Diplomarbeit Juli 2014 - Arbeitskreis Musik und Bewegung / Rhythmik

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Anwendungsmöglichkeiten der Rhythmik
in der Behandlung von stotternden Kindern
unter Einbeziehung der 13 Therapiebausteine
nach Hansen und Iven
Diplomarbeit
von
Marei Lutzer
Anwendungsmöglichkeiten der Rhythmik
in der Behandlung von stotternden Kindern
unter Einbeziehung der 13 Therapiebausteine nach
Hansen und Iven
Diplomarbeit
im Rahmen des Studiengangs
Pädagogische Ausbildung/Rhythmik
der Fakultät Musik der Universität der Künste Berlin
vorgelegt von
Marei Lutzer
aus
Berlin
Gutachter: 1. Prof. Dorothea Weise
2. Prof. Dr. Karin Schumacher
Einleitung....................................................................................................................... S. 1
1. Sprachentwicklung
1.1 Sprache................................................................................................................. S. 4
1.2 Meilensteine der Sprachentwicklung
1.2.1 Vorgeburtliche Sprachentwicklung.............................................................. S. 6
1.2.2 Phonologisch-prosodische Sprachentwicklung........................................... S. 7
1.2.3 Lexikalische Entwicklung........................................................................... S. 7
1.2.4 Satzproduktion............................................................................................. S. 8
1.2.5 Pragmatische Kompetenz............................................................................ S. 9
1.3 Voraussetzungen für einen erfolgreichen Spracherwerb....................................... S. 9
2. Redestörungen
2.1 Begriffsklärung................................................................................................... S. 12
3. Stottern
3.1 Definition........................................................................................................... S. 14
3.2 Das Phänomen Stottern in der Geschichte und der Gegenwart......................... S. 15
3.3 Stottern als Krankheitsbild
3.3.1 Symptomatik............................................................................................. S. 17
3.3.2 Epidemiologische Daten........................................................................... S. 20
3.3.3 Differentialdiagnostik............................................................................... S. 21
3.3.4 Entwicklung.............................................................................................. S. 22
3.3.5 Prognose................................................................................................... S. 23
3.4 Faktoren, die im Zusammenhang mit Stottern beobachtet werden können....... S. 24
3.5 Stottermodell: Dynamisches Modell nach Hansen und Iven............................. S. 27
4. Therapie des Stotter-Syndroms
4.1 Logopädie – Eine Begriffsklärung..................................................................... S. 31
4.1.1 Behandlung nach den 13 Bausteinen therapeutischen Handelns
von Hansen und Iven............................................................................... S. 33
4.2 Musiktherapie.................................................................................................... S. 53
4.2.1 Musiktherapeutische Behandlung nach Gertrud Orff.............................. S. 56
4.3 Sprachheilpädagogische Rhythmik................................................................... S. 60
4.3.1 Behandlung stotternder Kinder nach Elstner.............................................. S. 64
5. Möglichkeiten der Therapie für stotternde Kinder durch Rhythmik nach den 13
Bausteinen von Hansen/Iven
5.1
Rhythmik – Geschichte und Arbeitsweise...................................................... S. 66
5.2
Kontaktaufnahme und Beziehungsaufbau...................................................... S. 68
5.3
Begriffe begreifen können.............................................................................. S. 71
5.4 Weiches, leichtes und langsameres Sprechen................................................. S. 74
5.5 Ausdehnung und Automatisierung der flüssigen Sprechanteile..................... S. 76
5.6
Konkrete und offene Auseinandersetzung mit Unflüssigkeiten
und Stottern..................................................................................................... S. 77
5.7
Stimme, Atmung und Entspannung................................................................ S. 79
5.8
Selbstaktualisierung und Kreativität............................................................... S. 81
5.9
Einstellungen und Selbstkonzept.................................................................... S. 84
5.10 Frustrationstoleranz........................................................................................ S. 85
5.11 Reduzierung der kommunikativen Verantwortung......................................... S. 86
5.12 Aufgreifen weiterer (Sprach-) Entwicklungsrückstände................................ S. 87
5.13 Transfer........................................................................................................... S. 88
5.14 Nachsorge und Beenden der Therapiestunden............................................... S. 89
Zusammenfassung und Ausblick............................................................................... S. 91
Literaturverzeichnis................................................................................................... S. 94
Anhang.......................................................................................................................... S. 97
Die Hieroglyphen auf dem Deckblatt sind entnommen aus: Natke 2005, S.1.
Einleitung
Vor einigen Jahren schrieb ich eine Hausarbeit zum Thema „Frühe Entwicklung von Musik und
Sprache“. Ich war begeistert von den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Untersuchungen, die
mit ungeborenen und neugeborenen Babies gemacht wurden und die belegen, dass Ungeborene
bspw. in der Lage sind, Silben voneinander zu unterscheiden oder aus der Schwangerschaft
bekannte Melodien auch nach der Geburt zu erkennen (siehe Kapitel 1.2.1). Ich wollte noch mehr
über Sprachentwicklung und Musik und Sprache erfahren.
In meinen Rhythmikklassen gab es immer wieder Kinder die stotterten und ich konnte
beobachten wie ich selbst, die anderen Kinder und das betroffene Kind damit umgingen, wenn ein
Wort immer wieder festklemmte. Tatsächlich empfand ich die Reaktionen darauf als sehr
beklemmend und ich hatte das Gefühl, dass alle (einschließlich mir) so taten „als wäre nichts
gewesen“, wobei hier ein für das betroffene Kind großes kommunikatives Problem vorlag.
Damals habe ich gedacht, es sei ein Tabu das Stottern anzusprechen. Nun weiß ich, dass gerade
das Schweigen darüber von den Betroffenen als besonders belastend empfunden wird und
dadurch das „Gespenst“ Stottern noch größer macht, als es ist.
Zusammen mit der Begeisterung für die Zusammenhänge von Musik und Sprache und deren
früher Entwicklung beim Menschen, dem Wunsch nach mehr Wissen über das Stottern und der
Neugier, ob und wie stotternden Kindern im Rhythmikunterricht geholfen werden kann, entstand
das Thema für diese Diplomarbeit.
Zuerst werde ich einen Überblick über die einzelnen Komponenten von Sprache geben, die
wiederum eine Rolle bei der Sprachentwicklung des Kindes spielen. Zwar sind die
Zusammenhänge zwischen Sprachentwicklung und Stottern bis zum heutigen Tag nicht geklärt
(wie so vieles, was das Stottern betrifft), dennoch werde ich die wichtigsten Phasen der
Sprachentwicklung vorstellen. Denn es ist eine Tatsache, dass sich die meisten Fälle beginnenden
idiografischen Stotterns im Alter von 2 bis 5 Jahren einstellen. In diesem Zeitraum ist die
Sprachentwicklung noch im Prozess.
Anschließend gebe ich einen Überblick über die Redestörungen, zu denen das Stottern gehört. Im
dritten Kapitel folgt ein Überblick über das Stotter-Syndrom. Obwohl wahrscheinlich jeder mit
dem Begriff „Stottern“ etwas anfangen kann, gibt es über dessen Ursachen erstaunlich wenig
gesichertes Wissen. Fest steht, dass nicht eine einzelne Ursache für die Entwicklung des Stotterns
verantwortlich gemacht werden kann, sondern mehrere Faktoren dazu beitragen. Hinzu kommt,
dass man davon ausgeht, dass bei jedem stotternden Menschen ein anderes Ursachengefüge das
Stottern ausgelöst haben könnte. Was Ursache und was Folge des Stotterns ist, lässt sich schwer
klären. Die Entstehung des Stotterns ist also nicht nur individuell von Mensch zu Mensch
1
verschieden, es kommen auch verschiedene verursachende Faktoren in Frage.
Um darzustellen, wie verschiedene Fachdisziplinen stotternde Kinder behandeln, stelle ich im
vierten Kapitel 3 Fachdisziplinen vor. Das sind die Logopädie, die Musiktherapie und die
Sprachheilpädagogische Rhythmik. In allen drei Disziplinen werde ich von jeweils einem
Vertreter Stundenbilder, Übungsansätze oder Therapiebausteine vorstellen, die einen Eindruck
über die jeweilige Vorgehensweise bei der Behandlung stotternder Kinder vermitteln sollen. In
der Logopädie werden die meisten Stotterpatienten behandelt. Auch die 13 Therapiebausteine von
Bernd Hansen und Claudia Iven, die eine zentrale Rolle in dieser Arbeit spielen, sind in der
selben Fachdisziplin verankert (vgl. Kapitel 4.1.1).
Die Musiktherapie hat sich im Bereich der Redestörungen besonders auf dem Gebiet des
Mutismus verdient gemacht. Im Kapitel 4.2.1 stelle ich die musiktherapeutische Behandlung nach
Gertrud Orff vor, die neben schwerbehinderten, oder mutistischen Kindern auch stotternde Kinder
behandelt.
Die Sprachheilpädagogische Rhythmik, die mit den Arbeitsprinzipien der Rhythmik und dem
Wissen der Sprachheilpädagogik arbeitet, war zwischen den 1960er bis 1990er Jahren in Literatur
und Praxis (besonders im österreichischen Raum) vertreten. In Kapitel 4.3.1 stelle ich ein
Konzept zur Behandlung von stotternden Kindern von Walter Elstner vor.
Im letzten Kapitel werde ich den Versuch unternehmen, die eben erwähnten 13 Therapiebausteine
mit den Prinzipien der Rhythmik anzureichern und Variationen zum vorhandenen Konzept von
Hansen und Iven zu entwickeln. Die Rhythmik bietet durch Musik, Bewegung und das
Improvisieren und Agieren in einer Gruppe zusätzliche unterstützende Maßnahmen in der
Behandlung von stotternden Kindern an, die in dieser Arbeit erarbeitet und aufgezeigt werden.
Dabei soll es nicht darum gehen, die Rhythmik in der Behandlung von stotternden Kindern
gleichzustellen wie die bewährte Logopädie oder die Musiktherapie. Das letzte Kapitel dieser
Arbeit ist vielmehr eine Sammlung an praktischen Ergänzungen bestehend aus Ansätzen der
rhythmisch-musikalischen Erziehung, die entlang der in Kapitel 4.1.1 vorgestellten Bausteine
präsentiert werden.
Mit dieser Arbeit möchte ich einen Beitrag dazu leisten, die Qualitäten der Rhythmik von einem
anderen Ausgangspunkt aus zu betrachten und hervorzuheben. Die Arbeit kann ebenfalls dabei
helfen, eine größere Sicherheit im Umgang mit stotternden Kindern im Unterricht zu erlangen.
Persönlich habe ich im Laufe dieser Arbeit Lust bekommen, auf Logopäden1 zuzugehen und
ihnen die Arbeitsweise der Rhythmik vorzustellen. Daraus könnte ein Rhythmikangebot
entstehen, was einmal wöchentlich mit den stotternden Kindern der Logopädie-Praxis, in
Ergänzung zur Sprachtherapie, stattfindet. Eine Einschätzung zu diesem Vorhaben gibt es im
Kapitel „Zusammenfassung und Ausblick“.
1 Bei allen Bezeichnungen, die auf Personen bezogen sind, meint die gewählte Formulierung beide
Geschlechter, auch wenn aus Gründen der leichteren Lesbarkeit die männliche Form geschrieben steht.
2
Aus diesen Vorüberlegungen ergeben sich für mich folgende Fragen:
1. In welchen Bereichen kann die Rhythmik im besonderen Maße dem stotternden Kind zu
Gute kommen?
2. Wo sind die Grenzen der Rhythmik in der Behandlung von stotternden Kindern?
3. Wie könnte eine Zusammenarbeit zwischen Logopäden und Rhythmikern aussehen?
3
1. Sprachentwicklung
1.1 Sprache
„Die Sprache ist ein System, das erlaubt, von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch zu
machen.“ (Grimm 1998, S. 705). Mit der wachsenden Fähigkeit, Sprache zu verstehen, zu
verarbeiten und sie zugleich als Mittel für eigene Absichten und Wünsche zu benutzen sowie als
Medium in der Interaktion mit anderen anzuwenden, kann das Kind in die menschliche Kultur
hineinwachsen und eine eigene gesellschaftliche und persönliche Identität entwickeln (vgl.
Grimm/Weinert 2008, S. 502). Beim Produzieren und Verstehen sprachlicher Ausdrücke sind
unterschiedliche Komponenten beteiligt. Dazu gehören die prosodische Komponente, die sich aus
den Eigenschaften der Tonhöhe und Länge von Sprachlauten zusammensetzt, die Morphologie,
die Phonologie, die Syntax, das Lexikon, der Sprechakt und auch die Konversationskomponente.
Man kann diese Komponenten als teilweise eigenständige Wissenssysteme betrachten, die jedoch
miteinander verbunden sind und parallel verarbeitet werden müssen. Während der
Sprachentwicklung müssen Kinder nicht nur die Regeln dieser einzelnen Komponenten erlernen,
sondern auch die Regeln ihres Zusammenspiels. Kinder lösen diese komplexe Aufgabe des
Spracherwerbs in einem Alter, in dem sie zu vergleichbar komplexen Leistungen in anderen
kognitiven Bereichen noch nicht in der Lage sind. Um diese Komplexität zu verdeutlichen,
werden die einzelnen Komponenten erläutert.
Die suprasegmentale oder auch prosodische Komponente bezieht sich auf sprachtypische
Intonationskonturen, Betonungsmuster sowie die rhythmische Gliederung. Sie kommt
beispielsweise dann zum tragen, wenn eine Frage durch eine ansteigende Sprachmelodie
gekennzeichnet ist. Die Organisation von Sprachlauten gehört zur phonologischen Komponente,
wobei bedeutungsunterscheidende Laute (Baum – Saum) als Phoneme bezeichnet werden. Das
Kind muss lernen, welche Lautklassen in seiner Muttersprache bedeutungsdiffenzierend sind. So
sind zum Beispiel die Buchstaben b/w in der deutschen Sprache, nicht aber im Spanischen
bedeutungsunterscheidend. Außerdem muss das Kind lernen nach welchen Regeln Phoneme
kombiniert werden dürfen. „Streichholzschachtel“ ist zwar im Deutschen eine mögliche
Lautkombination, jedoch im französischen oder englischen Sprachraum stellt dieses Wort den
Sprechenden vor eine nahezu unlösbare Aufgabe.
Die Morphologie beinhaltet die Regeln der Wortbildung, wobei ein Morphem als die kleinste
bedeutungstragende Einheit bezeichnet wird. Das Wort „Fische“ enthält beispielsweise zwei
Morpheme: zum Einen das Wort „Fisch“ und zum anderen das Pluralmorphem „-e“. Welche
Bedeutungskategorie in einer Sprache vom Sprecher morphologisch eingegrenzt werden muss,
variiert von Sprache zu Sprache. Im Deutschen muss die Anzahl, das Geschlecht, der Fall und die
Bestimmtheit berücksichtigt und entsprechend durch den Artikel gekennzeichnet werden
4
(der/den/dem Fisch). In der englischen Sprache hingegen muss beispielsweise nur das Merkmal
der Bestimmtheit markiert sein (the fish).
Eine Organisationsebene höher, nämlich auf der Ebene, auf der die Kategorien und Regeln, die
die Kombination von Wörtern zu Sätzen erlauben, steht die Syntax. So können beispielsweise
allein unterschiedliche Wortordnungen zu verschiedenen Bedeutungen führen: „Daniel telefoniert
mit Meike.“, „Meike telefoniert mit Daniel.“, „Telefoniert Daniel mit Meike?“ Besonders
deutlich wird der formale Charakter von Wortordnungsregeln, wenn man „Pseudosätze“ wie zum
Beispiel: „Die Murchin, die den Schlönki beplömmelt, mumpft.“ bildet. Obwohl sinnlos, ist er
auf der syntaktischen Ebene vollkommen fehlerfrei, im Gegensatz zu „schwimmen Fische
Wasser“. Es können sich auch syntaktische Mehrdeutigkeiten ergeben, wie zum Beispiel: „Das
Feiern der Mannschaft“ oder „Manche Tiere riechen gut.“ Hier sind jeweils zwei syntaktische
Interpretationen möglich. Beim ersten Beispiel kann sowohl die Mannschaft gemeint sein, die
selber feiert, oder aber die Mannschaft, die gefeiert wird. Das zweite Beispiel kann sich zum
einen darauf beziehen, dass manche Tiere die Fähigkeit besitzen gut riechen zu können, oder zum
anderen, dass man den Geruch des Tieres als angenehm empfindet. Das Kind muss lernen, die
inhaltliche Bedeutung solcher Sätze dem Kontext angemessen zu deuten.
Das Lexikon bezeichnet die sogenannte Wortsemantik, das heißt die Bedeutungsstruktur des
Wortschatzes. Viele Sprachen unterscheiden sich trotz Gemeinsamkeiten darin, welche
kategorialen Unterscheidungen lexikalisch (durch ein Wort) versprachlicht werden. Das wohl
bekannteste Beispiel hierfür wäre, dass es in der Sprache der Inuits 80 verschiedene Wörter für
„Schnee“ gibt. Aus dem Blickpunkt der Satzsemantik, also der Satzbedeutung, können sich
lexikalische Bedeutungen abhängig vom Kontext verschieben: „Mathe ist schwer“; „das
Mathebuch ist schwer“.
Das erworbene Wissen um prosodische, phonologische, morphologische, syntaktische und
lexikalisch-semantische Kategorien und Regeln bezeichnet man als linguistische Kompetenz.
Linguistisches Wissen allein ist jedoch nicht ausreichend, um Sätze auch kommunikativ und
kompetent in angemessenen Zusammenhängen zu verwenden. Neben dem Sprechakt, also dem
sprachlichen Handeln an sich, der für die meisten Sprachbehinderten das Hauptproblem darstellt,
ist die Konversationskomponente von Bedeutung. Aus entwicklungspsychologischer Sicht wird
durch den kommunikativen Gebrauch von Sprache die Struktur der jeweiligen Sprache peu á peu
erworben (vgl. Grimm/Weinert 2008, S. 504).
5
1.2 Meilensteine der Sprachentwicklung
1.2.1 Vorgeburtliche Sprachentwicklung
Das Kind wird in eine sprechende Umwelt hinein geboren. Es hört dann nicht mehr vornehmlich
die Stimme und Sprache der Mutter, sondern auch die von Geschwistern, anderen Leuten, Radiooder Fernsehsprechern. Der Säugling hat nun die Aufgabe, aus der gehörten Sprache Wörter zu
isolieren und mit Bedeutungen zu verknüpfen und muss erkennen, in welcher Weise Wörter in
Sätzen verbunden sind. Darüber hinaus muss er etwas über die Situationsabhängigkeit des
Sprachgebrauchs erfahren.
Schon lange vor der Geburt nimmt der Fötus Sprache, Musik und Geräusche wahr. Er lernt sogar
schon im Bauch der Mutter den Klang der mütterlichen Sprache und Stimme kennen und
unterscheiden.
Bewiesen
werden
konnte
dies
mit
Hilfe
einer
Methode
aus
der
Tierverhaltensforschung. Mit sogenannten Gewohnheitsexperimenten, auch HabituierungsDishabituierungs-Paradigma genannt, wurde beispielsweise untersucht, ob Hunde in der Lage
sind, Dreiecke von Vierecken zu unterscheiden. Man maß die Gehirnströme eines Hundes mittels
EEG und zeigte ihm dabei ca. 15 mal hintereinander ein Dreieck. Je öfter der Hund das Dreieck
gesehen hatte, desto kleiner wurden die Kurven des EEGs. Zeigte man ihm dann ein Viereck,
vergrößerten sich die Kurven sofort. Der Hund bemerkte also offenbar den Unterschied (vgl.
Spitzer 2002, S. 151f.). Überträgt man dieses Verfahren auf die Säuglings- und
Kleinkindforschung, kann man mithilfe von Puls und Kindsbewegungen im Mutterleib die
Reaktionen des Ungeboren auf Reize überprüfen. So fand man beispielsweise heraus, dass
Ungeborene in der 36. Schwangerschaftswoche in der Lage sind, zwei unterschiedliche
Lautfolgen zu erkennen. Spielte man den ungeborenen Kindern alle 3,5 Sekunden über
Lautsprecher die Lautfolge „ba-bi-ba“ vor, so reagierten sie zunächst mit Veränderungen des
Pulsschlages und Bewegungen. Diese Reaktion nahm bei wiederholtem Abspielen ab. Drehte
man dann nach 16 Wiedergaben die Lautfolge in „bi-ba-bi“ um, so reagierten die Ungeborenen
erneut mit vermehrten Bewegungen und erhöhtem Puls. Sie bemerkten offenbar den Unterschied
(vgl. a.a.O., S.152).
Wissenschaftler gehen davon aus, dass Ungeborene schon vor der Geburt hören und lernen, weil
dadurch neuronale Verbindungen gebildet und ausgebaut werden (vgl. a.a.O., S. 152).
Sensorische Verarbeitungssysteme entwickeln sich besser, wenn sie stimuliert werden. Das hat
zur Folge, dass die richtigen neuronalen Verbindungen in ausreichendem Maße geknüpft werden.
Mit dem während der Schwangerschaft Gelernten, wie beispielsweise einer Melodie oder dem
Gefühl für die Sprachmelodie, können Neugeborene beispielsweise schneller ihre Muttersprache
erlernen. Sie fangen nach der Geburt nicht 'von ganz unten an', sondern sind schon im Mutterleib
einen kleinen Teil auf der Leiter der Sprachentwicklung 'emporgestiegen'.
6
1.2.2 Phonologisch-prosodische Entwicklung
Ob sich Neugeborene auch noch an bestimmte Melodien oder Stimmen aus der Schwangerschaft
erinnern können, war lange nicht erforscht. Mittlerweile ist nachgewiesen, dass vorgeburtliche
Erfahrungen sogar zu einer Präferenz für vertraute Klänge führen (vgl. Hannon/Schellenberg
2008, S. 132f.). Man fand heraus, dass die Mutterstimme gegenüber anderen Stimmen bevorzugt
wird, ebenso wie
die Muttersprache anderen Sprachen gegenüber oder eine aus der
Schwangerschaft bekannte, vorgelesene Geschichte gegenüber einer neuen Geschichte bevorzugt
wird (vgl. Spitzer 2002, S. 155). Auch konnten Präferenzen für Lieder, die während der
Schwangerschaft
von
der
Mutter
gesungen
wurden,
festgestellt
werden
(vgl.
Hannon/Schellenberg 2008, S. 133).
Diese Experimente belegen, dass Säuglinge nicht nur von Geburt an, sondern bereits
vorgeburtlich empfänglich für prosodisch-phonologische Regularitäten sind. Innerhalb des ersten
Lebensjahres bauen sie ein differenziertes Wissen über die prosodisch-phonologischen
Kategorien und Regelmäßigkeiten ihrer Muttersprache auf.
Die produktive phonologische Entwicklung im ersten Lebensjahr ist im Vergleich zu den
rezeptiven Fähigkeiten der Säuglinge noch recht eingeschränkt. Im Wesentlichen kann man die
produktiv-phonologische Entwicklung in vier Schritte gliedern.
Im Alter zwischen 6 und 8 Wochen beginnt der Säugling zunächst zu gurren, dann zwischen dem
2. und 4. Lebensmonat setzt das Lachen ein und es werden zunehmend mehr Laute wie /a/ oder /i/
produziert (vgl. Grimm/Weinert 2008, S. 509f.).
Zwischen dem 6. und 9. Lebensmonat wird das dritte Stadium erreicht. Das sogennante
Lallstadium zeichnet sich dadurch aus, dass Silben wiederholt werden und das Lallen entsteht.
Die Produktion solcher Konsonant-Vokal-Verbindungen, die oft eine der Muttersprache ähnliche
Satzmelodie aufweist, wird als Hinweis für die zunehmende Kontrolle über den Sprechvorgang
betrachtet (vgl. a.a.O., S. 510). Die Art der Lautproduktion in diesem Stadium kann als Hinweis
für spätere Störungen der Sprachentwicklung dienen. Säuglinge, die deutlich weniger
unterschiedliche Konsonaten und weniger Sequenzen mit mehreren Silben als andere Säuglinge
erzeugen, haben später auch wesentlich schlechter in Sprachentwicklungstests im Vorschulalter
abschnitten. (vgl. a.a.O., S.510). Zwischen dem 10. und 14. Lebensmonat führt die phonologische
Entwicklung zur Produktion von ersten Wörtern.
1.2.3 Lexikalische Entwicklung
Zum Zeitpunkt der ersten Wortproduktionen wird geschätzt, dass der rezeptive Wortschatz
durchschnittlich etwa 60 Wörter umfasst. Zu diesem Zeitpunkt ist der Aufbau des Wortschatzes
jedoch noch vergleichsweise langsam (vgl. Grimm/Weinert 2008, S. 510). Haben Kinder erst
einmal die magische 50-Wort-Grenze überwunden, was um den 18. Lebensmonat geschieht,
erfolgt nun ein sehr schnellerer Zuwachs von Wörtern. Für sie ist es nun nicht mehr so
7
vordergründig, Informationen über bestimmte Ereignisse oder Objekte mitzuteilen, sondern
vielmehr verfolgen sie nun das Ziel, alle Objekte, die sie sehen, benennen zu können. Dieses
Verhalten beruht auf ihrer Erkenntnis, dass alles einen Namen hat (vgl. a.a.O., S. 510). Haben
Kinder mit 24 Monaten noch nicht die 50-Wort-Grenze überschritten ('late Talker'), so besteht ein
erhöhtes Risiko eine bleibende Störung der Sprachentwicklung mit beträchtlichen Folgen für die
kognitive und psychosoziale Entwicklung auszubilden (vgl. a.a.O., S. 511). Können Kinder ca.
100-200 Wörter sprechen, kommen dann vermehrt Verben und Adjektive hinzu und es entstehen
erste Satzbildungen. Mit ungefähr 28 Monaten und einem Wortschatzumfang von ca. 400
Wörtern finden zunehmend Funktionswörter Verwendung.
Kinder neigen dazu im Zuge ihrer Wortschatzerweiterung sogenannte Übergeneralisierungen und
Überdiskriminierungen vorzunehmen (vgl. a.a.O., S. 511). Beispielsweise verwenden sie das
Wort „Katze“ für alle Tiere mit vier Beinen (Übergeneralisierung). Ein Beispiel für eine
Überdiskriminierung wäre, wenn das Kind nur eine ganz bestimmte Spielzeugente als Ente
bezeichnet und lebendige Enten als solche nicht erkennt.
Daraus kann man ableiten, dass Kleinkinder zunächst ein unvollständiges Wortverständnis haben.
1.2.4 Satzproduktion
Wenn Kinder beginnen Wortkombinationen zu benutzen, markiert dies den Beginn der
produktiven Grammatik. Ungefähr um den 18. Monat herum vollziehen Kinder diesen
Entwicklungsschritt. Zwei- und Dreiwortäußerungen sind dadurch gekennzeichnet, das bestimmte
Satzelemente ausgelassen werden, wie Artikel, Hilfsverben sowie Funktionswörter. Es entstehen
Wortkombinationen wie „Mama Arm“, „mehr Saft“ oder „Papa schläft“. Sie sprechen über das,
was sie unmittelbar interessiert und wozu sie kognitiv in der Lage sind. Kinder auf dieser
sprachlichen Entwicklungsstufe müssen schon ein Gespür für richtige Wortstellungen besitzen
(vgl. Grimm/Weinert 2008, S. 517), was folgende Beispiele belegen. So setzen sie zum Beispiel
nie Adjektive vor Pronomen und sagen „schnell der“ oder „klein das“, sondern „der schnell“ und
„das klein“. Auf der anderen Seite sagen sie jedoch auch „großer Hund“ und nicht „Hund
großer“. Sprachtentwicklungsgestörte Kinder jedoch verletzen Wortregeln oftmalig und haben
sehr lange große Schwierigkeiten richtige und wandelbare Wortordnungen zu verinnerlichen.
(vgl. a.a.O., S. 517).
Mit ungefähr zweieinhalb Jahren können Kinder Sätze mit mehreren Phrasen bilden und ca.
eineinhalb Jahre später haben sie die hauptsächlichen Satzkonstruktionen ihrer Muttersprache
inne. Sprachliches Wissen, dass sie sich bisher angeeignet haben, wird neu strukturiert, ergänzt,
überschrieben und geordnet2.
2 Es gibt Hinweise, dass sich Sprechunflüssigkeiten bei bestimmten Stufen der Sprachentwicklung
häufen. Z.B. wenn Kinder versuchen komplexere Satzstrukturen zu benutzen, bzw. wenn sie diese
beherrschen und beginnen diese Abläufe zu automatisieren (vgl. Natke 2005, S. 42). Jedoch ist das
Ausmaß an Wechselwirkungen zwischen Stottern und der Sprachentwicklung wegen fehlender Daten
8
1.2.5 Pragmatische Kompetenz
Die pragmatische Kompetenz umfasst den Erwerb von Fähigkeiten wie den situations- und
kontextadäquaten Gebrauch von Sprache. Das beinhaltet ebenso den Aufbau soziokulturellen
Wissens und die Erkenntnis, dass andere ebenfalls Gefühle und Bedürfnisse haben.
Im Alter von acht bis zehn Monaten beginnen Kinder mit Hilfe von Gesten, anderen ihre
Abischten mitzuteilen. Möchte es einen Gegenstand haben, wandert sein Blick vom Gegenstand
zur Mutter. Ab ungefähr dem elften Lebensmonat zeigt das Kind dann mit dem Arm in Richtung
des gewollten Gegenstandes. Zwischen dem 16. und 22. Monat schließlich, kann das Kind seinen
Intentionen ersten sprachlichen Ausdruck verleihen. So ist es in der Lage, Frage zu beantworten:
„Wo ist die Katze?“ - „Da.“ und kann selbst Informationen einholen: „Papa?“. 30 Monate alte
Kinder können dann bis zu 20 zusammenhängende Äußerungen produzieren.
Bis heute konnte keine Theorie gefunden werden, die den komplexen Ablauf des Spracherwerbs
lückenlos erklären kann. Fragen, wie das Kind abstraktes Wissen erwerben kann, das ihm nicht
direkt angeboten wird oder wie das Kind auf dem Weg zum Spracherwerb ganz bestimmte Fehler
nicht macht, sind noch offen. Einig sind sich jedoch die Sprachforscher darin, dass das Kind für
den Spracherwerbsprozess vorbereitet ist, die Sprache humanspezifisch ist und eine biologische
Basis hat und ohne eine sprachliche Umwelt der Erwerbsprozess unmöglich wäre (vgl.
Grimm/Weinert 2008, S. 522).
Schließlich sind Kinder mit ungefähr acht Jahren in der Lage nicht nur ihre Muttersprache korrekt
zu gebrauchen, sondern auch bewusst über ihre Sprache zu reflektieren und Sprachregularitäten
zu erklären (vgl. a.a.O., S. 519f.).
Diesen struktursuchenden und strukturbildenden Prozess des Spracherwerbs, in dessen Verlauf
sechs teilweise eigenständige Regelsysteme erlernt werden, vollbringt das Kind in einem frühen
Stadium der allgemein-kognitiven Entwicklung.
1.3. Voraussetzungen für einen erfolgreichen Spracherwerb
Neben kognitiven Kompetenzen sind sozial-kognitive und sozial-kommunikative Kompetenzen
wichtige Voraussetzungen für einen erfolgreichen Spracherwerb.
Kognitive Kompetenzen beinhalten die Entwicklung von Fähigkeiten um Zusammenhänge zu
erkennen und diese entsprechend zu nutzen, die Notwendigkeit eines leistungsfähigem
bisher noch hypothetisch (vgl. Sandrieser/Schneider 2008, S. 30ff.). Sandrieser und Schneider halten
weiterhin fest: “Es gibt eine Untergruppe von stotternden Kindern, die Besonderheiten in der
Sprachentwicklung aufweist. Es ist denkbar, dass eine verzögerte oder abweichende Sprachentwicklung
auslösend oder aufrechterhaltend wirkt. Das gleiche gilt für eine ungewöhnlich schnelle
Sprachentwicklung. Umgekehrt kann auch Stottern einen negativen Einfluss auf den weiteren Verlauf
der Sprachentwicklung haben, wenn das Kind eine negative Einstellung zum Sprechen gewinnt. [...]“
(Sandrieser/Schneider 2008, S. 36). Weitere mögliche Ursachen und Wechselwirkungen zwischen
Lernprozesen, Umwelt und Selbstwahrnehmung sind in Kapitel 3.4 dargestellt.
9
Gedächtnissystems und gut entwickelter auditiver Fähigkeiten. Es genügt jedoch nicht, dass das
Kind das Sprachangebot verarbeitet und speichert. Es muss auch die zugrunde liegenden
Regularitäten abstrakt ableiten können. Das ist möglich, da Säuglinge – wie bereits beschrieben –
von Anfang an besonders empfänglich für die prosodisch-phonologischen Strukturen im
Sprachangebot sind (vgl. Grimm/Weinert 2008, S. 528). Wenn Kinder noch nicht mal ein Jahr alt
sind, haben sie nicht nur den phonologischen Bestand ihrer Muttersprache, sondern auch die
Regeln ihrer Verbindung abgeleitet. Darüber hinaus beachten sie vor allem solche Merkmale der
Prosodie, die Hinweise auf syntaktisch relevante Spracheinheiten und Phrasenstrukturen geben.3
Es ist jedoch zu betonen, dass der Erwerb der Sprache keine einfache Folge der kognitiven
Entwicklung ist. So beispielsweise geistig retardierte Kinder erstaunliche sprachliche
Kompetenzen ausbilden. Laut Grimm und Weinert lassen sich keine generellen Zusammenhänge
zwischen dem kognitiven und dem sprachlichen Entwicklungsstand nachweisen (vgl. a.a.O., S.
527). Dafür spricht auch der Zeitpunkt, in dem Kinder den Erwerb der Sprache vollführen, denn
zu vergleichbaren anderen Fähigkeiten sind sie (noch) nicht in der Lage.
