wagner - Die Münchner Philharmoniker

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WAGNER
»Siegfried-Idyll«
STRAUSS
»Metamorphosen«
SCHOSTAKOWITSCH
15. Symphonie
GERGIEV, Dirigent
Freitag
11_12_2015 20 Uhr
Sonntag
13_12_2015 11 Uhr
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RICHARD WAGNER
»Siegfried-Idyll«
für kleines Orchester
RICHARD STRAUSS
»Metamorphosen«
Studie für 23 Solostreicher o. Op. AV 142
DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH
Symphonie Nr. 15 A-Dur op. 141
1. Allegretto
2. Adagio – Largo – Adagio – Allegretto
3. Allegretto
4. Adagio – Allegretto – Adagio – Allegretto
VALERY GERGIEV
Dirigent
118. Spielzeit seit der Gründung 1893
VALERY GERGIEV, Chefdirigent
PAUL MÜLLER, Intendant
2
Blick auf Wagners Wohnhaus in Tribschen bei Luzern (zeitgenössisches Aquarell, um 1870)
Richard Wagner: »Siegfried-Idyll«
3
Sonnenaufgang
im Treppenhaus
SUSANNE STÄHR
RICHARD WAGNER
(1813–1883)
schrift) bzw. »Tribschener Idyll mit Fidi-Vogelgesang und Orange-Sonnenaufgang« (in der Partiturzweitschrift): in beiden Versionen steht »Fidi« für Richard
Wagners einzigen Sohn Siegfried (1869–
1930). Erst bei der acht Jahre später erfolgten Veröffentlichung erhielt das Werk
den Drucktitel »Siegfried-Idyll«.
»Siegfried-Idyll«
für kleines Orchester
ENTSTEHUNG
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
Geboren am 22. Mai 1813 in Leipzig; gestorben am 13. Februar 1883 in Venedig.
TITELVARIATIONEN
»Fidi-Vogel. Lockweise. [Manuskript beschnitten = Textverlust] Orange-Sonnenaufgangs-Nachspiel« (in der Partiturerst-
Als Geburtstagsgeschenk für Wagners Gattin Cosima (1837–1930) konzipiert und in
der zweiten Novemberhälfte 1870 in Tribschen bei Luzern (Schweiz) komponiert.
Beendigung der Partiturerstschrift am
4. Dezember 1870 in Tribschen, anschließend Herstellung der Widmungshandschrift für Cosima, die Wagner seiner Gattin am 25. Dezember 1870 als Geschenk zu
ihrem 33. Geburtstag überreichte. Drucklegung im Februar 1878 zur Tilgung von
Schulden bei B. Schott’s Söhnen, Mainz –
gegen den erklärten Willen Cosimas, die
den privaten, ja intimen Charakter des
»Idylls« gewahrt wissen wollte.
Richard Wagner: »Siegfried-Idyll«
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WIDMUNG
»Tribschener Idyll mit Fidi-Vogelgesang
und Orange-Sonnenaufgang, als Symphonischer Geburtstagsgruss Seiner Cosima
dargebracht von Ihrem Richard, 1870« (in
der Widmungshandschrift); im Erstdruck
von 1878 noch breiter ausgeführt und in
Gedichtform gebracht.
URAUFFÜHRUNG
Am 25. Dezember 1870 in Tribschen bei
Luzern im Treppenhaus von Wagners Wohnhaus (11 Mitglieder des Zürcher Ton­halleOrchesters und Wagners Assistent Hans
Richter, der zwischen Bratsche und Trompete wechselte; Dirigent: Richard Wagner);
bei den Folgeaufführungen in Mannheim
(1871) und Meiningen (1877) forderte
Wagner ein auf 35 Musiker erweitertes Ensemble.
ALPENPANORAMA
MIT WOTAN UND FRICKA
Im März 1866 unternahm Richard Wagner
eine Schifffahrt auf dem Vierwaldstätter
See. Auf einer Landzunge vor Luzern entdeckte er, in apart erhöhter Lage mit Blick
auf das Wasser und das Alpenpanorama von
der Rigi bis zum Gotthardmassiv, ein klassizistisches Landhaus, das spontan sein
Interesse weckte. Denn Wagner, der gerade
aus Bayern ausgewiesen worden war, be-
fand sich wieder einmal auf der Suche nach
einem neuen »Asyl«, nach einer Zufluchtsstätte. Und wie der Zufall es wollte, war das
stattliche Haus, das Oberstleutnant Walter
am Rhyn gehörte, tatsächlich gerade zu
verpachten: Schon am 7. April unterzeichnete Wagner einen Miet­vertrag über 3.000
Franken per anno, was damals in etwa dem
Jahreseinkommen e
­ ines Schweizer Regierungsrats entsprach. Aber der Komponist,
der sich seiner großzügigen Apanage durch
Bayern­könig Ludwig II. weiterhin sicher sein
durfte, wollte und musste nicht aufs Kleingeld schauen.
Tribschen wurde für ihn zu einem Glücksfall, privat und künstlerisch. Hier fand er
zu ungeahnter Produktivität, stellte die
Partitur der »Meistersinger« fertig, vollendete den »Siegfried«, den er so viele
Jahre zurückgestellt hatte, und komponierte weite Teile der »Götterdämmerung«.
Und hier konnte er sein neues Liebesglück
ausleben: seine Verbindung mit Cosima von
Bülow. Sie hatte sich für Wagner von ihrem
Gatten, dem Dirigenten Hans von Bülow,
scheiden lassen, schenkte ihm – nach der
bereits in München geborenen Tochter Isolde – mit Eva und Siegfried zwei weitere
Kinder und gab ihm am 25. August 1870 in
der Luzerner Matthäuskirche das Ja-Wort.
Die Wagners führten einen großen Haushalt
in Tribschen, dem neben der Familie auch
noch eine Gouvernante, ein Kindermädchen, eine Köchin und weitere Bedienstete
angehörten, dazu Hunde, Katzen, ein Pferd
und die beiden Pfauen Wotan und Fricka.
Natürlich empfing man auch allerlei prominente Gäste, etwa Cosimas Vater Franz
Liszt oder den jungen Basler Philologen
Friedrich Nietzsche, und sogar der Bayernkönig höchstselbst gab sich im Mai 1866,
zu Wagners 53. Geburtstag, die Ehre und
stellte sich als Gratulant ein.
Richard Wagner: »Siegfried-Idyll«
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Oben: Titelseite des »Siegfried-Idylls« (1870)
Unten: Erste Seite der Partiturreinschrift
Richard Wagner: »Siegfried-Idyll«
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GEBURTSTAGSGRUSS
UND TODESWUNSCH
Besonders lebhaft ging es im Advent 1870
zu – und Hausherrin Cosima wusste die
Zeichen zunächst nicht zu deuten. Regelmäßig zog sich Wagner mit einigen befreundeten Musikern aus dem Zürcher Tonhalle-Orchester zurück, dazu kam der Diri­
gent Hans Richter, eigentlich ein gelernter
Hornist, der sich sonderbarerweise aber
plötzlich auf der Trompete versuchte, um
unentwegt Siegfrieds Hornruf zu schmettern. Erst am Weihnachtstag, am 25. Dezember, als Cosima ihren 33. Geburtstag
feierte, wurde ihr des Rätsels Lösung offen­
bar. »Wie ich aufwachte, vernahm mein Ohr
einen Klang, immer voller schwoll er an,
nicht mehr im Traum durfte ich mich wähnen. Musik erschallte, und welche ­Musik !
Als sie verklungen, trat R. mit den fünf Kin­
dern zu mir ein und überreichte mir die
Partitur des >Symphonischen Geburtstags­
grußes< – , in Tränen war ich, aber auch das
ganze Haus; auf der Treppe hatte R. sein
Orchester gestellt und so unser Tribschen
auf ewig geweiht !«, notierte C
­ osima in ihr
Tagebuch und schloss: »Nun begriff ich R.s
heimliches Arbeiten, nun auch des guten
Richter’s Trompete […] >Laß mich sterben‹,
rief ich R.« Doch diesen »Geburtstagswunsch« wollte Richard ihr dann lieber
doch nicht erfüllen…
»Tribschener Idyll mit Fidi-Vogelgesang
und Orange-Sonnenaufgang«: So lautete
der Originaltitel jener »Treppenhaus­
musik«, die als »Siegfried-Idyll« in das
Repertoire eingegangen ist. »Fidi« war der
Kosename von Sohn Siegfried, der am
6. Juni 1869 in Tribschen das Licht der Welt
erblickt hatte, und sein »Anteil« an der
Partitur spiegelt sich auch im Zitat des von
Wagner komponierten Wiegenlieds »Schlaf,
Kindchen, schlafe«, das von der Oboe in­
toniert wird. Der Löwenanteil des motivischen Materials, das Wagner im Idyll zum
Einsatz bringt, entstammt jedoch dem
dritten Akt des »Siegfried«, namentlich
aus dem Schlussduett des Titelhelden mit
Brünnhilde mit der Passage »Sie / Er ist
mir ewig, ist immer mir Erb’ und Eigen, ein
und all !« Welch schönere Liebeserklärung
hätte Wagner seiner Frau präsentieren
können ?
»DER ÖFFENTLICHKEIT
HINGELIEFERT«
Es war gewiss dieser intime, bekenntnishafte Charakter der Komposition, der Cosima gegen die Pläne ihres Gatten revoltieren ließ, die Partitur, die in ihrer Urfassung
für ein 13-köpfiges Kammerensemble gefasst war, auf die größere Orchesterbesetzung auszudehnen und zu publizieren. »Ich
sage ihm, daß es mir schrecklich wäre,
dieses Werk der Öffentlichkeit hingeliefert
zu sehen«, vermerkte sie am 14. Januar
1874 im Tagebuch, und noch knapp vier
Jahre später, am 14. Dezember 1877, nachdem man sich schließlich, nicht zuletzt aus
finanziellen Erwägungen, auf die Publikation »geeinigt« hatte, stellte sie mit leicht
säuerlichem Unterton fest: »Das Idyll wird
nun überall herabgespielt; diese Prüfung
heiter hinzunehmen gilt mein Bemühen !«
Das Publikum, nicht nur im heutigen Konzert, wird indes Wagners merkantiler Spürnase dankbar sein – denn sonst hätten wir
womöglich noch auf eine der schönsten
Orchesterkompositionen des Meisters verzichten müssen.
Richard Wagner: »Siegfried-Idyll«
7
Cosima von Bülow, geb. Liszt, und Richard Wagner zwei Jahre nach ihrer Heirat (1872)
Richard Wagner: »Siegfried-Idyll«
8
Plädoyer für eine
bessere Welt
STEPHAN KOHLER
RICHARD STRAUSS
(1864–1949)
»Metamorphosen«
Studie für 23 Solostreicher o. Op. AV 142
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
Geboren am 11. Juni 1864 in München;
­gestorben am 8. September 1949 in Garmisch-Partenkirchen.
