon‹. Aus diesem Grund ist
der Versuchung zu widerstehen, Kritik auf das Urteil(en) zu beschränken und ihre verschiedenen Einsätze mit der Vielfalt der Gegenstände,
15 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, 1. Aufl. Leipzig 1774–1786, 5 Bde.; 2. Aufl. Leipzig 1793–1801, 4 Bde.,
Supplementband 1818; http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/online/.
16 Jakob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch [Fotomechanischer
Nachdruck der Erstausgabe 1854–1971], Bd. 5, Göttingen 1991, Sp. 2263–2265.
17 Barbara Cassin: Vocabulaire européen des intraduisibles, Paris 2004, S. 481.
11
Andrea Allerkamp, Pablo Valdivia Orozco und Sophie Witt
die einer Beurteilung bedürfen, zu verwechseln. Es bedarf vielmehr
einer Differenzierung, die für die Anlage unseres Bandes von zentraler
Bedeutung ist. Kritik, wie sie spätestens seit der Aufklärung verstanden und praktiziert wird, betrifft nicht nur die Frage des Urteils, also
die Frage, ob ein Urteil – wie im Rechtsfall – rechtens oder eine Darstellung – wie in der Rhetorik – angemessen (aptum) ist. Kritik im engeren Sinne hat nach den unterschiedlichsten Voraussetzungen ihres
eigenen Urteilens zu fragen. Eine sich selbst gegenüber kritisch bleibende Kritik arbeitet an Grenzziehungen: je nach Gegenstand wird neu
abgesteckt und verhandelt. Radikal und provozierend erscheint Kritik nur unter der rhetorischen Bedingung, dass sie ihren hyperreflexiven Fragemodus nicht verlässt. Wie aber kann Kritik auf ihrem widerständigen Rest, auf ihrer »unübersehbare[n] Kluft«18 beharren, ohne
durch bestehende Herrschaftsverhältnisse diszipliniert zu werden? Der
›Rest‹ wäre das, was Kritik in ihrer Praxis am Gegenstand entgegenschlägt. Wie schwierig dies gerade im Sinne einer Praxis sein kann,
zeigt ­Nietzsches von Foucault weitergedachte genealogische Kritik, die
sich an der historischen Dynamik der Relativierung stößt, sobald diese
folgenlos für die Praxis bleibt: »Nirgends kommt es zu einer Wirkung,
immer nur wieder zu einer ›Kritik‹; und die Kritik selbst macht wieder
keine Wirkung, sondern erfährt wieder nur Kritik.«19
Eine Praxis der Kritik, wie wir sie heute verstehen, ist nicht von ihrer
Situation, ihrem Fall und seiner kritischen Präparierung zu trennen. Der
vorliegende Band stellt daher nicht generell die Frage, was Kritik ist.
Vielmehr wird der Gegen/Stand der Kritik ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt. Wenn das Reden über und das Denken von Kritik nicht
losgelöst von ihren Fällen möglich sind, wenn so etwas wie eine Dramaturgie des kritischen Aktes nicht zu übergehen ist, muss die Besprechung von Kritik diesem Tatbestand selbstreflexiv Rechnung tragen.
Statt also den Begriff der Kritik definitorisch einzuengen, möchten wir
das kritische und in der Krise manifest werdende Verhältnis von Gegenstand und Kritik aus einer Vielfalt von Perspektiven und Situationen
heraus thematisieren. Damit ist – wie Judith Butler betont20 – keineswegs einem Partikularismus das Wort geredet, sondern wird vielmehr
der Tatsache Rechnung getragen, dass es um ­Wissensformen geht,
18 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. X, Frankfurt
a. M. 1974, S. 83.
19 Friedrich Nietzsche: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben,
Unzeitgemäße Betrachtungen II, 5«, in: Ders.: Kritische Studienausgabe, 2. Auflage,
München 1988, S. 284f.
20 Vgl. Butler: »What Is Critique?«, in: Salih und Butler (Hg.): The Judith Butler
Reader, a.a.O.
12
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