Bei der Ausbildung sozial-kognitiver Kompetenzen spielen beispielhaft die Episoden geteilter
Aufmerksamkeit, die die Mutter (im Sinne der vordergründigen Bezugsperson zu verstehen) mit
ihrem Säugling verbringt eine wichtige Rolle. Von Beginn an sind Säuglinge am bewegten
Gesicht und dem stimmlichen Ausdruck interessiert. Grimm fand nun heraus, dass je häufiger ein
gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus besteht, Mutter und Kind „Zwiesprache“ halten, desto höher
ist
der
produktive
Wortschatz
im
Alter
von
21
Monaten.
Beim
gemeinsamen
Aufmerksamkeitsfokus imitiert die Mutter den Singsang des Babys und auch das Neugeborene
orientiert sich an der Sprechmelodie der Mutter. Es kommen auch Gesten zum Einsatz die
wiederum von beiden Seiten imitiert werden. Die Verwendung von Gesten, Imitation und die
Aufmerksamkeitszentrierung
selbst
sind
wichtige
Grundbausteine
für
sozial-kognitive
Fähigkeiten (vgl. a.a.O., S. 529).
Sozial-kommunikative Aktionen sind wichtig, da das Kind seine Fähigkeiten nur durch Interaktion
mit Lernerfahrungen ausbauen kann. Erwachsene scheinen dafür über ein kulturell weitgehend
unabhängiges „Programm“ zu besitzen, dass sie dem Alter des Babys entsprechend den
Bedürfnissen, Fähigkeiten und Präferenzen anpassen. Bis zum Alter von ungefähr zwölf Monaten
sprechen Erwachsene in Interaktion mit einem Baby in der Regel die sogenannte Ammensprache.
Sie ist gekennzeichnet durch die hohe Sprechtonlage und die Übertreibung prosodischer und
phonologischer Elemente, für die Babys ja besonders empfänglich sind. So wird beispielsweise
die Satzmelodie überspitzt, es werden lange Pausen zwischen den Phrasen gelassen und einzelne
Satzteile wiederholt. Man tritt in einen Dialog mit dem Kind und legt den Grundstein für den
wechselseitigen Prozess des Agierens und Reagierens.
3 Zum Beispiel hören Neugeborene einer Sprache länger aufmerksam zu, wenn die Pausen nach den Sätzen
und nicht mitten im Satz auftauchen. Es scheint so, als ob Babys schon ein Gefühl für die übliche Struktur
eines Satzes besitzen (vgl. Grimm/Weinert 2008, S. 509).
10
Im zweiten Lebensjahr kommt von den Bezugspersonen vermehrt die „stützende Sprache“
(a.a.O., S. 531) zum Einsatz, die vordergründig den Wortschatz des Kindes erweitern soll. Man
hat einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus, der so abgesteckt ist, dass er für das Kind in
einem überschaubaren Rahmen bleibt. Es kommen einfache Dialogstrukturen zum Einsatz mit
konstanter Reihenfolge der Äußerungen, wie zum Beispiel: „Oh, guck mal was da ist!“, „Was ist
das denn?“, „Ach, das ist ein Esel.“, „Ja, ein Esel ist das.“ Zunächst versteht das Kind nur wenig,
wird dann jedoch später auf die Frage mit einem Lallen antworten und noch etwas später mit
einem wortähnlichem Laut bis dann schließlich ein 'richtiger' Dialog mit einer 'richtigen Antwort'
folgt. Die folgende sogenannte 'lehrende Sprache' schließt sich ab ungefähr einem Alter von 24
Monaten an. Sie zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass kindliche Äußerungen wiederholt,
transformiert und erweitert werden. Hier ein Beispiel dafür:
„Kind: 'Hatter put tetangen'
Mutter: 'Ja, das ist kaputt gegangen.'
Kind: 'Und da kommt des alles ins Lastwagen'
Mutter: 'Jetzt kommt das alles in den Lastwagen'“ (Grimm/Weinert 2008, S. 532).
Die Mutter bestätigt den Inhalt der Äußerung des Kindes und korrigiert gleichzeitig die Aussage.
Doch nicht nur die drei eben beschriebenen Kompetenzen sind wichtig für einen erfolgreichen
Spracherwerb, sondern auch das soziale Umfeld des Kindes. In einem Versuch wurden 30
Elternpaare angeleitet, möglichst effektiv die kindliche Sprachproduktion durch anregende
Fragen in Zusammenhang mit der korrektiven Sprachlehrstrategie fördern zu können, wie eben
durch das Beispiel verdeutlicht wurde. Schon nach einem Monat zeigten die Kinder signifikant
bessere Sprachproduktionsfähigkeiten als die Kinder einer Kontrollgruppe. Noch neun Monate
später war dieser Vorsprung vorhanden (vgl. a.a.O., S. 533).
Ergänzend lässt sich sagen, dass die grundlegende Fähigkeit zum Spracherwerb sehr
widerstandsfähig ist. Selbst von Geburt an gehörlose Kinder entwickeln eigenständig
sprachähnliche, morphologisch und syntaktisch strukturierte Zeichensysteme. So konnte
beobachtet werden, dass gehörlose Kinder zum selben Zeitpunkt, zu dem auch hörende Kinder
die ersten Wörter sprechen, einzelne selbsterfundene Gesten zu machen. Wenn später die Zweiund Dreiwortäußerungen folgen würden, verbanden auch die gehörlosen Kinder Zeichen zu
Zwei- und Dreiwortzeichen und hielten dabei sogar der Altersgruppe entsprechende
Wortordnungen („Mama Arm“) ein (vgl. a.a.O., S. 525).
Das Ausmaß an Wechselwirkungen zwischen Stottern und der Sprachentwicklung ist wegen
fehlender Daten bisher noch hypothetisch (vgl. Sandrieser/Schneider 2008, S. 30ff.). Dennoch ist
es nicht verwunderlich, wenn im komplexen und vielschichtigen Verlauf des Spracherwerbs
Störungen auftreten, die vom einen Kind mehr, vom anderen Kind weniger kompensiert werden
können. Zum Zusammenhang von Stottern und Sprachentwicklung wird im Kapitel 3.4
eingegangen.
11
2. Redestörungen
2.1 Begriffsklärung
Bezeichnungen, Definitionen und Abgrenzungen von Fachausdrücken, die innerhalb der
Sprachbehindertenpädagogik gebraucht werden, sind uneinheitlich und unterliegen einem
ständigen Wandel. Redestörungen gehören laut Braun zum Oberbegriff der Sprachstörungen
(Braun 2002, S. 32). Eine Sprachstörung ist eine „individuell unterschiedlich verursachte und
ausgeprägte Unfähigkeit zum regelhaften, alters- und entwicklungsgerechten Gebrauch der
Muttersprache, die sich auf eine, mehrere oder alle Strukturebenen und Teilfunktionen des
Sprachsystems erstreckt und vorübergehend, langandauernd oder bleibend sein kann“ (Knura
1980, S.11). Eine Sprachbehinderung hingegen ist eine „durch die Sprachstörung bewirkte
Gefährdung oder Beeinträchtigung der Persönlichkeits- und Sozialentwicklung sowie der
seelisch-geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit“ (Braun 2002, S. 34). Knura bevorzugt
den
Begriff
der
Sprachbehinderung,
da
er
mögliche
Folgewirkungen
in
der
Persönlichkeitsentwicklung, im Sozial-, Lern- und Leistungsverhalten komplex umfasst, während
der Begriff der Sprachstörung lediglich den sprachspezifischen Funktionsausfall umschließt (vgl.
Braun 2002, S. 34).
Sprachbehinderung als schwerwiegende und langfristige sprachliche Beeinträchtigung ist zwar in
erster Linie Gegenstand der Medizin und/oder Psychologie, kann aber auch aus pädagogischer
Sicht relevant werden, wenn Erziehung und Bildung in ihren Möglichkeiten gefährdet werden.
Die Sprachbehindertenpädagogik (auch Sprachheilpädagogik) „bezeichnet die Theorie und Praxis
von Erziehung, Unterricht, und Therapie sprachbehinderter Menschen mit dem Ziel der
Rehabilitation in Familie, Beruf und Gesellschaft“ (Braun 2002, S. 34). Sie richtet sich an
sprachbehinderte Menschen, die in ihrer Kommunikationsfähigkeit, Lernfähigkeit und
Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt sind. Zu den Redestörungen, die auch als
kommunikativ reaktive Sprachstörung bezeichnet werden, zählen: Stottern, Poltern, Mutismus
und Logophobie (Sprechangst). Jedes dieser vier Störungen weist Syndromcharakter auf, denn sie
setzen sich aus gleichzeitig vorliegenden, verschiedenen Symptomen zusammen und die
jeweilige Symptomatik beeinträchtigt das gesamte Ausdrucksverhalten des Betroffenen (vgl.
Seidel 2003, S.20).
Charakteristisch für alle vier Störungsbilder ist die gestörte Rede, die in der Regel das
Kommunikations-
und
Sozialverhalten
sämtlicher
beteiligter
Kommunikationspartner
beeinträchtigt. Redestörungen sind eine Behinderung das Redeablaufs, die sich auf das
Sprechtempo, die Sprechmelodie, -dynamik und die Deutlichkeit der Sprache auswirkt.
Da auf das Stotter-Syndrom ausführlich in Kapitel 3 eingegangen wird, folgt hier nun eine kurze
12
Beschreibung der drei anderen Redestörungen Poltern, Mutismus und Logophobie.
Das Poltern äußert sich in einer schnellen, überstürzten und undeutlichen Sprechweise. Häufig
treten Repetitionen von Silben und Wörtern auf. Stottern und Poltern sind vermutlich verwandt,
da Poltern mit idiopathischem Stottern (vgl. Kapitel 3) erscheinen kann. Stottern soll sich aus
Poltern entwickeln können. Im Vergleich zum Stottern zeigen sich beim Poltern weniger Blocks
und Prolongationen. Sprechunflüssigkeiten gibt es eher auf der Laut-, als auf der Wortebene und
in der Regel ist das Störungsbewusstsein geringer (vgl. Natke 2005, S. 5).
Mutismus ist die Verweigerung des Sprechens bei bereits erworbener Sprechfähigkeit und dem
Fehlen von organischen Störungen. Man unterscheidet zwischen totalem und elektivem bzw.
selektivem Mutismus, je nachdem, ob mit niemandem oder nur mit ausgewählten Personen
gesprochen wird. Die Ursache ist unbekannt, doch werden Milieuschädigung, posttraumatische
Störung, Angststörung, frühkindliche Hirnschädigung und Intelligenzdefizite als mögliche
Einflussfaktoren gehandelt (vgl. a.a.O., S. 6). Mutismus tritt fast ausschließlich in früher Kindheit
auf. Wenn ein stotterndes Kind als Folge von Sprachbeeinträchtigungen bestimmte
Sprachsituationen ganz meidet, ist eine Verwechslung mit Mutismus möglich (vgl. a.a.O., S. 6).
Logophobie ist eine starke, unangemessene, überdauernde Angstreaktion in Situationen des
öffentlichen Sprechens, ohne dass ein realer Gefahr- oder Bedrohungsauslöser besteht. Bei
Betroffenen besteht Vermeidungs- oder Fluchttendenz, die sich individuell äußern kann. Ihr
äußeres Erscheinungsbild, abgesehen von der übermäßigen Angstreaktion, kann im Wesentlichen
durch die Krankheitszeichen der übrigen Redestörungen gekennzeichnet sein.
Generell gilt, dass die einzelnen Erscheinungsbilder der Redestörungen nicht isoliert auftreten,
sondern sich in der Symptomatik überschneiden und überlagern und so Mischformen entstehen
können (vgl. Seidel 2003, S. 21f.). So sollte die jeweilige Redestörung individuell und immer im
Zusammenhang mit Wechselwirkungen zu anderen den Erscheinungsformen betrachtet werden
(vgl. a.a.O., S. 22 ).
13
3. Stottern
3.1 Definition
Es gibt diverse Definitionsversuche um den Begriff „Stottern“ zu erfassen, doch ist es bisher noch
niemandem gelungen, das Stottern mit seiner Gesamtheit der vielfältigen Erscheinungsformen in
einer Definition abzudecken. Die Wirkungsweise und das Zusammenspiel der Vielzahl an
Faktoren, von denen der Beginn und der Verlauf des Stotter-Syndroms abhängig ist, sind bisher
kaum erforscht. Keine zwei Stotterer stottern auf die gleiche Art und Weise, die Ausprägungen
des Syndroms fallen individuell sehr unterschiedlich aus. Die Redestörung Stottern, auch
idiopathisches Stottern genannt, wird als eine Störung des Sprechablaufs verstanden, an deren
Entstehung somatische, psychische und interpersonelle Faktoren beteiligt sind.4
Enthält der Definitionsversuch eine Mutmaßung über die Verursachung des Syndroms, wird
dieser Versuch besonders kontrovers diskutiert, denn bis zum heutigen Tag weiß man nicht wie
das Stottern entsteht.
Die meist zitierteste Definition stammt von Marcel E.Wingate aus dem Jahre 1964:
The term „stuttering“ means:
1. (a) Disruption in the fluency of verbal expression, which is (b) characterized by
involuntary, audible or silent, repetitions or prolongations in the utterance of short speech
elements, namely: sounds, syllables, and words of one syllable. These disruptions (c)
usually occur frequently or are marked in charakter and (d) are not readily controllable.
2. Sometimes the disruptions are (e) accompanied by accessory activities involving the
speech apparatus, related or unrelated body structures, or stereotyped speech utterances.
These activities give the appearance of being speech-related struggle.
3. Also, there are not infrequently (f) indications or report of the presence of an emotional
state, ranging from a general condition of „excitement“ or „tension“ to more specific
emotions of a negative nature such as fear, embarassement, irritation, or the like. (g) The
immediate source of stuttering is some incoordination expressed in the peripheral speech
mechanism; the ultimate cause is presently unknown and may be complex or compound.
(aus: Natke 2005, S. 7)
Hier wird Stottern nicht als Symptom einer psychologischen oder physiologischen Grundstörung
verstanden, sondern als Erscheinungsbild. Wingate betrachtet Repetitionen und Prolongationen
als notwendig und hinreichend für die Diagnose von Stottern. Es scheint schwierig zu sein für den
Stotterer im Redefluss von einem Laut zum nächsten überzugehen. Deshalb bezeichnet Wingate
Stottern auch als „phonetic transition defect“ (Natke 2005, S. 8).
Natke
hebt hervor, dass ein Stotternder genau weiß, was er sagen will und erlebt die
Stotterereignisse als motorischen Kontrollverlust (vgl. a.a.O., S. 1)
Wie bereits erwähnt, existiert eine allgemein akzeptierte Definition nicht, daher finden die
4 Idiopathisches Stottern ist im Folgenden immer gemeint, wenn von Stottern die Rede ist. Es entwickelt
sich ganz ohne offensichtlichen Anlass in der Kindheit, im Gegensatz zu erworbenem Stottern (vgl. 3.3.3).
Es wird auch Balbuties genannt. Im Englischen ist es „stammering“, im Amerikanischen „stuttering“ und
im Französischen „bégaiement“.
14
Betrachtungen und Eingrenzungen der Redestörung Stottern auf symptomatologischer Ebene
statt.
3.2 Das Phänomen Stottern in der Geschichte und der Gegenwart
Das Stotter-Syndrom beschäftigt die Menschen schon sehr lange und lässt sich bis weit in die
Geschichte zurückverfolgen. Behandlungsansätze und Vermutungen über Ursachen trieben
merkwürdige bis grausame Therapieblüten. Hier sind ein paar Stationen genannt.
Abbildung 1 zeigt Hieroglyphen, die im antiken Ägypten für Stottern gestanden haben könnten
und Van Riper (vgl. Natke 2005, S.1) berichtet von einem 2500 Jahre alten Gedicht aus China, in
dem Stottern erwähnt wird.
Abbildung 1: Diese Hieroglyphen zeigen das altägyptische Wort «nijit», das «zögernd handeln»
bedeutet, mit einer Zusatzhieroglyphe rechts. Dadurch erhalten sie die Bedeutung «zögernd
sprechen»/«stottern» (aus: Natke 2005, S.1).
Demosthenes (382-322 v. Chr.) war der größte Redner Griechenlands und soll gestottert haben. Er
therapierte sich indem er durch das Vortragen langer Gedichte mit Steinen im Mund die
„Undeutlichkeit und das Anstoßen mit der Zunge“ beseitigte und eine „klare Aussprache“ (Natke
2005, S. 79) erzielte. Dazu schloss er sich mehrere Stunden täglich in einen unterirdischen Raum
ein. „Die Stimme habe er geübt, indem er bei raschem Lauf und beim Bergansteigen sprach und
Reden oder Verse mit aufs äußerste angespanntem Atem vortrug.“ (a.a.O., S. 79). Die
Entwicklung der Atmungskontrolle kann auf diese Versuche zurückgeführt werden (vgl. Seidel
2003, S. 24).
Hippokrates (460-377 v. Chr.) und Aristoteles (384.322 v. Chr.) prägten die Sichtweise, dass
Stottern durch eine Anomalie der Zunge hervorgerufen wird. Auch Hieronymus Mercurialis (16.
Jh.) vermutete dies und führte Stottern in manchen Fällen auf Austrocknung zurück und empfahl
eine Flüssigkeitszufuhr. In anderen Fällen wiederum war Kälte oder Feuchtigkeit schuld am
Stottern, sodass Wärme und austrocknende Substanzen verordnet wurden. Auch Sir Francis
Bacon (17. Jh.) machte die Kälte verantwortlich und empfahl mäßigen Weinkonsum (vgl. Natke
2005, S. 79).
Bereits 1769 propagierte Erasmus Darwin den weichen Stimmeinsatz und das Anhauchen und
betonte die Bedeutung von Transferübungen. Alexander M. Bell (Mitte des 19. Jh.), der den
15
Stotternden empfiehlt, ihren Atem mit
lauten Flüsterübungen zu schulen und Charles. C.
Kingsley, der in seine Therapie Atemübungen einschloss, sind weitere Vertreter der Behandlung
von Stotternden mit Atemübungen.
1817 bemerkte der französische Arzt Jacques Itard, dass die Behandlung des Stotterns noch nicht
aufgeklärter sei als 2000 Jahre zuvor (vgl. a.a.O., S. 80).
Grausamen Höhepunkt bildet die Behandlungsmethode des deutschen Arztes Johann Friedrich
Dieffenbach, der Stotternden keilförmige Stücke aus der Zungenwurzel entfernte, da er der
Annahme war, dass Stottern mit chronischen Verkrampfungen der Zunge und Muskeln im
Kehlkopfbereich zusammenhängt. Diese Eingriffe führten nur zu einem kurzfristigen Erfolg.
Colombat de L'Isère (19. Jh.), der auch als Vater des Metronomsprechens gesehen wird, stellte
verschiedene Geräte aus Silber und Elfenbein her, die im Mundraum angebracht wurden und zu
flüssigem Sprechen führen sollten.
Parallel zu den erfolglosen medizinischen Behandlungen im 19. Jahrhundert wurde die
Anwendung von Sprachübungsbehandlungen forciert. Hervorzuheben ist eine Schrift von dem
Pädagogen Hermann Gutzmann mit dem Titel „Das Stottern und seine gründliche Beseitigung
durch ein methodisch geordnetes und praktisch erprobtes Verfahren“ (Seidel 2003, S. 25) die
Anstoß dafür gab, Sprachheilkurse für Stotterer zu schaffen. Schon damals beschäftigte er sich
mit dem positiven Einfluss des Singens auf Stotterer (vgl. a.a.O., S. 25). Ergänzt wurde dieser
Ansatz von Albert Liebmann (1900). Er schuf ein umfangreiches psychologisches Konzept, das
später als erster Ansatz für die erste ganzheitliche Sprachübungsbehandlung bezeichnet wurde. Er
setzte den Schwerpunkt auf auf die Beseitigung der Sprechangst sowie auf das Ablenken von der
eigenen Sprache (ebd.).
In den 1920er Jahren ging dann eine Schwerpunktverlagerung in der Theorie und Therapie des
Stotterns von statten. Bisher gab es in der Mehrzahl Therapieansätze, die sich gegen das Stottern
an sich wendeten und nicht die dem Stottern zu Grunde liegenden Angst. Es entwickelten sich
nach und nach psychotherapeutische Verfahren, die ihren Fokus auf die Sprechangst setzten (wie
Albert Liebmann schon 1900). Über Schüler von Sigmund Freud fand die psychoanalytisch
orientierte Stottertherapie vermehrten Gebrauch, konnte sich jedoch nicht durchsetzen, da ihre
Erfolge nicht überzeugend genug waren (vgl. Seidel 2003, S. 25f.).
1969 wurde der logopädische Rhythmus zur Behandlung von Stotterern von Maschka entwickelt
(siehe Kapitel 4.3).
In den siebziger Jahren befasste sich Van Riper mit Entspannung und rhythmischen Sprechen zur
Stotterbehandlung. Da dies keine neue Art der Behandlung ist, bezeichnete er seine Methode als
eine der ältesten und universellsten Behandlungsformen. Hauptmerkmal ist die Veränderung oder
Regulierung der Sprechgeschwindigkeit mithilfe eines Metronoms im Rahmen einer
Verhaltenstherapie.
In den 1970er bis 1990er Jahren wurde ein Wandel in den Theorievorstellungen über die
16
Entstehung des Stotterns vollzogen. Faktoren, die man bisher für Auslöser hielt, wurden abgelöst
von organischen Bedingungen.
Gegenwärtig konzentrieren sich die Forschungen zum einen auf den humangenetischen und
neurophysiologischen Bereich und zum anderen auf die Theorie, dass „es sich im Wesentlichen
um eine Verabeitungsstörung5 bei der Umstellung willkürlicher Vorgänge der Sprechplanung auf
den automatisierten Ablauf handelt.“ (Ochsenkühn/Thiel/Ewerbeck 2010, S. 21). Im Bereich der
Humangenetik wird die Vermutung gestärkt, dass beim Stottern eine körperliche und genetische
Veranlagung zugrunde liegen könnte. Es konnten in den letzten Jahren gehäuft Chromosomen
isoliert werden, die als Dispositionsort für das Stottern in den Fokus rücken. Die
Neurowissenschaftler fanden, dass bei stotternden Menschen andere Hirnareale aktiviert oder
deaktiviert sind, als bei nicht stotternden Personen.6
3.3 Stottern als Krankheitsbild
3.3.1 Symptomatik
Charles van Riper, der als Begründer der amerikanischen Logopädie gilt, nahm eine
Klassifikation der Stottersymptomatik in 'overt features' und 'covert features' vor. Overt features
meinen die von der Umwelt unmittelbar hör- bzw. sichtbaren Symptome und covert features
beziehen sich auf Gefühle und Einstellungen, die vom Zuhörer nicht zwangsläufig
wahrgenommen werden (vgl. Natke 2005, S. 15).
Die äußeren Symptome sind extrem variabel. Von kaum wahrnehmbar bis hin zu extrem auffällig
kann das Erscheinungsbild beim Stottern variieren. Es hat auch den Anschein, als würde jeder
Stotternde sein eigenes Repertoire an Stotter-Symptomen besitzen. Die Schwere der
Symptomatik eines Einzelnen kann stark schwanken und sich nach und nach verändern. Stottern
ist situationsabhängig und von wechselnder Intensität. Es liegt kein Problem der Erzeugung der
Laute zu Grunde, sondern das Phänomen tritt grundsätzlich nur im Redefluss auf.
Das Kernverhalten des Stotterns besteht aus Repetitionen, Prolongationen und Blocks (vgl.
Tabelle 1, S. 18). Alle Stotternden weisen diese Symptome in unterschiedlicher Ausprägung auf.
Repetitionen sind im Sinne des Stotter-Syndroms Wiederholungen von einsilbigen Wörtern
(„laut-laut-laut“), Silben („la-la-laut“) und Lauten („l-l-laut“). Die Wiederholung von
mehrsilbigen Wörtern gilt nicht als Stottern. Prolongationen sind hörbare Unterbrechungen des
Redeflusses, bei denen die Lautproduktion oder der Atemfluss fortgesetzt werden („fffffix“,
„aaaaaanders“). Der Zuhörer nimmt sie schon bei sehr kurzer Dauer als abnorm wahr. Im
Extremfall können Prolongationen mehrere Sekunden bis hin zu mehreren Minuten dauern, was
5 Siehe Kapitel 3.4
6 Siehe ebenfalls Kapitel 3.4
17
das Luftholen erforderlich machen kann (vgl. Natke 2005, S.17). Blocks zeichnen sich ebenfalls
durch eine angehaltene Bewegung der Artikulatoren (Sprechwerkzeuge) aus, doch ist hierbei die
Lautproduktion und der Atemfluss unterbrochen („-----laut“). Gesten werden während eines
Blocks ebenfalls unterbrochen. Blocks werden auch als tonisches Stottern bezeichnet, so wie
Prolongationen als klonisches Stottern beschrieben werden. Blocks und Prolongationen zeichnen
sich durch die Fixierung der Artikulatoren aus, was vermuten lässt, dass es sich um dieselbe
Symptomklasse handelt (vgl. a.a.O., S. 17).
Es ist eine Abgrenzung erforderlich, um das eben beschriebene Kernverhalten von der
Begleitsymptomatik
zu unterscheiden. Die Begleitsymptomatik entsteht später in der
Entwicklung des Stotterns als die Repetitionen und Prolongationen. Sie wird als individuell
gelernte Reaktion auf das Kernverhalten betrachtet und kann so groteskes Verhalten wie
Keuchen, Schnappen nach Luft, Sprechen während des Einatmens, Zukneifen der Augen,
Vorstrecken der Zunge, Vorstülpen der Lippen, auf die Zunge beißen, Kieferzucken, Kopfnicken,
plötzliches Zucken mit dem Körper, Fußstampfen, krampfartige Bewegungen der Hände, der
Arme oder des Kopfes, Einschieben von bedeutungslosen Silben, Wörtern oder Phrasen u.v.a.
aufweisen (vgl. a.a.O., S. 17). Die Begleitsymptomatik ist in der Regel für den Großteil an
Abnormität beim Stottern verantwortlich. Man kann die beschriebenen Verhaltensweisen in
Reaktionen auf das Kernverhalten selbst (Muskelanspannung, Fluchtverhalten) und in Reaktionen
auf die Antizipation des Kernverhaltens (Vermeidungsverhalten) untergliedern.
Äußere Symptome (overt features)
Kernverhalten
Begleitsymptomatik
Repetitionen
„ke-ke-ke-kann“
Prolongationen
„fffffast“
Blocks
„------kann“
------------------------------------------------------------------------------Muskelanspannung
Tremor
Fluchtverhalten
Neuansetzen,
Mitbewegungen
Vermeidungsverhalten
Vermeidung von
Sprechsituationen,
Substituieren von Wörtern, Aufschiebung durch Flicklaute und
-wörter, Einschübe, Starter
Innere Symptome (covert features)
Gefühle
Angst, Frustration, Scham, Aggression
Einstellungen
negatives Selbstbild
Tabelle 1: Stottersymptomatik (aus: Natke 2005, S. 23)
Die Hauptreaktion auf das Kernverhalten selbst, die Anspannung der am Sprechen beteiligten
Muskeln, kann eine Repetition oder Prolongation stoppen. Diese Muskelanspannung ist zunächst
18
funktioneller Natur, denn sie kann – wie beschrieben – das Kernsymptom beenden. So wird der
Einsatz von Muskeln immer häufiger genutzt. Von Anspannung zu Anspannung ist jedoch immer
mehr Krafteinsatz von Nöten, so dass ein Tremor entstehen kann, der dem Betroffenen das Gefühl
von motorischen Kontrollverlust gibt (vgl. a.a.O., S. 18).
Sind Repetitionen, Prolongationen und Blocks von längerer Dauer, so werden von den
Stotternden verschiedene Strategien entwickelt, um diese Symptome zu beenden. Das
Fluchtverhalten äußert sich dahingehend, dass abgebrochen und neu bei dem Wort angesetzt wird
oder aber ganz bis zu Beginn der Phrase gegangen wird. Dies kann zur Folge haben, dass
entweder erneut gestottert wird oder sogar ein Wort vor dem eigentlich gestotterten Wort. Es ist
auch möglich, dass eine Silbe willentlich gestottert wird, wenn sich danach der gefürchtete Laut
befindet. So beispielsweise wird „Ha-ha-hallo“ gestottert, wenn das „l“ das eigentliche Problem
ist. Um ein Stotterereignis zu überwinden, sind auch Kopf- oder Körperbewegungen zu
beobachten. Diese Mitbewegungen (Parakinesen) treten spontan und meistens unbewusst auf und
können sowohl fein- als auch grobmotorisch sein. Sie haben irgendwann einmal dazu geführt,
beim Stotternden ein Stotterereignis zu beenden, wurden instrumentell konditioniert und haben
dann nach und nach ihre Effektivität verloren. Sie laufen dann automatisch mit (vgl. a.a.O., S.
18).
Vermeidungsverhalten findet statt, wenn Kernstotterverhalten antizipiert, also erahnt wird. Es soll
verhindert werden, dass gestottert wird, also wird dementsprechend gehandelt. Nonverbales
Vermeidungsverhalten kann man zum Beispiel am fehlenden Blickkontakt oder im Vermeiden
von
bestimmten
Sprechsituationen
wie
dem
Telefonieren
festmachen.
Verbales
Vermeidungsverhalten kann sich darin äußern, dass geplante Sätze nach vermeintlich schwierigen
Wörtern abgesucht werden und diese dann umschrieben, an eine andere Position im Satz gesetzt
oder durch Synonyme ersetzt werden. Die Verwendung eines Akzents oder schnelles bzw.
monotones Sprechen sind weitere mögliche Strategien. Früher haben sie zur Reduktion des
Stotterns beigetragen, doch mit der Zeit haben diese Strategien an Funktionalität verloren.
Unterkategorien von Vermeidungsverhalten sind Aufschiebungen und Starter. Wenn der
Sprecheinsatz hinausgeschoben wird, kann die Wahrscheinlichkeit zu stottern sinken. Dies
begünstigt die Entstehung und dauerhafte Anwendung von Flicklauten (Embolophonien z.B.
„äh“, „mmh“) oder Flickwörtern bzw. phrasenhaften Satzteilen (Embolophrasien z.B. „also“,
„Was ich sagen will...“ (a.a.O., S. 19)). Diese Einschübe werden bei häufiger Anwendung
automatisiert und können auch als Starter, zu Beginn einer Äußerung stehen, um den geplanten
Satz zu initiieren. Mitbewegungen, die zur Beendigung des Kernstotterverhaltens genutzt werden,
können auch zur Beendigung der Aufschiebung oder selbst als Starter genutzt werden. Häufig
werden Starter in ritualisierten Abläufen genutzt, obwohl sie nur noch selten die Satzproduktion
in Gang bringen. Bloodstein vermutet, dass ein Starter mal effektiv war, weil er zunächst vom
Sprechen abgelenkt hat. Bei wiederholter Nutzung verlieren sie diese Wirksamkeit, da sie nun
19
nicht mehr 'neu' genug sind (vgl. a.a.O., S.21f.).
Viele dieser Begleitsymptome lassen sich erklären, wenn sie als habituierte Versuche betrachtet
werden um vor Repetitionen, Prolongationen und Blocks zu flüchten, diese zu meiden oder zu
überwinden. Diese Versuche können sehr unterschiedlich sein und es ist möglich, dass ein
Stotterer ganz unerkannt bleibt. Andererseits können die Kaschiermechanismen stärkere Formen
annehmen als die Symptomatik, die eigentlich verdeckt werden soll. Einige dieser Mechanismen
werden in das Stottern aufgenommen und letztlich selbst zu Symptomen. In der Therapie sind
diese stereotypen Muster dann schwer zu unterscheiden. Sheehan sieht in diesem Zusammenhang
die stotternde Person als „wanderndes Museum“ (a.a.O., S. 21).
Innere Symptome (covert reactions) meinen die Gefühle, Reaktionen und Einstellungen
stotternder Menschen, die für den Zuhörer meistens nicht wahrzunehmen sind.
Stotternde Menschen, beschreiben am häufigsten das Gefühl der Angst. Zum einen die Angst vor
sozialer Ablehnung aufgrund ablehnender Zuhörerreaktionen als auch die Angst vor dem
motorischen Kontrollverlust und der Unfähigkeit zur Kommunikation. Bis hin zur Panik kann
sich die Angst vor dem Stottern steigern. Oftmals empfinden Stotternde nach einem
Stotterereignis Verlegenheit, Scham und Schuld. Das Schuldgefühl entsteht, da der Stotternde
den Zuhörer in die mutmaßlich unangenehme Lage gebracht hat, ihm beim Stottern zuhören zu
müssen und dafür auch mehr Zeit zu investieren. Frustration und Aggression sind mögliche
Folgen. Chronisch Stotternde haben häufig negative Einstellungen sich selbst und dem Sprechen
gegenüber, da sie von sich das Selbstbild eines gestörten Sprechers haben. Sie übertragen dieses
Bild auf ihr Gegenüber und haben die Annahme, dass sie als dumm und nervös abgestempelt
werden. Negative Zuhörerreaktionen sind für Stotterer keine Seltenheit. Sie werden gehänselt,
Zuhörer werden ungeduldig, schauen weg, ergänzen Wörter, werden von Lehrern besonders
behandelt, usw. (vgl. a.a.O., S. 22).
3.3.2 Epidemiologische Daten
Das Stotter-Syndrom tritt weltweit in allen Schichten und Kulturen auf. Sie ist bei Kindern
häufiger als bei Erwachsenen zu beobachten. Idiopathisches Stottern beginnt meist zwischen dem
zweiten und fünften Lebensjahr, selten nach dem achten und nie nach dem elften (vgl. Johannsen/
Rothenberger 2003, S. 402). Meist sprechen die Kinder zunächst flüssig. Doch können
Stotterereignisse ebenso schon auftreten, wenn das Kleinkind gerade von der Einwortebene zu
Mehrwortäußerungen übergeht (vgl. a.a.O., S. 402). Ungefähr 80% aller Kinder durchlaufen
während ihrer Sprachentwicklung eine Phase von Monaten bis hin zu Jahren in denen sie
unflüssig Sprechen. Diese Phase ist keine pathologische Störung, sondern entwicklungsbedingt
(normale Sprechunflüssigkeit). Bei etwa 4-5% jedoch kann nicht mehr von normalen
Sprechunflüssigkeiten ausgegangen werden, sondern von beginnendem chronischem Stottern.