ENTSTEHUNG
Das bescheiden als »Studie« bezeichnete
Streicherstück »Metamorphosen« komponierte Richard Strauss in den beiden letzten Kriegsjahren 1944/45 im Auftrag des
Schweizer Industriellen, Musikmäzens und
Dirigenten Paul Sacher (1906–1999) für
das 1941 von ihm gegründete und bis 1992
bestehende Kammerorchester Colle­gium
Musicum Zürich (CMZ). Der Titel der einsätzigen Komposition bestand anfangs nur
aus einer knappen Tempobezeichnung wie
»Adagio« oder »Andante«; auch war die
von Strauss für das Auftragswerk vorgesehene Besetzung ursprünglich eine kleinere und schwankte während des langwierigen Kompositionsprozesses zwischen 7,
11 und etwa doppelt so vielen Streichern.
Die Partiturreinschrift der 23-stimmigen
Endfassung beendete der knapp 81-jährige
Komponist kurz vor Kriegsende am 12. April 1945 in Garmisch-Parten­kirchen.
WIDMUNG
»Paul Sacher und dem Collegium Musicum
Zürich gewidmet«: Am Tag der Zürcher Uraufführung im Originalmanuskript nachgetragene Widmung an die Ausführenden der
ersten Aufführung und den finanziellen
Förderer der Komposition.
URAUFFÜHRUNG
Am 25. Januar 1946 in Zürich im Kleinen
Saal der Zürcher Tonhalle (Collegium Musicum Zürich unter Leitung von Paul Sacher).
Richard Strauss: »Metamorphosen«
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VERWANDLUNG ALS
»LEBEN DES LEBENS«
»Metamorphose« bezeichnet im Griechischen jede Verwandlung in eine andere
Gestalt, die Umgestaltung eines Wesens
bei Beibehaltung seiner ursprünglichen
Substanz. Die Seelen, ewig und unveränderlich, verwandeln sich, indem sie ihre
Formen tauschen, und bleiben trotzdem
gleich. So sah es die Antike, und zahlreiche
gelehrte Dichter der alexandrinischen Zeit,
in ihrem Gefolge Ovid, brachten auf mythologische Formeln, was Hellenismus und
später Humanismus zum Prinzip allen
­Lebens erklärten: »Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung« nennt es Goethes Mephisto im ersten Aufzug von »Faust II«, und noch Hugo
von Hofmannsthal, in vielem Goethes Erbe,
apostrophierte das Prinzip der Metamorphose als »Leben des Lebens«.
Wenn Richard Strauss seinem bescheiden
als »Studie für 23 Solostreicher« bezeichneten letzten Orchesterwerk den ungewöhnlichen Titel »Metamorphosen« gibt,
dann nimmt er, der Homer im altgriechischen Original zu lesen verstand und darüber hinaus ein bedeutender Goethe-Kenner
war, wie selbstverständlich Bezug auf die
immense Vorgeschichte dieses Begriffs,
dessen ideologischer Höhenflug in Goethes
Metamorphosen-Lehre kulminiert – einer
dem alten Strauss bestens vertrauten The­
orie menschlicher Lebenserfahrung und
philosophisch-pragmatischer Deutung der
Welt. Waren es altersbedingte »Reifeprozesse«, die den 80-jährigen dazu ­trie­ben,
Maximen Goethe’scher Selbstreflexion auf
das eigene Ich anzuwenden ? Zahlreiche
briefliche und mündliche Äußerungen des
Komponisten aus der Entstehungszeit der
»Metamorphosen« weisen zunächst in eine
ganz andere Richtung: die der Verarbeitung und Bewältigung von zeitgeschichtlicher Erfahrung.
»ICH BIN IN VERZWEIFELTER
­STIMMUNG !«
Strauss musste im hohen Alter mit ansehen,
wie alle kulturellen Werte, auf denen sein
Leben gründete, in Trümmer gingen. Im
Herbst 1943 – das Münchner Nationaltheater war gerade bombardiert worden – erhielt Johanna Rauchenberger, die Schwester des Komponisten, die folgenden, lapidar
formulierten Zeilen: »Garmisch, unmittelbar nach der Zerstörung des Hoftheaters.
Liebe Hanna, besten Dank für Deinen lieben
Brief. Mehr kann ich heute nicht schreiben.
Ich bin außer mir. Herzlichen Gruß. Richard.«
Als kurz nach der von Goebbels zuerst abgesagten, aber dann als Generalprobe vor
geladenen Gästen wieder »erlaubten« Salzburger Uraufführung der »Liebe der Danae«
vom 16. August 1944 die Schließung aller
deutschen Theater verordnet wurde, schrieb
Strauss an Rudolf Hartmann, den Regisseur
der Aufführung: »Mein Leben ist seit dem
1. September zu Ende; am besten wäre es
gewesen, die hohen Genien im Olymp hätten
mich am 17. August zu sich abberufen.«
Doch es kam noch schlimmer: Der Februar
1945 brachte die Vernichtung der Berliner
Lindenoper und des Dresdner Semperbaus,
und einen Monat später lag auch die Wiener
Oper in Schutt und Asche. »Ich bin in verzweifelter Stimmung !« – schrieb Strauss
an seinen Librettisten Joseph Gregor –
»Das Goethehaus, der Welt größtes Heiligtum, zerstört ! Mein schönes Dresden,
Weimar, München: alles dahin !« Nur wenige Tage später, am 13. März 1945, begann
Strauss die Partiturreinschrift der »Metamorphosen«, die er am 12. April, drei Wo-
Richard Strauss: »Metamorphosen«
10
chen vor Kriegsende, in Garmisch abschloss
– in einer Zeit extremster see­lischer Anspannung, Ungewissheit und D
­ epression.
KOMPONIEREN FÜR DIE SCHWEIZ
Die Anregung, ein Werk für Streichorchester zu komponieren, gab dem greisen Komponisten im August 1944 der Leiter des
»Collegium Musicum Zürich«, Paul Sacher.
Nach einer ersten Besprechung zwischen
Sacher, Dirigent Karl Böhm und StraussBiograph Willi Schuh, die im schweizerischen Sils-Maria stattgefunden hatte,
überbrachte Böhm den offiziellen Auftrag
des Mäzens für ein etwa halbstündiges
Streicherwerk dem in Garmisch weilenden
Komponisten. Strauss muss sich sogleich
an die Arbeit gemacht haben, denn in seinem Brief vom 30. September 1944 an
Karl Böhm ist bereits die Rede von einem
»Adagio für etwa 11 Solostreicher, das
sich wahrscheinlich zu einem Allegro ent­
wickeln« werde. Am 8. März 1945 schließlich meldet Strauss an Willi Schuh: »Jetzt
habe ich Ihr Streicherstück in der Skizze
vollendet und hoffe, es Ihnen in zirka 4
Wochen in Partitura schicken zu können.«
Die relativ kurze Arbeitszeit erklärt sich
möglicherweise auch dadurch, dass Strauss
zumindest partiell auf Skizzen zurückgriff,
die er – traumatisiert von der Zerstörung
seiner Vaterstadt – bereits vor der eigentlichen Auftragserteilung angefertigt hatte: Das Münchner Nationaltheater wurde
am 2. Oktober 1943 bombardiert, Sachers
Auftrag indessen kam erst ein Jahr später.
Noch im November 1945 hatte Strauss in
einem Brief an Willi Schuh sein Desinteresse an einer gezielt »öffentlichen« Uraufführung betont, da er »seit >Capriccio<
keine >Novitäten< mehr schreibe, sondern
nur handwerkliches Studienmaterial für
unsere braven Instrumentalisten und opfer­
willigen a-cappella-Chöre – Atelierarbeiten, damit das Handgelenk und der Kopf
nicht allzu zeitgemäß verblödet wird:
Nachlass – Nachlass, Horatio !« Der Komponist, der die Partitur der »Metamorphosen« noch in Deutschland abgeschlossen
hatte, ab Mitte Oktober 1945 aber die lang
ersehnte Gastfreundschaft »der lieben
Schweiz« genoss, ließ sich von seinen eidgenössischen Freunden dennoch zur Teilnahme an der umjubelten Uraufführung
überreden, die am 25. Januar 1946 im Kleinen Saal der Zürcher Tonhalle stattfand.
In der Generalprobe übernahm er sogar
zeitweilig selbst die Leitung des Orchesters, von dessen Spiel er so entzückt war,
dass er die »Metamorphosen« noch am Tag
der ersten Aufführung dem »Collegium Musicum« und seinem Dirigenten Paul Sacher
widmete.
»ÜBERFLÜSSIGE
ABSOLUTE MUSIK«
Nicht nur Willi Schuh, auch anderen Freunden gegenüber war Strauss darum bemüht,
den künstlerischen Rang der »Metamorphosen«, wie aller übrigen Alterswerke,
selbstironisch zu verkleinern und ihre musikgeschichtliche Bedeutung bewusst herabzuspielen. So lautet in einem Brief an
Walter Thomas vom 25. Juni 1946 aus
Ouchy bei Lausanne die lakonisch-trockene
Antwort auf Thomas’ Frage nach seinen
jüngsten Werken: »Etwas musikalischer
Nachlass, überflüssige absolute Musik:
Zwei Sonatinen für 16 Bläser, ein Streicherstück, ein Oboenkonzert.« Untersucht
man die Kompositionsprozesse dieser
»überflüssigen« Werke, so zeigt sich, dass
Strauss nicht minder um sie gerungen hat
wie um frühere, von ihm selbst als Hauptwerke eingestufte Kompositionen.
Richard Strauss: »Metamorphosen«
11
Richard Strauss auf der Terrasse des Palace-Hotels in Montreux am Genfer See (1948)
Richard Strauss: »Metamorphosen«
12
Zwei kleine, wachstuchgebundene Skizzenbücher enthalten nicht weniger als fünf im
Particell ausgeführte Skizzen des »Adagio
für Streicher«, die sich von anfänglich
noch unpräzisen Themenbildungen zu fertigen Entwürfen steigern. Sie werden unterbrochen von Skizzen für die beiden Blä­
ser­sonatinen, von Fragment gebliebenen
­Goethe- und Brentano-Liedern, von einem
A-Dur-­P asticcio »Dem Andenken Franz
­Schuberts« und von zahlreichen klassizistischen, dem Vorbild Mozarts huldigenden
Stilexperimenten. Wie bei den frühen symphonischen Dichtungen skizzierte Strauss
den formalen und harmonischen Verlauf
der Komposition zunächst in Worten: »Appassionato furioso verarbeitet / landet in
­früherer Gdur Melodie, aber in Cdur / doch
plötzlich abbrechen / von da auf tragisch
Adagioschluss in Wehmut !«
SCHWIERIGER PROZESS
DER THEMENFINDUNG
Die Skizzenbücher geben vor allem Einblick
in das Wesen der in doppeltem Wortsinn
»metamorphotischen« Kompositionstechnik des Werks, die aus dem ursprünglich
geplanten »Adagio für Streicher« erst
nach und nach die uns bekannten »Metamorphosen« hervorgehen ließ: Anders als
bei Variationswerken, die von einem fest
fixierten Thema ausgehen, das sie abwandeln und oft bis zur Unkenntlichkeit verändern, wird hier ein Thema als unbewusster,
zunächst nicht erkennbarer Bezugspunkt
gewählt, der seine Identität erst nach und
nach enthüllt. Nicht nur in der Partitur verrät der c-Moll-Hauptgedanke der »Metamorphosen« seine assoziative Bindung an
Beethovens »Eroica«-Trauermarsch erst
ganz zum Schluss, wo er in ein noten­ge­
treues, mit »In memoriam !« untertiteltes
Zitat mündet – auch und erst recht in den
zwei Skizzenbüchern ist die Suche nach
Beethovens »marcia funebre« über lange
Strecken der unbewusste Leitfaden des
Komponisten.
Strauss gab freimütig zu, erst in einem
relativ weit fortgeschrittenen Stadium der
Skizzierung sein eigentliches thematisches
Ziel, den abwärts bewegten lombardischen
Rhythmus von Beethovens Trauermarsch,
entdeckt und kompositorisch fixiert zu haben. In der Tat tritt die Beethoven-Nähe
des Hauptthemas erst zwischen der 4. und
5. Gesamtskizzierung zutage – es hatte
langwieriger »Metamorphosen« bedurft,
um an dieses Ziel zu gelangen. Die Streicher­
studie bedient sich also in der Werkgenese
wie im vollendeten Werk eines neuartigen
Prinzips der Themenfindung: ­B estimmte
klangliche Materialien werden Umwandlungsprozessen unterworfen, d
­ eren Strategien darauf abzielen, in ihnen bisher
unentdeckte Eigenschaften oder gar geheime, verborgene Zusammenhänge zu enthüllen. »Metamorphosen« wären demnach
musikalische »Verwandlungen«, die ihr
Thema von Anfang an als unbewusste Zielvorstellung vor Augen haben, aber erst am
Ende exakt benennen können.
VON DER FÄHIGKEIT ZU TRAUERN
Mit seinen »Metamorphosen« hat Strauss
ein emotional bewegendes Gegenstück zu
den groß angelegten Adagio-Sätzen der
Symphonien Mahlers, Schostakowitschs
oder auch Karl Amadeus Hartmanns geschaffen: 10 Violinen, 5 Bratschen, 5 Celli
und 3 Kontrabässe führen in ständig wechselnden Kombinationen zur Synthese, was
von jeher den harmonischen und melodischen Reichtum der Musik von Richard
Strauss ausmachte. Formaler Rahmen ist
ein Symphoniesatz, in dem sich dreiteilige
Richard Strauss: »Metamorphosen«
13
Aus der Handschrift der »Metamorphosen«: »In memoriam !« (1945)
Richard Strauss: »Metamorphosen«
14
Liedform und freie Sonatensatzform über­
lagern und zugleich durchdringen. Dreiteiligkeit prägt nicht nur die Harmonik (Moll–
Dur–Moll), sondern auch die Zeitmaße
(langsam–schnell–langsam). Drei Themengruppen sind es schließlich, die die Formvorgaben mit polyphon organisierter Varia­
tionstätigkeit auffüllen. Das Resultat ist
eine symphonisch orientierte Fantasie, die
strukturell den ricercar- und canzonenhaften Orgelfantasien Sweelincks näher steht
als den Klavierfantasien der Romantik, in
denen die Sonatenform zur formlos-­freien
Themenreihung wurde.
Strauss korreliert der formalen Dreigliedrigkeit eine emotionale Kontrastivität, die
Schmerz und Wohllaut, Klage und Freude,
Elegie und Elan in einem ständigen Spannungsverhältnis hält. Die Meisterschaft
der Themenkombinatorik, der Stimmengruppierung und der formalen Disposition
weisen den »Metamorphosen« im Œuvre
von Richard Strauss einen Rang zu, der
mit dem Begriff »Epilog« nur sehr unzureichend beschrieben ist. Neben die Anknüpfung an die Tradition der frühen Symphonik tritt hier ein neues geistiges Format, das die bei Strauss eher ungewohnten Ausdrucksbezirke der Wehmut und des
Schmerzes, der Klage und der Trauer erschließt. Dabei eignet dem Werk eine suggestive, emotionsgeladene Hymnik, die
jenseits aller kontrapunktischen Detailliertheit dem Strauss’schen Melos Brio
und »élan vital« verleiht. Sein zur Perfektion entwickeltes Verfahren kontrastiver
Steigerung deutet den Klagegesang der
»Meta­­morphosen« in ein Dokument stiller
Anklage um. »Trauer« wird so konstruktiv
und bleibt nicht selbstgefällig: Musik plädiert hier für eine andere, für eine bessere Welt.
PHILOSOPHISCHES
BEKENNTNISWERK
Im Kontext konstruktiver »Trauerarbeit«
sind auch jene Textfragmente angesiedelt,
die Strauss in seine »Metamorphosen«Skizzenbücher schrieb: Lektüre-Früchte
aus der Beschäftigung mit ­G oethes Alterslyrik, die er besonders schätzte. So
finden sich gleich zu Beginn der ersten
Skizzen zwei »Zahme Xenien«, in denen die
Lebensphilosophie Goethes in eine Kritik
der Selbsterkenntnis mündet:
Wie’s aber in der Welt zugeht
Eigentlich niemand recht versteht,
Und auch bis auf den heutigen Tag
Niemand gerne verstehen mag.
Gehabe du dich mit Verstand,
Wie dir eben der Tag zur Hand;
Denk immer: Ist’s gegangen bis jetzt,
So wird es auch wohl gehen zuletzt.
Niemand wird sich selber kennen,
Sich von seinem Selbst-Ich trennen;
Doch probier er jeden Tag,
Was nach außen endlich, klar,
Was er ist und was er war,
Was er kann und was er mag.
Mit der erklärten Ablehnung der Forderung »Erkenne dich selbst« als einer unlösbaren Aufgabe, die nur dazu diene,
»von der Tätig­keit gegen die Außenwelt zu
einer inne­r en falschen Beschaulichkeit«
zu verleiten, ist bei Goethe formuliert,
was Strauss bereits als junger Mensch,
noch unbewusst und vor jeder Goethe-­
Kenntnis, zur Maxime seines Lebens mach­te: »Der Mensch kennt nur sich selbst,
insoferne er die Welt kennt, die er nur in
sich und sich nur in ihr gewahr wird.« Mit
diesem G
­ oethe-Bezug wächst den »Metamorphosen« endgültig der Rang eines philosophischen Bekenntniswerkes zu.
Richard Strauss: »Metamorphosen«
15
Richard Strauss als 85-jähriger in seinem Garmischer Heim (1949)
Richard Strauss: »Metamorphosen«
16
Metamorphosen
einer Beziehung
STEPHAN KOHLER
»PROPHET IM EIGENEN LAND«:
BELÄCHELT UND VERKANNT
Mit seiner Vaterstadt erging es dem Münchner Richard Strauss zunächst nicht anders
als seinem großen Vorbild Mozart mit dem
in fürsterzbischöflichen Traditionen erstarrten Salzburg. Er musste sein Glück
wo­­anders machen: in Meiningen, Weimar,
Berlin, Dresden und in Wien. Ja selbst Amerika zeigte sich dem um die Jahrhundertwende keineswegs so Unumstrittenen geneigter als München, das seinem größten
Sohn die Ehrenbürgerwürde erst 20 Jahre
nach Morgantown verlieh, einem kleinen
Städtchen im Staate Virginia, wo Strauss
mit seiner Frau Pauline 1904 auf Gastspielreise weilte. An München, das der junge
Strauss in seinen herzerfrischend frechen
Briefen an Hans von Bülow als »öden Biersumpf« bezeichnete, aus dem nie und nimmer wahre Kunst erblühen könne, an München, das sich damals einbildete, »IsarAthen« zu sein, hatte der Komponist des
»Till Eulenspiegel« nicht zu Unrecht vieles
auszusetzen. Den schnell berühmt Gewordenen aus den eigenen Reihen, man nahm
ihn nicht recht ernst. Man sah seine Erfolge als etwas durchaus N
­ ebensächliches an
und begann ihn erst als großen Sohn der
Stadt zu adorieren, als er 1898 wutentbrannt dem Münchner Intendanten Baron
Perfall kündigte und, wie viele Bayern damals, nach Berlin ging. Keine seiner Opern,
bis auf die späten Stücke »Friedenstag«
und »Capriccio«, erblickte im Münchner
Nationaltheater das Licht der Welt, und
das Verhältnis des Komponisten zu seiner
Vaterstadt blieb eigentlich zeit seines Lebens das einer heftigen, aber uner­wi­der­
ten Liebe.
VATER OBERPFÄLZER –
MUTTER MÜNCHNERIN
Nun gehörte Richard Strauss schon immer
der Welt, und nicht nur einem Land oder
einer Stadt. Es würde seine wahre Bedeutung einengen, ihn lokalpatriotisch oder
aus welch sentimentalen Gründen auch immer ausschließlich für sich reklamieren zu
wollen. Also auch nicht für München, wo er
doch immerhin am 11. Juni 1864 im Hintergebäude der ehemaligen Pschorrbräu-Bierhallen am auch heute noch so genannten
»Altheimer Eck« zur Welt gekommen ist ?
Dieses München der wohlhabenden, aber
auch sehr kunstsinnigen Pschorr-Dynastie,
Richard Strauss und München
17
Vater und Sohn: Franz Strauß und Richard Strauss (um 1900)
Richard Strauss und München
18
der die Mutter des Komponisten entstammte, hatte ihn in der Tat von klein auf
geprägt. Als Sohn e
­ ines der berühmtesten
Hornisten seiner Zeit, des aus der Oberpfalz zugewanderten Franz Strauß, war
das hochmusikalische Kind schon bald mit
dem Musikleben seiner Heimatstadt nicht
nur vertraut, sondern auch eng mit ihm
verwachsen. Die wichtig­ste Gestalt der Jugendzeit war zweifellos der Vater, fanatischer Wagner-Gegner und Klassizist Hanslick’scher Prägung in ­einem. Den »Joachim
auf dem Horn« soll Hans von Bülow Franz
Strauß genannt haben – aus dem Munde
des Brahms-Bewunderers und lebenslangen Freundes des Geigenvirtuosen Joseph
Joachim das höchste Lob für einen Hornisten, das Bülow zu vergeben hatte. Auch
Bülows Antipode Richard ­Wagner, weder
Brahms noch Joachim besonders zugetan,
wusste Franz Strauß zu bescheinigen, dass
er zwar ein unausstehlicher Querulant sei,
aber unübertrefflich das Horn zu blasen
verstünde. Franz Strauß hat die Uraufführungssoli vieler Wagner’scher Werke geblasen, vom Münchner »Tristan« von 1865
bis zum Bayreuther »Parsifal« von 1882.
Mag sein, dass Richard, wie er dem Grazer
Musikwissenschaftler Friedrich von Haus­
egger ver­s icherte, schon in der Wiege
­einen Horn-Ton seines »Tristan« übenden
Vaters mehr geschätzt hat als einen ­Geigen­Ton: beim Anhören der Violine habe er geweint, beim Horn hingegen mild ge­lächelt.
Tatsache ist jedoch, dass der j­ unge Komponist nicht nur intimste Kenntnisse im
Bereich der Spieltechnik des Horns dem
»Königlichen Kammermusiker« Franz Strauß
verdankte, sondern auch seine lebenslange Prägung durch musi­kalische Erziehungsstrategien im Geiste ­Mozarts und der deutschen Frühroman­tiker.