Davon verlieren weitere 3-4% erst im späten Kindes- Jugendlichen und frühen Erwachsenenalter
20
ihr Stottern, so dass 1% der Erwachsenenbevölkerung chronisch stottert (ebd. ). Zu Beginn des
Stotterns gibt es eine Geschlechterverteilung von von Jungen und Mädchen von 2 zu 1. (vgl.
Natke 2005, S.11). Bei älteren Kinder und Erwachsenen beträgt das Verhältnis 4 zu 1 bis 5 zu 1.
(vgl. a.a.O., S. 11). Mädchen scheinen das Stottern häufiger zu verlieren, beginnen damit in der
Regel früher als Jungen und wenn sie es wieder verlieren, passiert dies auch früher als bei Jungen
(ebd.).
Stottern tritt familiär gehäuft auf. Es wird geschätzt, dass bei stotternden Männern ungefähr 9 %
der Töchter und 22 % der Söhne stottern und bei stotternden Frauen 17 % der Töchter und 36 %
der Söhne (vgl. a.a.O., S.13).
3.3.3 Differentialdiagnostik
Normale Entwicklungsunflüssigkeiten von beginnendem oder chronifiziertem Stottern zu
unterscheiden, stellt den behandelnden Arzt oder Therapeuten vor eine schwierige Aufgabe, da
das Stottern junger Kinder in den Anfangsjahren extrem schwankt. Mal kann die
Sprachauffälligkeit wie ein normale Unflüssigkeit wirken, zu einem anderen Zeitpunkt aber wie
ein schon manifestiertes Stottern mit chronischem Verlauf (vgl. Johannsen/Rothenberger 2003, S.
406). Johannsen und Schulze haben einige kritische Merkmale zusammengestellt, die für die
Differentialdiagnose von normalen Sprechunflüssigkeiten und beginnendem Stottern hilfreich
sein können (siehe Tabelle 2).
Kriterium
1. Sprechverhalten
a.) Wiederholungen
Satzwiederholungen
Ganzwortwiederholungen
Neubeginn/Umstellung einer
Äußerung
Silbenwiederholung
Lautwiederholung
Frequenz der Wiederholungen
Schwa-Laut7 bei
Wiederholungen
Sprachtempoerhöhung
b.) Prolongationen
Dauer
Anspannung (Gesicht, Lippen,
Hals)
Stimmhafte Prolongationen
Tonhöhenanstieg
Normale
Sprechunflüssigkeiten
Beginnendes Stottern
+
+
+
-
(+)
≤2
selten
-
+
+
>2
+
+
< 1 Sekunde
-
> 1 Sekunde
+
-
+
7 Der Schwa-Laut ist der schwache e-ähnliche Laut wie z.B. bei „Tomate“ oder „Dose“ oder auch („keke-kann“). Kinder die im Rahmen des unflüssigen Sprechens stottern, stottern meist „ka-ka-kann“ und
nicht „ke-ke-kann“ (vgl. Johannsen/Rothenberger 2003, S. 407).
21
Lautstärkeanstieg
Atmung bei stimmlosen
Prolongationen
c.) Stille Pausen
zur linguistischen Planung
innerhalb eines Wortes
-
+
unterbrochen
+
-
+
2. Blickkontaktverhalten
Adäquat
inadäquat
Tabelle 2: Kritische Merkmale zur Unterscheidung von Entwicklungsunflüssigkeiten und
beginnendem Stottern (aus: Johannsen/Rothenberger 2003, S. 407)
Auch gilt es das bereits erwähnte erworbene Stottern vom idiopathischen Stottern abzugrenzen.
Das erworbene Stotttern beginnt meist plötzlich im Erwachsenenalter und ist seltener und
weniger erforscht als das idiopathische Stottern. Die Symptomatik beider Formen kann identisch
sein, doch der Zusammenhang ist unklar. Das erworbene Stottern kann durch neuronale Schäden
wie Schlaganfall, Tumor oder Medikamentenmissbrauch enstehen. Psychologisches Trauma oder
psychiatrische Grundstörungen können ebenfalls Auslöser sein. In diesen Fällen spricht man vom
psychogenen Stottern. Es gibt jedoch auch Fälle von erworbenen Stottern, bei denen weder
Anzeichen für neurologische oder psycholgische Krankheit bestehen.
3.3.4 Entwicklung
Bleibt das Stottern bei Kindern bestehen, so ist es eine progrediente (fortschreitende) Störung, bei
der das abnorme Verhalten bis in das Erwachsenenalter zunimmt. Die Symptomatik zu Beginn
des Stotterns unterscheidet sich von der eines stotternden Jugendlichen oder Erwachsenen. Die
Veränderung der Symptomatik passiert nicht kontinuierlich sondern Phasen mit starker
Symptomatik können Phasen mit verringerten bis nicht vorhandenen Stotterereignissen
abwechseln. In einer Querschnittuntersuchung von Bloodstein (vgl. Natke 2005, S. 46), die im
Folgenden beschrieben wird, werden bei 418 stotternden Kindern im Alter von 2 bis 16 Jahren
Veränderungen in grundlegenden Merkmalen des Stotterns beobachtet. Demnach sind
Repetitionen das dominante Merkmal des Stotterns, aber auch Prolongationen und Blocks sind in
allen Altersgruppen vertreten. Spannungsreiche Symptome wie Muskelanspannung sind bereits
bei einer Vielzahl von stotternden Kindern vorhanden und entwickeln sich später bei den meisten
anderen ebenfalls. 33 % der jüngsten Kinder weisen irgendeine Form von Begleitsymptomatik
auf, bei den Ältesten sind es schon 65 %. Bereits bei zwei- bis dreijährigen Kindern sind
Begleitsymptome wie z.B. Zukneifen der Augen, Bewegungen des Kopfes, nach Luft schnappen,
die Faust ballen und auffällige Pausen zu erkennen. Schon im Alter von fünf Jahren zeigen sich
die meisten begleitenden Symptome die auch für erwachsene Stotternde charakteristisch sind.
Zunächst
entstehen Auffälligkeiten
in
der Atmung
und
ebenso Anspannungen
der
Gesichtsmuskulatur. Anschließend entstehen Lösungshilfen (vgl. Kapitel 3.3.1), dann kommen
Starter und Aufschiebungen hinzu. Zwar sind das Antizipieren von Stottern, das Ersetzen von
22
Wörtern und die Wahrnehmung von komplizierten Wörtern oder lauten Merkmale von
entwickeltem Stottern, doch sind diese Verhaltensweisen in einigen Fällen bereits in sehr jungem
Alter festzustellen. Häufig entsteht eine komplexe Sekundärsymptomatik bevor starke Gefühle
der Angst oder Verlegenheit zu beobachten sind. Bloodstein gliedert die emotionalen Reaktionen
auf das Stottern folgendermaßen: „(1) Wenig offene Reaktionen auf das Stottern und kein
Selbstbild
als
Stotterer;
vereinzelt
direkte
Reaktionen
auf
das
Auftreten
von
Sprechunflüssigkeiten8; (2) Selbstbild als Stotterer ohne emotionale Reaktionen; (3) Reakionen in
Form von Ärger, Frustration oder Wut; (4) Reaktionen in Form von Angst und Verlegenheit.“
(Natke 2005, S. 46f.). Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass Stottern in seiner ausgeprägten
Form keine Reaktion auf Angst ist (vgl. a.a.O., S. 47). Erste emotionale Reaktionen auf das
Stottern können Verwirrung, Frustration, Ärger und Aggression sein. „Peinlichkeit, Tabuisierung
und Ungeduld fördern das Empfinden von Scham. Sobald Angst und Frustration sowie Fluchtund Vermeidungsverhalten auftritt, scheint sich Stottern selbst aufrecht zu erhalten. Es entstehen
Teufelskreise aus Angst und Vermeidung sowie Anstrengung und Frustration.“ (a.a.O., S.47).
3.3.5 Prognose
Hält man sich noch einmal vor Augen, dass 80 % aller Kinder im Zuge ihrer Sprachentwicklung
normale Sprechunflüssigkeiten aufweisen, von denen 5 % deutliche Hinweise auf einen
überdauernden chronischen Verlauf liefern, davon noch einmal 4 % bis zum frühen
Erwachsenenalter remittieren und dann 1 % der Erwachsenenbevölkerung stottert, so haben im
frühen Kindesalter auftretende Sprechunflüssigkeiten offenbar eine gute Prognose. Jedoch sollte
nach entsprechender diagnostischer und differentialdiagnostischer Abklärung der Therapiebeginn
nicht hinausgeschoben werden, aus Angst eine Therapie würde das Störungsbewusstein wecken
und den Weg in die Chronizität ebnen (vgl. Johannsen/Rothenberger 2003, S.410f.). Vielmehr
wirkt sich ein möglichst früher Therapiebeginn prognostisch günstig aus.
Dies lässt sich auch aus den Faktoren die für die Prognose des Stotterns von Wichtigkeit sind
ableiten:
1. Alter zu Beginn des Stotterns: Je älter das Kind zu Beginn des Stotterns ist, desto größer
ist die Wahrscheinlichkeit einer Chronifizierung.
2. Dauer des Stotterns: Je länger das Stottern andauert, desto eher ist von einer
Chronifizierung auszugehen.
3. Geschlecht: Mädchen remittieren häufiger als Jungen.
4. Familiärer Hintergrund: Wenn das Kind Verwandte hat, die chronisch stottern, so ist die
Wahrscheinlichkeit größer, dass es ebenfalls chronisch stottern wird.
5. Phonologische, sprachliche und nonverbale Fertigkeiten: Je besser die Fertigkeiten eines
8 Diese Selbstwahrnehmung der Sprechschwierigkeiten, weisen selbst schon die jüngsten Kinder auf. So
sind bei der Hälfte der Zweijährigen Reaktionen auf Sprechunflüssigkeiten nachzuweisen (vgl. Natke
2005, S.46).
23
Kindes in diesen Bereichen ist, desto wahrscheinlicher ist, dass es remittiert.
(aus: Natke 2005, S. 49)
3.4 Faktoren, die im Zusammenhang mit Stottern beobachtet werden können
Über den Begriff „verursachende Faktoren“, die Stottern auslösen können, schreiben
Ochsenkühn, Thiel und Ewerbeck (2010, S. 24): „Alle 'Ursachen' von Stottern sind dies nur
aufgrund
von
Theorien.Viele
Untersuchungen
belegen,
dass
bestimmte
Störungen,
Besonderheiten oder hirnorganische Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Stottern gehäuft
auftreten. (Zu fast jedem Studienergebnis gibt es andere Untersuchungen, die das Ergebnis
bezweifeln lassen oder widerlegen.) Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die daraus abgeleitet
wurden, sind rein spekulativer Natur. Über die Ursachen des Stotterns ist bis heute kaum etwas
bekannt.“
Dennoch gibt es verschiedene Faktoren, die als ätiologisch (verursachend) diskutiert werden.
Diese sind von Ochsenkühn, Thiel, Ewerbeck übernommen und im Folgenden beschrieben.
Familiäre Häufung und genetische Komponente
Zwar konnten Forscher noch kein Gen isolieren, dass für das Stottern verantwortlich gemacht
werden könnte, dennoch konnten sie Chromosomen ausfindig machen, die als Auslöser agieren
könnten (vgl. Ochsenkühn/Thiel/Ewerbeck 2010, S.25f. ). Auch die Tatsache, dass Stottern
familiär gehäuft auftritt und Jungen häufiger stottern als Mädchen spricht für eine erbliche
Komponente.
Störung der zentralen Wahrnehmungsentwicklung
Hierbei unterscheidet man zwischen Problemen bei der Umstellung vom auditiven auf
kinästhetisches Feedback sowie Hemisphärenabivalenzen und Lateralität. Bei ersterem wird
angenommen, dass das Kind, welches sein Sprechen zunächst auditiv überprüft, im Laufe der
Sprachentwicklung auf ein kinästhetisches Feedback umstellt. Bei stotternden Kindern soll es
dabei zu Ungleichmäßigkeiten kommen. „Möglicherweise kommt es bei stotternden Kindern im
Prozess dieser Anpassung der Feedbacksysteme zu einer Desynchronsisation. In der
Übergangszeit muss das Kind lernen, die im Gehirn zeitlich versetzt einlaufenden Reize
(Feedbackinterferenzen) zu integrieren.“ (a.a.O., S. 26). Nach Meinung einiger Forscher soll es
genau in dieser Phase der Sprachentwicklung, in der das Kind noch beide Feedbacksysteme
verwendet zu entwicklungsbedingten Redeunflüssigkeiten kommen.9
9 Die Autoren ergänzen als Hinweis für die Therapieplanung: „Allgemeine Förderung der (auditiven
und taktil-kinästhetischen) Wahrnehmung und Wahrnehmungsintegration.“ (a.a.O., S. 28). Als Teil der
Therapie kann die Rhythmik hier unterstützend wirken (siehe Kapitel 5.6 und 5.7).
24
Bei zweitens, den Hemisphärenambivalenzen und der Lateralität, wird angenommen, das beim
Sprechvorgang von Stotternden die rechte Gehirnhälfte stärker und die linke Gehirnhälfte
weniger aktiviert ist als bei nicht stotternden Menschen. Die rechte Gehirnhälfte versucht dies zu
kompensieren, was nicht ausreichend gelingt und sich durch das Stottern zeigt.
Gestörte Timing-Prozesse
Um sprechen zu können, eine exakte motorische, neuronal gesteuerte Koordination von Atmung
Stimmgebung und Artikulationsbewegungen nötig. Bei Stotternden wurden Abweichungen von
üblichen Strukturen im Gehirn festgestellt. Hinzu kommt, dass die Reihenfolge der bei der
Artikulationsplanung beteiligten Areale anders ist als bei flüssig sprechenden Menschen (vgl.
a.a.O., S.28f.)10.
Zusammenhang mit psycholinguistischen Fähigkeiten
Man muss 2 Gruppen von stotternden Kinder unterscheiden (vgl. a.a.O., S.29f.):
•
zum einen die Gruppe, die eine unauffällige oder zügige Sprachentwicklung vollzieht
•
und die Gruppe, deren Sprachentwicklung verzögert ist.
Man erklärt das Auftreten von Stottern in beiden Gruppen „am ehesten mit einer Überlastung des
linguistischen Systems und der Konkurrenz automatisierter und willkürlicher Abläufe um
Ressourcen des Gehirns, v.a. im Zusammenhang mit neuen Entwicklungsschritten.“ (a.a.O., S.
29).
In der Gruppe ohne Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung entsteht das Stottern im 4. oder 5.
Lebensjahr, wobei sie zuvor schon in der Lage waren flüssig und grammatikalisch überwiegend
korrekte Sätze zu sprechen (ebd.).
In der Gruppe von Kindern mit Sprachentwicklungsverzögerungen hingegen entwickelt sich das
Stottern im 2. oder 3. Lebensjahr meist im Zusammenhang mit der steigenden Nutzung von
Mehrwortäußerungen. Es wird daher angenommen, dass eine mangelnde linguistische
Kompetenz zu Grunde liegt. Bewiesen ist dies jedoch nicht (ebd.).
Störungen der psychosozialen Entwicklung
Einige Persönlichkeitsmerkmale treten laut verschiedener Untersuchungen gehäuft bei stotternden
Kindern und Erwachsenen auf. Dazu gehören z. B., dass einige Kinder einen hohen bzw.
perfektionistischen Anspruch an ihr eigenes Tun haben und mit Wut oder Konflikten nur schwer
umgehen
können. Allerdings
ist
hierbei
abermals
zu
beachten:
Was
von
diesen
Persönlichkeitsmerkmalen Ursache oder Folge des Stotterns ist, lässt sich bisher nicht eindeutig
klären.
10 Hierbei halten die Autorinnen unter anderem den Einsatz von Prolongationen und rhythmischen
Sprechen für wichtig. Die Rhythmik kann auch dabei unterstützend wirken (siehe Kapitel 5.4 und 5.5) .
25
Andere Forschungen haben sich näher mit der Möglichkeit einer zugrunde liegenden
psychoszialen Interaktionsstörung beschäftigt. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich
langanhaltender emotionaler Stress auf Empfindungen und Verhalten und somit auch auf die
Kommunikation auswirkt. In Familien mit stotternden Kindern, kann so eine emotionale
Überforderung häufig beobachtet werden. „In diesen Fällen (sicher nicht bei allen stotternden
Kindern!), ist das Stottern dann auch als Ausdruck eines ungelösten familiären Konfliktes zu
betrachten. […] Als mögliche zugrunde liegende Krisen kommen z.B. Paarkonflikte der Eltern in
Frage. Zentral scheint der Umgang innerhalb der Familie mit Gefühlen (hier v.a. auch mit
aggressiven Gefühlen) und mit Konflikten zu sein. Besonders problematisch kann es sich
auswirken, wenn die Konflikte von den Betroffenen negiert oder tabuisiert werden.“ (a.a.O., S.
31).
Zusammenfassend zu möglichen das Stottern verursachenden Faktoren halten Ochsenkühn, Thiel
und Ewerbeck fest:
•
Verschiedene Faktoren können im Zusammenhang mit dem Stottern beobachtet
werden. Wie ihr Bezug zur Entwicklung des Stotterns ist, ist noch nicht geklärt.
•
Es bleibt offen, ob die das Stottern begleitenden Befunde als ursächlich für das Stottern
betrachtet werden dürfen oder ob sie ausschließlich begleitende Symptome sind.
•
Man geht aktuell davon aus, dass Stottern entsteht, wenn zu einer Veranlagung zum
Stottern zu viele ungünstige Faktoren hinzukommen.
Mögliche Risikofaktoren beim Kind
•
Hinweise auf (auditive) Wahrnehmungsstörungen
•
Auffälligkeiten in der Händigkeitsentwicklung oder Linkshändigkeit
•
Auffällige Fein- und/oder Grobmotorik
•
Auffälligkeiten in der Sprach- und Sprechentwicklung
•
Erkennbar hoher Leistungsdruck, Perfektionismusstreben, Hinweise auf Störungen des
emotionalen Ausdrucks,
Zeichen emotionaler Überforderung
Mögliche Risikofaktoren in der Umgebung des Kindes
•
Negative Reaktionen auf Sprechfehler wie übertriebenes Korrigieren
•
Emotionale Überlastung
•
Kommunikativer Stress
•
Zeitlicher Stress
26
(aus: Ochsenkühn/Thiel/Ewerbeck 2010, S. 33)
3.5 Stottermodell: Dynamisches Modell nach Hansen/Iven
Mit Stottermodellen wird versucht, vielschichtige Ergebnisse und Erkenntnisse, die Ursachen,
Entwicklung und Aufrechterhaltung des Stotter-Syndroms betreffend, in theoretische und
übersichtliche Form zu bringen11.
Dem dynamischen Modell zur Entwicklung der Sprechflüssigkeit, von Unflüssigkeiten und
Stottern (vgl. Hansen/Iven, 2002) liegt die Überlegung zugrunde, unter welchen Umständen sich
aus normalen, entwicklungsbedingten Sprechunflüssigkeiten im Kindesalter chronifiziertes
Stottern entwickeln kann. Es basiert auf dem Modell der idiographischen Betrachtungsweise nach
Motsch. Beide multidimensionalen Modelle gehen davon aus, dass mehrere Auslöser als Ursache
für das Stottersyndrom herangezogen werden müssen und die Individualität jeder auftretenden
Stottersymptomatik auch im Zusammenhang mit der biographischen Vorgeschichte berücksichtigt
werden sollte. Ebenso wenig wie es „das“ Stottern gibt, können eindeutige Ursachen für die
Entstehung von Stottern festgelegt werden. In zwei Punkten jedoch distanzieren sich Hansen und
Iven von den Ausführungen von Motsch. Zum einen sind sie der Annahme, dass
Umweltreaktionen überwiegend in der „Aufrechterhaltung und Verstärkung des Stotterns eine
erhebliche Rolle“ (Hansen/Iven 2002, S. 21) spielen und weniger im Enstehungsprozess. Zum
anderen bemängeln sie die fehlenden Anregungen zur Gestaltung und Umsetzung von Therapie
und Diagnose im Sinne der idiographischen Vorstellungen nach Motsch.
Im dynamischen Modell (vgl. Abbildung 2, S. 30) gibt es zunächst vier Faktoren, die für das
Stottern disponierend sein können: organisch-konstitutionelle, psycholinguistische, psychosoziale
und soziokulturelle Faktoren. Sie bedingen und beeinflussen sich gegenseitig und können nicht
getrennt voneinander betrachtet werden. Organisch-konstitutionelle Faktoren beinhalten
neurophysiologische und neuropsychologische Reifungsprozesse, die dazu beitragen, dass immer
mehr Wahrnehmungseindrücke erfasst und verarbeitet werden können. Reifungsprozesse sowie
bestehende oder auftretende Schädigungen dieses Systems können Sprechunflüssigkeiten
begünstigen.Versetzte Reifungsprozesse können zu Sprechunflüssigkeiten führen, wenn
beispielsweise die Kompetenzen in Wortwahl und Satzbau den artikulatorischen Fähigkeiten
11 Schulze und Johannsen nehmen zur besseren Übersichtlichkeit diverser Forschungsbefunde und
Modelle zu möglichen Ursachen des Stotterns eine Einteilung in disponierende, auslösende und
aufrechterhaltende Faktoren vor (vgl. Sandrieser/Schneider 2008, S. 21). Disponierende Faktoren
begünstigen das Auftreten von Stottern. Dazu zählen genetische Veranlagungen. Auslösende Faktoren
sind solche, die dem Erstauftretens des Stotterns zeitlich unmittelbar vorausgehen oder damit
zusammenfallen, z.B. Beginn des Kindergartens, Geburt eines Geschwisterchens oder Traumata.
Disponierende und auslösende Faktoren können eine aufrechterhatende Wirkung bekommen. Aber auch
die Reaktionen des Kindes und der Umwelt auf sein Stottern können die Aufrechterhaltung
begünstigen, unmittelbar vorausgehen oder damit zusammenfallen.
27
voraus eilen (vgl. Hansen/Iven 2002, S. 8ff.). Psycholinguistische Faktoren können zum Beispiel
Such- und Korrekturprozesse sein, die ein Lernen durch Versuch und Irrtum ermöglichen, sich
jedoch nachteilig auf die Sprechflüssigkeit auswirken können. Die Autoren weisen darauf hin,
dass Kinder noch nicht einen so automatisierten und vollständigen Zugriff auf das Sprachsystem
haben wie Erwachsene. So können Repetitionen entstehen, wenn ein Kind fragt: „'Habt ihr schon
ge-ge-ge-gegessen?'“ (a.a.O., S.13). Es muss zunächst nach der richtigen Verbform suchen
(„'Gegesst? Ge-esst? Gessen? Gegessen!'“ (ebd.)) bis es diese hervorbringen kann.
Generell fassen Hansen und Iven zusammen, dass Phasen vermehrter Unflüssigkeiten auch bei
Kindern auftauchen können, die ansonsten unauffällig sprechen, wenn sie gerade beginnen neue
oder erweiterte artikulationsmotorische, morphologische, syntaktische oder semantische
Strukturen zu erwerben und diese noch nicht automatisiert sind. Das Wahrnehmen, korrigieren
und reparieren noch nicht gelungener Sprechabläufe kann viele dieser Unflüssigkeiten erklären.
Auf der anderen Seite neigen Kinder mit verzögerter oder gestörter Sprachentwicklung ebenso zu
Sprechunflüssigkeiten. „Mangelnde oder fehlende linguistische Kompetenzen auf einer oder
mehreren Sprachebenen können den Sprechablauf verunsichern, indem sie den Aufbau
automatisierter Sprechmuster hemmen.“ (Hansen/Iven 2002, S. 12).
Psychosoziale Faktoren stehen in enger Wechselwirkung mit den eben genannten Faktoren. Das
Kind erwirbt im Verlauf seiner Entwicklung immer mehr Kompetenzen um seine Sprach- und
Sprechleistungen auf soziale Bezüge abzustimmen und wird sicherer in der Interaktion und
Kommunikation mit anderen. Es entwickelt ein Selbstbild von sich und erfährt etwas über seine
Möglichkeiten zur Einschätzung persönlicher Fähigkeiten und Grenzen in Kommunikation mit
seiner Umwelt. Gibt es Störungen in einem der beiden vorher genannten Faktoren, so wirkt sich
dies auch negativ auf die psychosoziale Entwicklung aus.
Soziokulturelle Bedingungen meinen die Umwelt, in die ein Kind hineingeboren wird und
innerhalb derer es heranwächst. Normen, Wertvorstellungen, Bewertungen, die innerhalb der
Familie gelten, beeinflussen die Sozialisation sowie die Erwartungen an das Verhalten von
Kindern und deren Erziehung. Besonders der Stellenwert der Sprache beeinflusst in diesem
Zusammenhang die Bewertung von kindlichen Äußerungen, denn die soziokulturelle
Entwicklungsbasis prägt das allgemeine Sprach- und Kommunikationsverhalten der Kinder und
ihrer Interaktionspartner.
In der Folge wird die Entwicklung von Kompetenzen der vier eben beschriebenen Faktoren durch
Interaktionsprozesse zwischen Kind und Umwelt vorangetrieben. Diese individuell gestalteten
Prozesse wirken sich ebenso auf die Sprechflüssigkeitsentwicklung des Kindes aus. Es entsteht
eine individuelle Sprechflüssigkeit oder eine (entwicklungsbedingte) Unflüssigkeit. Von den 80 %
der Kinder, die während ihrer Sprachentwicklung Phasen von Unflüssigkeiten zeigen, erlangen
die meisten ohne therapeutische Maßnahmen eine individuelle Sprechflüssigkeit. Bei einigen
verstärken sich diese Sprechunflüssigkeiten jedoch. Hansen und Iven sind der Auffassung, dass
28
sowohl für das Verschwinden als auch für die Aufrechterhaltung von Unflüssigkeiten „die
Bewertungsprozesse aller an der Interaktion Beteiligten von besonderer Bedeutung“
(Hansen/Iven 2002, S. 20) sind. Verliert das Kind die Unflüssigkeiten, wird davon ausgegangen,
dass diese sich vorher nicht negativ auf die Einschätzung des Kindes bezüglich seiner
Sprecherkompetenzen ausgewirkt haben. Das Selbstbild des Kindes wurde nicht negativ
beeinflusst und auch die Bezugspersonen wertschätzten vor allen Dingen den Inhalt des Gesagten
unabhängig von der Zahl der Unflüssigkeiten.
Bei einem ungünstigen Verlauf kann auf Grundlage von Unflüssigkeiten ein negativer Regelkreis
entstehen. Das Kind beurteilt durch seine Erfahrungen und Einschätzungen, aufgrund der
Reaktionen des Umfeldes aber auch seiner eigenen Reaktionen auf die Unflüssigkeiten (Angst,
Anspannung, etc.) Sprechen als kompliziert und unangenehm. Die Bezugspersonen und das Kind
reagieren mit wachsender Verunsicherung auf die Unflüssigkeiten. Ob ein Kind Phasen
unflüssigen Sprechens angstfrei und ohne negative Gefühle bestehen kann, hängt demnach von
dem Selbstbild des Kindes sowie seiner Bewertung von außen mit den entsprechenden
Rückwirkungen in einem großen Maße ab. Hansen und Iven fassen dies so zusammen:“Stottern –
als Resultat der Chronifizierung von Unflüssigkeiten – hat folglich nicht nur etwas mit der
hörbaren Symptomatik der Redeunterbechungen zu tun, sondern insbesondere auch mit den
dazugehörigen Emotionen und Kognitionen. Wenn ein Kind sein Sprechen und damit sich selbst
in
seiner
Gesamtpersönlichkeit
als
andersartig
[…]
empfindet,
ändert
sich
die
Selbstwahrnehmung des Kindes, es entwickelt das sogenannte Störungsbewusstein. Diese
Veränderung, das Hinzutreten von Störungsempfinden und emotionalen Reaktionen auf das
Sprechen, markiert nach diesem Verständnis den Beginn des Stotterns.“ (a.a.O., S. 21).
Durch eine auf die individuellen Bedingungen abgestimmte Therapie in enger Zusammenarbeit
mit den Eltern ist Stottern bei Kindern beeinfluss- und veränderbar. Dies ist in dem Modell mit
dem in beide Richtungen weisenden Pfeil verdeutlicht.
Das Therapiemodell von Hansen und Iven wird in im folgenden Kapitel unter Punkt 4.1.1
beschrieben.
29
Abbildung 2: Dynamisches Modell zur Entwicklung der Sprechflüssigkeit, von Unflüssigkeiten und Stottern (aus: Hansen/Iven 2002, S. 23).
30
4. Therapie des Stotter-Syndroms
4.1 Logopädie – Eine Begriffsklärung
Das Sprachheilwesen in Deutschland ist im internationalen Vergleich beispiellos zersplittert.
Mehrere Fachdisziplinen teilen sich den Aufgabenbereich der Sprachtherapie, während im
Ausland meist nur eine Berufsgruppe existiert.
Hierzulande gibt es:
–
Logopäden auf Fachschulniveau
–
Akademische Sprachtherapeuten unterschiedlicher Ausbildungsgänge
–
Sprachheillehrer (übergangsweise und auslaufend)
–
Absolventen von Diplom- und Magisterstudiengängen
–
Klinische Linguisten
–
Patholinguisten
–
Sprechwissenschaftler
–
Absolventen von Bachelor- und Masterstudiengängen
–
Atem-, Sprech- und Stimmlehrer (nach Schlaffhorst und Andersen)
(aus: Grohnfeldt 2012, S. 12)
Logopäden
Der Begriff „Logopädie“ wurde 1913 vom Wiener Spracharzt Emil Fröschels (1885-1972)
geprägt. Es sollte eine interdisziplinäre akademische Fachdisziplin eingeführt werden. In
Deutschland hingegen wurde diese Idee nach dem Zweiten Weltkrieg nicht weiter verfolgt und
stattdessen bildeten Phoniater Frauen als Helferinnen aus. Daraus entstand eine medizinische
Hierarchie, die zur Folge hatte, dass noch heute die Logopädie in Deutschland als Heil-Hilfsberuf
mit einer Abhängigkeit von den Medizinern, dem sogenannten „Arztvorbehalt“ definiert wurde
(vgl. Grohnfeldt 2012, S. 22 ). Am 26. Mai 2009 wurde eine „Modell- beziehungsweise
Öffnungsklausel“
im
Deutschen
Bundestag
beschlossen,
innerhalb
derer
befristete
Ausbildungskonzepte auf Hochschulniveau für Logopäden, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten
und Geburtshelfer erprobt werden sollen. 2015 wird eine Entscheidung fallen, ob dieser Versuch
weiter vorgesetzt wird.
Akademische Sprachtherapeuten unterschiedlicher Ausbildungsgänge
Ihren Ursprung hat die akademische Sprachtherapie in der nebenberuflichen Tätigkeit vieler
Grund-, Haupt- und Realschullehrer, die in den 1970er Jahren anfingen ein zweijähriges
postgraduales Studium zu absolvieren. Sie konnten aufgrund dieses Studium eine Teilzulassung
31
für
bestimmte
Störbilder
beantragen
und
therapierten
dann
größtenteils
sprachentwicklungsgestörte oder artikulationsgestörte Kinder (vgl. Grohnfeldt 2012, S14f.). Um
1980 wurden vermehrt sprachheilpädagogische Diplom- und Magisterstudiengänge angeboten.
Parallel dazu entwickelte sich um 1990 durch die Zusammenarbeit von Linguisten und
Neurologen eine Berufsgruppe, die sich zunächst auf neurogene Sprach- und Sprechstörungen
konzentrierte und später noch das Feld der Sprachentwicklungsstörungen mit einbezog.
Die Sprechwissenschaft in Deutschland ist relativ alt (um 1919) und wurde ab 1952 in der
damaligen DDR weiter ausgebaut, wobei der Schwerpunkt heute im Bereich der Stimmtherapie
liegt (vgl. Grohnfeldt 2012, S. 14).
Als Ersatz für die auslaufenden Diplom- und Magisterstudiengänge wurden neue B.A./M.A.
Studiengänge der Sprachtherapie entwickelt, die schon mit dem Bachelor-Abschluss die
Krankenkassenvollzulassung ermöglichen.
Atem-, Sprech- und StimmlehrerInnen
Diese Ausbildung geht auf Clara Schlaffhorst (1863-1945) und Hedwig Andersen (1866-1957)
zurück.
Absolventen
der
Schlaffhorst-Andersen-Schule
verfolgen
eine
ganzheitliche
Herangehensweise und machen sich die Wechselwirkungen von Atmung, Stimme und Bewegung
zu nutze.
Nach
Grohnfeldt
bilden
folgende
Kompetenzen
die
Grundlage
zur Ausübung
des
sprachtherapeutischen Berufes:
–
klinisch-therapeutische Praxis,
–
Evaluation und Forschung,
–
Organisation und Management und
–
Weiterentwicklung der Profession.
(aus: Grohnfeldt 2012, S. 17)
Diese Bereiche umfassen Fragen der Prävention, Diagnostik, Therapie, und Rehabilitation von
Sprach-, Sprech-, Rede-, Stimm- und Schluckstörungen sowie Beratung und Evaluation.
Angesichts dieser hohen Anforderungen an das Berufsfeld fordert Grohnfeldt eine
Akademisierung des gesamten Berufsstandes. Mit der Öffnungsklausel des Deutschen
Bundestages, innerhalb derer befristete Ausbildungskonzepte auf Hochschulniveau für
Logopäden erprobt werden sollen, ist ein Schritt in die richtige Richtung getan worden.