»ISAR-ATHEN«:
NÄHRBODEN FÜR JUNGE GENIES
Über seine in München verbrachte Jugendzeit meinte Strauss später, am meisten
habe er zwischen seinem »achten und achtzehnten Jahre« komponiert, »zu viel und
zu unkritisch…« Ein Überblick über Strauss’
Münchner Jugendwerke, zumeist Werke für
kammermusikalische Besetzungen, wirft in
der Tat die Frage auf, wie es dem lediglich
privat ausgebildeten Kind gelingen konnte,
im Alter von 10 Jahren perfekt durchgebildete Stilkopien Mendelssohn’scher oder
Schumann’scher Kompositionskunst so mühelos, aber auch so zahlreich zu produzieren. Kammermusik war recht eigentlich die
Domäne des jungen Strauss, der sicher
nicht zu Unrecht im Bereich der intimeren
Musizierformen ein zur Erprobung kompositorischer Techniken bestens geeignetes
und gut überschaubares Übungsterrain
erblickte. Bis zu Beginn der 80er Jahre waren Strauss’ Kompositionen in erster Linie
für das häusliche Musizieren in und mit der
Familie Pschorr bestimmt, in der man die
ungewöhnliche Begabung des Gymnasiasten nicht nur erkannte, sondern auch nach
Kräften förderte. Tänze, Lieder, Klavierstücke, Sonaten, Sonatinen nach klassischen Vorbildern wechselten mit ersten
zaghaften Versuchen, »mit Hilfe des Herrn
Kapellmeisters Meyer«, eines Korrepetitors
am Königlichen Hoftheater und Kollegen des
Vaters, für größere Besetzungen zu schreiben. Die ersten Orchesterwerke wurden auf
dem Podium des von Vater Strauß geleiteten Liebhaberorchesters »Wilde Gung’l«
aus der Taufe gehoben, als außergewöhn­
liche Talentproben von einer interessierten
Öffentlichkeit durchaus wohlwollend begrüßt.
Richard Strauss und München
19
Fritz Erler: Richard Strauss (1898)
Richard Strauss und München
20
»BAUERNNEST«:
VORPROGRAMMIERTER KONFLIKT
Das Wohlwollen verflüchtigte sich, als der
20-jährige Komponist immer mehr aus den
Bahnen der Tradition auszuscheren begann. Aus dieser Zeit stammt wohl der
Ausspruch des Direktors der Königlichen
Musik­schule Joseph Rheinberger: »Schade, dass er jetzt auf das moderne Fahrwasser einzuschwenken scheint, er hätte soviel Talent… !« München brachte dem jungen Stürmer und Dränger, der von 1886
bis 1889 eine sehr untergeordnete Kapellmeisterstelle am sog. »Hof- und National­
theater« bekleidete, immer weniger Sympathie entgegen. Seinem Mentor Hans von
Bülow bekannt er gegen Ende dieser Amtsperiode: »Ich habe nun allmählich eingesehen, dass hier nicht der Boden ist, wo ein
erfreuliches Musikleben gedeihen kann.
Aus dem Dreck, in dem ich hier alles finde,
könnte ich allein den Karren nie herausziehen. Öder Sumpf, Biersumpf überall.« Sein
zweites Münchner Engagement, das ihn
von 1894 bis 1898 erneut ans Münchner
Nationaltheater band, brachte zwar die
Beförderung zum Hofkapellmeister und
Nachfolger Hermann Levis, doch die Que­
relen um die Münchner Erstaufführung
seines »Guntram«, jenes 1894 in Weimar
uraufgeführten Bekenntniswerkes nachwagner’scher Prägung, verleideten dem
jungen Strauss auch dieses zweite Münchner Dirigieramt gründlich: Das Orchester
streikte, Sänger gaben ihre Rollen zurück,
und der Tenor Max Mikorey wollte nur gegen eine massive Erhöhung seiner Alters­
pension die Titelpartie weitersingen. Eine
Orchester-Abordnung verlangte vom Generalintendanten Baron Perfall, Strauss,
diese »Gottesgeißel«, aus München zu
entfernen. Der solchermaßen Geschmähte
nahm sich seinerseits kein Blatt vor den
Mund, um seine Vaterstadt als Hort der
Reaktion bloßzustellen: »Was München für
ein Bauernnest und seine Bewohner für
trottel­hafte Rüpeln sind, merkt man immer wieder im Ausland. Nun, da muss man
sich eben auffrischen…!« (aus Amsterdam
an seine Frau Pauline).
»FEUERSNOT«:
ABRECHNUNG MIT MÜNCHEN
Die tumultartigen Vorgänge um »Guntram«
trugen sicher dazu bei, dass der unbequeme Nestbeschmutzer sich seinerseits nach
einer neuen Anstellung umsah, die er wenig später, gegen Ende 1898, auch prompt
im gegnerischen Berlin antrat; sie brachten ihn, der nach »Guntram« auf der Suche
nach neuen Opernstoffen war, darüber h
­ i­naus auf die Idee, die verhassten Münchner Neider und Quertreiber zur Zielscheibe
eines musikdramatischen Gegenschlags zu
machen – eine Idee, die sich in Zusammenarbeit mit dem als Gründer des Berliner
Kabaretts »Überbrett’l« zu schneller Berühmtheit gelangten Satiriker Ernst von
Wolzogen im Einakter »Feuersnot« realisierte. Nicht anders als in Wagners »Meistersinger von Nürnberg« wird hier auf mali­
ziöse Weise das Portrait einer ganzen Stadt­
landschaft entworfen, in der es die jugendlichen Genies schwer haben und allent­halben
der Stumpfsinn regiert. Strauss hatte erkannt, dass die spezifisch Münchner Symbiose von provinzieller Verschrobenheit,
reaktionärem Traditionalismus und bornierter Spießbürgerlichkeit einen kecken Frontalangriff verdiente, mit dem die »Feuersnot« dort ansetzte, wo die zeitgenössische Zensur traditionell am empfindlichsten
reagierte: im Bereich der Grenzüberschreitung von erotischen Tabus, wie man sie aus
Frank Wedekinds Moral­satiren kannte. In
München hat man Strauss dieses heute
Richard Strauss und München
21
Richard Strauss und München
22
eher harmlos wirkende Pamphlet gegen die
eigene Vaterstadt lange nicht verziehen.
Nach ihrer Dresdner Uraufführung vom 21.
November 1901 wurde die »Feuersnot« in
München zunächst nicht nachgespielt;
erst vier Jahre später – »Salome« war bereits uraufgeführt ! – erschien sie unter
des Komponisten eigener Leitung auf dem
Spielplan des Münchner Nationaltheaters.
»METAMORPHOSEN«:
TRAUER UM MÜNCHEN
Musikalisch äußert sich die »kleine Rache
an der lieben Vaterstadt«, so Strauss, im
»Ton des Spottes, der Ironie« und der stets
»heiteren Persiflage«. Doch zwischen melo­
­dischen Sarkasmen und boshaften Instrumentalwitzen taucht immer wieder ein
­markantes Walzerthema auf, das just an
jenen Textstellen zu beseligender Klangwirkung aufblüht, wo von verborgener, aber
stets vorhandener Liebe zu München die
Rede ist. Dieses Walzerthema griff Strauss
gezielt auf, als er 1938 einen kurzen musikalischen Beitrag für den Kulturfilm »München« liefern sollte, der im Mai 1939 im
Münchner Ufa-Palast uraufgeführt wurde,
den Nationalsozialisten jedoch missfiel und
sofort in den Archiven verschwand. Unter
dem Eindruck der durch den Zweiten Weltkrieg verursachten ­Zerstörungen in seiner
Vaterstadt – am 17. Dezember 1944 war
sein Geburtshaus ausgebrannt – entschloss sich Strauss zu einer Umarbeitung
der ohnehin ungedruckt gebliebenen Komposition. Er tauschte den Untertitel »Gelegenheitswalzer« gegen »Gedächtniswalzer« aus, erweiterte die ursprüngliche
formale Anlage zur Dreiteiligkeit und überschrieb den neu eingefügten Mittelteil mit
»Minore – in memoriam«. »In memoriam !«
steht auch auf der letzten Partiturseite der
berühmten Streicher-Studie »Metamor-
phosen«, die parallel zur Zweitfassung des
»München«-Walzers entstand. Beide Werke reflektieren auf unterschiedliche Weise
die Trauer um die zerstörte Vaterstadt,
die der Komponist angesichts i­mmer deprimierenderer Katastrophen­m eldungen
empfand: eine Trauer, die t­ iefer blicken
ließ, als man beim Grad der Entfremdung
zwischen Strauss und München für möglich gehalten hätte.
»BERLINER LUFT«: IST SIE
TATSÄCHLICH BESSER ?
Dennoch: Nach seinem definitiven Weggang aus dem München der Prinzregentenzeit hat Strauss die Vaterstadt nie wieder
zum festen Wohnsitz gewählt. Er wohnte
bevorzugt in seinem großbürgerlichen
Landhaus in Garmisch, das er sich vom finanziellen Erfolg seines Skandal-Einakters
»Salome« (1905) gebaut hatte. In Berlin,
in Dresden und in Wien fühlte er sich mehr
zuhause als in der bayerischen Metropole,
von deren Kunstklima er sich allenfalls negative Ausstrahlungen auf das zeitgenössische Musik­schaffen erwartete. Noch nicht
20-jährig, am 8. März 1884, hatte er seinen
langjährigen Jugendfreund Ludwig Thuille
bereits gewarnt: »Schade, dass Du nicht
hier [in Berlin] bist. Ich hatte darauf gerechnet, dass Du mitkämst. Denn die trä­ge ­Münchner Luft ist Dein künstlerischer
Tod !« D
­ ennoch hielt der Komponist des
»Heldenlebens« nach Antritt der Berliner
Stellung den Kontakt mit München aufrecht, nicht zuletzt um seiner Forderung
Nachdruck zu ver­leihen, dass er sich als
berühmtester Sohn der Stadt eine entsprechende Pflege seiner Werke, insbesondere im Münchner Nationaltheater, erwarten dürfe. Diese Forderung unterstrich er
mit zahlreichen Gastdirigaten, sowohl am
Pult des National­theaters und Alten Resi-
Richard Strauss und München
23
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Ferdinand Schmutzer: Richard Strauss (1924)
Richard Strauss und München
15.10.2007 12:17:57 Uhr
24
denztheaters (heute: Cuvilliés-Theater)
als auch im Prinz­r egententheater, wo bereits im Juni 1910 eine erste »RichardStrauss-Woche« statt­fand.
PHILHARMONIKER:
DAS STRAUSS-ORCHESTER
DER STADT
bereits 1901 zum ersten Mal auf­getreten
war: mit insgesamt vier verschiedenen
Strauss-Programmen, die das Orchester
nicht nur in München, sondern anschließend sogar auf seiner großen Ostasien-­
Tournee spielte, feierte es 2014 gebührend
den größten Sohn der Stadt.
»Richard-Strauss-Wochen« sollte es seither in regelmäßigen Abständen in München
geben, meist unter Beteiligung des inzwischen Weltberühmten, dem man 1924, anlässlich seines 60. Geburtstages, auch die
städtischen Lorbeeren einer Ehrenbürgerwürde nicht mehr länger vorenthalten mochte. Der solchermaßen Geehrte bedankte
sich mit Manuskript-Schenkungen, unter
denen die Originalpartitur der Oper »Feuersnot« eine besondere, weil höchst beziehungsreich auf den alten Konflikt v
­ er weisende Rolle spielte. Die bisher letzten
»Strauss-Wochen« veranstaltete die Baye­
rische Staatsoper 1989 zum 125. Geburtstag des Komponisten: Unter der Gesamtleitung von Wolfgang Sawallisch wurden in
einer mehr oder weniger kompletten Werkschau sämtliche Opern von »Guntram« bis
»Capriccio« aufgeführt. Demselben Institut war 25 Jahre später der 150. Geburtstag von Richard Strauss nur noch eine einzige Neuinszenierung wert (»Die Frau ohne
Schatten«), von einem ­Z yklus mehrerer
oder gar aller Bühnenwerke ganz zu schweigen. Aber auch die meisten Symphonie­
orchester der Isarmetropole übten sich in
vornehmer Zurückhaltung und setzten
­lediglich einige wenige Hauptwerke aufs
Programm ihrer Konzerte. Davon hoben sich
in wohltuender Weise die Münchner Phil­
harmoniker ab, mit denen der Komponist
Richard Strauss und München
25
Vertrautheit
mit dem Tode
SIGRID NEEF
DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH
(1906–1975)
Symphonie Nr. 15 A-Dur op. 141
1. Allegretto
2. Adagio – Largo – Adagio – Allegretto
3. Allegretto
4. Adagio – Allegretto – Adagio – Allegretto
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
Geboren am 25. (12.) September 1906 in
St. Petersburg; gestorben am 9. August
1975 in Moskau.
ENTSTEHUNG
Dmitrij Schostakowitsch begann seine 15.
und gleichzeitig letzte Symphonie am
2. April 1971 während eines Krankenhausaufenthaltes. Trotz erheblicher gesundheitlicher Einschränkungen schloss er die
Komposition bereits am 29. Juli 1971 in
Repino bei Leningrad ab, wo er zur Stabilisierung und Erholung im Künstlerheim
des Sowjetischen Komponistenverbandes
unter­gebracht war.
URAUFFÜHRUNG
Am 8. Januar 1972 in Moskau im Großen
Saal des Tschaikowskij-Konservatoriums
(Allunions-Orchester des Sowjetischen
Rundfunks und Fernsehens unter Leitung
von Maxim Schostakowitsch).
Dmitrij Schostakowitsch: 15. Symphonie
26
IN JUNGEN JAHREN BEGINNEN
Die 15. Symphonie gehört zu den Werken, in
denen sich Dmitrij Schostakowitsch explizit
mit dem Tod auseinandersetzte – wie schon
in der vorausgegangenen 14. Symphonie
von 1969. Aber während es dort auch um
Klage und Anklage geht, insofern der
Mensch des Menschen Tod sein kann, nähert
sich Schostakowitsch in der 15. Symphonie
dem Tod ausschließlich als einem naturgegebenen, existenziellen Phänomen: »Man
darf es nicht dahin kommen lassen, dass
einen die Todesfurcht unverhofft packt. Man
muss sich an sie gewöhnen. Ein Weg, sich
mit ihr vertraut zu machen, ist, über sie zu
schreiben. Ich halte es nicht für ein Krankheitssymptom, über den Tod nachzudenken
oder zu schreiben. Und ich halte es auch
nicht für richtig, dass höchstens alte Leute
darüber schreiben dürfen. Ich meine vielmehr, wenn die Menschen schon in jüngeren
Jahren anfingen, über den Tod nachzudenken, würden sie weniger Dummheiten machen« (Schostakowitsch 1974 im Gespräch
mit Solomon Wolkow).
Der Komponist hatte während des Massenterrors in den 1930er Jahren und während
des Krieges jederzeit mit dem eigenen Ende
zu rechnen. Als dann nach Stalins Tod 1953
die äußere Bedrohung gewichen war, saß
Schostakowitsch ab 1966 eine unheilbare
Krankheit im Nacken. Er stand unter ärztlicher Beobachtung, ertrug ungezählte
Krankenhausaufenthalte, litt unerträgliche
Schmerzen. Und trotzdem: In den neun Jahren nach dem ersten Herzinfarkt 1966 (ein
zweiter folgte 1971, wenige Wochen nach
Vollendung der letzten Symphonie) bis zu
seinem Tod 1975 entstanden zwei Symphonien, vier Streichquartette, ein Vio­
lin­
konzert, zwei Sonaten, vier Lied-Zyklen,
diverse Film – und Ballettmusiken.
NICHTS ÄUSSERES
KONNTE IHN BERÜHREN
Schostakowitsch entwarf das Konzept seiner 15. Symphonie am 2. April 1971 im
Krankenhaus in Kurgan (Ural) und beendete die Komposition am 29. Juli 1971 im
Künstlerheim des Sowjetischen Komponistenverbandes in Repino bei Leningrad. Dazwischen lag (vom 3. bis 27. Juli) ein weiterer Krankenhausaufenthalt, doch setzte
er sich über alle widrigen Umstände hinweg: »Es handelt sich um eines jener Werke, die sich meiner einfach bemächtigten,
die sich von der ersten bis zur letzten Note
klar darstellten. Ich benötigte lediglich die
Zeit zum Niederschreiben« (Schostakowitsch 1973 im Gespräch mit Royal Brown).
Mit der 15. Symphonie kehrte Schostakowitsch zum klassischen viersätzigen Symphonie-Typus zurück. Auch behielt er die
alte tonale Grundstruktur bei, wenngleich
er – in allen vier Sätzen – thematisches
Material zwölftönig präsentiert, ein von
ihm seit dem 12. Streichquartett von 1968
angewandtes Verfahren. Der Effekt war
enorm. In der Hand dieses Meisters gewannen spröde Klangreihen eine markante Gebärdenhaftigkeit und Auffälligkeit, wenn
sie sich bindungslos und frei durch ihr
tona­les Umland bewegen. Die letzte Symphonie ist kein Werk der Klage über den
Tod, sondern eine mit Distanz und Gelöstheit gestaltete Synthese von Rückschau
und Abschied. Seinem Schüler Boris Tisch­
tschenko teilte Schostakowitsch daher
mit, er plane eine »fröhliche« Symphonie.
1. SATZ:
APOLOGIE DER FRÖHLICHKEIT
Und »fröhlich« beginnt diese Symphonie,
mit hellem Glockenton, Raketenmotiven
Dmitrij Schostakowitsch: 15. Symphonie
27
Dmitrij Schostakowitsch auf Erholungsurlaub in Komarowo (1963)
Dmitrij Schostakowitsch: 15. Symphonie
28
und kecken Banalitäten, mit einem Kaleidoskop musikalischer Reminiszenzen der
goldenen 20er Jahre in Russland, in denen
Schostakowitsch selbst eine führende Rolle spielte. Anklänge also auch an eigene
Werke, so an das Schlagzeug-Zwischenspiel
der genialen Erstlings-Oper »Die Nase« von
1928.
Und in all das hinein wird dann auch noch
das Kopfmotiv aus Rossinis »Guillaume
Tell«-Ouvertüre von 1829 appliziert, aus
vollen Rohren zu schmettern, obgleich es
original in elegant federndem Streicherklang, dem berühmten Rossini’schen Ricochet (Springbogen), daherkommt. Scho­
stakowitsch imaginiert hier einen Hauch
vom einstigen Freiluft-Amüsement seiner
Jugendzeit, war doch die »Guillaume Tell«-­
Ouvertüre ein Paradestück der sowjet­­
russischen Estradenorchester gewesen,
die landein landauf in Parks und Kulturhäusern aufspielten. Ist der 1. Satz ein Abriss
von Kindheit und Jugend, der Träume und
Unbekümmertheiten des jungen Genies ?
So jedenfalls soll es Schostakowitsch
selbst gesagt haben: »Ein Spielzeugladen,
eine Menge Tand, völlige Unbeschwertheit.«
TSCHECHOWS
»SCHWARZER MÖNCH«
Zugleich aber verwies Schostakowitsch
darauf, dass er seine 15. Symphonie nach
Motiven aus Tschechows Werk geschrieben
habe, »als Variationen auf die Erzählung
>Der schwarze Mönch< «. In dieser Novelle
von 1894 pflegt ein Magister intensive Gespräche über Ewigkeit und Wahrheit mit
einem nur ihm allein sichtbaren schwarzen
Mönch. Bei einem dieser Gespräche belauscht, wird der Magister für verrückt
erklärt und zwangsweise »normalisiert«.
Er verliert die Fähigkeit, den schwarzen
Mönch zu sehen und ebenso die Fähigkeit,
über die Alltagsfragen hinaus zu denken.
Ob es den schwarzen Mönch wirklich gibt
oder ob er nur eine Halluzination des Magisters ist, lässt Tschechow ebenso offen
wie die Frage, ob dem Magister die letzte
Wahrheit zuteil wurde, als er schließlich
mit einem seligen Lächeln auf den Lippen
stirbt. Der schwarze Mönch jedenfalls ist
bereits im 1. Satz der Symphonie anwesend. Das leichtfüßige Hauptthema (in der
Piccoloflöte) erhebt sich über allen tonalen
Schwankungen und Verwirrungen. Es ist
markant, dabei aber frei, schwebend, klar
und ungeerdet, ein Luftgebilde – das auditive Analogon zu den visuellen Halluzina­
tionen des Magisters.
Die Behauptung, es handele sich bei der
15. Symphonie um ein »fröhliches« Werk,
verwirrte einige Freunde. So auch den
deutschen Dirigenten Kurt Sanderling. Neben Schostakowitsch sitzend, erlebte er
die deutsche Erstaufführung 1972 in Berlin: »Ich wusste nur das, was in der sowjetischen Presse veröffentlicht worden war:
>Ein heiteres Werk, Spielzeugladen der
erste Satz<. Und da ich den Komponisten
und die Verhältnisse kannte, hörte ich in
dem Werk das, was er gemeint hat. Und in
vollständiger Verwirrung und Unsicherheit
wandte ich mich nach dem 1. Satz zu ihm.
Und da ich wusste, wie man bei ihm fragen
muss, sagte ich: >Sagen Sie, Dmitrij Dmitrijewitsch, irre ich mich – oder ist das ein
zutiefst tragisches Werk ?< Und er wandte
sich zu mir um und sagte mit tiefer Stimme: >Sie irren sich nicht !< «
»SPIELZEUGLADEN« –
BEGRIFF UND BEDEUTUNG
Welche Art von »Spielzeugladen« Schostakowitsch meinte, erschließt sich über die
Dmitrij Schostakowitsch: 15. Symphonie
29
Oben: Während der Proben zur Uraufführung mit Sohn Maxim, der das Werk dirigierte (1972)
Unten: Mit seiner dritten Frau Irina beim Besuch der Berliner Erstaufführung (1972)
Dmitrij Schostakowitsch: 15. Symphonie
30
Dichterin Marina Zwetajewa (1892–1941).