Bei Grohnfeldt findet man folgende Definition zur Sprachtherapie:
„Sprachtherapie ist die Gesamtheit der Maßnahmen, die im Zusammenhang mit Interventionen
zwischen der Therapeutin und der betroffenen Person ablaufen und sich auf die Beseitigung,
Linderung oder Kompensation der Sprachstörung an sich und ihre psychosozialen Auswirkungen
32
erstrecken. Dies bezieht sich auf die Betreffenden selbst sowie auf ihr soziales Umfeld.“
(Grohnfeldt 2012, S. 17).
4.1.1 Therapie nach den 13 Bausteinen therapeutischen Handelns von Hansen und Iven
Ergänzend zum Modell haben Hansen und Iven 13 Bausteine für das therapeutische Handeln mit
unflüssig sprechenden Kindern zusammengestellt. Ihrer Meinung nach ist es sinnvoller, anstelle
eines starren Therapiekonzeptes den Therapeuten Bausteine in die Hand zu geben anhand derer
sie individuell auf den Klienten abgestimmt therapieren können. Häufigkeit und Größe ihres
Einsatzes können dabei ganz verschieden sein. Einige Bausteine wie Kontaktaufnahme und
Beziehungsaufbau werden regelmäßig benötigt, andere hingegen nur vereinzelt. Die idealtypisch
getrennten Bausteine machen nur im Gesamtkontext der Therapie Sinn und sind nur in
Kombination miteinander sinnvoll.
Auf diese Weise entstehen ganz unterschiedlich große und geformte Therapiekonzepte, von
Hansen und Iven auch als „Häuser“ (Hansen/Iven 2002, S. 61) genannt, die alle verschiedenartig
zusammengesetzt sind und „unterschiedlich lange Bauzeiten“ (a.a.O., S. 61) benötigen. Im
übertragenen Sinne bedeutet dies, dass passend zur weit gefächerten Individualität des StotterSyndroms ein individuell anpassbares Therapiekonzept zur Verfügung steht, dass sich in
Schwerpunkten und Dauer ganz auf den Stand des einzelnen Kindes anpassen lässt.
Hervorzuheben ist noch, dass den Eltern eine wichtige Rolle während der Therapie zukommt. Sie
werden sowohl durch Elterngespräche in die Diagnostik als auch in die Therapiestunden mit
einbezogen. Dies bedeutet für die Therapeuten eine enge Kooperation zwischen Eltern und
Umfeld in der eine offene und wertschätzende Beratungshaltung und eine gegenseitige
Unterstützung in einem gemeinsamen Prozess von Nöten sind.
Folgende 13 Bausteine haben Hansen und Iven zusammengestellt:
•
Baustein „Kontaktaufnahme und Beziehungsaufbau“
•
Baustein „Begriffe begreifen können“
•
Baustein „Weiches, leichtes und langsameres Sprechen“
•
Baustein „Ausdehnung und Automatisierung der flüssigen Sprechanteile“
•
Baustein „Konkrete und offene Auseinandersetzung mit Unflüssigkeiten und Stottern“
•
Baustein „Stimme, Atmung und Entspannung“
•
Baustein „Selbstaktualisierung und Kreativität“
•
Baustein „Einstellungen und Selbstkonzept“
•
Baustein „Frustrationstoleranz“
•
Baustein „Reduzierung der kommunikativen Verantwortung“
•
Baustein „Aufgreifen weiterer (Sprach-) Entwicklungsrückstände“
33
•
Baustein „Transfer“
•
Baustein „Nachsorge und Beenden der Therapiestunden“
(aus: Hansen/Iven 2002, S. 60 ff.)
Ebenso individuell wie die Therapie können auch die Therapieziele ausfallen. Von der Erlangung
einer
umfassenden
Sprechflüssigkeit
bis
hin
zur
Akzeptanz
von
verbliebenen
Sprechunflüssigeiten oder Stottern ist alles denkbar. „Daher möchten wir als Therapieziel auch
nicht simplifizierend nur die Sprechflüssigkeit benennen, obwohl sie natürlich das Hauptziel der
therapeutischen Bemühungen ist. Das Erreichen der individuell und situativ größtmöglichen
Sprechflüssigkeit und kommunikativen Sicherheit sowie die Autonomie des Kindes und seiner
Kommunikationspartner im Umgang mit der erreichten Sprechflüssigkeit oder auch
weiterbestehenden Unflüssigkeiten und Stottersymptomen erweisen sich sich in diesem offenen
Konzept als tragfähiger.“ (a.a.O., S. 62 ff.)
Im Folgenden werden nun die Bausteine der Übersicht halber zum Teil in Tabellenform
vorgestellt.
(1) Baustein „Kontaktaufnahme und Beziehungsaufbau“
Mit den folgenden Vorschlägen möchten die beiden Autoren günstige Voraussetzungen schaffen,
damit es den Kindern etwas leichter fällt sich an die neue Umgebung, die neuen
Kommunikationspartner und die neuen Anforderungen zu gewöhnen.
Die Vorbereitung des Therapieraumes sollte zum Ziel haben die Räumlichkeiten für das Kind
überschaubar und motivierend zu gestalten. Es kann vorher eine Materialauswahl getroffen
werden, die sich auf Altersgruppe oder bekannte Vorlieben bezieht. So wird das Kind nicht mit
einer unüberschaubaren Fülle von Möglichkeiten belastet und kann vertraute Strukturen
wiederfinden.
Der Zeitpunkt der Therapie sollte sich in Absprache mit den Eltern am Tagesablauf das Kindes
orientieren. Termine an denen das Kind normalerweise Mittagsschlaf hält, oder erschöpft vom
Fussballtraining kommt, sind ungünstig.
Die Möglichkeit Vertrautes mitzubringen, kann dem Kind dabei helfen die anfänglichen
Unsicherheiten besser zu überwinden. Außerdem entsteht ein erster Gesprächsanlass, in dem man
sich über die mitgebrachte Puppe unterhalten kann. Auch das Mitbringen einer Begleitperson, in
der Regel ein Elternteil, gibt dem Kind Sicherheit, da es dadurch nicht ganz auf sich allein gestellt
ist (Hansen/Iven 2002, S. 120).
Darüber hinaus ist es sinnvoll, sich als Vorbereitung Gedanken darüber zu machen welche
Themen das Kind interessieren könnte. Fragen nach dem Tagesablauf oder nach zu Hause
34
vorhandenem Spielzeug um dann gemeinsam nach ähnlichen Dingen im Therapieraum zu
schauen,
sind
mögliche
Einstiegsthemen.
Damit
wird
die
Wahrscheinlichkeit
eines
kommunikativen Austausches erhöht.
Die folgenden Aspekte der Therapieplanung sind nicht nur in der Kontaktaufnahme sondern in
jeder Phase der Therapie für eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeut, Kind und
Angehörigen wichtig:
Vereinbarungen treffen
•
Vereinbarungen sollen Sicherheit in ungewohnten Situationen vermitteln. Mögliche
Vereinbarungen sind:
- Ritual für Beginn und Ende der Stunde
- Einsatz der Spielmaterialien z.B.: „Zuerst suchst du dir etwas aus, danach bin ich
an der Reihe.“, (a.a.O., S. 120).
Zeit lassen
•
Wenn sich Kinder konzentriert und interessiert mit einem Spielmaterial beschäftigen,
sollten sie dabei nicht unterbrochen werden.
Grenzen akzeptieren
•
Sehr scheue oder zurückhaltende Kinder können erst einmal das Geschehen beobachten.
Mit der Begleitperson kann ein Spiel begonnen werden, bei das Kind mitmachen kann,
wenn es sich sicher genug fühlt.
Beim Kind bleiben
•
Innerhalb der Sitzung sollte nicht mit der Begleitperson über das Kind (hinweg)
gesprochen werden, es muss immer einbezogen sein.
Therapietransparenz
•
Therapieplanung und -ablauf sollte den Angehörigen überschaubar vermittelt werden.
Dazu gehört beispielsweise, dass auch das Schweigen des Kindes akzeptiert wird um zu
vermeiden, dass die Begleitpersonen Druck entwickeln, um das Kind zum Sprechen zu
bringen. Außerdem ist es wichtig, die Eltern über therapeutische Grundhaltungen,
Zielsetzungen und Perspektiven zu informieren, damit sie das gemeinsame Handeln
einordnen können.
35
Auf das Kind eingehen
Wenn z.B. ein Kind nicht gehen möchte,
•
kann es sich etwas aus dem Raum ausleihen, was es beim nächsten Mal wieder mitbringt.
•
ist ein Ausblick über eine für die nächste Stunde geplante Spielidee günstig.
Oder wenn Kinder etwas Unentbehrliches mitnehmen wollen,
•
kann sich der Therapeut z.B. einen Zauberspruch ausdenken, ohne den das Spielzeug
nicht mehr zu gebrauchen ist und mit dem das Kind das Spielzeug in der nächsten Stunde
wieder zu neuem Leben erweckt. Oder man versteckt es zusammen mit dem Kind an
einem geheimen Ort.
Brücken zwischen den Erfahrungswelten bauen
•
Therapeuten können den Kindern wichtige Materialien wie Federn, Murmeln, etc.
mitgeben um die Erlebnisräume Therapie und Alltag zu verknüpfen.
Ideologiefreiheit
•
Auch wenn sie von denen des Therapeuten abweichen, sind die Wertvorstellungen und
Erziehungshaltungen der Klienten zu respektieren.
•
Es darf nicht zu Abwertungen des Kindes oder der Begleitpersonen aufgrund des eigenen
Geschmacks kommen.
(vgl. Hansen/Iven 2002, S. 120ff.)
(2) Baustein „Begriffe begreifen können“
In der Therapie von Hansen und Iven sollen die Kinder unterscheiden lernen zwischen weich und
hart, leicht und schwer, lang und kurz, langsam und schnell. „Diese Begriffe sind in
therapeutischer Hinsicht nicht nur als stimm- und sprechtechnische Charakteristika anzusehen,
sondern als gesamtkörperlich erfahrbare Qualitäten, so wie auch das Stottern seinen
gesamtkörperlichen Ausdruck findet“ (a.a.O., S. 122 ff.). Materialien, Bilder, Symbole,
Visualisierungshilfen und Vorstellungen, sollen helfen den Kindern die unterschiedlichen
Qualitäten näher zu bringen.
Dieser Baustein beinhaltet:
Material
Weich versus hart
Feder – Stein, Watte – Metall, Wolle – Holz, Fell –
Tannennadeln, Sand – Kieselsteine, Samt – Sandpapier,
Kissen – Bettgestell, Haut – Knochen, Banane –
Knäckebrot, Pfirsich – Pfirsichkern, Wackelpudding –
Keks
Leicht versus schwer
Federn – Stein, Watte – Metallgewicht, Tischtennisball –
Medizinball, Seidentuch – Wolldecke, leere Tüte tragen –
36
volle Tüte tragen, Luftballon – Wasserballon, Seifenblasen
- Glasmurmeln
Lange versus kurz
Lange Papprohre – kurze Papprohre, lange Seile – kurze
Seile, lange Fäden – kurze Fäden, gedehntes Gummiband
– ungedehntes Gummiband, lange Ohren (Hase) – kurzer
Schwanz (Hase), Jahr – Sekunde, fallende Feder –
fallender Stein, Geschichte erzählen – Witz erzählen,
langes Wort sagen – kurzes Wort sagen, Perlenkette
auffädeln – Perlenkette auflösen
Langsam versus schnell
Nilpferd – Pferd, Kutsche - Rennwagen, Müllauto –
Feuerwehr, Dreirad – Motorrad, Schnecke – Maus,
Schildkröte – Katze, Stundenzeiger – Sekundenzeiger,
Maikäfer – Fliege, Ruderboot – Motorboot, Dampflok –
ICE, Zeitlupenbewegungen – Zeitrafferbewegungen
(aus: Hansen/Iven 2002, S. 123)
Im Umgang mit den Materialien ist es nützlich, diese Auseinandersetzung in einen spielerischen
Rahmen einzubetten. Beispielsweise können die Qualitäten weich/hart von den Mitspielenden
sortiert werden. Es können die harten Dinge auf dem Spielzeuglaster zum Spermüll gefahren, mit
den weichen Dingen kann man sich streicheln, abtupfen oder bewerfen. Bei leicht/schwer könnte
sich ein fauler Hotel-Page nur die leichten Koffer und Tüten heraussuchen, während er die
schweren Sachen für seine Kollegen stehen lässt, die sich dann laut beschweren dürfen. Ein
weiterer spielerischer Umgang mit den Qualitäten langsam/schnell könnte sein, die Qualität
„langsam“ positiv zu besetzen. Nicht der Schnellste gewinnt, sondern der Langsamste. Auch das
Spiel mit Stoffpuppen wie Schnecke, Schildkröte, Raupe oder Kasper mit Schlafmütze fördern
die Identifikation mit den Kennzeichen Langsamkeit und Ruhe.
Weitere Spielanregungen von Hansen und Iven sind in ihrem Buch im Kapitel 7.2. Baustein
„Begriffe begreifen können“ zu finden (vgl. a.a.O., S. 122, ff.).
(3) Baustein „Weiches, leichtes und langsameres Sprechen“
In diesem Baustein geht es um die Einführung des sogenannten „WLL-Sprechens“. Die
Abkürzung „WLL“ steht für Folgendes:
W-weich: weicher Stimmeinsatz und weiche Stimmführung, druckfreier Sprechbeginn, fließene
Phonotation ohne Stopps
L-leicht: anstrengungsfreies Sprechen ohne Zeit- oder Kommunikationsruck und mit wenig
Krafteinsatz, leicht gebundenes Sprechenden
L-langsam: Verlangsamung des Sprechtempos durch Dehnung der (betonten Vokale)
(aus: Hansen/Iven 2002, S. 127)
Die beiden Autoren betonen, dass es sich bei ihrer Therapie nicht um eine Sprechtechnik oder ein
Sprechkontrollierungsverfahren handelt. Vielmehr sollen sich die Kinder spielerisch und
37
eigenaktiv an eine neue Sprechweise herantasten. Hansen und Iven machen den Kindern „ein
Angebot von sprechflüssigkeitsfördernden Spielhandlungen“ bei denen die Kinder „umfangreiche
Erfahrungen mit flüssigem Sprechen“ machen können und schließlich eine Wahlfreiheit erlangen,
„in der flüssigeres Sprechen möglich, aber nicht erzwungen wird“ (a.a.O., S. 126).
Ausgehend von dieser Wahlfreiheit werden für und mit dem Kind individuelle, entwicklungs- und
kommunikationsorientierte „Sprachhandlungsspielräume“ (ebd.) geschaffen:
Experimentieren und Ausprobieren
•
Wenn Kinder Bewegungen mit Lauten begleiten, können sie erste Erfahrungen mit einer
weichen Stimmführung machen, z.B.:
Murmeln in einem Rohr oder auf der Kugelbahn, Federn während des Fluges, das
Schweben von Seifenblasen oder Sand der durch eine Sanduhr rinnt, wären geeignete
Angebote zum experimentieren.
Das Variieren von Stimme und Lauten kann näher gebracht werden, indem die Kinder:
•
durch unterschiedlich große Flüstertüten sprechen (winzig kleine Flüstertüte: leise
Stimme, riesengroße Flüstertüte laute Stimme), eine Sirene imitieren mit auf- und
abschwellendem Ton, abwechselnd flüstern und mit normaler Stimme sprechen, manuelle
Dehnung eines Gummibandes mit Lauten begleiten oder Tierlaute imitieren.
Einbettung in Sprechhandlungen
•
Nach der Experimentierphase mit Lauten, werden die gesammelten Erfahrungen auf
Sprechanlässe übertragen. Häufig gehen Kinder schon von sich aus während der
Experimentierphase in Sprechhandlungen über, dieses Verhalten kann man nutzen.
Spiele für die Wortebene
•
Das Zaubergummiband:
- man braucht eine Zaubererhandpuppe und Haushalts-Gummiringe
- mit dem Gummiband verzaubert der Zauberer die Worte, die jemand sprechen
möchte
- je länger das Wort, umso länger wird das Gummiband gedehnt und zwar bei
jedem Wort
- schon der Zauberspruch „Hokus-Pokus“ wird zu „Hoookuuuus-Pooookuuuus“,
erhält das Kind ein verzaubertes Gummiband, „kaaaann eeees daaaas aaaauch“
•
Alles durcheinander:
- ein Tastspiel, bei dem weiche Gegenstände in einem Sack und harte Dinge in einer
Kiste erfühlt und benannt werden
38
- wenn möglich, auch entsprechend der Eigenschaften der Gegenstände ihren Namen
weich oder hart sprechen
- vor der nächsten Stunde werden alle Gegenstände auf einen Haufen geschmissen und
man bittet das Kind beim Sortieren entsprechend der Qualitäten zu helfen
Spiele für die Satzebene
•
Im Schneckenland:
- mit Schneckenhandpuppen oder selbstgebastelten Schnecken geht es auf
Schneckenreise
- im Raum sind verschiedene Stationen aufgebaut: leckerer Salat (grünes Ostergras),
- Igel als Mitbewohner, Schnecken-Rennbahn (Spielplan mit Würfelfeldern, wer zuletzt
ankommt, hat gewonnen), Sandkasten, in dem die Schnecken noch langsamer vorwärts
kommen, Laub- oder Reisighaufen zum schlafen
- sprachliches Modellverhalten des Therapeuten ist wichtig, beim gemeinsamen Handeln
und Entdecken ist eine gedehnte, langsame, flüssige Sprechweise selbstverständlicher
- Bestandteil der Schneckenkommunikation
•
Die Zeitlupenbande:
- die Zeitlupenbande möchte die Zwerge, die von einem Krokodil entführt worden sind,
befreien
- das Krokodil hat schnelle Augen und nimmt nur schnelle Bewegungen wahr, die
Bande wird durch langsame Bewegungen unsichtbar
- in einem Brief erfahren sie, welche Aufgaben sie lösen müssen, um den
Gefängnisschlüssel zu bekommen: mit Motorrad nach Musik über Berge fahren,
bei schneller Musik schnell, bei langsamer Musik finden sich alle an einem Ort ein, um
eine Aufgabe langsam zu lösen
- die Zwerge können befreit werden und müssen langsam auf den Motorrädern nach
Hause gefahren werden
- zu Hause feiern alle ein Fest
Zusätzliche Bedingungen, Materialien und Medien zur Unterstützung von weichen, koordinierten
Bewegungsabläufen:
•
Die Soft-Box:
- ein Karton, in dem viele weiche Gegenstände enthalten sind und der immer für
alle möglichen Spielideen bereit steht
•
Die Kuschelecke:
- ein Ort aus Decken, Kissen und Matratzen an dem Entspannung als
Ganzkörpererfahrung erlebt werden kann, hier können Geschichten erzählt werden oder
39
die Kinder ruhen sich aus
•
Pustespiele:
- Bällen, Wattebäuschen, kleinen Plastikautos dienen der Förderung der
Atemkoordination
- gezielte Atemführung statt reiner Atemkraft ist hier wichtig, z.B. eine Kerze zum
Flackern bringen, ohne sie auszupusten; einen Gegenstand durch einen
Hindernisparcours pusten; oder einen Flötenton so lange oder so leise wie möglich
spielen
•
Bewegungserfahrungen:
- eigene Bewegungserfahrungen erleichtern den Kindern unter anderem auch die
Erkenntnis, ob etwas hart oder weich ist
- z.B. bei einem Billardspiel werden harte und weiche Stöße vorgemacht, ausprobiert und
den Kriterien hart/weich zugeordnet
(vgl. Hansen/Iven 2002, S. 126ff.)
Weitere Spiele für die Wort- und Satzebene, sowie zusätzliche Materialien und Medien gibt es in
dem Kapitel 7.3 Baustein „WLL-Sprechen“ von Hansen und Iven ab S. 126.
(4) Baustein „Ausdehnung und Automatisierung der flüssigen Sprechanteile“
In der Sprache des unflüssig sprechenden Kindes gibt es immer auch Situationen in denen das
Kind flüssig spricht. Auf dieser Erkenntnis basiert das sogenannte Fluency-Shaping, an dem sich
dieser Baustein orientiert. Das bedeutet, Situationen, in denen das Kind flüssig spricht, werden im
diagnostischen Prozess erfasst und sich dann nachfolgend zu Nutze gemacht (vgl. a.a.O., S. 135).
Auch hier ist das sprachliche Modellverhalten des Therapeuten besonders wichtig.
Die folgende Tabelle enthält Spielvorschläge, die aufsteigend nach sprachlicher Anforderung, von
der Ein-Wort-Ebene über Nacherzählungen bis hin zu In-Vivo-Übungen, geordnet sind.
Wird zum Beispiel bei einem Kind im diagnostischen Prozess festgestellt, dass es zwar meist
stark stottert, jedoch bei festen Formulierungen flüssig spricht, so wird therapeutisch auf der
Ergänzungssatzebene (siehe folgende Tabelle) angesetzt. Nach und nach werden die
Anforderungen auf spielerische Weise erhöht, hin zur Aussagesatzebene, Nacherzählungen, usw.
Stufe
Anforderungsniveaus
- Ein-Wort-Ebene
des Übungen
- es sind alle Spiele geeignet, bei denen Bilder, Gegenstände,
oder Handlungen mit einem Wort benannt werden können,
z.B. Memory, Stille Post, Berufe/Tiere raten bei
pantomimischer Darstellung, Geräusche raten, Grabbelbeutel
40
(In dem Gegenstände ertastet und benannt werden müssen)
- Ergänzungssatzebene
- hier eignen sich alle Spiele, bei denen feste Formulierungen
durch einen wechselnden Begriff erweitert werden, z.B. Ich
sehe was, was du nicht siehst, Lieder wie „Auf der Mauer, auf
der Lauer“, „Jetzt fahren wir über 'n See“
- Aussagesatzebene
- es sind alle Spiele von Nutzen, die mit wenigen, aber frei
formulierten Sätzen/Fragen/Antworten funktionieren, z.B.
„Ratefüchse“ (Ravensburger Spiele), Pantomimische Rätsel,
oder für ältere Kinder „Wissensquiz für Kinder“ (Noris-Spiele)
- Nacherzählungen
- hierbei werden Geschichten und Bilderbücher nacherzählt,
-gespielt, -gemalt oder gebaut
- Monolog
- alle Spielhandlungen, in denen zunächst ein Partner die
sprachliche Führung übernimmt, sind gemeint
- wenn der Therapeut spricht, hat das Modellcharakter für das
Kind, ist das Kind an der Reihe, so hat es keinen Zeitdruck
und muss sich nicht vor Unterbrechungen fürchten
mögliche Spiele: Malen nach Anweisung, Tastspiele, „Was-istfalsch“-Bilder
- Dialog
-diese Spielformen eignen sich, um einen Dialog zu führen:
Handpuppenspiele,
Rollenspiele,
gemeinsam
basteln,
Spiele/Spielregeln selbst erfinden, Kasperltheater, Märchen
und Geschichten nachspielen
- In-Vivo-Übungen
- diese Übungen sind die anspruchsvollsten von den hier
bisher genannten, da sie außerhalb der üblichen Therapieform
stattfinden, wie z.B.: jemanden anrufen, einkaufen, Freunde
besuchen oder in die Therapie mitbringen, fremde Personen
um Auskunft fragen, Reportage in der Fußgängerzone,
Hörspiel aufnehmen
- Weitere Hilfen
- eine gute Möglichkeit, um flüssigeres Sprechen zu
ermöglichen, sind Bilderbücher, in denen immer die gleichen
Formulierungen verwendet werden, wie z.B. „Die kleine
Raupe Nimmersatt“ (E. Carle, Gerstenberg-Verlag), Heti und
der Fuchs (M. Fox, Coppenrath-Verlag)
(vgl. Hansen/Iven 2002, S. 135ff.)
„Allen diesen Anregungen und Spielvorschlägen ist gemeinsam, dass sich in ihnen die
Aufmerksamkeit nicht auf die Vermeidung von Unflüssigkeiten richtet, sondern auf die Erfahrung
von Sprechflüssigeit.“ (a.a.O., S. 137). Verstärkt wird diese Kompetenz-Gefühl noch, indem man
dem Kind sagt, wie schön es erzählt hat, oder wie angenehm seine Worte klingen.
(5) Baustein „Konkrete und offene Auseinandersetzung mit Unflüssigkeiten und Stottern“
Wenn Kinder auf ihre eigenen Sprechunflüssigkeiten reagieren und besonders, wenn sich diese
Reaktionen weiterentwickeln und sie z.B. mit mehr Druck, erhöhter Sprechgeschwindigkeit oder
größerer Anspannung versuchen gegen die eigenen Unflüssigkeiten anzukämpfen, ist es sinnvoll,
41
den Kindern einen direkten, aber angstfreien Umgang mit dem Stottern anzubieten.
„Die Zielsetzung dieses Therapiebausteins ist es, den Kindern durch einen spielerischen,
entspannten Umgang mit allen möglichen Formen von Unflüssigkeiten die Angst vor dem
Stottern zu nehmen, das Stottern zu enttabuisieren und damit zum Abbau von Anstrengungs- und
Vermeidungsverhalten beizutragen.“ (a.a.O., S. 138). Durch die Desensibilisierung sollen die
Kinder anstrengungsfreier, ruhiger und gelassener mit ihren Unflüssigkeiten umgehen können.
Die nächsten Handlungsanregungen sollen dabei helfen:
Ziele/Spielform
Erklärung/Beispiel
Unempfindlich werden
- bei der Desensibilisierung ist es wichtig, geeignete
Begriffe zu verwenden; „Stottern“ ist meist negativ
besetzt und „Unflüssigkeit“ zu unkonkret für Kinder
- z.B. sind „Hüpfen“, „hopsen“ oder „stolpern“ für
Sprechunflüssigkeiten geeignet, bei denen Laute, Silben
oder Wörter wiederholt werden
- „stecken bleiben“, „Handbremse ziehen“, „stocken“,
„festklemmen“ oder „hängen bleiben“ eignen sich zur
Beschreibung von Blockaden
- „langziehen“ oder „draufbleiben“ bieten sich für
Prolongationen
- Wettbewerb der Unflüssigkeiten
- wer kann am häufigsten, am härtesten, am schönsten,
am längsten „stecken bleiben“ oder „hüpfen“?
- hier lernt das Kind, dass man sich für Unflüssigkeiten
nicht schämen braucht und man sogar mal darüber lachen
kann
- Mein Stottern gestalten
- Kinder können ihr Stottern auch malen
- laut Hansen/Iven (2002, vgl. S. 140) entstehen dabei
Zickzackmuster, unterbrochene Linien, Blitze im Mund,
oder Wolken über dem Kopf
- Roboter-Spiel
- das Kind spricht wie ein Roboter: kurz, abgehackt und
monoton
- der Partner muss den Aus-Schalter suchen, indem er
verschiedene Punkte des Körpers drückt
- der Roboter geht aus, wenn die richtige Stelle, die er
sich vorher ausgedacht hat, gedrückt wird
Selbstwahrnehmung
- die Kinder sollen die Körperteile und -funktionen, die
man zum Sprechen braucht kennenlernen
- Körper oder Kopf sollen gemalt werden und die Teile,
die man beim Sprechen benutzt, werden bunt ausgemalt
- Symptome finden
- Fremd- und Eigenwahrnehmung wird gefördert, in dem
das Kind Unflüssigkeiten wahrnehmen und dies z.B. mit
einem Glöckchen signalisieren soll
- zunächst beim Therapeuten, später werden dann die
eigenen Unflüssigkeiten markiert
- Aufnahmen machen
- Gesprochenes wird aufgenommen und abgespielt und
42
wie eben auch, soll auf eine wahrgenommene
Unflüssigkeit mit z.B. einem Glöckchen markiert werden
- Unterstützung durch Handpuppen
- eine Handpuppe kann das Stottern des Kindes imitieren
- 'Mal sehen, ob Teddy das genauso gut kann wie du!'
(Hansen/Iven 2002, S. 141)
- dabei wird die Unflüssigkeit positiv bewertet, als etwas,
das nachgeahmt wird und nicht negativ als Fehler, der
gefunden werden muss
Veränderung von Unflüssigkeiten
- Grabbelsack
- Gegenstände im Grabbelsack werden in hart oder weich
eingeteilt und sollen dann auch entsprechend hart oder
weich ausgesprochen werden
- Bilder und Vorstellungen
- gegensätzliche Sprechqualitäten und fließende
Übergänge sollen geübt werden:
z.B. Bewegung zur Trommelmusik im Wechsel mit
fließender Musik; oder eine Reise mit dem Auto bei der
das Auto zunächst leicht und gut fährt (fließendes,
weiches Sprechen), dann einen Berg hinauf fährt
(angestrengtes Sprechen), den Berg hinunter fährt
(schnelles Sprechen) und plötzlich das Benzin alle ist und
der Motor stottert
Stabilisierung
- hierbei geht es um die Festigung der neuen
Sprechqualitäten und deren Anwendung in vielfältigen
Situationen
- das passiert in Entsprechung zum Baustein „WLLSprechen“
- der Umgang mit Störreizen (unterbrochen werden, laute
Umgebung, unter großer emotionaler Beteiligung
sprechen oder mit fremden Leuten reden) steht hier
ebenfalls im Vordergrund, wobei eine weiche, langsame
Sprechweise beibehalten werden soll
(vgl. Hansen/Iven 2002, S. 137ff.)
Weitere Spielvorschläge gibt es
im Kapitel 7.5 Baustein „Konkrete und offene
Auseinandersetzung mit Unflüssigkeiten und Stottern“ von Hansen/Iven ab S. 137ff.
(6) Baustein „Stimme, Atmung und Entspannung“
Hansen/Iven ist es ein Anliegen nervös und angespannt wirkenden Kindern Übung darin zu geben
wie sie sich entspannen können. Hierbei gilt dasselbe, wie bei allen anderen Übungen; die
Therapie muss einen Bezug zur Lebenswirklichkeit der Kinder aufweisen und außerdem
entwicklungs- und kommunikationsorientiert gestaltet werden. Ab der Seite 142ff. schlagen die
Autoren folgende Übungen vor:
43
Gegensätze erfahren
•
hierbei können die Kinder erfahren wie es ist, z.B. abwechselnd hart wie Stein,oder
oder weich wie Wasser zu sein, oder sie bewegen sich im Wechsel zu schneller oder
langsamer Musik
•
aus der Progressiven Muskelentspannung von Jacobson können die bekannten Prinzipien
kindgerecht mit Bildern verknüpft werden z.B. wenn eine Zitrone mit der
Hand ausgedrückt wird, oder Fingerabdrücke in Knetmasse hinterlassen werden
Fantasiereisen
•
beim Vorlesen von Fantasiereisen, Entspannungsmärchen oder Gute-Nacht-Geschichten,
erlebt das Kind emotionale Zuwendung und eine verstärkte Konzentration auf eigene
innere Bilder
Ganzkörperwahrnehmung, -entspannung, und -handlung
Hierbei helfen ebenfalls Bilder, sich in einen entspannten Zustand zu versetzen:
•
Der fliegende Teppich:
- das Kind liegt auf einem Tuch und wird von Eltern oder Therapeut hoch gehoben und
ruhig hin und her geschaukelt
•
Das Ritterturnier:
- auf einem Holzstab, an dem ein vorher gebastelter Pferdekopf befestigt ist, wird um die
Wette geritten
- nach einer Weile sind die Ritter erschöpft und legen sich auf den Boden und spüren wie
schwer ihre Beine und Rest des Körpers sind nach der Anstrengung
Entspannung der Stimme
Um die Stimme zu entspannen, muss der Stimmdruck verringert werden. Hierbei helfen Übungen
mit Gegensätzen. In Spielsituationen in denen sie z.B. Sirenengeheul nachahmen, das an- und
abschwillt oder sie durch Flüstertüten mal laut, mal leise rufen, erfahren sie wie viel Stimmdruck
man benötigt, um laute Töne hervorzubringen und wie wenig, um leise Töne zu erzeugen.
Abbau von körperlicher Anspannung
Nach einer langen Autofahrt oder einem anstrengenden Tag, hat sich in manchen Kindern eine
große körperliche Energie aufgestaut. Zu Beginn der Stunde kann man sie z.B. auf einem
Zimmertrampolin hüpfen lassen oder ein kleines Wettrennen auf dem Flur veranstalten.
Entspannungsrituale einführen
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Wiederkehrende Entspannungs- und Ruhesituationen können eingeführt und zu Hause
übernommen werden. Z.B. ein Flüstergruß, der im Stille-Post-Prinzip von Person zu Person geht,
oder das Suchen eines leise tickenden Weckers im Therapieraum sind möglich.
(7) Baustein „Selbstaktualisierung und Kreativität“
Damit Kinder zu kommunikationsstarken Individuen heranwachsen ist es von Nöten, dass sie
eine Selbstwahrnehmung und ein möglichst stabiles Selbstwertgefühl entwickeln.
Mit dieser Selbstkompetenz sind sie in der Lage, Verantwortung für sich und andere
zu
übernehmen, sich abzugrenzen ohne den Anschluss an Gruppenmitglieder zu verlieren und sie
lernen einzuschätzen, ob sie Dinge selber meistern können oder sie Hilfe benötigen. Nach
Hansen und Ivens Auffassung bedeutet dies im therapeutischen Sinne, „dass Kinder zusätzliche
Wahlmöglichkeiten erleben, wenn sie entsprechende Selbstkompetenzen aktualisieren können.“
(a.a.O., S. 145).
Der von Rogers geprägte Begriff „Selbstaktualisierung“, der seiner Persönlichkeitstheorie
entspringt, setzt sich folgendermaßen zusammen:
•
das „Selbst“ formt sich im Prozess der frühkindlichen Entwicklung aus den
Körperwahrnehmungen und Emotionen, die im Zusammenspiel mit der Umwelt
entstehen, heraus und es organisiert und strukturiert diese Erfahrungen
•
„Aktualisierung“ meint den Vorgang, bei dem der Mensch versucht, alle neuen
Erfahrungen und Emotionen in ein einmal gewonnenes Gefüge einzupassen
•
„Aktualisierungstendenz“ ist die Tendenz, die 'den Menschen in Richtung auf das bewegt,
was als Wachsen, Reife, Lebensbereicherung bezeichnet wird' (a.a.O., S. 146)
(aus: Hansen/Iven 2002, S. 146)
Von Bedeutung ist dabei eine Umgebung, in der das Individuum ein ihm angemessenes
psychisches und physisches Klima vorfindet, „damit Organismus und Selbst in sich stimmig in
die gleiche Richtung streben.“ (ebd.).
Ausgehend von diesen Annahmen bietet laut der Auffassung von Hansen/Iven die
gestalttherapeutisch
fokussierte
Verfahrensweise
einen
geeigneten
Rahmen
für
die
Sprachtherapie. Innerhalb der Therapie können die Kinder durch die enge Verbindung von
„Emotionalität, Körperarbeit und die Umstrukturierung von kognitiven Bewertungsmustern“
(ebd.) kreativ und gestalterisch tätig sein.
In dem gestalttherapeutischen Konzept von Oaklander, auf dass sich auch Hansen/Iven beziehen,
können die Eigenwahrnehmung, das Selbstbild und das Selbstwertgefühl aufgebaut und verändert
werden. Das Konzept möchte den Kindern den Zutritt zu ihrer eigenen Kreativität und Fantasie
erleichtern. Zum Beispiel malen mit verschiedenen Materialien, plastisches Gestalten,
45
Handpuppenspiele und sensorische Erfahrungen, sowie der Einsatz von Theaterspielen und
Körperbewegung in Verbindung mit Musik soll die Basis für eine größtmögliche
Individualisierung ermöglichen (ebd.).
„Als therapeutische Qualitäten werden hier auch das Loslassen der Kinder, das Abwarten der
kindlichen Initiativen und das Erschließen kindlicher Bedürfnisse unter weitgehendem Verzicht
auf gut gemeinte, aber vorschnelle Unterstützung wichtig. Dadurch lernt das Kind sein eigenes
Tun als bedeutend kennen.“ (ebd.).
Nach Pommerin et al. (ebd.) zeichnet sich Kreativität durch folgende Punkte aus:
- Originalität: Etwas nie da gewesenes Neues wird geschaffen. So können sich Kinder, z.B.
indem sie ihre Welt neu 'konstruieren', völlig anders mit Daseinsthemen auseinandersetzen (das
Stottern kneten, die Geschichte vom lieben Stottermonster entwicklen, o.Ä.)
- Erfindungs- und Entdeckungsgabe: etwas nie da Gewesenes wird erdacht oder etwas
Unbekanntes, schon immer da gewesenes wird erfunden (Was wäre, wenn alle Menschen
stottern? Wie der Strudel in der Badewanne entsteht, wenn der Stöpsel gezogen wurde.)
- Offenheit: offene, aufnehmende Haltung des Individuums der Umwelt gegenüber
- Produktivität und Gedankenflüssigkeit: z.B. Assoziationen und Einfälle zu einem Thema oder
Reizwort (z.B. Märchen vom Fischer und seiner Frau: Wenn sie in der heutigen Zeit leben würde,
hätte sie bestimmt ganz andere Wünsche. Was kann man Tolles mit Stottern in der Stadt machen?
Wenn alles weich wäre, die Autos, die Häuser, die Schule, wie würde die Welt dann aussehen?)
- Flexibilität: Kompetenz, in neuen Situationen auf neue Art und Weise handeln und gedanklich
umstrukturieren können (z.B. Ich-Geschichten aus der Sicht eines Kleidungsstückes, eines
Bleistiftes oder eines Hundes)
(aus: Hansen/Iven 2002, S. 146f.)
(8) Baustein „Einstellungen und Selbstkonzept“
Dieser Baustein ist besonders dann von Nöten, wenn ein Kind ein Problembewusstsein bezogen
auf sein Stottern entwickelt hat. Wenn sich Kinder also sorgen, dass sie etwas nicht so gut können
wie die Anderen, es ihnen unangenehm ist oder ihr Selbstkonzept von Gefühlen der Inkompetenz
eingefärbt ist, so ist es empfehlenswert, diesem Baustein besondere Beachtung zu schenken.
Hansen/Iven empfehlen einen Einstieg in die Thematik des Selbstkonzepts über Kinderbücher, in
denen es darum geht, anders zu sein und dass es gut ist, zu sein wie man ist.
46
Nachfolgend werden ein paar von den Buchvorschlägen, die Hansen/Iven ab S. 148 machen,
aufgelistet:
(Bilder-) Bücher zum Anders-Sein und Selbstbewusstsein
•
„Zicke-Zacke, jedem seine Macke“ (H. Balthun, Mausebär-Verlag)
•
„Irgendwie anders“ (K. Cave/C. Riddell, Oetinger)
•
„Das Kleine Ich bin Ich“ (M. Lobe, Jungbrunnen)
(Bilder-) Bücher zu Selbstbewusstsein und Mut
•
„Vom kleinen Maulwurf, der Wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“ (W.
Holzwarth/W. Erlbruch, Hammer)
•
„Das Traumfresserchen“ (M. Ende/A. Fuchsberger, Thienemann)
•
„Wo die wilden Kerle wohnen“ (M. Sendak, Diogenes)
(Bilder-) Bücher zu Freundschaft und Geborgenheit
•
„Freunde“ (H. Heine, Middelhauve)
•
„Tiger und Bär“ -Bücher (Janosch, Beltz)
•
„Findus und der Hahn im Korb“ (S. Nordquist, Oetinger)
(Bilder-) Bücher zum Thema Angst und Konfliktlösung
•
„Der tapfere Theo“ (E. Dietl, Thienemann)
•
„Nur Mut, Willi Wiberg (A. Fuchshuber, Thienemann)
Vorlese- und erste Lesebücher, die den gesamten Themenkomplex von Anders-sein,
Selbstbewusstein, Freundschaft und Konfliktlösung ansprechen
•
„Die kleine Hexe“ (O. Preußler, Thienemann)
•
„Das kleine Gespenst“ (O. Preußler, Thienemann)
•
„Der kleine dicke Ritter“ (R. Bolt, dtv)
(aus: Hansen/Iven 2002, S. 148)
Zusätzlich ist es für ein Kind lehrreich, wenn es erfährt, dass auch Erwachsene nicht alles können.
Ebenso kann ein Gespräch darüber, was man als Kind nicht gut konnte oder immer noch nicht gut
kann eine Hilfe sein.
47
(9) Baustein „Frustrationstoleranz“
Häufig sind unflüssig sprechende Kinder nur schlecht in der Lage, mit momentanen Niederlagen
oder Frustrationen umzugehen. Die Gefahr ist groß, dass sie davon grundlegend erschüttert
werden können, da ihnen ein gutes Selbstwertgefühl als Basis für die kommunikative Sicherheit
fehlt. Dies kommt zum einen daher, dass besonders ältere Kinder mit Sprechunflüssigkeiten oft
das Gefühl haben, nicht verstanden zu werden oder dass man ihnen nicht zuhört und sie gehänselt
werden. Jene Erfahrungen bestärken das Kind in der Auffassung es sei sprachlich und sozialkommunikativ
inkompetent.
Die
Angst
vor
erneuten
Frustrationen
wächst,
die
Frustrationstoleranz hingegen nimmt ab und es kann zu Vermeidungsverhalten und sozialem
Rückzug kommen. Zum anderen berichten Hansen/Iven, dass Eltern unflüssig sprechender
Kinder sich häufig nicht trauen mit ihrem Kind zu schimpfen oder ihm Grenzen zu setzen aus
Angst, die Unflüssigkeiten könnten sich noch verschärfen. Das Kind lernt dabei jedoch nicht, wie
es mit Bestrafungen, Niederlagen und Frustrationen umgehen kann und reagiert dann sehr
unbeherrscht oder verunsichert (vgl. a.a.O., S. 150).
Um die Frustrationstoleranz von Kindern zu erhöhen, sollte man einerseits den Kindern
Situationen anbieten, in denen sie zwar eine Niederlage erleiden, aber genauso gut ein
Erfolgserlebnis feiern könnten. Durch positive Erfahrungen soll die Misserfolgserwartung
verringert werden. Andererseits ist es wichtig, dass die Kinder lernen, in unterschiedlichsten
Gegebenheiten mit Niederlagen und Frustrationen umzugehen. Sie brauchen ein Spektrum von
Handlungsoptionen mit Hilfe derer sie lernen, dass sie bei Niederlagen und Frustrationen nicht
ihren Selbstwert in Frage stellen müssen.
Hansen/Iven schlagen vor, Handlungsoptionen nicht in einer frustrierenden Situation
zusammenzustellen, sondern vorher präventiv (vgl. a.a.O., S.150). Die folgenden Punkte (vgl.
a.a.O., S. 149ff.) stellen einige Möglichkeiten zur Ausweitung der Frustrationstoleranz vor.
Therapeutisches Modellverhalten
Das Modellverhalten ist besonders wichtig, um einem Kind Optionen im Umgang mit
frustrierenden Erfahrungen aufzuzeigen. Dabei kann das Kind beobachten ohne selber tätig zu
werden. Eine gelassene Reaktion des Therapeuten bei einer drohenden Niederlage ('Ich glaube,
mein Männchen verliert heute!', 'Ich habe schon wieder vergessen, wo das Pärchen liegt!'), (ebd.)
sind denkbare Modellhandlungen für das Kind.
Positive Umbewertung
Eine Umbewertung kann verdeutlichen, dass eine Niederlage eigentlich nicht so schwerwiegend
ist. Z.B. „'Oh, ein unsichtbarer Fisch!' beim Heraufziehen der leeren Angel im Angelspiel, oder
48
'Mal sehen wie lange ich es schaffen kann, kein Pärchen zu finden!'“ (ebd.) können denkbare
Umbewertungen sein.
Gesichter verstecken
Es ist wichtig, dass Kinder erstmal die Fülle an Reaktionsmöglichkeiten in einem entspannten
Setting erproben und dadurch auch kennen lernen können. Nachfolgend kommt ein
Spielvorschlag dafür.
•
Von allen Mitspielern werden die Gesichter unter den eigenen Händen versteckt
•
nacheinander kann ein Mitspieler bestimmen, welchen Ausdruck das Gesicht haben soll,
indem er z.B. sagt: „'Ich stelle mit vor, es ist Weihnachten und ich sehe unter dem
Tannenbaum das Geschenk, dass ich mir am allermeisten gewünscht habe – was mache
ich dann für ein Gesicht?', 'Ich habe in eine Zitrone gebissen!', 'Auf meinem Knie sitzt
eine große Spinne!'“ (a.a.O., S. 151)
Symbole
•
nonverbal können hierbei Befindlichkeiten mitgeteilt werden, z.B. mit Smilies oder mit
Wetterbildern (Sonne, Wolken vor der Sonne, Gewitter, Regen, usw.)
Kooperative Spiele
Hierbei gewinnt oder verliert das gesamte Team und das Kind kann sich an den Reaktionen der
Teammitglieder orientieren und ist mit seinem Frust oder auch mit seiner Freude nicht alleine. In
einer solchen Konstellation ist es einfacher mitzuteilen, worüber man sich gerade besonders
ärgert, z.B über den Würfel, die andere Mannschaft, die schummelt, usw.).
Frust-Monster
Eine andere Möglichkeit Frust abzulassen, ist es Frust-Monster zu basteln, die dann anschließend
zerrissen, angebrüllt oder aus dem Fenster geschmissen werden können.
(10) Baustein „Reduzierung der kommunikativen Verantwortung“
Um eine flüssigere Sprechweise zu unterstützen, ist es hilfreich, wenn man die kommunikative
Verantwortung des Kindes verringert. Angeregt durch das Sprechleistungsmodell (vgl. a.a.O., S.
152), verfolgen die beiden Autoren das Ziel, in der therapeutischen Kommunikation das
sprachliche Anforderungsniveau im Blick zu haben, um das Kind nicht zu überfordern.
Dazu nennen Hansen/Iven (im Buch ab S. 152f.) zwei Möglichkeiten:
49
Reduzierung von Kommunikationsanforderungen
Es ist sinnvoll mit dem Kind vermehrt über konkrete Dinge oder Situationen zu sprechen, als z.B.
zu fragen: „'Wie war es denn heute im Kindergarten?'“ (a.a.O., S. 152). Bei dieser Frage muss das
Kind ein sehr komplexes Geschehen überblicken. Geeigneter sind Fragen, ob z.B. Hänschen
wieder gesund ist, oder ob im Morgenkreis das Lieblingslied gesungen wurde. Eine andere
Möglichkeit sind sogenannte „Setzungen“ (ebd.): Auf „'Du hast bestimmt schöne Spielsachen zu
Hause.'“ (ebd.) hat das Kind die Möglichkeit seinem Anforderungsniveau entsprechend die
Aussage kurz zu bestätigen oder aber mit einer langen Aufzählung der Spielsachen zu antworten.
Ausgiebiges Erproben und Spielen mit nonverbalen Kommunikationsformen
Eine Entlastung kann es sein sich in einer Fantasie-Sprache, mit Tierlauten oder mit Gestik,
Mimik und Pantomime zu verständigen. Ein Spielvorschlag zur Einführung ist das TierlauteMemory aus dem 'Wuschelbär'-Material (vgl. a.a.O., S. 153) bei dem sie Laute der abgebildeten
Tiere nachgeahmt werden. Das Nachspielen von Tiergeschichten mit Tierlauten wäre die nächste
Stufe. Ebenso sind pantomimische Spiele, bei dem Gegenstände, oder Berufe erraten werden
müssen oder ein Spiegelspiel bei dem Bewegungen und Mimik möglichst genau imitiert werden
müssen, denkbar.
(11) Baustein „Aufgreifen weiterer (Sprach-)Entwicklungsrückstände“
Mit diesem Baustein wollen sich Hansen/Iven dafür einsetzen, dass es sehr wohl sinnvoll ist,
unflüssig sprechende Kinder mit zusätzlichen Problemen bei der Sprachentwicklung (Aussprache,
Grammatik und Semantik) im Rahmen der Stotter-Therapie zu unterstützen. Die Autoren
bemängeln, dass besonders in der älteren Literatur davon abgeraten wurde, stotternden Kindern
mit einer Sprachentwicklungsproblematik mit dem Fokus auf beide Störungen zu therapieren
(vgl. a.a.O., S. 154). Man befürchtete, dass die konkrete Arbeit an der Sprache dem Kind erst
bewusst machen würde wie andersartig es spricht und man somit das Problem noch verstärken
würde. Stattdessen solle man zunächst an der Verringerung von Sprechunflüssigkeiten arbeiten.
Hansen/Iven erwidern, dass eine Verbesserung in einem Sprachentwicklungsbereich sich auch
immer positiv auf die anderen Bereiche auswirkt, also auch auf Sprechunflüssigkeiten (ebd.).
Zweitens werden Kinder, die im Bereich von Phonologie oder Grammatik noch unsicher sind
sehr wahrscheinlich nicht immer flüssig sprechen können, da sie ohne automatisierte Abläufe viel
Zeit investieren müssen, richtige Formulierungen oder Artikulationspositionen zu finden. Drittens
ist es geradezu von Nachteil sich ausschließlich auf die Unflüssigkeiten bei noch nicht
automatisierten Aussprachemustern oder semantischen Unsicherheiten zu konzentrieren, da es sie
schlichtweg überfordern würde. „Sprechflüssigkeitstherapie ist Sprachentwicklungsförderung.“
50
(a.a.O., S. 155). Die Autoren können über folgende Erfahrung berichten: „Der Erwerb von
Aussprache-, Grammatik-, Semantik-, und Kommunikationskompetenzen geht mit der
Entwicklung des flüssigen Sprechens Hand in Hand, und häufig genug können wir erleben, dass
mit wachsender Sicherheit in den anderen Sprachentwicklungsbereichen die Sprechflüssigkeit
erheblich zunimmt.“ (a.a.O., S. 155).
(12) Baustein „Transfer“
Häufig fällt es stotternden Kindern leichter als stotternden Erwachsenen auf ihre entlastenden
Erfahrungen mit einer flüssigeren Sprechweise auch außerhalb des Therapierahmens
zurückzugreifen. „'Im Gegensatz zum Erwachsenen scheinen Kinder keine weitgehende
Stabilisierung (…) zu benötigen. Oft schmilzt die ganze Störung in sich zusammen, wenn man
dem Kind erst einmal gezeigt hat, wie man leicht stottern kann. Die glatte, zeitlupenartige
Stotterform wandelt sich schnell in normales Sprechen um, da ihre motorischen Abfolgen so
ähnlich sind.'“ (van Riper, in: Hansen/Iven 2002, S. 156).
Folgende Elemente erleichtern u.a. den Transfer:
Unterstützung durch Spiele
Es eignen sich Spiele, die z.B. durch Wiederholungen Sprechflüssigkeit unterstützen und auch
einfach zu Hause oder im Kindergarten gespielt werden können: Ich sehe was, was du nicht
siehst; Kofferpacken (vgl. Baustein 4). Auch das gemeinsame Lesen von Bilderbüchern hilft,
Sprechflüssigkeit zu fördern.
Stressoren einführen zur Desensibilisierung und Stabilisierung
Damit flüssigeres Sprechen auch in der Alltagskommunikation möglich ist, werden sogenannte
Stressoren oder auch „Flüssigkeitsunterbrecher“ (a.a.O., S. 157) in der Therapie eingeführt. Das
Ziel dieser Stressoren wird den Kindern vorher erklärt, damit das von ihnen aufgebaute Vertrauen
nicht gestört wird (siehe ebenfalls Baustein 5).
In-Vivo-Situationen
Zum einen kann die Therapie folgendermaßen in den Alltag geholt werden: durch
Telefongespräche mit den zu Hause gebliebenen Eltern, Geschwistern, Freunden oder fremden
Personen, z.B. mit der Auskunft. Mit dem Therapeuten einkaufen gehen oder Fremde auf der
Straße nach dem Weg oder der Uhrzeit fragen sind weitere Möglichkeiten das Kommunizieren in
alltäglichen Situationen zu üben.
Zum anderen kann der Alltag in die Therapie geholt werden durch das Mitbringen von
51
materiellen Dingen wie für das Kind wichtige Spielsachen oder Spiele. Auch Personen aus dem
kommunikativen Alltag können mitgebracht werden, wie der beste Kindergartenfreund, die beste
Schulfreundin, der Opa, etc. Das Kind erlebt sich in so einer Situation als kompetent, weil es die
Begleitperson im Therapieraum herumführen kann und weil es versuchen kann, der Begleitung
das weiche, langsame und flüssige Sprechen näher zu bringen.
Erinnerungshilfen
Diese sollen den Kindern dabei helfen, sich möglichst oft auch im Alltag an die Elemente des
flüssigen Sprechens zu erinnern. Damit gemeint sind z.B. Gegenstände aus dem therapeutischen
Spiel, wie Gummibänder des Zauberers, eine Feder oder eine Murmel. Mit einer Person, die nicht
an der Therapie teilgenommen hat, kann man sich darüber unterhalten, welche Bedeutung die
Gegenstände haben. Es kann ebenfalls hilfreich sein mit den Eltern ein geheimes Handzeichen zu
vereinbaren, wie z.B. das langsame Auseinanderziehen von Daumen und Zeigefinger, das
bestimmte Sprechqualitäten signalisiert. Gleichzeitig können andere Gesprächsteilnehmer diesen
Hinweis nicht durchschauen (vgl. a.a.O., S. 159).
(13) Baustein „Nachsorge und Ende der Therapie“
Wann eine Therapie beendet werden sollte, hängt davon ab, ob die vorher gesteckten Ziele
erreicht wurden. Die Beurteilung dieses Faktors ist jedoch sehr subjektiv und ist abhängig von
eigenen Wünschen und Werthaltungen. Dennoch fassen Hansen/Iven folgende Zielsetzungen in
der Therapie von unflüssig sprechenden Kindern zusammen:
•
größtmögliche kommunikative Sicherheit und Kompetenz aller Beteiligten
•
größtmögliche Sprechflüssigkeit des Kindes
•
Wahlfreiheit beim Aufgreifen und Anwenden von Therapie-Inhalten
•
subjektive Zuriedenheit mit dem Erreichten bei allen Beteiligten
•
Verminderung der bisher vorhandenen Anstrengungsbereitschaft beim Kind und seinen
Kommunikationspartnern
•
Sprechflüssigkeit als Mittelpunkt des Interesses, wenig oder keine Aufmerksamkeit auf
'normale' Unflüssigkeiten
•
Anforderungen und Kapazitäten stehen sich in größtmöglicher Balance gegenüber,
unausbalancierte Entwicklungsebenen haben sich aufeinander zu bewegt
•
Autonomie
des
Kommunikationssystems:
Eltern,
Kind
und
weitere
Kommunikationspartner können mit der erreichten Sprechflüssigkeit und evtl.
verbliebenen Unflüssigkeiten umgehen und brauchen keine weitere therapeutische
52
Unterstützung
(aus: Hansen/Iven 2002, S. 159)
Diese Stichpunkte unterstreichen, dass der Erfolg einer Therapie nicht nur anhand einer
Reduzierung der Symptome ausgemacht werden kann. Die Unflüssigkeit an sich kann nicht
losgelöst
von
Persönlichkeit
und
Umfeld
betrachtet
werden.
Eine
ganzheitliche
Betrachtungsweise ist angebracht.
Wurde eine größtmögliche individuelle kommunikative Sicherheit erlangt, kann das Ende der
Therapie eingeleitet werden. Die Autoren geben für diesen Prozess folgende Hinweise (vgl.
a.a.O., S. 160ff.):
Wie kann das allmähliche Therapieende gestaltet werden?
Zunächst können die Abstände zwischen den Therapiestunden vergrößert werden (2-wöchig, 4wöchig, 1/4jährlich). Das gibt den Familien die Möglichkeit sich auf ihre eigenen Kompetenzen
zu besinnen. Gleichzeitig stehen die Therapeuten jederzeit als Ansprechpartner für das Kind oder
Angehörige – persönlich oder telefonisch – zur Verfügung. Die Bestätigung, dass bei Bedarf
jederzeit die Intensität der Treffen wieder hochgefahren werden kann, ist ebenfalls eine stützende
Absicherung für Kind und Familie.
Wie können eventuelle 'Rückfälle' präventiv aufgefangen werden?
Besonders in Zeiten von emotionaler Anspannung (vor Weihnachten, oder einer Prüfung in der
Schule) ist es möglich, dass sich wieder Unflüssigkeiten einschleichen können. Es ist wichtig,
dies anzusprechen, um dann gemeinsam die eigenen Stärken zusammenzutragen und sich die
bereits gemeisterten Schritte ins Gedächtnis zu rufen. Die Suche nach ebenfalls Betroffenen oder
Selbsthilfegruppen kann gleichermaßen hilfreich sein (vgl. a.a.O., S. 161f.).
4.2 Musiktherapie
Seit jeher wird Musik zur Behandlung von krankhaften Zuständen genutzt. Man kann die
Wurzeln der Musiktherapie nicht auf einen bestimmten Begründer oder einen Zeitpunkt
zurückführen. Abhängig von den jeweiligen Weltbildern der Völker und der Kultur entstanden
unterschiedliche Merkmale des Einsatzes von Musik als Heilmittel. In verschiedenen
Kulturkreisen sind die ursprünglichen musiktherapeutischen Methoden bis in die heutige Zeit
erhalten geblieben. „Magische Praktiken, bei denen Musik, Tanz und Heilgesang eine wichtige
Rolle spielen, sind uns aus den von 'Primitiven' bewohnten Teilen Afrikas, wo jene heute noch in
Gebrauch sind, gut bekannt. Auch im Musikerleben der Apachen sind 'Krankenkurgesänge'
53
nachweisbar, […].“ (Strobel/Huppmann 1997, S. 16).
So zahlreich wie musiktherapeutische Methoden in verschiedensten Kulturkreisen zur
Anwendung kamen, so zahlreich sind auch die Definitionsversuche von Musiktherapie. Bisher
gibt es noch keine allgemein anerkannte Definition. Die NAMT (National Association for Music
Therapy) fasst unter Musiktherapie zusammen: „ […] die gezielte Anwendung von Musik oder
musikalischer Elemente, um therapeutische Ziele zu erreichen: Wiederherstellung, Erhaltung und
Förderung seelischer und körperlicher Gesundheit. Durch Musiktherapie soll dem Klienten
Gelegenheit gegeben werden, sich selbst und seine Umwelt besser zu verstehen, sich in ihr freier
und effektiver zu bewegen und eine bessere psychische und physische Stabilität und Flexibilität
zu entwickeln.“ (Bruhn 2000, S. 1) zusammen.
In Verbindung mit Definitionsversuchen ist es auch nötig Musiktherapie von Musikpädagogik
abzugrenzen. Werke älteren Datums zu diesem Thema leiten die Abgrenzung aus der
Orientierung am Produkt bzw. am Prozess ab. So sei Musikpädagogik produktorientiert, da sie
Wissen über das Endprodukt Musik lehrt oder als Endprodukt sogar eine musikalische
Aufführung angestrebt wird. Musiktherapie hingegen sei prozessorientiert, es soll mithilfe von
Musik etwas angestoßen werden, ein Prozess eingeleitet werden, der beispielsweise Kompetenzen
stärken soll und die Sozialisation vorantreibt (vgl. a.a.O., S. 2). Dennoch sei es schwierig, eine
klare Linie zwischen produktorientiert und prozessorientiert zu ziehen. Beim Musizieren gehören
Produkt und Prozess zusammen. Bruhn schreibt, dass „sich die Anteile pädagogischer und
therapeutischer Intervention je nach Schwere einer Störung“ (a.a.O., S. 4) verändern. Er
unterscheidet Pädagogik, Sonderpädagogik und Musiktherapie folgendermaßen voneinander:
Pädagogik
bezieht sich auf die Veränderung und Differenzierung von Kenntnissen
und Fertigkeiten von einem mittleren auf ein höheres Niveau.
Sonderpädagogik
bezieht sich auf das Lernen im Umgang mit einer dauerhaften
Behinderung.
Therapie
bezieht sich auf die Beseitigung von Beeinträchtigungen und
Behinderungen, auf eine Veränderung vom Krankhaften zum Gesunden.
(aus: Bruhn 2000, S. 2)
Weiter schlägt Bruhn vor dem Hintergrund einer individuellen Gewichtung von pädagogischen
und therapeutischen Anteilen im Zuge einer Behandlung vor, dass „Musiktherapie nicht mehr
aufgrund einer scheinbaren Dichotomie [Zweiteilung, Anm. d. Verf.] zwischen Pädagogik und
Therapie kategorisiert wird, sondern nach der Zielorientierung der therapeutischen Intervention,
nach dem Zentrum des therapeutischen Arbeitsschwerpunktes.“ (a.a.O., S.4).
Welche Form der Musiktherapie angewendet wird, hängt vom Störungsbild des Patienten und
dem behandelnden Therapeuten ab. Grundsätzlich unterscheidet man in der Praxis der
Musiktherapie zwischen aktiver und rezeptiver, Einzel- und Gruppen-, gerichteter und
54
ungerichteter
Musiktherapie.
Dabei
nimmt
Musik
die
Funktion
eines
nonverbalen
Kommunikationsmittels ein. Sie soll die Aktivierung von Emotionen unterstützen und die
Kontaktbereitschaft und Erlebnisfähigkeit anregen und erhöhen.12
Den weitaus größten Teil der aktiven Musiktherapie bildet die gemeinsame musikalische
Improvisation
von
Patient
und
Therapeut.
Musik
wird
hierbei
als
Mittel
der
Beziehungsgestaltung, des Ausdrucks und der Kommunikation verstanden, meist ohne jegliche
künstlerische Absicht. So ist es auch keine Voraussetzung, dass der Patient ein Instrument
beherrscht. Neben der freien instrumentalen Improvisation kann ebenso die Stimme zur
Improvisation genutzt werden. Improvisatorische Spielformen reichen von dem freien
Zusammenspiel ohne jede musikalische oder außermusikalische Absprache bis hin zu thematisch
motivierten Spielformen. Solche außermusikalischen Themen gehen vordergründig aus den
Erzählungen des Patienten hervor. Tauchen im Gespräch Empfindungen und Gefühle auf, denen
der Patient mithilfe von Musik nachgehen möchte, so kann eine Improvisation daran anknüpfen.
Beispielsweise kann eine Konfliktsituation, ein Traum, ein Erlebnis oder eine Person
Ausgangsgrundlage für eine musikalische Auseinandersetzung mit einem dieser Themen sein
(vgl. Tüpker 2005, S. 346). Beim Improvisieren ist jedoch nicht nur das Kreativsein von
therapeutischem Wert. Zusätzlich werden das Sich-Anpassen und Durchsetzen können sowie der
gelassenere Umgang mit unfertigen oder misslungenen Leistungen geübt (vgl. Strobel/Huppmann
1997, S. 73).
Rezeptive Musiktherapie wird meistens in Einzelsitzungen durchgeführt. Durch eine speziell
ausgewählte Musik soll „eine bestimmte psychische Wirkung für ein mehr allgemeines oder eng
begrenztes Therapieziel ausgelöst werden.“ (Schmölz 1983, S. 56). Dies geschieht durch
technische Wiedergabegeräte oder real gespielte Musik. Der Patient ist nur als Rezipient am
musikalischen Geschehen beteiligt.13 Improvisiert der Therapeut auf einem Instrument, so hat dies
den Vorteil, dass die gespielte Musik individuell auf den Patienten oder die Patientengruppe
abgestimmt werden kann. Durch das Hören von Musik werden verschiedene Assoziationen und
Emotionen ausgelöst, die dann vom Therapeuten in bestimmte Bahnen gelenkt werden können.
Die Einzelmusiktherapie findet unter ausschließlicher Anwesenheit des Patienten und des
Therapeuten statt. Dies hat den Vorteil, dass durch die entstehende intensive Zweierbeziehung auf
individuell gegebene Probleme gezielt eingegangen werden kann. Voraussetzung für ein solches
Verhältnis ist die Bereitschaft des Betroffenen sich auf die Therapie einzulassen und auch der
Therapeut muss eine grundsätzlich positive und aufgeschlossene Grundhaltung gegenüber der
Persönlichkeit des Patienten haben. Über dieses Verhältnis wird der Patient angeleitet seine
12 Der Musikbegriff in der Musiktherapie ist sehr weit gefächert. Grundsätzlich kann alles was klingt zu
Musik werden. „Eine Unterscheidung zwischen Geräusch, Lärm und Musik ist subjektiv und nur aus
dem Erleben der einzelnen Menschen zu treffen.“ (Bruhn 2000, S. 22).
13 Es sei erwähnt, dass auch in diesem Fall 'aktiv' und 'rezeptiv' nicht klar voneinander zu trennen ist, da
Musikhören eine aktive Handlung ist und auch Musikmachen die Rezeption voraussetzt (vgl. Bruhn
2000, S. 22).
55
Beziehung zu Umwelt, Familie und Beruf zu durchdenken und zu verbessern.
Gruppenmusiktherapie ist für mehrere Patienten gleichzeitig bestimmt. Bestimmte Probleme
entstehen oft ausschließlich durch Kontakt oder Beziehungsgefüge mit anderen Menschen. Der
Therapeut nutzt diese Beziehungsdynamik. Durch die Therapie in die Gruppe kann für bestimmte
Patienten der Weg aus der Isolation geebnet werden.
Neben
verschiedenen
Formen
der
Musiktherapie
haben
sich
auch
verschiedene
musiktherapeutische Ansätze herausgebildet. Neben der pädagogischen Musiktherapie und der
psychoanalytischen Musiktherapie sind die Musiktherapie auf anthroposophischer Grundlage und
die heilpädagogische Musiktherapie entstanden.14 Für das Thema dieser Arbeit besonders
geeignet ist die Musiktherapie nach Getrud Orff, die im folgenden Abschnitt näher erläutert wird.
4.2.1 Musiktherapeutische Behandlung nach Gertrud Orff
Gertrud Orff (1914-2000) entwickelte eine Musiktherapieform für Kinder, die durch elementares
Musizieren alle Sinne anspricht und dadurch die Entwicklung von Kindern mit unterschiedlichen
Behinderungen fördern will. Darüber hinaus soll den Kindern die Möglichkeit zur kreativen
Entfaltung gegeben werden. „Die Idee des Orff-Schulwerks war, dem Kind eine vollständige
Dimension 'Musik' zu schaffen, in der sich das Kind ausdrücken, sich erleben, in Gemeinschaft
Musik machen kann. Fußend auf dieser Idee, dieser 'Dimension Musik', entwickelte sich die
Therapie.“ (Orff 1974, S. 14). Kleine musikalische Formen, die schnell zu begreifen sind, werden
verwendet. Diese können vom Kind durch das Spiel am Instrument, oder durch Singen, Sprechen
und Bewegung gestaltet werden.
Die Pionierin der Musiktherapie mit Kindern in Deutschland hat zusammen mit Carl Orff an der
Entwicklung des Orff-Schulwerks mitgearbeitet. Ab 1970 entwickelte sie aus dem zunächst für
rein pädagogische Zwecke entwickelten Orff-Schulwerk eine therapeutische Form und übernahm
daraus zwei Bestandteile. Sowohl die Idee des „spontan-kreativen“ (Plahl/Koch-Temming 2005,
S. 46) elementaren Musizierens als auch das für das Orff-Schulwerk geschaffene
Instrumentarium, dass neben der akustischen Wahrnehmung auch noch andere Sinne anspricht,
sind bei ihrer Musiktherapieform wiederzufinden. Klangeindrücke werden mit visuellen, taktilen
(den Tastsinn betreffenden) und kinästhetischen (den Bewegungssinn betreffenden) Erfahrungen
verknüpft. Nicht nur Musikinstrumente, sondern auch andere Spielmaterialien wie Tücher, Reifen
oder Bälle und der Körper werden genutzt. „In einer so gestalteten multisensorischen Therapie ist
der Einsatz der musikalischen Mittel – phonetisch-rhythmische Sprache, freier und gebundener
Rhythmus, Bewegung, Melos in Sprache und Singen, das Handhaben von Instrumenten – so
gestaltet, dass er alle Sinne anspricht. Dadurch wird es möglich, mit multisensorischen Impulsen
14 Einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Ansätze in der Musiktherapie mit Kindern bieten
Christine Plahl und Hedwig Koch-Temming in ihrem Buch „Musiktherapie mit Kindern“ (2005).