Schostakowitsch wollte ursprünglich eine
Textvertonung, eine Hommage auf Marina
Zwetajewa, in die 15. Symphonie integrieren, ließ den Plan aber fallen. Knapp zwei
Jahre später vertonte er dafür sechs Gedichte von Marina Zwetajewa. In diesen
offenbarte er im Nachhinein die Programmatik der 15. Symphonie: Der 1. Satz ist
in einer Art Lebensrückschau den Jugendwerken gewidmet. »So früh geschrieben,
/ Dass mir nicht einmal bewusst war, >Kom­
­ponist< zu sein, / Entstanden sind sie, so
wie Spritzer eines Brunnens fliegen / So
wie Raketen Funken stieben. // Erklungen
sind sie; / Schlugen wie kleine Teufel ein /
In des alten Kunsttempels Traum und Weihrauch […] // Heute sind sie in der Läden
Staub verloren / (Wo niemand sie gekauft
hat, niemand kauft !) / Für meine >Musik<
wie für alte Weine / Kommt noch die Zeit
herauf« (Zwetajewa-Vertonung).
­ inem Bläser-Choral eröffnet. Zwölftönige
e
Solo-Rezitative machen sich bemerkbar,
zuerst im Violoncello und später in der ersten Violine. Allmählich arbeitet sich ein
Paukenmotiv an die Oberfläche, daraus
entwickelt sich ein Largo-Trauermarsch,
der zum Streicher-Total aufgipfelt und zur
Klimax führt, worauf sich alles zurück­
spult.
Schostakowitsch war 1971 ein erfolg­
reicher und anerkannter Komponist, doch
zentrale Frühwerke, so die Opern »Die
Nase« und »Lady Macbeth von Mzensk«,
waren in der Heimat unerwünscht, vor der
Welt verborgen, »im Staub der Geschäfte
verloren«. Wie kann es einen todkranken
Mann trösten, dass ihre Zeit vielleicht noch
kommen wird ? Er wird diese Zeit nicht
mehr erleben. So hat Schostakowitsch diesen 1. Satz den jugendlichen unbekümmerten Einfällen gewidmet, doch auch seine
Desillusionierung über ewige Wahrheiten
und ewige Werte nicht verschwiegen.
Die große Passion in Schostakowitschs
­Leben, die Liebe zur Mutter seiner beiden
Kinder, verlief tragisch. Schostakowitsch
hatte Nina Wassiljewna mit 21 Jahren kennengelernt. 1942 steht die Ehe vor der
Scheidung, wird schließlich durch die Kinder zu­sammengehalten. Schostakowitsch
flüchtet aus der gemeinsamen Wohnung in
Kuibyschew nach Moskau. Jahre später wird
Nina noch weiter flüchten, nämlich in den
fernen Kaukasus, wo sie als Astrophysikerin
arbeitet. Die Trennung tut der Liebe gut,
beide wachsen innerlich wieder aufeinander zu, da reißt der Krebstod Nina Wassiljewna 1954 – überraschend und unvorbereitet für beide – aus dem Leben.
2. SATZ:
ADAGIO – WOHER DER
TRAGISCHE TON ?
Groß ist der Gegensatz zwischen erstem
und zweitem Satz, den ein Adagio mit
Woher dieser tragische Ton, woher die
»Bläser-Schreckensakkorde« – so ohne
jeden vorangegangenen Konflikt ? Eine
verborgene Schicht drängt hervor. Schos­
takowitsch hat sie benannt, in dieser Symphonie wie in seinen Streichquartetten und
der Zwetajewa-Vertonung. Aber wer wollte
sie hören ? Wer konnte sie hören ?
»MEHR GELIEBT ALS TAUSENDE
– UND WENIGER DOCH ALS EIN
­GELIEBTER«
Schostakowitsch hatte das lösende, erlösende Wort nicht mehr sprechen können:
»Sie ging hinab zum Grund. / Hintreibt ihr
Kränzlein noch / Zum Stamm… / Ich aber
Dmitrij Schostakowitsch: 15. Symphonie
31
Das Ehepaar Nina Wassiljewna und Dmitrij Schostakowitsch (1935)
Dmitrij Schostakowitsch: 15. Symphonie
32
hab sie mehr geliebt / Als Tausende… und
weniger doch / Als ein Geliebter. // Zum
Grund ging sie, wo es Schlaf nicht gibt. /
Ich aber, hab ich sie geliebt ?« (Zwetajewa-Vertonung). Reue über eine versäumte Liebe, eine versäumte Versöhnung. Das
musikalische Artefakt hierfür bilden die
zwölftönigen Rezitative von Violoncello und
Violine, Anspielung und Rückgriff auf das
7. Streichquartett von 1960, das Schos­
takowitsch dem Gedenken an Nina Wassiljewna gewidmet hatte.
DER TRAUERMARSCH
In diesem 2. Satz erwächst die allgemeine
Trauer aus der individuellen. Das Paukenmotiv grundiert bereits die Solorezitative,
bevor es sich als Trauermarsch-Motiv offen­
bart: »Ich hatte immer gedacht, mein Leben sei so überreichlich mit Unglück versorgt, dass man kaum einen unglücklicheren Menschen als mich finden könnte. Als
ich dann aber die Lebensgeschichte meiner
Freunde und Bekannten überdachte, erschrak ich. Keiner von ihnen hat ein leichtes und glückliches Leben gehabt. Einige
fanden ein schreckliches Ende. Andere
starben unter entsetzlichen Qualen. Das
machte mich noch um vieles trauriger. Ich
dachte an meine Bekannten: Und ich sah
nur Tote, Berge von Toten. Und dieses Bild
erfüllt mich mit Trauer« (Gespräch mit
Solo­mon Wolkow).
3. SATZ:
KÜNSTLER UND MENSCHENMACHT,
MENSCH UND TODESMACHT
Das folgende, an Stelle des Scherzos stehende Allegretto ist nichts weniger als
­heiter. Kurzatmige, in sich geschlossene
Motive, die keiner Entwicklung fähig sind
und unverbunden nebeneinander stehen.
Walzeransätze, die in den Vierertakt stolpern. Gezeigt wird ein groteskes Gemälde
von Ungenügen, Trivialität und Banalität,
dessen Trostlosigkeit durch die farbige Instrumentation zum Ereignis wird – und zugleich auch ein Bild von Ohnmacht und Ausgeliefertsein, denn die fahlen Rhythmen der
Schlagzeugtrias von Kastagnette, Kleiner
Trommel und Legno (Holz) evozieren eine
Gewalt jenseits aller irdischen Banalität. Es
geht um das Verhältnis von Künstler und
Menschengewalt aber ebenso von Mensch
und Todesmacht. Stalin ist im Jahr 1971
bereits 18 Jahre tot, doch der Ungeist des
Diktators war nach wie vor lebendig.
In diesem Allegretto beschwört Schostakowitsch einen Albtraum herauf, nämlich
die ein Leben lang erlittenen offiziellen
Ehrungen und die Vorwegnahme der letzten offi­ziellen Ehrung, wenn er auf der
Totenbahre liegt und sich nicht mehr wehren kann. Solch große Ehre würde ihm dann
erwiesen, »Dass für seine engsten Freunde
/ Kein Platz wäre. Am Haupte, zu den Füßen, / Rechts und links – die Händchen an
den Nähten – / Brustkörbe und Fressen der
Poli­zei. // Ist es nicht ein Wunder – sogar
auf dem stillsten aller Ruhelager / Wie ein
kleiner Junge bewacht zu werden ? / Was
nur, was nur, was nur könnte so hoch / Wie
diese Ehre sein ? Der Ehre zuviel. // Sieh,
Land, wie dem Gerücht zum Trotz, / Der
Monarch sich um den Künstler sorgt ! / Mit
Ehren – Ehren – Ehren – höchsten / Ehren
– Ehren – bis zum Geht-nicht-mehr !«
(Zwetajewa-Vertonung).
4. SATZ:
OFFENKUNDIGE UND
EHER FLÜCHTIGE ZITATE
Ein Zitat eröffnet und gliedert den Finalsatz, die Todesverkündigung der Brünn­
Dmitrij Schostakowitsch: 15. Symphonie
33
Schostakowitsch wenige Wochen vor seinem Tod (1975)
Dmitrij Schostakowitsch: 15. Symphonie
34
hilde aus Richard Wagners »Walküre«:
»Schau auf mich ! Ich bin’s, der bald du
folgst. […] Nur Todgeweihten taugt mein
Anblick, wer mich erschaut, der scheidet
vom Lebenslicht.« In ähnlicher Form, nur
weniger pathetisch, kündigt sich auch
Tschechows schwarzer Mönch dem Magister an.
In unmittelbarem Anschluss an das »Todesverkündigung«-Zitat deutet Schostakowitsch eine weitere Wagner-Oper an –
»Tristan und Isolde«. Doch die Anspielung
hat eine Pointe, denn die melodische Linie
mündet nicht erwartungsgemäß in den
Tristan-Akkord, sondern löst sich stattdessen in eine ungetrübte Mollweise auf.
Es handelt sich um ein Zitat aus Michail
Glinkas Elegie »Ne iskuschayj« (Versuche
nicht). Wer aber kennt schon Glinka – und
dann noch eine von dessen Elegien ? Hingegen gilt »Tristan und Isolde« als das
am häufigsten zitierte Werk der Musik­
geschichte.
AUF DER SUCHE NACH BEETHOVEN
Versuche keiner, Schostakowitsch beim
Wort zu nehmen. So behauptete er – sowohl
dem Schüler Krzysztof Meyer als auch dem
Freund Isaak Glikman wie dem Sohn und
Uraufführungsdirigenten gegenüber – in
der 15. Symphonie neben Wagner und Rossini auch Beethoven zitiert zu haben. Die
Suche nach dem Beethoven-Zitat hat eine
Fülle von Untersuchungen hervorgebracht.
In der Mehrzahl einigte man sich darauf,
dass es sich wohl um das berühmte »Muss
es sein ?«-Motiv aus Beethovens Streichquartett F-Dur op. 135 handeln müsse,
auch wenn nur analoge Quartfallmotive
auszumachen sind.
Ein wahrhaftes Paradoxon ! Einmal bekennt
sich Schostakowitsch zu ganz offenkun­
digen Zitaten (Wagner und Rossini), dann
verweist er auf ein nicht auffindbares Zitat
(Beethoven) und schließlich verschweigt er
andere, nicht weniger wichtige Zitate, so
aus seiner »Leningrader Symphonie« und
aus diversen Jugendwerken. »Ich weiß
selbst nicht, wozu diese Zitate da sind,
aber ich war nicht imstande, diese Zitate
nicht zu verwenden, ich war einfach nicht
imstande dazu«, gestand Schostakowitsch
dem Freund Isaak Glikman.