56
auch da noch anzusetzen, wo ein wichtiges Sinnesorgan ausfällt oder geschädigt ist.“
(Plahl/Koch-Temming 2005, S. 46).
Weiterhin macht sich die Orff-Musiktherapie strukturierende Elemente aus der Musik wie
ostinate, kontrastierende oder überraschende Formen zu nutze, um musikalische Improvisationen
oder die Beziehung untereinander zu gestalten. Gruppen-, aber auch Einzeltherapie sind möglich.
Im Umgang mit dem Kind betont Gertrud Orff, wie wichtig es ist, die individuellen Fähigkeiten
und Besonderheiten des Kindes zu erkennen und zu fördern und nicht die defizitorientierte
Diagnose die Einschätzung des Kindes und seiner Möglichkeiten überschatten zu lassen (vgl.
a.a.O., S. 46).
In der klinischen Arbeit wird die Orff-Musiktherapie bei folgenden Störungen angewendet:
Kinder mit schweren Behinderungen, mit autistischen Störungen, mit Cerebralparesen
(Bewegungsstörung mit einer frühkindlichen Hirnschädigung als Ursache), mit Störungen des
Sozialverhaltens, mit Sprachentwicklungsstörungen, Stottern und mutistischen Störungen und
Kinder mit einem Cochlear Implantat (Hörprothese) (vgl. Voigt 2001, S. 243).
Voigt schreibt, dass die Orff-Musiktherapie in der Regel als Einstieg in die Behandlung von
Stotterern genutzt wird, da das Kind über nonverbale, musikalische Mittel die soziale Ebene der
Kommunikation erfahren und neue Kenntnisse erzielen kann (vgl. a.a.O., S. 243).
In dem Buch „Orff-Schulwerk und Therapie“ herausgegeben von Hans Wolfgart beschreibt
Gertrud Orff drei von ihr durchgeführte Therapiestunden an denen sechs stotternde Kinder im
Alter von sechs bis neun Jahren teilgenommen haben (vgl. Orff 1978, S. 205ff.). Neben dem
Stottern wiesen die Kinder auch einen geistigen Entwicklungsrückstand, Verhaltensstörungen und
auffallende motorische Koordinationsstörungen auf. Die drei Therapiestunden stammen aus
verschiedenen Phasen des 7-monatigen Behandlungszeitraumes. Das Anliegen der Therapie bei
diesen Kindern war es, das Sprechbedürfnis und die Sprechlust zu steigern, das Gehör zu
sensibilisieren, sowie das Sinnes- und Empfindungsleben auszubauen. Im Folgenden werden ihre
Gedanken und ihr Vorgehen mit dieser Gruppe anhand des eben erwähnten Textes beschrieben.
Um die Sprechlust anzuregen, möchte Gertrud Orff die inneren Verbindungen, die ein Mensch zur
Außenwelt hat mit Bildern bereichern, da sie der Auffassung ist, „dass ein angereichertes Innere
sich ausdrücken will – die erste Voraussetzung zum Sprechen.“ (a.a.O., S. 206). Weiter schreibt
sie: “So wird sich ein Mensch vervollkommnen, je mehr Bilder er gegenwärtig hat, je mehr
innere Verbindungen er zwischen den verschiedenen Erlebniswelten herstellen kann, je mehr
Vorstellungen er assoziativ verwenden kann.“ (a.a.O., S. 206). Dem Stotterer ist der Zugang zu
solchen Erlebniswelten weitgehend verbaut: Das Sich-Ausdrücken und mit Anderen im sozialen
Gefüge kommunizieren sind deutlich erschwert und Isolation kann die Folge sein.
Orff führt dies auch beim behinderten Kind im allgemeinen auf die fehlende natürliche Spannung
zurück, also dem mangelnden Kontakt von sich zu Dingen und Menschen. Blickkontakt und
sozial-motorischer Kontakt, zum Beispiel das Sich-Hinwenden zu jemandem und Gestik fehlen.
57
Der Betroffene scheint dem Gegenüber nicht ansprechbar und schließlich fehlt das Sprechen
selbst.
Gertrud Orff misst dem Faktor der Spannung eine besondere Bedeutung bei. So stellt sie fest,
dass das Stotterereignis bei Stotternden eine Anspannung und Überspannung zur Folge hat, diese
Spannung dann aber in eine Unterspannung umschlagen kann. Das äußere sich in gespieltem
Desinteresse,
mit
Unsicherheit,
heimlichem
Beobachten
und
versteckter Aggression,
beispielsweise Schadenfreude, als Folge. Durch das „Zurückstauen des Aussageflusses“ (a.a.O.,
S. 207) ist das Hinhören beschränkt und folglich auch die soziale Teilnahme am Miteinander.
„Es fehlt die 'Bewegung', die Motion auf etwas hin, dadurch die Emotion, und aus diesem Mangel
heraus ist der Stotterer schwer behindert. Die versteckte Aggression ist eine pervertierte
Bewegung, die nicht auf einer Kontaktbasis beruht. Die Angriffslust – 'ich nehme etwas in
Angriff' –, richtig geleitet, ergibt kreatives, konstruktives Verhalten.“ (a.a.O., S. 207).
Ziel der Therapie ist es eine gesunde Spannung herzustellen. Sie nennt folgende Faktoren, die
helfen diese gesunde Spannung zu erreichen:
1. Spannung ist eine notwendige Lebensfunktion.
Spiel hat Spannung, Spiel interpretiert Leben.
2. Spiel ist Austausch, Zusammenspiel, interplay.
Unsere Mittel erlauben diese Spielorientierung.
3. Die Spielspannung vollzieht sich in einer organischen Weise.
Ton, Wort, Bewegung haben in sich Spannung.
4. Spannung schließt als Gegenpol Entspannung ein. Spannung und Entspannung ergeben eine
natürliche Form: den Kontrast.
5. Mit der Form begeben wir uns in das Gebiet der Ordnung. Mit der Ordnung bewirken wir
eine Stabilisierung des Inneren. „Nichts ist nur Form, alles ist Substanz, Kraft der
Wirkung und Zeichen.“ (Katharina v. Emmerich).
6. Rhythmus und Melos in Wort-, Ton-, oder Bewegungsgestaltung sind Träger dieser Spannung.
Sie treten als alles umfassendes Spannungszentrum auf oder aber als Spannungsradien, auf
denen man sich individuell bewegen, entfernen oder annähern kann.
7. Das akustisch – rhythmische Klima, das man erzeugt oder dem man sich hingibt, bewirkt eine
natürliche Einordnung: dies ist Inklination zur Sache, das „Inter – esse“ tut seine
Wirkung.
(aus: Orff 1978, S. 208)
Um einen Eindruck davon zu gewinnen, wie Gertrud Orff ihre Gedanken praktisch umsetzt,
folgen nun ein paar ausgewählte Situationen aus den von ihr beschriebenen drei Therapiestunden.
In der allerersten Stunde überhaupt die sie mit der Gruppe hatte, folgt nach einer Anfangsphase
ein Stundenteil, bei dem die Kinder einfache Sätze realisieren sollen. „Die Vögel singen“ wird
gemeinsam gesungen. „Die Glocken klingen“ wird mit erweiterter Melodie ebenfalls gesungen.
58
Dabei wurde von Gertud Orff nur „Die Glocken“ angeboten und die Kinder fanden „klingen“ als
Reimassoziation. Bei „die Pferde springen“ hätte man “springen“ erwartet, doch ein Junge sagt
stattdessen „stampfen“. Das Wort wird von den anderen Kindern angenommen und alle singen
„stampfen“. Hierbei merkt sie im Text an, dass anscheinend das innere Bild, die Vorstellung vom
stampfenden Pferd stärker war, als der passende Reim. „Bildassoziation über Reimassoziation!“
(a.a.O., S. 211). In einer späteren Stunde wird noch einmal „Die Vögel singen, die Glocken
klingen, die Pferde...“ wiederholt und diesmal kommt derselbe Junge auf „springen“.
Anschließend sollen Instrumente das Gesagte übernehmen. Dabei ist es das erste Mal, dass die
Kinder die Instrumente sehen und spielen. Das Glockenspiel soll für das Singen stehen, das
Metallophon für das Klingen und das Xylophon für das Springen. Die Kinder spielen auf den in
D-Dur gestimmten Instrumenten. Danach singen und fliegen die Kinder wie Vögel, klingen und
schwingen wie Glocken und stampfen und springen wie Pferde. Orff bemerkt, dass besonders das
Fliegen und Schweben in der Bewegung für den Stotterer geeignet zu sein scheint. Er hat ein
Gefühl von Leichtigkeit und im Fluss sein und ist weit entfernt von Aggression und Anspannung
(vgl. a.a.O., S. 211f.). Die Kinder suchten sich im Raum kleine „Nester“ von denen aus sie als
Vogel sangen und berichteten von Glocken, die sie an verschiedenen Kirchen gesehen hatten.
Diese Anreicherung von Bildern meint Orff, wenn sie mit deren Hilfe die Sprechlust und das
Sprechbedürfnis anregen will. Auswertend schreibt sie zu dieser Stunde: “Die kurzen Sätze waren
zum Erlebnis geworden, sie wurden richtig gesprochen, sie waren zum Bild geworden und
wurden mit Rankenwerk und Rahmenwerk versehen.“ (a.a.O., S. 212).
In einer weiteren Stunde sollte das Instrument die Rede übernehmen. Dies wird über den Vers
„Du und ich, ich und du, wer das Geld hat, kauft die Schuh.“ (a.a.O., S. 212) angeleitet, der
szenisch dargestellt werden soll. Es gibt einen Käufer und einen Verkäufer, die sich unterhalten,
verhandeln und zu einem Abschluss kommen oder nicht. Es wird vorher erklärt, dass die
Instrumente, nämlich zwei Pauken, die Rede übernehmen, man also über das Instrument spricht.
Die restliche Gruppe soll das Gespräch verfolgen und erraten, ob gekauft wird oder nicht. Nach
erstem Zögern entwickelte sich ein angeregtes Gespräch zwischen Käufer und Verkäufer.
Paukenschläge wirbelten oder forte und piano Schläge wurden gezielt gesetzt. Schließlich kamen
sie zu einem Schluss, zu einer Entscheidung, die sie ja gemeinsam treffen mussten. Die
Zuschauer mussten dann raten, ob es zum Verkauf kam oder nicht, nicht immer hat es gestimmt,
was die Situation erheiterte. Doch die beiden Sprechenden waren sich in ihrer Entscheidung
immer einig und manchmal wurde sogar über Farbe und Form der Schuhe verhandelt, z.B. rote
Stiefel.
Auswertend schreibt Gertrud Orff zu dieser Stunde, dass es gleich dreierlei Spannung gab. Zum
einen „in der Verlegung der Rede nach innen“, zum anderen „zwischen Verkäufer und Käufer“
und schließlich „zwischen den Zuhörenden und den beiden Agierenden“ (a.a.O., S. 213). Viele
Möglichkeiten zur Beobachtung boten sich, besonders im Hinblick auf Initiative, Spielvorstellung
59
und Ausdauer der Agierenden. Es ergaben sich spannende Szenen, verbunden mit heiterer
Entspannung (vgl. a.a.O., S.213).
Zusammenfassend zu den drei Stunden, schreibt Orff, dass von den Kindern in dieser Zeit viel
freie Rede angeboten wurde und das nie stotternd geschah. In diesem Zusammenhang berichtet
sie von einem Vers, den ein kleines Mädchen, dass sich vorher noch nie spontan geäußert hatte,
ohne Unterbrechung und fröhlich lächelnd aufsagte: „Eine alte Pappmadame fuhr mit der
Eisenbahn. Eisenbahn die krachte, Pappmadame die lachte, lachte bis der Schutzmann kam und
sie auf die Wache nahm.“ (a.a.O., S. 217). Der Vers wurde sofort genutzt, um daraus ein Szene zu
machen. Dieses Vorgehen wird generell von ihr hervorgehoben. Nämlich jedem neuen Impuls der
Kinder nachzugehen, sei er auch zunächst noch so abwegig.
In dem Behandlungszeitraum von sieben Monaten sind die Kinder freier, selbstbewusster und
sicherer geworden. Sie konnten die Instrumente sensibel und bewusst spielen und hatten mit den
Instrumenten eine Ausdrucksebene, die sich auch positiv auf die sprachliche Ebene auswirkte.
Das Gehör wurde aufmerksamer in Bezug auf rhythmische, dialogische und melodischmusikalische Vorgänge. Sie erfüllten den für sie vorgesehenen Unterrichtsplan in gelockerter
Atmosphäre und machten ihn trotzdem auch durch ihre angebotenen Impulse zu ihrer eigenen
Angelegenheit (vgl. a.a.O., S. 218).
Gertrud Orff schlägt vor, den Kindern den Dominantkomplex mit seiner finalen Hindeutung zur
Tonika zum Erlebnis zu machen, würde man die Arbeit fortsetzen. Erst in der Melodiebildung
und dann harmonisch unterstützt. Denn sie hat im Laufe ihrer Arbeit mit Stotterern festgestellt,
dass alles final Orientierte für den Stotterer geeignet ist. Um es wieder auf ein Bild zu übertragen:
gespannter Bogen und sich lösender Pfeil (vgl. a.a.O., S. 218).
4.3 Sprachheilpädagogische Rhythmik
Mimi Scheiblauer (1891-1968), eine Schülerin von Jaques Dalcroze, nutzte erstmals die
rhythmisch-musikalische Erziehung im heilpädagogischen Anwendungsbereich. Nach ihrem
Rhythmikexamen, dass sie in Hellerau mache, ging sie 1912 an das Konservatorium in Zürich.
Dort unterrichtete sie nicht nur Jugendliche und Erwachsene, sondern hauptsächlich Vor- und
Grundschulkinder. Über Professor Hanselmann, dem Zürcher Professor für Heilpädagogik wurde
sie mit dem Fach vertraut gemacht und beschäftigte sich fortan mit geistig behinderten und
taubstummen Kindern. Das Seminar für „Musikalisch-rhythmische Erziehung“, von Scheiblauer
unterrichtet, entstand am Konservatorium in Zürich und damit wuchs auch das Interesse an der
Scheiblauer-Rhythmik. Sie führte Lehrgänge an Kindergärten, Schulen, Sonderschulen und
heilpädagogischen Einrichtungen in Österreich, Deutschland und der Schweiz durch.
Inspiriert durch Scheiblauer begannen nun auch andere Pädagogen sich auf dem Gebiet der
60
Sprachheilpädagogik verstärkt für die rhythmisch-musikalische Erziehung zu interessieren. Es
entstanden verschiedene Therapieansätze der sprachheilpädagogischen Rhythmik:
Griner stellte 1958 ihre Methode, die „Logopädische Rhythmik“ zur Behandlung von Stottern
vor, die sie zusammen mit Wlassowa entwickelt hat (vgl. Elstner 1994, S.40). Bereits seit den
1930er Jahren
befassten sie sich mit der rhythmisch-musikalischen Erziehung bei der
Behandlung Stotternder in Moskau. Die Methode setzt sich aus verschiedenen Übungen mit
einem bestimmten Aufbau zusammen. Sie beginnen mit Gesang, der die Atmung regulieren soll.
Es folgen einführende Übungen mit musikalischer Begleitung, die helfen sollen den Raum
kennen zu lernen und ihn einteilen zu können. Übungen zur Regulierung des Muskeltonus um
Verspannungen
zu
lösen
und
Sprechübungen
mit
dem
rhythmisierten
Wort
als
Bewegungsbegleitung schließen sich an. Nach den Aufmerksamkeitsübungen, bei denen der
akustische und der optische Sinn mit dem Bewegungssinn verbunden werden, kommen
schließlich Übungen zur Beruhigung und zur Hörerziehung (vgl. a.a.O., S. 40). Zwischen 1960
und 1970 haben sich noch weitere Autoren in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit der
sprachheilpädagogischen Rhythmik beschäftigt.
In dieser Zeit kamen weitere Ansätze wie „logopädische Bewegungserziehung“ oder
„rhythmisch-musikalische Erziehung“ (in der Sprachheilschule) hinzu. Auch Maschka reihte sich
1969 mit seinem „logopädischen Rhythmus“
(nicht zu verwechseln mit der logopädischen
Rhythmik von Griner) in die Reihe namentlich kaum zu unterscheidenden Konzepte ein.
Maschka arbeitet mit dem Rhythmus der Sprache, den er in literarischen Texten mit den
stotternden Kindern erschließt. Dann wird dieser Rhythmus mit Hilfe von Rhythmusinstrumenten
und grafischen Elementen nachgestaltet und später auf Hand- und Fingerbewegungen reduziert.
Diese Hand- und Fingerbewegungen, die sich schließlich vom Sprecher nur noch vorgestellt
werden, sollen zu flüssigem Sprechen verhelfen (ebd.).
Bei Richter wird eine einzige fließende Hand- oder Armbewegung, zum Beispiel das
Nachzeichnen einer liegenden Acht, als Motor für den Sprechfluss genutzt (ebd.).
Generell lässt sich festhalten, dass die sprachheilpädagogische Rhythmik auf Kenntnissen der
Sprachheilpädagogik und der rhythmisch-musikalischen Erziehung (Rhythmik) fußt. Sie versteht
sich als ergänzende Maßnahme innerhalb der Sprachtherapie.
Stammesgeschichtlich gehören Rhythmus und Melodie zu den ältesten Elementen der Sprache.
Durch ihre Akzente ist die Sprache an rhythmische Faktoren gebunden. Zeit, Kraft und Form sind
Grundelemente, die sich nicht nur in Musik und Bewegung, sondern auch in der Sprache
wiederfinden lassen. In der Sprache ist das zeitliche Element im Sprechtempo verankert. Das
Element Kraft vereint Sprechimpulse, Sprachintensität und Akzente in sich. Wortwahl und
Satzbau gehören zur Form. Hinzu kommt noch das Element des Klanges, der sich auf Tonhöhe
und Melodieverlauf bezieht. „Durch die Elemente Zeit, Kraft, Klang und Form in Bewegung und
61
Musik wird das Kind unbewußt mit den entsprechenden Elementen des Sprachgeschehens
vertraut. Die Sprache kann also durch Bewegung und Musik erlebt, angebahnt, geübt und
bewußtgemacht werden.“ (Meixner 1994, S. 19). Die enge Verbindung von Sprache und
Bewegung wird einem bewusst, wenn man sich die ersten Lautäußerungen eines Säuglings vor
Augen hält, die stets mit grobmotorischen Bewegungsreaktionen verbunden sind. Er unterstützt
seine Bewegungen mit vorsprachlichen Lauten. Über die enge Beziehung von Bewegung und
Sprache kann man bei Elstner lesen: „Die zentrale Steuerung der Hand- und Armbewegungen
wird lokalisatorisch mit der Sprachregion zusammengebracht: die Tätigkeit der Hand ist mit der
Sprache eng verknüpft. Daß die Nerven, welche die Handbewegungen führen in enger Beziehung
zu den Nerven stehen, welche die Zungenbewegungen beherrschen, erkennt man (außerdem)
daran, daß bei schwieriger Handarbeit oft Zungenbewegungen ausgeführt werden.“ (Elstner 1994,
S. 42). Dies lässt den Schluss zu, dass jede motorische Entwicklungsverzögerung auch eine
Beeinträchtigung der Sprachentwicklung zur Folge haben kann. Gerger schreibt: „Spracharmut
und Sprechschwierigkeiten treten daher immer mit motorischer Ungeschicklichkeit auf.“ (Gerger
1993, S. 28). Bei Kindern mit Sprachentwicklungsverzögerung liegt jedoch nicht nur die Sprache
und Motorik zurück. Es sind auch Defizite in anderen Bereichen auf der motorischen, kognitiven,
sensorischen und sozial-emotionalen Ebene zu beobachten. Gleiches gilt auch für sprachgestörte
Kinder. So haben diese meist nicht nur unter Sprachstörungen zu leiden, sondern auch unter
Problemen im motorischen, kognitiven, sensorischen und sozial-emotionalen Bereich.
Möchte man Sprachstörungen behandeln, so darf man die anderen Bereiche nicht außer Acht
lassen.
Die rhythmisch-musikalische Erziehung, die den Menschen ganzheitlich fördern möchte, spricht
jene Bereiche an:
a) motorisches Gebiet
b) sprachliches Gebiet
c) sensorisches Gebiet
d) kognitives Gebiet
e) soziales Gebiet
(aus: Gerger 1993, S. 28)
Die folgende Tabelle soll nun die einzelnen Gebiete genauer erläutern.
Gebiet
Fördermöglichkeiten
Motorisches Gebiet
Grobmotorische
Übungen:
Sprung-,
KraftGleichgewichtsübungen,
Übungen
zur
Verbesserung
visuomotorischen Koordinationsstörungen
und
der
Feinmotorische Übungen: Übungen zur Verbesserung der Präzision,
der Schnelligkeit und der Gelenkigkeit
62
Artikulationsübungen: Übungen zur Koordination von Sprache und
Bewegung
Sprachliches Gebiet
Allgemeine Sprachförderung: das Wecken von Sprechfreudigkeit, das
Verbessern der sprachlichen Kommunikation, das Ausbauen des
Sprechniveaus und des Sprachverständnisses
Spezielle Sprachförderung: Verbesserung der Artikulation, Korrektur
von falschen Lautbildungen und Übungen zur Lautschulung sowie
Förderung der Ausdrucksfähigkeit und der Sprechtechnik
Sensorisches Gebiet
Auditiver Bereich: Erkennungsübungen von Geräuschen, Längen und
Sprachlauten, Nachahmungen, Vergleiche und Erkennungs- und
Unterscheidungsübungen von musikalischen Abfolgen
Visueller Bereich: Erkennungsübungen zu den Grundbegriffen Form,
Farbe und Beschaffenheit eines Materials, Mengenerfassung,
Vergleichs- und Unterscheidungsübungen
Taktiler Bereich: Förderung der taktilen Wahrnehmung
Erkennungs- und Differenzierungsübungen
Kognitives Gebiet
und
Förderung
des
Denkens:
begriffsbildende
Übungen,
Unterscheidungsübungen, logisches Denken und Schlussfolgern
Gedächtnisschulung: Übungen zum Einprägen von Dingen und zum
Verstehen, Identifizieren und Unterscheiden von Dingen
Soziales Gebiet
Diesem Gebiet fällt eine besondere Rolle in der Rhythmik zu. Da alle
Übungen meist in einer Gruppe durchgeführt werden, auch wenn man
die Aufgabe alleine, in Partnerarbeit oder in Gruppenarbeit löst, so
benötigt jedes Mitglied der Gruppe bestimmte Kompetenzen, wie die
Fähigkeit des Führens und Folgens, des Ein-, Über- und Unterordnens,
des Anpassens, des Verzichtens und des selbstständigen Arbeitens.
Tabelle 3: aus Gerger 1993, S. 28 ff.
Durch diese Vielzahl an Bereichen, die die Rhythmik abzudecken in der Lage ist, kann man auch
von einer Mehrdimensionalität der Rhythmik sprechen, die sich mit den oben beschriebenen
mehrdimensionalen Störungen von behinderten, bzw. sprachbehinderten Menschen deckt.
Die Sprachheilpädagogische Rhythmik, die die eben in der Tabelle beschriebenen Ansätze zur
ganzheitlichen Förderung von der rhythmisch-musikalischen Erziehung übernommen hat,
versucht nun mit Erkenntnissen aus der Sprachheilpädagogik gezielt sprachgestörte Kinder zu
behandeln. Dies passiert beispielsweise über die Förderung von Sinneseindrücken um ein
besseres Wortverständnis zu erlangen und den Wortschatz auszubauen. „Erst wenn ein Kind
Wörter mit Sinnverständnis nachspricht, hat das Wort die Sprachschwelle überschritten.“ (Gerger/
Reitermayr 1994, S.143).
Neben Ingrid Gerger haben sich auch Helga Neira-Zugasti (Rhythmik als Unterrichtshilfe bei
behinderten Kindern, 1987), Margit Schneider mit ihrem Beitrag „Rhythmisch – musikalische
Erziehung bei Sprachbehinderten“, 1990) und Catherine Krimm von Fischer (Rhythmik und
63
Sprachanbahnung, 1990) intensiv mit Rhythmik und Sprache beschäftigt.
Die sprachheilpädagogische Rhythmik kann in Einzeltherapie, in der Regel jedoch in
Kleingruppen durchgeführt werden. Unterrichtsbegleitende Übungen in einer Klasse sind auch
möglich (vgl. Meixner 1994, S.33).
Gegenwärtig ist es eher ruhig um die Sprachheilpädagogische Rhythmik geworden. In den
1960er-bis 90er Jahren, gab es viele Publikationen zu dieser Thematik, doch konnte die
Begeisterung dafür anscheinend nicht an eine nachfolgende Generation weitergegeben werden.
Irene
Holzhacker,
Sprachheilpädagogin
aus
Wien
und
Mitautorin
des
Buches
„Sprachheilpädagogische Rhythmik“ (hrsg. Meixner, 1994), sieht den Grund dafür darin 15, dass
Walter Elstner und Friederike Meixner in den 90er Jahren die treibenden Kräfte der
Sprachheilpädagogischen Rhythmik waren. Beide praktizieren nun nicht mehr und damit ist die
Bewegung der Sprachheilpädagogischen Rhythmik (vorläufig) erlahmt.
4.3.1 Behandlung stotternder Kinder nach Elstner
Walter Elstner hat Übungen zusammengestellt, die sich meist chronologisch auf den Unterbau,
Aufbau und Ablauf von Sprache konzentrieren (vgl. Elstner 1994, S. 42ff.). Das heißt, dass am
Anfang seiner Therapie zunächst Übungen elementarer Lautgebung mit Bewegung verbunden
werden (Unterbau) und dann Übungen zum Sprachaufbau folgen und schließlich am Ende der
Behandlung Übungen zum Ablauf von Sprache in der Fokus rücken.16 Elstner geht davon aus,
dass sowohl in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, als auch in der individuellen
Entwicklung des Menschen Sprache und Bewegung eng miteinander verbunden sind. Er machte
die Beobachtung, dass selbst Kinder mit schweren Störungen des Redeflusses auf der Ebene der
elementaren Lautgebung kaum Symptome zeigten. Die Verbindung von Pantomimik, Mimik,
Gestik und Sprachäußerung wirkt sich positiv auf das Sprachgeschehen des Kindes aus, da sie
sich spielerisch mit der Illusionsfähigkeit des Kindes verbinden und seiner ganzkörperlichen
Ausdrucksweise entsprechen.
Nach dem am Sprachunterbau der Kinder gearbeitet wurde, folgt als zweiter Schritt die
Förderung des Sprachaufbaus. Dies soll unter Berücksichtigung eines sozialen und assoziativen
Aspektes geschehen. Das heißt Ängste, Aggressionen und psychische Hemmungen, unter denen
Stotternde oft leiden, durch die Übungen seines Konzeptes minimiert werden und der Redefluss
verbessert werden soll (vgl. Elstner 1994, S. 44ff.). Zur Förderung des Sprachaufbaus unter dem
eben genannten Aspekt hat er insgesamt acht Übungsgruppen erstellt:
–
Ruhe und ruhige Bewegungen
15 Diese Auffassung ging aus einem E-Mailkontakt der Verf. mit Irene Holzhacker hervor.
16 Im Anhang auf S. 98 ist sein Konzept ausführlicher und in tabellarischer Form dargestellt
64
–
Entladung und Aufladung
–
Takt schreiten - klopfen - sprechen
–
Koordination Körperbewegung – Sprechbewegung
–
Koordination Schreibbewegung – Sprechbewegung
–
Gedankenprogrammierung
–
Stimme und Bewegung
–
Ausdrücken von Gefühlen als Bewegungs- und Redeaufgabe
(aus: Elstner 1994, S. 44ff.)
Nach den acht Übungsgruppen zum Sprachaufbau, folgen nach Elstner vier Übungsgruppen, die
er
unter
dem
lexikalisch-semantischen Aspekt
zur
Verbesserung
des
Sprachablaufs
zusammengefasst hat. Über Sinneserlebnisse soll der Wortschatz und die Wortbedeutung
erweitert, vertieft und anschaulicher gemacht werden.
•
Hören
Hörübungen spielen schon im Rhythmikunterricht für sprachunauffällige Kinder eine
wichtige Rolle und sind in der Therapie sprachbehinderter Kinder umso bedeutender.
Bei folgenden Übungen soll die lexikalisch-semantische Vertiefung im Vordergrund stehen.
Durch das direkte Erleben und Begreifen von Dingen und Vorgängen soll der Wortschatz
erweitert und die Wortbedeutung klarer und greifbarer gemacht werden, was schließlich dem
Sprachaufbau zu Gute kommt.
•
Sehen
•
Tasten
•
Riechen17
Alle diese Übungen sollten individuell und selektiv eingesetzt werden. Elstner sieht sonst die
Gefahr bestehen, dass entweder in alle therapeutischen Vorgehensweisen Bewegungshilfen
eingebaut werden, die dann durch inflationäre Handhabung ungenau und schließlich
therapeutisch nutzlos werden, oder aber zu begrenzend und mechanisch wirken, gerade bei
Aktionen in denen ein Metrum vorkommt.
17 Praktische Beispiele hierzu sind ebenfalls im Anhang auf S. 98 zu finden.
65
5. Anwendungsmöglichkeiten der Rhythmik nach den 13 Bausteinen von
Hansen/Iven
5.1 Rhythmik – Geschichte und Arbeitsweise
Die Ursprünge der Rhythmik gehen zurück auf den Genfer Musikpädagogen Emile JaquesDalcroze (1865-1950). Er befasste sich mit den Wechselwirkungen zwischen körperlichem und
musikalischem Rhythmus und machte fortan daraus das Fundament seiner pädagogischen und
künstlerischen Arbeit.
Großen Erfolg hatte er in der „Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus“ in Hellerau. Sie war von
1911-1914 Anlaufstelle für Musiker, Künstler, Pädagogen, Wissenschaftler und Interessierte aus
vielen Nationen. „Jaques-Dalcroze ging es um die Einheit von Musik und Bewegung als
Ausdruck der Integration von Geist, Seele und Körper bzw. von Bewußtem und Unbewußtem.“
(Schaefer 1992, S.13). Bei öffentlichen Schulfesten wurden die Ergebnisse dieses Ansatzes,
nämlich Inszenierungen in denen Musik, Tanz, Darstellende und Bildende Künste miteinander
verwoben wurden, vor großem Publikum aufgeführt. Als 1914 der Krieg ausbrach, zählte
Hellerau 500 Ausbildungsschüler aus 14 Ländern, die daraufhin in ihre Heimat zurückkehrten
oder Zuflucht in einem anderen Land suchten. Dadurch verteilte sich die Lehrmethode der
Rhythmik in zahlreichen Ländern, sodass man heute noch neben Deutschland, Österreich und der
Schweiz Rhythmik u.a. in Polen und Schweden studieren kann. Durch die Zerstreuung der
Schüler in verschiedene Länder entstanden je nach individuell ausgerichtetem Fokus, Schulen mit
Hauptaugenmerk auf der Tanzerziehung, der Leibeserziehung oder der Musikerziehung.
Mimi Scheiblauer (1891-1968) und Elfriede Feudel (1881-1966), zwei Dalcroze-Schülerinnen,
hatten den größten Einfluss auf die weitere Entwicklung der Rhythmik im deutschsprachigen
Raum.
Feudel leitet aus den Elementen Zeit, Raum, Kraft und Form die für die ausschlaggebenden
Unterrichtsthemen ab. Denn diese 4 Elemente sind alle Teil von Bewegung, Musik und Sprache
und ihre Wechselwirkungen sollen untereinander erfahrbar gemacht werden. „Darin besteht also
der gewissermaßen 'arbeitstechnische Hintergrund', die Grundlage zur Idee der Rhythmik:
Beziehungen zwischen Musik, Sprache, Bewegung und bildnerischem Gestalten individuell und
im Rahmen gemeinsamen Erlebens wahrzunehmen, zu verarbeiten und neu zu gestalten.“ (TahlerBattistini 1989, S. 11).
Scheiblauer beschrieb mit „erleben, erkennen, benennen“ (a.a.O., S. 11) die pädagogische
Grundlage der Rhythmik, unabhängig von Alter oder Entwicklungsstand der Schüler. „Immer soll
das Erleben die Grundlage der Reflektion sein. Erst dann wird das Zuordnen und
(Wieder-)Erkennen von Situationen und Sachverhalten zur Basis für sprachliches Lernen und für
66
Sprachelernen.“ (ebd.).
Aufgabenstellungen im Rhythmikunterricht können nach verschiedenen Gesichtspunkten
eingeteilt werden, sodass folgende Übungsbereiche entstehen:
•
Konzentration (Sensibilisierung und Übung der Sinne)
•
Koordination (Übung der Unabhänggkeit der Gliedmaßen als Schritt auf dem Wege zur
Selbstkontrolle)
•
Spontaneität (Übung der schnellen Reaktionsfähigkeit)
•
Begriffsbildung (Denk- und Sprachentwicklung durch Bewegung)
•
Phantasie (Bildung des künstlerischen Empfindens)
•
Willensbildung (Übung der Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen und die Wirkung
des eigenen Handelns zu verantworten)
•
Soziales Verhalten (Sicherheit im Umgang mit sich selbst und Fähigkeit zur Einfühlung
in andere)
(aus: Schaefer 1992, S.17).
Der Übungsbereich der Phantasie hebt hervor, dass neben dem pädagogischen Potenzial der
Rhythmik ebenso ein Künstlerisches existiert. Aus Musik- und Bewegungsimprovisationen
(sowohl von Erwachsenen, als auch Kindern) können zusammen mit der Rhythmiklehrkraft
Kompositionen, Choreographien oder Musik- und Bewegungstheater entwickelt und aufgeführt
werden.