SCHOSTAKOWITSCHS PARADOXIEN:
DIE PASSACAGLIA
Schostakowitsch liebte die Form der Passa­­caglia, diese altehrwürdige Art einer Vari­
a­tionsfolge über einem gleich bleibenden
(ostinaten) konduktartigen Bassthema. Er
verwandte sie in der Oper »Lady Macbeth
von Mzensk« (1930), der 8. Symphonie
(1943), im 2. Klaviertrio (1941), im 1. Vio­
linkonzert (1947/48) sowie in den Streichquartetten Nr. 6, Nr. 10 und Nr. 14 aus
den Jahren 1956, 1964 und 1973. Sie begleitete ihn also sein ganzes Komponistenleben lang. Und eine Passacaglia findet
sich auch im Finalsatz der 15. Symphonie.
Schostakowitsch wählte diese Variationsfolge immer dann, wenn es um das Rätsel
der menschlichen Existenz ging. Denn die
Passa­c aglia ist eine paradoxe Form: Die
Ostinato-Technik fordert Objektivität und
Unausweichlichkeit, die Variationstechnik
hingegen Subjektivität und Freiheit, ein
musikalisches Sinnbild für die Paradoxie
menschlicher Willensfreiheit.
Dmitrij Schostakowitsch: 15. Symphonie
35
Das Passacaglia-Thema ist hier aus einer
11-tönigen Reihe zusammengesetzt und
hat einen melodischen Bezug zu Schostakowitschs berühmtestem Ostinato, dem
Thema der »Invasion« im 1. Satz der
»Lenin­grader Symphonie«. In acht Themen­
durch­führungen akkumuliert sich Gewalt
und Unerbittlichkeit, die sich in einem
9-tönigen clusterartigen Tutti-Akkord im
vierfachen Forte entlädt. Musikalisch ist
das Passacaglia-Thema eine melodisch
hori­
z ontale Ausformung der vertikalen
Schreckensakkorde des 2. Satzes. Was im
2. Satz noch als subjektiver Entsetzensschrei daherkommt, ist im 4. Satz in eine
objektive Form umgewandelt. So findet
eine Ablösung von kreatürlicher Angst
statt, denn mit dem Ostinato-Variationen
wird seit alters her die Allmacht des Todes
anerkannt. »Manches steht unter dem
direk­ten Einfluss von Mahler«, bekannte
Schostakowitsch.
Das Klopfen und Rufen, die flirrenden Orna­
mente der Celesta und der Piccoloflöte, das
tremolierende Xylophon und schließlich die
Glockentöne – das alles modelliert einen
indifferenten, wandelbaren, hellen, klaren,
fließenden Klang. Und der hat seinen Bezug
in der russischen Vorstellung einer mystischen »Glockenstadt«. Die unsichtbare,
aber »volltönende Glockenstadt« ist eine
Chiffre für die Hoffnung auf einen Übergang, auf ein offenes Ende.
OFFENES ENDE
Der Schluss der 15. Symphonie ist musikalisch wie gedanklich vieldeutig und mehrdimensional. Schostakowitsch lässt hier
das Eröffnungsmotiv des 1. Satzes (die
Halluzination des schwarzen Mönches) wie
das Passacaglia-Thema über warmen Liege­­tönen der Streicher vorüberziehen. Alles
wird einer durchlaufenden Zählzeit, einem
Geflecht aus Schlagzeug, Glockenspiel und
Celesta überantwortet. Eine »musica angelica« von fast schon nüchterner Präzision,
ganz ohne Brimborium und Weihrauch, obgleich die Deklamation des Wortes »ewig«
(wie sie bei Gustav Mahler in den Schluss­
takten des »Lieds von der Erde« zu finden
ist) in den über 40 Takte hinweg gehaltenen Liegeklang der Streicher eingeht.
Dmitrij Schostakowitsch: 15. Symphonie
37
Valery
Gergiev
DIRIGENT
In Moskau geboren, studierte Valery Gergiev zunächst Dirigieren bei Ilya Musin am
Leningrader Konservatorium. Bereits als
Student war er Preisträger des Herbert-­
von-Karajan-Dirigierwettbewerbs in Berlin.
1978 wurde Valery Gergiev 24-jährig Assistent von Yuri Temirkanov am MariinskyOpernhaus, wo er mit Prokofjews Tolstoi-­
Vertonung »Krieg und Frieden« debütierte.
2003 dirigierte Gergiev als erster russischer Dirigent seit Tschaikowsky das Saisoneröffnungskonzert der New Yorker Carnegie Hall.
Valery Gergiev leitet seit mehr als zwei Jahr­
zehnten das legendäre Mariinsky-Theater
in St. Petersburg, das in dieser Zeit zu einer
der wichtigsten Pflegestätten der russischen Opernkultur aufgestiegen ist. Darüber hinaus ist er Leiter des 1995 von Sir
Georg Solti ins Leben gerufenen »World Or­
chestra for Peace«, mit dem er ebenso wie
mit dem Orchester des Mariinsky-Theaters
regelmäßig Welttourneen unternimmt. Von
2007 an war Gergiev außerdem Chefdirigent des London Symphony Orchestra, mit
dem er zahlreiche Aufnahmen für das hauseigene Label des Orchesters einspielte.
Valery Gergiev präsentierte mit seinem
Mariinsky-Ensemble weltweit Höhepunkte
des russischen Ballett-und Opernrepertoires, Wagners »Ring« sowie sämtliche Symphonien von Schostakowitsch und Prokofjew. Mit dem London Symphony Orchestra
trat er regelmäßig im Barbican Center London, bei den Londoner Proms und beim Edinburgh Festival auf. Zahlreiche Auszeichnun­
gen begleiteten seine Dirigenten­karriere,
so z. B. der Polar Music Prize und der Preis
der All-Union Conductor’s Competition in
Moskau. Seit Beginn der Spielzeit 2015/16
ist Valery Gergiev Chefdirigent der Münchner Philharmoniker.
Die Künstler
38
Die Philharmoniker
als frühe Botschafter
russischer Musik
GABRIELE E. MEYER
Russische Musik in München ? Ein Streifzug durch die Programme der Münchner
Philharmoniker von 1893 (dem Gründungsjahr des Orchesters) bis in die frühen 30er
Jahre zeigt, dass neben den wiederkehrenden Beethoven-, Brahms- und Bruckner-­
Zyklen, die zahlreichen Richard Wagner-­
Abende nicht zu vergessen, auch nicht-­
deutsche Musik, vor allem aber russische
Musik aufgeführt wurde. Mit diesem Beitrag soll an einen Dirigenten und Komponisten erinnert werden, dem die Münchner
Musikfreunde Ende des 19. und Anfang des
20. Jahrhunderts einen äußerst spannenden Einblick in die damalige Musikentwicklung seines Landes verdankten, kannte man
doch außerhalb Russlands bislang kaum
mehr als die Musik des eher westeuropäisch orientierten Pjotr Iljitsch Tschaikowskij.
Gefördert von Milij Balakirew studierte der
am 5. Dezember 1869 in Tiraspol geborene
Nikolaj Iwanowitsch von Kasanli (auch: Kazanli) neben seiner Offizierslaufbahn u. a.
Komposition bei Nikolaj Rimskij-Korsakow,
bevor er ins Ausland ging. Wie schon vor
ihm Jurij Nikolajewitsch Gallitzin sah es
auch Kasanli als seine vornehmste Aufgabe
an, einen Überblick über die verschiedenen
musikalischen Stilrichtungen seiner Heimat
zu geben. In seinem Münchner Debüt als
Dirigent am 17. März 1897 – der ursprünglich angesetzte Termin wurde »wegen eingetretener Hindernisse« um zwei Tage verschoben – , stellte sich Kasanli sogleich mit
eigenen Kompositionen vor. Die »Münchner
Neuesten Nachrichten« würdigten seine
eingangs gespielte Symphonie in f-Moll als
durchaus ernstzunehmende Talentprobe.
»Sie zeigt nicht nur, daß der junge Mann
vortreffliche Studien gemacht hat, sondern sowohl im Aufbau wie in der Ausgestaltung der fast durchweg edel empfundenen Themen und Melodien ein Beweis
wahrer Begabung ist. […] Der seine Werke
selbst dirigierende Komponist wurde nach
jedem Satze der vom Kaim-Orchester vortrefflich gespielten Symphonie durch verdienten starken Beifall geehrt.« Die Vokalbeispiele hingegen fanden deutlich weniger
Anklang. Daran konnten auch die »Hervor-
Russische Musik in München
39
Programm des letzten »Russischen Symphonie-Concerts« unter Leitung von Nikolaj von Kasanli
Russische Musik in München
40
rufungen« am Ende des Abends nichts ändern.
Zehn Monate später übernahm Kasanli die
zweite Hälfte eines Konzerts mit der »Königlichen Hofopernsängerin Emilie Herzog aus
Berlin«. Zunächst spielte das Orchester
nochmals die f-Moll-Symphonie, danach
Borodins »Steppenskizze aus Mittelasien«
und Balakirews »Ouvertüre über ein spanisches Marschthema«. In dem am 30. Dezember 1898 geleiteten »Russischen Symphonie-Concert« machte Kasanli noch auf
weitere Komponisten aus dem Umkreis des
sogenannten »Mächtigen Häufleins« wie
Sergej Ljapunow und Aleksandr Tanejew
aufmerksam. Balakirew war diesmal mit
der symphonischen Dichtung »Russia« vertreten, der Dirigent mit In­strumentationen
von zwei Klavierstücken von Franz Liszt
(»Sposalizio« und »Il Penseroso«) sowie
von Schuberts »Erlkönig«. Das Echo war
diesmal recht zwiespältig. »Es ist überhaupt mit der ganzen jung-russischen
Schule eine eigene Sache. Ihre Vertreter
bringen oft recht Interessantes, bei dem
aber vielfach mehr Absonderlichkeit, als
echte Originalität sich äußert.«
Dank Kasanlis Engagement kam es ein gutes Jahr später gar zu einem »Concert Michael Glinka gewidmet«. Zum ersten Mal
erklangen große Teile – »Fragmente« wie
es damals hieß – aus der Oper »Ruslan und
Ljudmila«, die trotz des Fehlens von Handlungsübersicht und der jeweiligen Szenentexte in der Konzerteinführung äußerst
positiv aufgenommen wurden. So meinten
die »Münchner Neuesten Nachrichten«,
dass die Bruchstücke durchweg interessant und reich an charakteristischen Stellen seien, »deren Wirkung durch eine sehr
farbenreiche Instrumentation gehoben
wird«. Die sehr detaillierte Besprechung
würdigte zudem die Leistung aller Mitwirkenden. »Das Kaim-Orchester hielt sich
sehr wacker, und Herr v. Kasanli, der mit
viel Schwung und Lebendigkeit dirigierte,
wußte das oft sehr komplizierte Ensemble
gut zusammenzuhalten, wenn auch viele
Momente […] zu stärkerer Wirkung hätten
gelangen können.«
Weitere Konzerte mit wiederum zum Teil
noch nicht gehörten Werken von Aleksandr
Dargomyschskij, César Cui und Nikolaj
Rimskij-Korsakow sowie von Balakirew, Borodin und Tanejew folgten, dann verließ
Kasanli die Residenzstadt München. Bis auf
Mussorgskij hatte er alle wichtigen Komponisten vorgestellt, einen Bogen gespannt von Glinka und Dargomyschskij als
den Vätern der russischen Tradition bis zu
den Protagonisten und Sympathisanten
des »Mächtigen Häufleins«, denen ja auch
Kasanli angehörte. Doch riss die Vorliebe
für das Russische nach seinem Weggang
nicht ab. Nun gab es Komponisten zu entdecken wie beispielsweise Anton Rubinstein, Modest Mussorgskij, Sergej Bortkjewitsch, Wasilij Kalinnikow, Nikolaj Lopatnikow, Anatolij Ljadow, Aleksandr Glasunow, Sergej Prokofjew, Eduard Schütt,
Aleksandr Skrjabin, Igor Strawinskij, Aleksandr Tscherepnin und Wladimir Vogel.