Die Improvisationen wiederum sind nicht nur Ausgangspunkt für eine künstlerische
Auseinandersetzung, sondern auch methodischer Grundsatz: „Der Grundsatz 'Erfinden –
Improvisieren' verweist auf das Prinzip des Lernens durch Erfahrung; durch den weitgehenden
Verzicht auf Anforderungen im Bereich kognitiver Nachahmungs- und Gedächtnisleistungen soll
die Selbstständigkeit der Schüler herausgefordert und gefördert werden.“ (Schaefer 1992, S. 17).
Ein weiterer Grundsatz, nämlich „'Führen und Folgen – Polarität' enthält eine zweifache
Perspektive des unterrichtlichen Handelns: zum einen bezieht er sich auf das flexible und
kooperative Rollenverhalten des Schülers im Kontext der Aufgabenstellungen (jeder muß 'sowohl
das eine wie das andere üben und lernen'), zum anderen verweist er darauf, daß auch der Lehrer
auf eine flexible Auslegung seiner Rolle angewiesen ist, daß er sowohl 'führen' als auch 'folgen'
muß, um den Schülern gerecht zu werden.“ (a.a.O., S. 17).
Der Unterricht in einer Gruppe bietet durch die Arbeitsprinzipien der Rhythmik auch
redegestörten Kindern viele Möglichkeiten, Sicherheit im Umgang mit sich selbst und mit
anderen zu gewinnen. „Unterschiedliche Aufgabentypen und Arbeitsprinzipien der Rhythmik
ermöglichen es den Gruppenmitgliedern, sich immer wieder anders einzubringen.“ (Weise 2013,
S. 10). Die folgenden Punkte (a.a.O., S.10) geben darüber eine Übersicht:
67
•
Ich, Du, Wir: Nicht jeder kann seine Fähigkeiten in der Gruppe optimal entfalten. Das
Abwechseln von Einzelaufgaben, Partneraufgaben und Gruppenaufgaben erhöht für
jeden einzelnen die Chance, mindestens einmal in der Stunde eine befriedigende
Aufgabenbearbeitung zu erleben.
•
Rollenvielfalt: Jeder Mensch lebt in verschiedenen Rollen, ist am Beispiel eines
Mädchens Kind, große Schwester, Schülerin, Freundin, Beraterin und Hüterin ihres
Haustiers. Diese Rollenvielfalt spiegelt sich in unterschiedlichen Positionen, die
Lernende im Unterricht einnehmen können. Vom bloßen Reagieren in vorgegebenen
Verhaltensmustern (z.B. Rennen und Stehenbleiben) über das feinfühlige Führen oder
Folgen bis zum eigenständigen Erfinden und Gestalten von musikalischen oder
tänzerischen Elementen, wozu auch das inhaltsorientierte Reflektieren und Bewerten
gehört, sind alle Rollen je nach Alter und Entwicklungsstand der Gruppe möglich.
•
Variation der Sinneskanäle: Der Zugang zu einer Thematik erfolgt mittels der
Transformation charakteristischer Gestaltungselemente in jeweils andere Sinnesebenen.
Beispielsweise kann die Form eines Musikstücks mittels eines Bewegungsauftrags
erschlossen werden, ebenso durch eine Visualisierung oder durch taktile Impulse. Die
unterschiedlichen
Zugänge machen
es
nicht nur
wahrscheinlicher,
dass
alle
Gruppenmitglieder mit dem Lehrstoff vertraut werden, sondern führen überdies zu einer
Vertiefung und Sicherung des Lerninhalts.
(aus: Weise 2013, S. 10).
Die folgenden Bausteine sind als Ergänzung aus dem Blickwinkel der rhythmisch-musikalischen
Erziehung zu dem bestehenden Konzept von Hansen und Iven für stotternde Kinder zu verstehen
und nicht als alleinstehende Therapie.
5.2 Kontaktaufnahme und Beziehungsaufbau
Eine Therapie zu beginnen bedeutet auch, sich auf neue Kommunikationspartner und
Räumlichkeiten einzustellen. Sprachliche Erwartungen und Anforderungen können zu
Unsicherheiten führen, die durch eine überschaubare und motivierende Auswahl von nicht nur
verbal, sondern auch nonverbal nutzbaren Materialien minimiert werden können. Denkbar sind
neben den von Hansen/Iven innerhalb ihrer Therapie genutzten Dinge wie Murmeln, Federn
Steine und Gummiringe auch Tücher, Reifen, Bälle, Holzstäbe und Seile sowie eine Auswahl von
Instrumenten. Für stotternde Kinder ist es besonders wichtig, langsame, leichte und weiche
Klänge zu erzeugen und zu erfahren. Aus Kindergärten oder dem Musikunterricht in der Schule
68
ist den Kindern vermutlich das Orff-Instrumentarium wohl bekannt, dass sich tendenziell nicht
durch diese drei eben erwähnten (Klang-)Qualitäten auszeichnet. Vor diesem Hintergrund
empfehle ich Instrumente aus folgender Zusammenstellung mit einzubeziehen:
Blasinstrumente
Instrumente, die gestrichen werden
Sonstige
können
Flöten
Geige, Bratsche, Cello, Bass
(selbstgebautes)
Panflöten
(selbstgebaute) Monochorde
Ocean Drum
Mundharmonikas
Gong
Akkordeon
Melodikas
Rainmaker
Flügelinnenraum
Instrumente, die nicht in erster Linie einen weichen Anschlag haben, aber dennoch einen schönen
angenehmen Klang erzeugen und ein hohes nonverbales Kommunikationspotenzial besitzen, sind
folgende:
Conga
Djembe
große hölzerne Klangstäbe
Balaphon (afrikanisches Xylophon)
Kommt ein stotterndes Kind in eine bereits bestehende Rhythmikgruppe mit anderen stotternden
Kindern, so werden große Anforderungen an das Kind gestellt, sich in einer Gruppe mit zunächst
unbekannten Kommunikationspartnern zurecht zu finden. Andererseits hat es den Vorteil, dass es
mit den anderen Kindern 'mitlaufen' kann und von deren gewonnenen Erfahrungen in Bezug auf
Stundenabläufe, Umgang mit Instrumenten und Materialien und einem möglichst stress- und
druckfreiem Unterrichtsklima lernen und Vertrauen schöpfen kann. „Vereinbarungen treffen“
(Hansen/Iven 2002, S. 120f.) wie es Hansen und Iven in ihrem ersten Baustein formulieren (vgl.
Kapitel 4.1.1, S. 35), ist auch im Rhythmikunterricht wichtig, da es die Transparenz des
Unterrichtsablaufs fördert und den Kindern als Ritual Sicherheit gibt. Als Beispiele hierfür eignen
sich das Begrüßungslied sowie das Abschiedslied, die in jeder Stunde gesungen werden oder eine
Ruhepause,
die
zur
Unterrichtsmitte
hin
oder
nach
einem
besonders
intensivem
Unterrichtsabschnitt, eingebaut werden kann.
„Zeit lassen“ und „Grenzen akzeptieren“ (Hansen/Iven 2002, S. 121) aus dem ersten Baustein
(vgl. Kapitel 4.1.1, S. 35) lassen sich ebenso auf den Rhythmikunterricht übertragen. Geht die
Gruppe gerade in einem Spiel mit Material oder Instrumenten auf, so ist es wenig sinnvoll nach
einem erschrockenen Blick zur Uhr, die Situation abzubrechen und den nächsten Punkt laut
69
Unterrichtsplan abzuarbeiten. Den Kindern sollte ihr eigenes Bedürfnis nach Zeit zugestanden
werden, um Erfahrungen und Entdeckungen zu machen und auskosten zu können.
Wenn ein Kind in einer neuen Umgebung scheu und zurückhaltend wirkt, ist es wichtig die
Grenzen des Kindes anzuerkennen. Meist wollen die Kinder zunächst nur beobachten und nicht
selbst aktiv werden. Kommt ein neues Kind in eine schon bestehende Gruppe, so wäre der
folgende Spielvorschlag ein Beispiel dafür, wie das neue Kind zunächst beobachten kann und erst
wenn es bereit dafür ist, auch selbst einsteigen und mitmachen kann. Voraussetzung ist, dass die
Kinder, die schon am Rhythmikunterricht teilgenommen haben, zum Einen die abgebildeten
Instrumente kennen (z.B. Gong, Ocean Drum, Melodika, Trommel, Flügelinnenraum mit
Schlegeln, Becken) und wissen wie man sie handhabt. Zum Anderen ist es nötig, dass die Kinder
die 6 in dem Therapiekonzept von Hansen/Iven so wichtigen Qualitäten (weich-hart, leichtschwer, langsam-schnell) im Rhythmikunterricht oder in der Sprachtherapie kennen und
weitestgehend zu unterscheiden gelernt haben.
Würfelspiel
Auf einem Würfel ist pro Seite ein Instrument abgebildet, welches sich auch in der Gruppe von
Instrumenten befindet, die vor den Kindern aufgebaut ist. Auf einem zweiten Würfel sind die
Qualitäten langsam-schnell, leicht-schwer und weich-hart versinnbildlicht (z.B. durch eine Feder
für leicht oder eine Schnecke für langsam). Ein Kind würfelt mit dem Instrumentenwürfel und
geht entsprechend des Würfels zum jeweiligen Instrument, sagt den Namen den Instrumentes und
spielt darauf. Die Lehrperson würfelt den anderen Würfel und setzt dann die gewürfelte Qualität
pantomimisch-tänzerisch um. Alle Kinder raten um welche Qualität es sich handeln könnte und
das Kind am Instrument versucht dann diese Qualität möglichst genau zu verklanglichen. Danach
wird gewechselt.
Dass die Lehrperson hier zunächst die Qualitäten übernimmt und in Bewegung umsetzt hat den
Vorteil, dass das neue Kind hier eine gute Möglichkeit hat, diese beobachten und dadurch
einschätzen zu können. Gleichzeitig können alle Kinder ein gewisses Bewegungsrepertoire
kennenlernen und aus diesem Fundus für ihre eigenen Bewegungen und Versuche eine der 6
Qualitäten zu verkörpern, schöpfen. Denn hat die Gruppe eine gewisse Sicherheit im Umgang mit
den verschiedenen Qualitäten erlangt, kann auch ein Kind selbstständig, ausgehend von der
Würfelvorgabe, versuchen „leicht“ oder „hart“ in Bewegungsqualitäten umzusetzen.
Ist eine ganze Gruppe neu im Unterricht, wäre folgender Ablauf denkbar:
Raumerkundung
Nach einer Kennenlern-Runde, in der sich die Teilnehmenden mit Namen vorgestellt haben, führt
die Lehrperson die Kinder durch den Raum. Es werden zusammen Steckdosen, Türen, Fenster,
Schränke, Lichtschalter und Ecken im Raum besucht und über Größe, Farbe, etc. ausgetauscht;
70
auch Namen für bestimmte Orte im Raum, die nur diese Gruppe kennt, können ausgedacht
werden. So wird ein kommunikativer Austausch wahrscheinlich, aber nicht aufgezwungen, da die
Lehrperson zunächst die Führung durch den Raum übernimmt. Und ob ein Kind etwas berühren
möchte, oder weiter zum nächsten Punkt laufen möchte, darüber kann man sich auch nonverbal
verständigen. Die Raumerkundung könnte an einer großen Rahmentrommel enden, die im Raum
liegt. Nachdem alle Kinder die Trommel berühren und auf ihr spielen konnten, kann ein
Stopptanz folgen: die Lehrperson spielt auf der Trommel und läuft mit den Kindern durch den
Raum, verstummt die Trommel, bleiben alle stehen und die Lehrperson (später auch ein vorher
festgelegtes Kind) ruft einen Ort im Raum zu dem alle rennen, hüpfen, kriechen, stampfen,...;
danach setzt die Trommel wieder ein.
Auch hier ist von Bedeutung, dass in der Raumerkundungsphase die Kinder die Möglichkeit
haben, die Lehrperson zu beobachten, ohne selbst aktiv sein zu müssen. Auf der anderen Seite
können sich die Lehrenden ein Eindruck verschaffen, welche Kinder offen und ohne Scheu, sowie
eher zurückhaltend auf die neue Situation reagieren.
5.3 Begriffe begreifen können
Musik und Bewegung lassen sich deswegen so gut kombinieren, da sie aus nahezu den gleichen
Grundelementen bestehen. „Raum“, „Zeit“, „Artikulation“, „Dynamik“ und „Form“ sind die
Einheiten, in denen sich musikalische Prozesse und Bewegungsabläufe vollziehen und die als
Grundlage für Unterrichtsinhalte dienen.
Gudrun Schäfer nimmt folgende Einteilung vor:
Raum (Bewegungsraum – Ton- und Klangraum)
–
Richtungen (vor-, rück-,seit-, auf-, abwärts)
–
Umfang (groß-klein, eng-weit, schmal-breit, hoch-niedrig)
–
Linien/Figuren (rund-gerade, eckig-kurvig, spitz-flach, linear-punktuell, symmetrischasymmetrisch etc.)
Zeit (Bewegungszeit - Geräusch-, Ton-, Klangzeit)
–
Dauer (lang-kurz, kontinuierlich-unterbrochen)
–
Tempo (schnell-langsam, konstant-veränderlich, beschleunigt-verlangsamt, fließendunterbrechend, plötzlich-allmählich etc.)
–
Metrik (Taktart, Taktstruktur, Taktwechsel)
–
Rhythmik (rhythmische Elemente, Motive und Abläufe, metrisch gebundene-ametrische
71
Rhythmen, Komplementär-Kontrastrhythmen, Polyrhythmik)
Artikulation (Verbindung von Schritten – Tönen)
–
legato-portato-staccato
Dynamik (Bewegungsenergie - Lautstärken)
–
Intensität (viel-wenig, stark-schwach, schwer-leicht, laut-leise)
–
Verlauf (gleichmäßig-wechselhaft, zunehmend-abnehmend, kontrastierend)
–
Strukturelemente (Betonungen, Akzente, Impulse, Zäsuren)
Form (Bewegungsform - Musikalische Form)
–
formbildende Elemente (Motiv, Figur, Thema, Periodik)
–
formgestaltende Elemente (Wiederholung, Kontrast, Abwandlung, Variation)
–
Musik- und Tanzformen (zwei- und dreiteilige Liedformen, Rondo, Kanon, Variationen,
Suite etc.)
(aus: Schaefer, 1992, S. 70)
Aus dieser Übersicht wird deutlich, wie sehr es in der Rhythmik verankert ist, Begriffe erfahrbar,
erlebbar und schließlich auch begreifbar zu machen. Es gibt mannigfaltige Möglichkeiten die
Elemente dieser Kategorien miteinander zu kombinieren und Unterrichtsinhalte darauf
aufzubauen.
Möchte man die von Hansen und Iven im Rahmen ihres Therapiekonzeptes hervorgehobenen
Eigenschaften weich-hart, leicht-schwer, lang-kurz und langsam-schnell im Rhythmikunterricht
thematisieren, ergeben sich unter anderen folgende Möglichkeiten:
Weich-hart
•
Experimentelle
Klangerprobung
von
Musikinstrumenten
aus
unterschiedlichen
Werkstoffen: wie klingt ein Becken, wenn es mit einem flauschigen BaumwollkopfSchlägel oder aber mit einem Holzkopf- Schlägel angeschlagen wird; wie klingen
Streich- oder Blasinstrumente im Vergleich zu percussiven Instrumenten bezogen auf die
Klangerzeugung?
•
In Säckchen sind entweder weiche Dinge (Federn, Watte, Wolle, Sand) oder harte Dinge
(Stein, Metall, Holz, Kieselsteine). Jedes Kind hat ein Säckchen und nacheinander erfühlt
jedes Kind, ob in dem Säckchen etwas Weiches oder Hartes ist und was der Inhalt genau
sein könnte. Nach ein paar Runden legt sich ein Teil der Gruppe mit geschlossenen
Augen auf den Bauch und der andere Teil verteilt vorsichtig und behutsam den Inhalt der
Säckchen auf nackten Körperstellen, wie Beine oder Arme, der Liegenden. Es landet z.B.
72
eine Feder auf dem Ellenbogen, oder ein Stein in der Kniebeuge. Die liegenden Kinder
sollen erfühlen, was wo liegen könnte, danach wird gewechselt.
Leicht-schwer
•
Einige Kinder sind Bienen, andere sind Bären mit einem dicken vollen Bauch voller
Honig. Die Bienen fliegen summend mit lockeren Armbewegungen und die Bären
stampfen mit schweren Beinen und vollem Bauch durch den Raum. Auf ein Signal hin
wird getauscht. Die Bienen können auch einen Bienenschwarm bilden, dabei wird das
Klangerlebnis durch das Summen intensiver.
•
Das Erzeugen eines Tones auf einer Blockflöte versus das auf einer Klarinette oder
Posaune ausprobieren.
•
Das Ordnen der Instrumente nach Gewicht
Lang-kurz
•
Langer Klang (Gong): die Kinder gehen mit großen Schritten (wie ein Riese oder eine
Giraffe); kurzer Klang (Gong mit der Hand abdämpfen): die Kinder gehen mit kleinen
Schrittchen (wie eine Zwerg oder ein Pinguin)
•
Ein langes Regenrohr (ggf. selbst gebastelt aus einem Papprohr, auf dem ein Teppich
aufgewickelt war) und ein kurzes Regenrohr (z.B. aus einem Papprohr, um das
Küchenpapier gewickelt war) werden nacheinander zum Klingen gebracht, die Kinder
sollen während der Zeit des Klingens verschiedene Aufgaben erfüllen: z.B. wie oft
kommt ihr in Tippelschritten von einer Wand zu anderen wenn das lange Rohr klingt und
wie viele Male wenn das kurze Rohr klingt? Oder: solange auf einem Bein stehen, die
Luft anhalten oder mit Geräuschen/Flöten begleiten wie das Rohr klingt
langsam-schnell
•
Klanggeschichten nacherzählen: jedes Kind hat eine Trommel und es wird eine
Geschichte erzählt z.B.: Wir gehen in einer Wüste spazieren und es ist sehr heiß, die Füße
kommen nur sehr langsam und schleppend voran (langsames Trommelspiel). Plötzlich
sind wir in einem Wald (Fatamorgana?), in dem es kühler wird und können etwas
schneller gehen (schnelleres Trommelspiel). Auf einmal grunzt es hinter uns und eine
Horde Wildschweine kommt auf uns zu gerannt. Schnell! Nichts wie weg (schnelles
Trommelspiel)! Die Horde wurde abgehängt und wir kommen an eine Lichtung, auf der
wir Hirsche entdecken. Wir wollen sie nicht erschrecken und laufen ganz langsam und
leise (langsam auf Trommeln tippen) usw.
•
Ein Seil teilt den Raum, die eine Hälfte ist Langsam-Land, die andere Flitze-Land.
73
Entsprechend der langsamen, ruhigen oder schnellen aufpeitschenden Musik vom z.B.
Cello, Klavier oder Flöte bewegen sich die Kinder im entsprechenden Land auf die
entsprechende Weise, zunächst sind die Übergänge in der Musik abrupt und deutlich,
sodass die Kinder leichter unterscheiden können. Später kann man versuchen, die
Übergänge der Musik fließender zu gestalten, so dass auch die Veränderung der
Bewegungen der Kinder und der Ortswechsel im Raum allmählicher vonstatten gehen.
•
Lieder und Gedichte können möglichst schnell oder möglichst langsam (wer zuletzt fertig
ist, hat gewonnen!) gesungen oder aufgesagt werden, der Raum kann möglichst schnell
oder langsam durchkrabbelt, durchrollt etc werden.
Durch das Erleben von Gegensätzen werden jene Gegensätzlichkeiten besonders wahrnehmbar.
Wenn Kinder neue Dinge erkunden, liegt es in ihrer Natur gemachte Eindrücke zu
versprachlichen. Engel und Steiner, die ein gleichnamiges Buch über rhythmische Kurzspiele
geschrieben haben, schreiben dazu: „Wenn kleine Kinder Instrumente ausprobieren und über
Vorstellungshilfen den Klang bewusst erleben, stellt man immer wieder fest, daß sie sich KlangBilder
gewissermaßen
zurufen
oder
durch
unbewußte
lautliche
Äußerungen
beim
Bewegungsspieleinprägen, ja manchmal richtige Klanggeschichten erfinden. Beim Klang einer
Pauke kann ein Kind rufen: 'Ich bin der Elefant, stampf, stampf! Ein Riesenelefant kommt!'
Klangerleben und Bewegungsspiel ist zugleich auch Sprachschulung.“ (Engel/Steiner 1980, S.
34).
5.4 Weiches, leichtes und langsameres Sprechen
Ziel dieses Bausteins ist ein möglichst „weicher Stimmeinsatz mit druckfreiem Sprechbeginn“
und „ein anstrengungsfreies Sprechen ohne Zeit- oder Kommunikationsdruck“ sowie eine
„Verlangsamung des Sprechtempos durch Dehnung der betonten Vokale“ (Hansen/Iven 2002, S.
127).
Die beiden Autoren schlagen für eine erste Annäherung an die Thematik vor, Bewegungen mit
Lauten zu begleiten wie zum Beispiel Murmeln in einem Rohr oder Federn während eines Fluges.
Rainmaker oder Oceandrums eignen sich ebenso dazu mit der Stimme begleitet zu werden, wie
verschieden
lange
und
laute
glissandi
auf
beispielsweise
einem
Cello
oder
dem
Flügel(-innenraum). Man kann jedoch nicht nur Dinge stimmlich begleiten, sondern auch sich
selbst beim Tanz mit einem Gegenstand oder ein anderes Kind:
Federntanz
•
Nachdem zusammen der Flug einer Feder beobachtet wurde, erhält jedes Kind eine
74
eigene Feder mit der zusammen es versucht, die eben beobachtete Flugbahn der Feder
nachzuahmen und diese mit Vokalen („uuuuh“) oder Frikativen („ffff“) begleitet. Hierbei
kommt es nicht darauf an, dass die eigene Feder schnellstmöglich den Boden berührt,
sondern immer wieder hin und her pendelt, noch einmal aufgewirbelt wird und
schließlich sanft zu Boden sinkt.
Beim Umgang mit Blasinstrumenten – z.B. der Mundharmonika – ist eine weiche Anblastechnik
von Nöten und kann ganz direkt auf einen weichen und druckfreien Sprechbeginn übertragen
werden.
Körperlich erfahrbar werden diese Eigenschaften, wenn man auf einer Geige einen gleichmäßigen
Ton erzeugen möchte. Durch die empfindlichen dünnen Saiten braucht man ein weiches Arm-,
Hand-, und Schultergelenk, um möglichst druckfrei die Saite mit dem Bogen zum Klingen und
nicht zum Krächzen zu bringen.
Angebote zum Experimentieren, die den lauten Stimmeinsatz fordern, können ebenso gemacht
werden wie bspw. die Imitation von Sirenen mit auf- und abschwellendem Ton oder das Heulen
eines Sturms und das Säuseln eines leichten Windes. Auch hier gilt, dass das Erleben von
Gegensätzen hilft, die Unterschiede wahrzunehmen.
Wie schon in Punkt 5.2 erwähnt, neigen Kinder dazu, gemachte Eindrücke beim Erkunden von
Dingen zu versprachlichen. Diese Tendenz kann man sich zu nutze machen, um nicht allzu lang
auf der Stufe der Lautäußerungen zu verharren und zu Wort- und Satzäußerungen überzugehen.
Luftballon
Alle stehen im Kreis und ein Kind nennt sein Lieblingstier, daraufhin fassen sich alle an den
Händen und dehnen den Kreis immer weiter aus, wie ein Luftballon, der aufgeblasen wird.
Parallel zum Aufblasen wird das vom Kind vorgeschlagene Wort von allen gedehnt gesprochen
z.B. „Löööööwe“ und danach kehren alle in die Kreismitte zurück für das nächste Wort.
Prinzipiell werden nur betonte Silben gedehnt gesprochen.
Am Ende der Übung kann der Luftballon bei einem besonders langen Wort („Chamäääleooonn“)
auch platzen.
Schnecken
Eine langsame, ruhige Musik vom Klavier verwandelt die Kinder in Schnecken. Sie Kriechen
langsam durch den Raum. Begegnet eine Schnecke der anderen, begrüßen sie sich in
Schneckenmanier - ganz langsam („Haaaaaaaalloooo“) und fragen einander nach dem Namen
Die ruhige Musik begleitet sie dabei.
75
Singen und rhythmisches Sprechen
Beim Singen sind nicht nur die meisten stotternden Kinder frei von Symptomen, sondern sie
werden durch die melodischen und rhythmischen Strukturen auf natürliche Weise zu einem
weicheren und flüssigerem Stimmeinsatz verleitet. Neben dem Singen an sich kann man in der
Stunde ein Sing-Gespräch einbauen, in dem sich die Kinder mit einem gedehnten Sprechgesang
über Schule, Freunde, Familie etc. unterhalten. Auch das Sprechen von kleinen Versen z.B. „Eine
kleine Miesmaus lief ums Rathaus. Schille wip – schille wap und du bist ab.“ bietet viele
Möglichkeiten mit Dehnungen von betonten Vokalen, rhythmischen Variationen und
Instrumentarium zu experimentieren.
Wie Hansen und Iven immer wieder betonen, ist es auch im Rhythmikunterricht essentiell, dass
die Ausführungen der Lehrperson Modellcharakter für die Kinder haben. Gerade beim
Experimentieren mit weichen, leichten und langsamen (Stimm-)Klängen, ist es wichtig eine
gewisse Spannung aufrecht zu erhalten, um eine gute Artikulation zu unterstützen. Dies erfordert
viel Wachheit und Genauigkeit von Seiten der Lehrperson.
5.5 Ausdehnung und Automatisierung der flüssigen Sprechanteile
Soll eine Therapie erfolgreich sein, so müssen die bisher produzierten Sprechanteile im Redefluss
allmählich ausgeweitet werden. Im Zusammenhang mit musikalischen Hilfsmitteln erscheint
eine schrittweise Steigerung des sprachlichen Anforderungsniveaus, wie es Hansen und Iven in
ihrem Baustein vorschlagen, sinnvoll. Dabei heben sie das Niveau ausgehend von der Lautebene
über die Ergänzungs- und Aussagesatzebene, hin zu Dialogen und In-Vivo-Übungen an. Dieses
Vorgehen lässt sich gleichermaßen auf Angebote innerhalb des Rhythmikunterrichts übertragen:
Stufe des Anforderungsniveaus
Übung
Lautebene
- das Singen von Vokalisen oder rhythmisch-musikalische
Gestaltung von einzelnen oder zusammenhängenden
Lauten
Ein-Wort-Ebene
- Produktion und Reproduktion von Wörtern/Namen über
die Rufterz oder über einfache Rhythmen (z.B. das Singen
oder rhythmische Sprechen jedes Namens beim
Begrüßungs- oder Abschiedslied)
Ergänzungssatzebene
- das Singen von Liedern mit Textergänzungen z.B. „Jetzt
fahr'n wir über'n See“
Aussagesatzebene
- das Sprechen oder Singen von rhythmisch/musikalisch
strukturierten Satzgefügen wie zum Beispiel Abzählreimen,
wie „Hexe Minka, Kater Pinka, Vogel Fu – raus bist du!“
oder Kniereitern („So traben die Damen“)
Dialog
- rhythmusunterstütztes, sprachliches Frage- Antwort-Spiel:
76
nach dem Begrüßungslied unterhalten sich die Lehrperson
und ein Kind rhythmisiert und mit einem Händeklatsch pro
Silbe über Freunde, Tiere, Gegenstände im Raum, etc
Das Verbinden von sprachlichen Äußerungen mit Melodie oder Rhythmus soll stotternde Kinder
dabei unterstützen, die flüssige Rede zu ermöglichen und zu erleben. Durch die Verbesserung der
sprachlichen Leistung und die positiven Erfahrungen damit kann sich dies begünstigend auf den
Redefluss auswirken. Es sollte jedoch stets beachtet werden, dass die sprachlichen Anforderungen
in Bezug auf Texte von Liedern, sprachliche Ausgestaltung von rhythmischem Material etc. auf
die vorhandene Sprachkompetenz des Stotterers angeglichen sind. Denn nur wenn die
individuellen sprachlichen Kompetenzen auf einem angepassten Niveau gefördert werden,
können flüssige Sprechanteile ausgeweitet werden.
5.6 Konkrete und offene Auseinandersetzung mit Unflüssigkeiten und Stottern
Der Abbau von Angst, Druck- und Vermeidungsverhalten soll mithilfe dieses Bausteins
ermöglicht werden. Durch verschiedene Übungen und Spiele wird eine Enttabuisierung und ein
natürlicher Umgang mit der Redestörung Stottern angestrebt.
Desensibilisierung und Gestaltung
Das eigene Gestalten von Geschehnissen und Symptomen, die durch das Stottern entstehen, soll
das Kind dabei unterstützen, gegenüber seiner Sprachstörung unempfindlicher zu werden.
Folgende Übungen können dabei helfen:
Imitation
- als Vorbereitung für ein Frage-Antwort-Spiel kann zunächst eine
frei
erfundene
Stottersymptomatik
rhythmisch-musikalisch
umgesetzt und vom Gegenüber imitiert werden
Frage-Antwort
- in einem zweiten Schritt können dann die frei erfundenen
Stottersymptomatiken vom Gegenüber beantwortet werden
Eigenes Lied gestalten
- einem bekannten oder selbstgemachten Lied kann ein Text
hinzugefügt werden, der von erlebten Begebenheiten oder
Problemen, die mit der Redestörung in Zusammenhang stehen,
handelt
- die Erlebnisse können statt gesungen, auch gerapt, bzw. einfach
erzählt werden und mit Trommel oder Gong begleitet werden als
Meditation
Die erfundenen Stottersymptomatiken können auch dafür genutzt werden, eine Improvisation in
Musik und Bewegung in Gang zu bringen. Mögliche Settings sind:
•
die Lehrperson improvisiert am Klavier/Trommel/Streichinstrument eine Melodie, die ab
77
und zu ins Stocken gerät; die Kinder bewegen sich dazu und sollen durch ihre
Bewegungen zeigen, ob sie gerade eine fließende Melodie/Rhythmus hören, oder aber
etwas Stockendes
•
dasselbe Prinzip lässt sich auch auf das Singen übertragen: ein bekanntes Lied oder frei
erfundene Lautäußerungen mit und ohne Text wechseln zwischen fließenden,
rhythmischen Teilen und abgehackten, stolpernden Teilen
•
die Lehrperson bewegt sich mit fließenden Bewegungen, die plötzlich abgehackt sind
oder festklemmen; die Kinder begleiten mit der Stimme oder mit Instrumente (z.B.
Melodikas) was sie sehen
Natürlich kann auch ein Kind die Aufgabe der Lehrperson übernehmen und etwas improvisieren,
was dann von der Lehrperson und anderen Kindern aufgenommen und verklanglicht oder in
Bewegung umgesetzt wird.
Um den Einstieg beim Improvisieren mit Stimme, Instrument oder Bewegung zu erleichtern, ist
der Vorschlag von Hansen/Iven nützlich, statt den meist schon negativ belegten Begriffen
'Stottern' und 'Sprechunflüssigkeit', neutralere Begriffe in den Therapiestunden oder im
Rhythmikunterricht zu verwenden. Diese stammen aus der Erfahrungswelt der Kinder und sind
hervorragend dazu geeignet in Bewegung und Musik übertragen zu werden, und als Grundlage
für anschließende Improvisationen zu dienen. Die von Hansen/Iven vorgeschlagenen
Umschreibungen lauten:
•
hüpfen, hopsen, stolpern für Sprechunflüssigkeiten, die durch Wiederholungen von
Lauten, Silben, Wörtern gekennzeichnet sind
•
stecken bleiben, Handbremse ziehen, stocken, festklemmen, hängen bleiben für
Unflüssigkeiten, die durch Blockaden gekennzeichnet sind
•
lang ziehen, draufbleiben für Unflüssigkeiten, die durch Prolongationen gekennzeichnet
sind
(aus: Hansen/Iven 2002, S. 139)
In der Therapie von Hansen/Iven werden verschiedene Übungen zur Selbstwahrnehmung
durchgeführt, die sich konkret auf das Wahrnehmen von Stotterereignissen beziehen (vgl. Kapitel
4.1.1, S. 42). Im Rahmen des Rhythmikunterrichts gibt es viele Möglichkeiten die allgemeine
Selbstwahrnehmung der Kinder zu schulen:
Sich selbst hören
Die Ohren werden zu gehalten und es wird tief ein- und ausgeatmet und dem eigenen
Atemgeräusch gelauscht. Danach werden andere Geräusche erzeugt, wie z.B. Hecheln, Zischen,
Schlucken, Husten, Zähneklappern und Lippenflattern. Die Geräusche werden auch mit nicht
zugehaltenen Ohren gehört und Unterschiede benannt. Anschließend werden Instrumente mit
78
ähnlichen Geräuschen gesucht. Dabei können die Kinder entscheiden, welche Instrumente dem
eigenen Hecheln oder Zischen am nächsten kommen. (Übung aus: Klöppel/Vliex 2008, S. 107)
Tropfen spüren, Tropfen klingen
Die Kinder liegen auf dem Bauch oder Rücken und schieben ihre Ärmel hoch. Laut Lehrperson
gibt es etwas Angenehmes auf der Haut zu spüren und die Kinder sollen sich genau merken, wo
und wie oft (max. 3 mal pro Kind) sie etwas spüren. Die Lehrperson geht mit einer gefüllten
Pipettenflasche von Kind zu Kind und tropft gezielt Wassertropfen auf Unter- und Oberarme,
Finger, Handrücken, etc. Anschließend treffen sich alle im Sitzkreis und berichten von der Anzahl
der Tropfen und der Körperstelle. Auf Triangeln oder Zimbeln spielen die Kinder abschließend
der Reihe nach die Anzahl der gespürten Tropfen. (Übung aus: a.a.O., S. 110)
Festgeklebt
Jedes Kind sucht sich einen Platz im Raum. Dort sind die Füße wie am Boden angeklebt und alle
kreisen und wanken über ihren festgeklebten Füßen. Dann können alle ausprobieren, welche
Bewegungen noch mit Kopf, Schultern, Armen und Po möglich sind. Alternativ können die
Kinder ihre Bewegungen mit den einzelnen Körperteilen den Klängen von Trommel, Flöte oder
Stimme anpassen, oder damit experimentieren, welche Bewegungen mit nur einem angeklebten
Bein möglich sind.