Noch bis zum Beginn der 30er Jahre wurden »Russische Abende« angesetzt, aber
keiner hatte sich so engagiert für die Musik
seines Landes eingesetzt wie jener heute
zu Unrecht vergessene Dirigent, Komponist und unermüdliche Organisator Nikolaj
von Kasanli. Am 23. Juli 1916 ist er in St.
Petersburg gestorben.
Russische Musik in München
41
Montag
14_12_2015 19 Uhr
1. Jugendkonzert
RICHARD WAGNER
Vorspiel zum 1. Aufzug von »Lohengrin«
SERGEJ RACHMANINOW
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3
d-Moll op. 30
ALEXANDER SKRJABIN
»Le Poème de l’Extase« op. 54
VALERY GERGIEV
Dirigent
DANIIL TRIFONOV
Klavier
Dienstag
15_12_2015 20 Uhr k4
RICHARD WAGNER
Vorspiel zum 1. Aufzug von »Lohengrin«
SERGEJ RACHMANINOW
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3
d-Moll op. 30
RICHARD STRAUSS
Symphonische Phantasie aus »Die Frau
ohne Schatten« op. 65
ALEXANDER SKRJABIN
»Le Poème de l’Extase« op. 54
VALERY GERGIEV
Dirigent
DANIIL TRIFONOV
Klavier
Sonntag
20_12_2015 11 Uhr
3. KAMMERKONZERT
Münchner Künstlerhaus am Lenbachplatz
»Philharmonische Weihnacht«
ARCANGELO CORELLI
Concerto grosso g-Moll op. 6 Nr. 8
»Weihnachtskonzert«
ANTONIO VIVALDI
Konzert für Streicher und Basso continuo
d-Moll RV 127
JOHANN SEBASTIAN BACH
Konzert für Cembalo, Streicher und Basso
continuo Nr. 5 f-Moll BWV 1056
CHARLES AVISON
Concerto grosso Nr. 6 D-Dur nach
Sonatensätzen von Domenico Scarlatti
ANTONIO VIVALDI
Konzert für zwei Violinen, Streicher und
Basso continuo a-Moll op. 3 Nr. 8 RV 522
CARL PHILIPP EMANUEL BACH
Symphonie G-Dur Wq 182 Nr. 1
(»Hamburger Symphonie«)
ANTONIO VIVALDI
Concerto für Streicher und Basso continuo
g-Moll RV 156
CHARLES AVISON
Concerto grosso Nr. 3 d-Moll nach
Sonatensätzen von Domenico Scarlatti
SRETEN KRSTIČ Violine
LUCJA MADZIAR Violine
CLÉMENT COURTIN Violine
NAMIKO FUSE Violine
WOLFGANG BERG Viola
THOMAS RUGE Violoncello
SHENGNI GUO Kontrabass
ROBERT SCHRÖTER Cembalo
Vorschau
42
Die Münchner
Philharmoniker
1. VIOLINEN
Sreten Krstič, Konzertmeister
Lorenz Nasturica-Herschcowici,
Konzertmeister
Julian Shevlin, Konzertmeister
Odette Couch, stv. Konzertmeisterin
Lucja Madziar, stv. Konzertmeisterin
Claudia Sutil
Philip Middleman
Nenad Daleore
Peter Becher
Regina Matthes
Wolfram Lohschütz
Martin Manz
Céline Vaudé
Yusi Chen
Helena Madoka Berg
Iason Keramidis
Florentine Lenz
2. VIOLINEN
Simon Fordham, Stimmführer
Alexander Möck, Stimmführer
IIona Cudek, stv. Stimmführerin
Matthias Löhlein, Vorspieler
Katharina Reichstaller
Nils Schad
Clara Bergius-Bühl
Esther Merz
Katharina Triendl
Ana Vladanovic-Lebedinski
Bernhard Metz
Namiko Fuse
Qi Zhou
Clément Courtin
Traudel Reich
BRATSCHEN
Jano Lisboa, Solo
Burkhard Sigl, stv. Solo
Julia Rebekka Adler, stv. Solo
Max Spenger
Herbert Stoiber
Wolfgang Stingl
Gunter Pretzel
Wolfgang Berg
Beate Springorum
Konstantin Sellheim
Julio López
Valentin Eichler
Yushan Li
VIOLONCELLI
Michael Hell, Konzertmeister
Floris Mijnders, Solo
Stephan Haack, stv. Solo
Thomas Ruge, stv. Solo
Herbert Heim
Veit Wenk-Wolff
Sissy Schmidhuber
Elke Funk-Hoever
Manuel von der Nahmer
Isolde Hayer
Sven Faulian
David Hausdorf
Joachim Wohlgemuth
Das Orchester
43
KONTRABÄSSE
Sławomir Grenda, Solo
Fora Baltacigil, Solo
Alexander Preuß, stv. Solo
Holger Herrmann
Stepan Kratochvil
Shengni Guo
Emilio Yepes Martinez
Ulrich Zeller
Thomas Hille
Alois Schlemer
Hubert Pilstl
Mia Aselmeyer
TROMPETEN
Guido Segers, Solo
Bernhard Peschl, stv. Solo
Franz Unterrainer
Markus Rainer
Florian Klingler
FLÖTEN
POSAUNEN
Michael Martin Kofler, Solo
Herman van Kogelenberg, Solo
Burkhard Jäckle, stv. Solo
Martin Belič
Gabriele Krötz, Piccoloflöte
Dany Bonvin, Solo
David Rejano Cantero, Solo
Matthias Fischer, stv. Solo
Quirin Willert
Benjamin Appel, Bassposaune
OBOEN
PAUKEN
Ulrich Becker, Solo
Marie-Luise Modersohn, Solo
Lisa Outred
Bernhard Berwanger
Kai Rapsch, Englischhorn
Stefan Gagelmann, Solo
Guido Rückel, Solo
Walter Schwarz, stv. Solo
KLARINETTEN
Alexandra Gruber, Solo
László Kuti, Solo
Annette Maucher, stv. Solo
Matthias Ambrosius
Albert Osterhammer, Bassklarinette
FAGOTTE
Lyndon Watts, Solo
Sebastian Stevensson, Solo
Jürgen Popp
Jörg Urbach, Kontrafagott
HÖRNER
Jörg Brückner, Solo
~eira, Solo
Matias Pin
Ulrich Haider, stv. Solo
Maria Teiwes, stv. Solo
Robert Ross
SCHLAGZEUG
Sebastian Förschl, 1. Schlagzeuger
Jörg Hannabach
HARFE
Teresa Zimmermann
CHEFDIRIGENT
Valery Gergiev
EHRENDIRIGENT
Zubin Mehta
INTENDANT
Paul Müller
ORCHESTERVORSTAND
Stephan Haack
Matthias Ambrosius
Konstantin Sellheim
Das Orchester
44
IMPRESSUM
BILDNACHWEISE
TITELGESTALTUNG
Herausgeber:
Direktion der Münchner
Philharmoniker
Paul Müller, Intendant
Kellerstraße 4
81667 München
Lektorat:
Stephan Kohler
Corporate Design:
HEYE GmbH, München
Graphik:
dm druckmedien gmbh
München
Druck:
Color Offset GmbH
Geretsrieder Str. 10
81379 München
Abbildungen zu Richard
Wagner: Herbert Barth /
Dietrich Mack / Egon Voss,
Wagner – Sein Leben, sein
Werk und seine Welt in
zeitgenössischen Bildern
und Texten, Wien 1975.
Abbildungen zu Richard
Strauss: Strauss Archiv
München (SAM), Sammlung
Stephan
Kohler.
Abbildungen zu Dmitrij
Schos­takowitsch: Abbildungen zu Dmitrij Scho­s­
takowitsch:
Krzysztof
Meyer, Schostakowitsch –
Sein Leben, sein Werk,
seine Zeit, Bergisch-Gladbach 1995; Jürgen Fromme (Hrsg.), Dmitri Schostakowitsch und seine Zeit
– Mensch und Werk (Ausstellungskatalog), Duisburg 1984; Detlef Gojowy,
Dimitri Schostakowitsch –
mit Selbstzeugnissen und
Bilddokumenten
dargestellt, Reinbek bei Hamburg 1983; Lothar Seehaus, Dimitrij Scho­sta­­ko­
witsch – Leben und Werk,
Wilhelmshaven 1986; Solomon Wolkow, Stalin und
Schostakowitsch – Der
Diktator und der Künstler,
Berlin 2004. Sonstige Abbildungen:
Historisches
Archiv der Münchner Philharmoniker. Künstlerphotographie (Gergiev): Marco Borggreve.
»Das Plakat zeigt den Moment in den Wochen vor
der Uraufführung von
›Siegfried-Idyll‹, in dem
Cosima Wagner unsicher
und traurig scheint, weil
sie Richard Wagners heimliche Arbeit an dem Stück
nicht deuten konnte. Auch
sonst ist bekannt das
Richard Wagner kein einfacher Mensch war und
bis heute für Kontroversen sorgt. Deshalb wurde
das Plakatmotiv auch
mehr melancholisch als
fröhlich gestaltet, da die
Ehe mit ihm sicher keine
leichte war.« (Sebastian
Lechner, 2015)
TEXTNACHWEISE
Susanne Stähr, Sigrid
Neef und Gabriele E.
Meyer schrieben ihre Texte als Originalbeiträge für
die Pro­
grammhefte der
Münchner Philharmoniker.
Stephan Kohler stellte
dem Orchester seine Texte
zum Abdruck in diesem
Programmheft zur Verfügung; er verfasste auch
die lexikalischen Werkangaben und Kurzkommentare zu den aufgeführten
Werken. Künstlerbiographie (Gergiev): Nach Agen­­turvorlagen. Alle Rechte
bei den Autorinnen und
Autoren; jeder Nachdruck
ist seitens der Urheber
genehmigungs- und kostenpflichtig.
Impressum
DER KÜNSTLER
Sebastian Lechner (*1979)
lebt und arbeitet in München. Sein Werk vereint,
dass sich seine Arbeiten
mit der Medienlandschaft
und den von ihr generierten Bildern auseinandersetzen. Der rohe Stil der
Gewaltszenarien und düsteren Bildstimmungen ist
geprägt von frühen Splatterfilmen der 80er Jahre,
Comics und nicht zuletzt
auch von seiner Herkunft:
Sebastian Lechner stammt
aus einem Metzgerei­
betrieb.
Konzertkarte
25 | 50
G EIN
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Das Weihnachtsgeschenk,
das jeder gerne auspackt
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’15
’16
DAS ORCHESTER DER STADT
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