(Übung aus: Klöppel/Vliex 2008, S. 121)
Die kreative Auseinandersetzung mit dem eigenen Stottern kann mehrere positive Wirkungen
haben. Zum einen wird der affektive Verarbeitungsprozess durch die emotionale Beschäftigung
mit der eigenen Behinderung angeregt. Des Weiteren kann der starre und verkrampfte
Stottervorgang durch den bewussten und kreativen Umgang mit Symptomen entspannt werden.
Zu guter Letzt werden Kompetenzerlebnisse auf musikalischer und sprachlicher Ebene
ermöglicht. Zum Beispiel können die selbstgemachten Lieder oder Rap-Songs aufgenommen und
Familie und Freunden vorgespielt werden und sich somit in ein schönes Erinnerungsstück
verwandeln.
5.7 Stimme, Atmung und Entspannung
Mit nervös oder angespannt scheinenden Kindern ist es hilfreich Übungen durchzuführen, die
Anstrengung, Kraft- und Druckeinsatz – nicht nur bezogen auf die Stimme, sondern auf den
ganzen Körper – reduzieren können. Vor allem durch die Erfahrung der Gegensätze Anspannung
79
und Entspannung können entspannte Zustände für Kinder erlebbar gemacht werden.
Bewegungen, das Musizieren und der Stimmeinsatz können mit Aufgaben zu Gegensätzen wie
schnell versus langsam, laute versus leise oder hohe Töne versus tiefe Töne verbunden werden.
Dazu einige Beispiele, die das Erleben von Entspannung allgemein und auf stimmlichem Gebiet
zu unterstützen:
Ausruhen und Bewegen
- jedes Kind sitzt in einem Reifen (Vogelnest), die im Raum
verteilt liegen
- zu einer improvisierten Melodie fliegen die Kinder durch
den Raum, bei ruhiger Melodie oder einem gehaltenen Ton
kehren die Kinder (Vögel) in ihr Nest zurück und schlafen
Anspannung-Entspannung
- die Kinder stehen/sitzen/liegen im Raum
- vernehmen sie einen hohen Ton (überblasen einer Flöte)
spannen sie eine Hand, Bein oder den ganzen Körper an, als
würde man frieren
- bei einem tiefen Ton werden die Gliedmaßen wieder locker
und entspannt, als wäre einem wohlig warm
Stimmbegleitung
- es wird ein einzelner Ball beobachtet, der mit Kraft auf den
Boden geprellt wird: erst macht er ganz hohe und laute
Sprünge, dann werden die Sprünge immer schneller und
leiser
- die Kinder begleiten das Aufprellen mit der Silbe „Ta“ und
passen Dynamik und Tempo dem Ball an
Atem und Stimme (diese Übung - die Kinder sitzen im Schneidersitz und atmen ein (Arme
bietet
sich
nach
einem anheben) und atmen aus (Arme sinken lassen)
dynamischen Stundenteil an)
- es soll stückweise immer tiefer eingeatmet werden
- klappt es gut, singen die Kinder beim Ausatmen einen
leisen Ton auf „mm“ oder „nn“, der nicht gepresst klingen
soll
Länger zurück liegende Theorien die versuchen das Stottern zu erklären, begründen die
Unflüssigkeiten mit einer Störung im Ablauf des Atems. Heutzutage geht man von einer
multikausalen Betrachtungsweise aus, untersucht als nicht eine einzelne Ursache sondern einem
Ursachenkomplex. Dennoch kann eine fehlerhafte Atemtechnik beim Sprechen ein Glied in der
Kette sein, dass sich Stottern entwickelt und verfestigt, oder es aber umgekehrt zu
Atemfehlfunktionen aufgrund von Stottersymptomen kommt.
Daher ist es sinnvoll, auf musikalischem Wege einen guten Atemfluss zu unterstützen. Dies ist
zum einen durch Singen möglich und zum anderen durch das Spielen von Blasinstrumenten.
Dazu ist eine kontrollierte und gleichmäßige Beherrschung des Atems nötig. Beim Singen und
Musizieren auf Blasinstrumenten wird die Funktion der Atmung bewusst eingesetzt und reguliert.
Darüber hinaus wird meist durch das Singen von sprachlichen Inhalten, auf organische Weise das
Sprech-, bzw. Singtempo verlangsamt.
Es folgen Beispiele für reine Atemübungen:
Sichtbarer Atem
- zunächst liegen alle Kinder mit dem Kopf etwas erhöht auf
80
einem Kissen, sodass sie die Feder auf ihrem Bauch sehen
können
- sie atmen ruhig ein und aus und beobachten, wie die Feder auf
ihrem Bauch steigt und sinkt
- unter Anleitung probieren sie Hecheln und ganz tiefes Ein- und
Ausatmen aus
Sichtbaren Atem begleiten
- als zweiten Schritt geht die Hälfte der Gruppe mit einer
Melodika oder Mundhamonika zu je einem liegenden Kind
- immer wenn das liegende Kind ausatmet und sich die Feder auf
dem Bauch senkt, spielt das Kind mit dem Instrument einen
leisen Ton oder atmet alternativ auf „sch“ aus
- je mehr Kinder in der Gruppe sind, desto mehrstimmiger wird
diese Übung
Japanbälle
- das lange Ausatmen wird geübt, indem ein Japanball
aufgeblasen werden soll
- mit dem aufgeblasenen Ball können verschiedene Spiele
gemacht werden:
• Wettrennen: wer kann am schnellsten oder auch am
langsamsten eine bestimmte Strecke durch Pusten des
Balles zurücklegen?
• Zielschießen: alle hocken im Kreis und ein Japanball soll
durch pusten eines Kindes eine vorher angegebene Stelle
treffen (z.B. Max soll zu Clara blasen)
5.8 Selbstaktualisierung und Kreativität
Wie bereits in Kapitel 4.1.1 angedeutet, verstehen Hansen/ Iven unter dem Begriff
Selbstaktualisierung, „dass sich der Mensch nicht in einer objektiven, 'fertigen', allgemein
gültigen und unabhängig von ihm existierenden Welt befindet, sondern dass er sich seine jeweils
individuelle Wirklichkeit durch die Organisation und Interpretation seiner Erfahrungen und
Wahrnehmungen selbst erschafft bzw. konstruiert.“ (Hansen/Iven 2002, S. 33). Dieser Annahme
liegt der radikale Konstruktivismus zugrunde. Jeder Mensch hat also seine ganz eigene
Konstruktion der Wirklichkeit, von der ausgehend „Interpretations-, Entscheidungs- und
Handlungsprozesse“ (a.a.O., S. 33) gebildet werden. „Unsere Aufmerksamkeit für das, was wir
empfinden, und unsere damit verknüpfte Deutung und Erwartung werden (…) mithilfe eines
ideellen Rahmens geordnet, der das Ergebnis früherer sozialer Interaktionen ist. Anders
ausgedrückt, die Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess, bei dem wir auf unsere soziale Geschichte
zurückgreifen, um dem, was wir gegenwärtig empfinden, eine Bedeutung zuzuweisen.“ (ebd. ).
Tritt man mit einem anderen Menschen in Interaktion, so treffen zwei verschiedene „soziale
Systeme“ (Hansen/Iven 2002, S.34) aufeinander, mit zwei eigenen subjektiven Wirklichkeiten.
„Durch Interaktionen mit anderen Individuen (d.h. ebenfalls eigenständigen, autonomen
81
Systemen) kommen dynamische Wechselbeziehungen zustande, die sich beeinflussen,
Reaktionen auslösen und Anpassungsleistungen sowie den kommunikativen Austausch über
gemeinsame, übergreifende Strukturen erforderlich und möglich machen.“ (Hansen/Iven 2002, S.
34). Familie, Schulklasse, Freundeskreis etc. sind also im übertragenen Sinne soziale Systeme,
mit deren Hilfe neben der eigenen Wirklichkeit auch gemeinsame Konstruktionen der
Wirklichkeit entstehen können. Diese sozialen Systeme werden durch kommunikativen
Austausch mit anderen autonomen Systemen gebildet.
„Das dieser Darstellung zugrundeliegende Menschenbild lehnt es ab, Menschen als Objekte zu
betrachten, denen Wege zur Lösung ihrer Probleme und zur Umsetzung von Handlungszielen
verordnet werden können. Vielmehr ist der Mensch als reflexives Subjekt zu sehen, das in der
Lage ist, an Interaktionsprozessen aktiv teilzunehmen und über Zielorientierung, Planung,
Entscheidung und Sinnhaftigkeit seine Handlungen steuert.“ (Hansen/Iven, 2002, S. 35).
Ausgehend von dieser Theorie, kann die Rhythmik folgende Punkte unterstützen:
•
Das Interagieren in einer Gruppe, also mit verschiedenen anderen autonomen Systemen,
bildet ein geeignetes Setting, um Anstöße zur Umbewertung und evtl. Umstrukturierung
der eigenen subjektiven Theorien zu geben (siehe Beispiel). Darüber hinaus kann die
Rhythmik das Zusammenagieren einzelner autonomer Systeme zu einem neuen sozialen
Gruppensystem fördern und vorantreiben. Dieser Punkt ist daher auch aus
gesellschaftlicher Sicht von Bedeutung.
Beispiel: Für Kinder im Vorschulalter ist es meist wichtig, etwas als Erster und
Schnellster zu tun. Dieses Streben kann jedoch dem Abbau von Unflüssigkeiten
hinderlich sein, denn dabei kommt es besonders auf das langsame und weiche Sprechen
an. Aufgaben, bei denen die Kinder spielerisch erleben können wie schön es sein kann
etwas langsam zu tun, oder bei denen Langsamkeit essentiell ist, helfen dem Kind dabei
eine Umbewertung der eigenen Theorie „Nur wenn ich schnell bin, gewinne ich oder
komme ich ans Ziel!“ in Gang zu setzen. Übungsbeispiele:
- zwei Kinder sitzen sich mit ausgestreckten Beinen Fuß an Fuß gegenüber und halten die
Hände, ein drittes Kind sitzt in der Mitte und lehnt sich mit dem Rücken an einem der
beiden anderen Kinder an, sie schaukeln ruhig zu einem vom Klavier begleiteten
Schlaflied z.B. 'Kindlein mein'
- zwei Kinder halten einen Reifen, ein Kind hat die Augen geschlossen, das andere führt
es stumm und langsam durch den Raum, sodass es keine Zusammenstöße gibt und das
'blinde' Kind folgen kann
- gemeinsame Improvisationssettings zum
Musizieren und Tanzen können bewusst
machen, dass bestimmte Ergebnisse nur in der Gruppe erreicht werden können, wie z.B.
das Bauen von Statuen oder Gebilden aus Körpern oder das Musizieren zu acht an einem
82
Klavier
•
Durch das Aufgreifen und Weiterentwickeln von kindlichen Initiativen im Unterricht,
lernt das Kind sein eigenes Handeln als bedeutend kennen. Im Mittelpunkt des
„Rhythmikunterrichts stehen interaktive Prozesse, die die Beteiligten integrativ
(ganzheitlich) beanspruchen und beeinflussen. Das dabei angestrebte Richtziel ist die
handelnde Bewältigung von Unterrichtssituationen, die als offene Handlungsräume
interpretiert und genutzt werden.“ (Schaefer 1992, S. 126).
Beispiel: „Zeigt mir, was ihr hört!“ Zu einer beispielsweise zeitgenössischen Musik die
einen bestimmten Charakter hat (z.B. besonders flatterig oder besonders gedehnt) sollen
sich die Kinder bewegen und durch ihre Bewegungen zeigen, wie sich das anhört („wie
ein Schmetterling“, „wie Feuer“, „wie eine Säge“). Die Lehrperson beobachtet die sich
bewegenden Kinder und nach der Musik wird jedes Kind mit seinen Bewegungen
berücksichtigt und imitiert: „Ich habe gesehen, der Max hat seine Arme ganz hoch
gestreckt und ist dabei ganz langsam geschlichen. Kannst du uns das nochmal zeigen,
Max? Dann können das die anderen Kinder auch mal probieren.“ Die Kinder erfahren
dadurch, dass ihr Handeln wahr- und ernstgenommen wird und können als Vorbild
fungieren, wenn die anderen Kinder ihre Bewegungen nachahmen.
•
Die vielfältig interpretierbaren Handlungsfelder und -möglichkeiten innerhalb des
Gruppenunterrichts unterstützen dabei, durch „'leibhaftiges' Handeln“ (vgl. Schaefer
1992, S. 149) die persönlichen Ressourcen zur Handlungsleitung, zur Autonomie,
Reflexionsfähigkeit und Verantwortung, also letztlich die „Beziehung zu sich selbst,
untereinander und zur sachlichen Umwelt [...]“ (a.a.O., S.149) bewusst zu machen, zu
verstärken und gegebenenfalls auszuweiten.
Beispiel: die Kinder sitzen im Halbkreis und jedes hat ein Instrument, ein Kind sitzt ihnen
gegenüber und ist der Dirigent, hat der Dirigent die Hände erhoben, spielt das Orchester
laut, je niedriger die Hände wandern, desto leiser wird es, der Dirigent kann auf einzelne
Instrumente zeigen, die dann ein Solo spielen. Hierbei muss sich das dirigierende Kind
fragen: Was möchte ich hören (Beziehung zu sich)? Wie kann ich das den Anderen
vermitteln (Beziehung zu Anderen)? Welche Instrumente möchte ich hören (Beziehung
zur sachlichen Umwelt)?
Das Ansprechen der Kreativität von Kindern ist bei den bisherigen Überlegungen ein zentraler
Bestandteil. „Auf diese Weise kann das Selbst seinen individuellen Ausdruck finden. Durch die
erfahrene Selbstbestimmung können stotternde Kinder Bedürfnisse, Interessen und Gefühle
entdecken und sie auch akzeptieren lernen.“ (Hansen/Iven 2002, S. 146). Kreatives Handeln
83
stärkt damit das Gefühl von Selbstkompetenz und Selbstwert. Dabei kann sich das Kind auf das
Erfahren, Fühlen und Denken im 'Hier und Jetzt' einlassen. (a.a.O., S. 146).
Möchte man kreative Fähigkeiten fördern, ist es sinnvoll die Wahrnehmung von Kindern zu
schulen. Gurdrun Schaefer schreibt dazu: „Die Sensibilisierung eines Wahrnehmungssystems
bewirkt darüber hinaus auch eine Aktivierung des individuellen Vorstellungsvermögens, d.h. der
Fähigkeit zur Imagination von Reizeinwirkungen, die in der aktuellen Unterrichtssituation nicht
'wirklich' vorhanden sind. Imaginationsprozesse dieser Art spielen eine wichtige Rolle für die
Freisetzung von kreativen Fähigkeiten.“ (Schaefer 1992, S. 121). Als Beispiele führt sie
Aufgabenstellungen an, bei denen die Teilnehmer so tun als ob sie über eine Wiese laufen, durch
tiefen Schnee, über spitze Steine oder Asphalt. (vgl. a.a.O., S. 121).
5.9 Einstellungen und Selbstkonzept
Einige Kinder entwickeln aufgrund ihres Stotterns ein Selbstkonzept, in dem sie sich als
sprachlich oder sozial-kommunikativ inkompetent empfinden oder sie beginnen sich zu sorgen,
dass sie etwas nicht so gut können wie andere Kinder und anders sind.
Durch die kreative Auseinandersetzung mit dem eigenen Stottern kann zunächst die Einstellung
zum Stottern und schließlich auch zu sich selbst positiv verändert werden (siehe auch Kapitel
5.6). Das Entwickeln von Liedern über das Stottern oder Raps mit bewusster und ästhetischer
Verwendung von Stotter-Symptomen sind beispielsweise mögliche Anreize dafür. Das Stottern,
das Ursache für Gefühle der Inkompetenz sein kann, wird nun als Ausgangspunkt für eine
kreativ-ästhetische Gestaltung genommen. Es findet eine Umbewertung statt, die sich positiv auf
den Aufbau von Selbstvertrauen und Kompetenz auswirkt.
Hansen und Iven verweisen bei diesem Baustein hauptsächlich auf Bücher, die sich mit AndersSein, Angst, Mut und Freundschaft beschäftigen. In Absprache mit dem behandelnden
Therapeuten können im Rhythmikunterricht besonders beliebte Geschichten oder Episoden als
Klang- oder Bewegungsgeschichten nacherzählt werden. Dabei können Kompetenzen auf
musikalischem, motorischem, kreativem und sozialem Gebiet erworben oder verfeinert werden.
Die fertigen Ergebnisse könnten dann zusammen mit den Liedern und Raps zum Stottern im
Rahmen einer kleinen Vorstellung den Eltern, Geschwistern und Freunden aller Teilnehmer
vorgeführt werden. Neben einem Zugewinn an Selbstvertrauen und Mut für die agierenden
Kinder erleben nun auch die Eltern, die häufig noch viel verunsicherter und ängstlicher mit der
Redestörung ihres Kindes umgehen als das Kind selbst, dass ein lockerer unverkrampfter
Umgang mit der Thematik entlastend wirkt. Zudem erleben sie, wie sich ihr Kind kreativ und
kompetent mit der eigenen Redestörung auseinandersetzt, was auch bei den Eltern ein
Überdenken der Einstellung zum „Gespenst“ Stottern bewirken kann. Es geht jedoch nicht darum,
84
die Redestörung zu verharmlosen, sondern vielmehr den Knoten zu lösen und automatisierte
Verhaltensmuster, bezogen auf das Stottern, aufzulockern.
Nimmt man an interaktiven Prozessen im Rhythmikunterricht teil, so gibt man wissentlich oder
unwissentlich etwas von sich preis. Gudrun Schaefer schreibt dazu: „Diese Präsentation seines
'Selbst' enthält individuelle Erfahrungen, Gefühle, Bedürfnisse, Absichten, Fähigkeiten und
Fertigkeiten, die er (der einzelne, Anm. d. Verf.) in Interaktionen zu erkennen gibt, sei es bewusst
oder unbewusst. Rhythmikunterricht zielt darauf ab, diese Komponenten des subjektiven Selbst
bewusst zu machen (Selbstbewusstsein) und ihre Präsentation vor anderen individuell verfügbar
zu machen (Selbstbestimmung).“ (Schaefer 1992 S. 182). Dieses Wahrnehmen und Wissen über
die eigenen Absichten, Bedürfnisse, Gefühle und Fähigkeiten macht das Selbstkonzept aus.
Kinder, bei denen aufgrund von negativen Erfahrungen oder Gefühlen durch das Stottern die
Selbstwahrnehmung sehr auf dem Fokus von (sprachlicher) Inkompetenz liegt, können im
Rhythmikunterricht durch das bewusstere Wahrnehmen und Verfügbarmachen von anderen
persönlichen Fertigkeiten, Fähigkeiten und Gefühlen eine Umstrukturierung zugunsten eines
positiveren Selbstbildes erreichen. Mithilfe der Selbstbestimmung können stotternde Kinder ihre
Bedürfnisse, Interessen und Gefühle nicht nur entdecken, sondern auch akzeptieren lernen. „Die
Integration aller in uns schlummernder Gefühle, die Erkenntnis unseres Selbst, auch der
Schattenseiten, die Akzeptanz dieser Phänomene und der bewusstere Umgang mit unseren
Gefühlen tragen zum Aufbau eines positiven Selbstwertgefühls und Selbstbewusstseins bei.“
(Hansen/Iven 2002, S. 31).
5.10 Frustrationstoleranz
Im Rhythmikunterricht gibt es selten Aufgabenstellungen, die Wettkampfcharakter haben und in
deren Folge der Schnellste oder der Beste gewonnen hätte. Durch die häufig offenen18
Aufgabenstellungen sind 'richtig' oder 'falsch' nicht von zentralem Interesse. Dadurch wird der
Druck, etwas am besten machen zu müssen, genommen und es kommt weniger zu Gefühlen der
Niederlagen oder Frustrationen, von denen häufig ältere stotternde Kinder betroffen sind (siehe
auch Kapitel 4.1.1, S. 48). Dennoch entstehen genügend andere Situationen im Unterricht, in
denen Kinder frustriert sein können. Ein Kind kann beispielsweise enttäuscht oder verärgert sein,
wenn sich ein anderes Kind die einzige Trommel genommen hat, auf der es selbst spielen wollte
18 Gudrun Schaefer beschreibt 'offene' Aufgabenstellungen im Rhythmikunterricht folgendermaßen: Sie
„sind durch zwei Merkmale gekennzeichnet:
- sie enthalten Freiräume, die von den Teilnehmern subjektiv interpretiert und handelnd erprobt werden
müssen;
- sie stecken einen bestimmten Rahmen ab, innerhalb dessen der Freiraum voll genutzt werden soll.
Beide Aspekte müssen in ein der Unterrichtsgruppe jeweils angemessenes Verhältnis gebracht werden,
damit sie lernen, mit Freiräumen 'sinnvoll', d.h. identitäts, situations- und sachgerecht umzugehen.“
(Schaefer 1992, S. 259).
85
oder wenn wieder ein Anderer die Gitarre auspacken durfte. Häufig ist es in solchen Situationen
ausreichend, dem gefrusteten Kind zu versichern, dass nach einer Runde sowieso die Instrumente
getauscht werden oder dass es dafür am Ende der Stunde die Gitarre wieder einpacken kann, was
letztlich bedeutet, das Kind in seinem Frustempfinden ernst zu nehmen.
In der Stotter-Therapie von Hansen/Iven werden den Kindern durch das modellhafte Verhalten
des Therapeuten wie der positiven Umbewertung der Situation auf direktem Wege
Bewältigungsstrategien nahe gebracht (siehe auch Kapitel 4.1.1, S. 48f.). Da Kinder sowieso
nicht vor allen negativen Erfahrungen geschützt werden können, ist dieses Vorgehen sinnvoll.
Innerhalb
der
Möglichkeiten
der
Rhythmik
können
die
Kinder
bezogen
auf
die
Frustrationstoleranz unter anderem durch folgende Aspekte dahingehend gestärkt werden:
•
die vielen kreativen Aktionen im Unterricht jenseits von 'richtig' und 'falsch' bieten die
Möglichkeit, positive Erfahrungen zu machen sowie Kompetenzen zu erkennen und zu
erweitern, in deren Folge die eigenen Misserfolgs- und Frustrationserwartungen abgebaut
werden können
•
durch das Agieren in einer Gruppe können die Kinder voneinander lernen, mit
Frustrationen umzugehen und alternative Handlungsmöglichkeiten erproben
•
das
Herstellen
oder
gar
das
Erlernen
von
Musikinstrumenten
kann
das
Durchhaltevermögen stärken und somit die Bewältigung von Enttäuschungen und
Konflikten unterstützen
Empfehlenswerte Ideen und Anregungen zum Instrumentenbau gibt es in Barbara Holzapfels
Buch „Rhythmische Bewegungsspiele entwickelt aus Kinderreimen“ (1978) ab Seite 73.
5.11 Reduzierung der kommunikativen Verantwortung
Bei diesem Baustein geht es darum, in der therapeutischen Kommunikation auf ein sprachliches
Anforderungsniveau zu achten, bei dem das Kind nicht überfordert werden soll (vgl. Kapitel 5.5).
Ist dies gewährleistet, werden die Chancen für eine flüssigere Sprechweise erhöht. Wie kann
hierbei die Rhythmik das Vorgehen in der Therapie unterstützen? Viele Aufgaben im
Rhythmikunterricht laufen nonverbal ab. Für einige Kinder kann es daher entlastend sein, wenn
sie nicht alles verbalisieren müssen. Spielerisch kann über Mimik, Gestik, Instrumente, Laute und
Fantasie-Sprache kommuniziert werden. Dazu einige Anregungen:
Trommelklang-Gespräch
- zwei Kinder haben je eine Trommel durch die sie sich
miteinander unterhalten, dabei können sie neben Trommelauch Wisch-, Kratz- und Tippgeräusche machen und Gestik und
86
Mimik mit einsetzen
- optional als Erweiterung: die anderen Kinder beobachten und
teilen anschließend mit, ob das Trommel-Gespräch als nett,
wütend, aufgebracht, ruhig etc. empfunden wurde
Dirigieren
- ein Kind steht als Dirigent vor der Gruppe und zeigt den
Gruppenmitgliedern mit den Händen, was sie tun sollen, z.B.
sich hinsetzen, rückwärts zum Schrank laufen, hoch springen,
in diese oder jene Ecke gehen, rückwärts laufen, auf den Stuhl
steigen etc.
Reifen
- ein Kind ist im Reifen mit geschlossenen Augen und lässt sich
vom Kind außerhalb des Reifens langsam durch den Raum
führen
- das äußere Kind achtet darauf, dass es keine Kollisionen mit
anderen Kindern oder Gegenständen gibt
- geht es dem Kind im Reifen zu schnell, kann es dieses durch
Händeklatschen dem äußeren Kind mitteilen, das äußere Kind
weiß, dass es behutsamer vorgehen muss
Generell kann man das Spielen und Improvisieren mit der Stimme, auf Instrumenten oder durch
Bewegung im Rhythmikunterricht als Form der nonverbalen Kommunikation betrachten. Diese
Tätigkeiten tragen ebenso dazu bei, die sprachliche Verantwortung zu senken. Eine
Sonderstellung nimmt das Singen von Liedern ein. Hierbei werden zwar Worte und kleine
Geschichten reproduziert, doch durch die schon feststehenden Texte wird der Druck genommen,
selbst Formulierungen oder sprachliche Repräsentanzen für Geschehenes finden zu müssen.
Stattdessen helfen Melodie, Metrum und Rhythmus beim flüssigen Artikulieren und Produzieren
von Silben und Worten. Die positive Wirkung davon auf das Stottern wurde zuvor schon
beschrieben (vgl. 5.4).
5.12 Aufgreifen weiterer (Sprach-)Entwicklungsrückstände
Das
Erkennen
von
weiteren
(Sprach-)Entwicklungsrückständen
ist
Aufgabe
der
Sprachtherapeuten und kann nicht im Rhythmikunterricht geleistet werden. Die Rhythmik kann
zwar in der Behandlung stotternder Kinder unterstützen, ist aber keine alleinstehende
Therapiemethode. Mit den fachlichen Grenzen ist sehr verantwortungsbewusst umzugehen und
sie müssen klar dargestellt werden.19 Die Bausteine, die hier mit Variationen und Ergänzungen aus
der rhythmisch-musikalischen Erziehung angereichert werden, dienen in erster Linie dazu, die
vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten der Rhythmik von einem anderen Blickpunkt aus,
nämlich der ganzheitlichen Förderung stotternder Kinder, zu betrachten und darzustellen.
19 Zu den Grenzen der Rhythmik siehe Zusammenfassung und Ausblick S. 91.
87
5.13 Transfer
Hansen und Iven setzen diesen Baustein aus den Teilen
•
Unterstützung durch Spiele
•
Einführung von Stressoren zur Desensibilisierung und Stabilisierung
•
In-Vivo-Situationen und
•
Erinnerungshilfen
zusammen (vgl. Kapitel 4.1.1, S. 51f.). In Absprache mit den Therapeuten können einige
Bereiche daraus im Rhythmikunterricht unterstützt werden.
Unterstützung durch (Sing-)Spiele
Hierbei geht es darum, den Kindern (Sing-)Spiele mit nach Hause zu geben, die sich einfach
außerhalb des Therapie- oder Rhythmikraumes mit Freunden oder Geschwistern spielen lassen
und die als „Inseln der Sprechflüssigkeit“ (Hansen/Iven, 2002, S. 157) im Alltag verbreitet
werden sollen. Beispielsweise das Lied:
Schneck' im Haus
komm heraus,
strecke deine Fühler aus.
Dieses Lied ist kurz, besteht bis auf eine Quarte nur aus einer kleinen Terz und kann selbst von
kleinen Kindern gesungen werden. Ein Seil wird dazu spiralförmig (=Schneckenhaus) auf den
Boden gelegt und die Kinder laufen einzeln auf dem Seil entlang in die Schneckenhausmitte und
wieder heraus. Ein Kind wird nun als Schnecke festgelegt und während die anderen Kinder
singen, läuft das Schneckenkind in die Schneckenhausmitte, hält sich dann seine zwei
ausgestreckten Zeigefinger an die Schläfen (Fühler), kommt wieder heraus und fängt dabei ein
anderes Kind, das nun an der Reihe ist.
Stressoren einführen zur Desensibilisierung und Stabilisierung
Zu den Stressoren zählen Hansen und Iven u.a. folgende Druckmittel:
–
Zeitdruck ('Erzähl mal ganz schnell, wie das geht, sonst haben wir keine Zeit mehr zum
Spielen!')
–
Unterbrechungen des Sprechens: ('Das war jetzt genug dazu.' , 'Ich meine aber, das geht
anders.')
–
Konkurrenzdruck ('Ich brauche nur noch ein Bild, dann habe ich gewonnen!')
–
Unterbrechungen der Aufmerksamkeit (während einer Äußerung des Kindes ein
atrraktives Objekt in die Hand nehmen oder dem Kind geben: inhaltlicher Ablenker)
(aus: Hansen/Iven, 2002, S. 105).
Die Einführung solcher Stressoren wird mit den Kindern vorher besprochen, damit die
88
Vertrauensbasis zwischen Therapeut und Kind nicht leidet. Innerhalb des dynamischen
Gruppengeschehens im Rhythmikunterricht würde ich auf solche Maßnahmen jedoch
weitestgehend verzichten, da sonst die nicht angesprochenen Kinder ebenfalls zu Stressoren (mit
einer freilich nicht therapeutischen Absicht) greifen könnten, wie: „Und ich bin ja Zweiter und du
bist die Letzte.“ etc. Maßnahmen, die jedoch den Zeitdruck erhöhen, sind auch in Absprache mit
den Therapeuten im Rhythmikunterricht umsetzbar. So könnten beispielsweise die Kinder
versuchen, einen Abzählreim aufzusagen. Jedoch haben sie nur Zeit, solange sich der von ihnen
in Schwung gebrachte Reifen dreht. Fällt er zu Boden und der Abzählreim ist noch nicht zu Ende,
müssen sie es nochmal probieren.
In-Vivo-Situationen
Das Schaffen von In-Vivo-Situationen, wie Einkaufen gehen oder Interviews in der
Fußgängerzone mit dem Therapeuten, gehört auch eher in den Bereich der therapeutischen Arbeit.
Dennoch könnte man als einmalige Aktion anbieten, dass von jedem Kind der liebste Freund oder
die liebste Freundin mitkommt und mitmacht. In dieser Situation sind die unflüssig sprechenden
Kinder ihren Gästen an Kompetenz überlegen, da sie mit der Räumlichkeiten, den Regeln und
Abläufen vertraut sind und sie den Freunden alles zeigen können (vgl. Kapitel 4.1.1, S. 51).
Erinnerungshilfen
Musikalische Erinnerungshilfen können neben dem Erlernen und Singen von vielen Liedern das
mit-nach-Hause-nehmen von Blasinstrumenten wie Flöten oder Mundharmonikas sein, die das
Kind daran erinnern, mit einer weichen Anblastechnik einen schönen Ton erzeugen zu können.
Beim Singen von Liedern könnten auch Geschwister und Eltern einbezogen werden.
Möglicherweise können Bewegungserinnerungen von Übungen aus dem Rhythmikunterricht wie
beispielsweise so leicht wie eine Biene durch den Raum zu summen oder wie eine Seifenblase zu
schweben, einigen Kindern eine Stütze sein, ein leichtes Körpergefühl zu erinnern und auf einen
leichten, weichen Stimmeinsatz zu übertragen.
5.14 Nachsorge und Ende der Therapie
Wie bereits in Kapitel 4.1.1 (S. 52) erwähnt, bevorzugen Hansen und Iven beim Beendigen der
Therapie eine schrittweise Vergrößerung der Abstände zwischen den Therapiestunden. „Jeder
therapeutische Kontrakt beinhaltet selbstverständlich auch sein eigenes Ende, weil sonst die
Gefahr von sehr langfristigen Abhängigkeitsverhältnissen bestehen würde. Eigenverantwortung,
Selbstwirksamkeitserwartung und Zuversicht gedeihen auch ohne permanente therapeutische
Unterstützung.“ (Hansen/Iven 2002, S. 161). Der therapieunterstützende Rhythmikunterricht, um
89
den es in dieser Arbeit geht, ist keine alleinstehende Therapie. Von daher ist es nicht notwendig
so behutsam vorzugehen und allmählich die Abstände zu vergrößern wie bei der Therapie. Auf
der anderen Seite stellt sich die Frage, ob überhaupt der Rhythmikunterricht beendet werden
muss, wie es in therapeutischen Verfahren von Anfang an feststeht. Für behinderte wie für nicht
behinderte Kinder ist die Rhythmik ein wichtiges Feld, auf kreative und spielerische Weise – und
damit der kindlichen Entwicklung gerecht werdend – Wissen zu erlangen, über sich, die anderen,
über Musik und Bewegung. Wünschenswerterweise sollten Kinder, egal ob mit oder ohne
sprachliche Defizite, über viele Jahre in ihrer Entwicklung durch die Rhythmik begleitet werden.
Bezogen auf die Beendigung der Sprachtherapie sollte der Rhythmikunterricht noch wenigstens
den Zeitraum begleiten, in dem die Frequenz der Therapiestunden verringert wird, um einen noch
behutsameren Ausstieg aus der Therapie zu ermöglichen.
90
Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend komme ich zum Schluss, dass die Rhythmik auf vielen Ebenen das stotternde
Kind fördern und bei der Erlangung einer flüssigeren Sprechweise unterstützen kann. Anders
gesagt: Die vielschichtigen und multifaktoriellen Probleme von stotternden Kindern können
durch das ganzheitliche Wirkungsspektrum der rhythmisch-musikalischen Erziehung verringert
werden.
Die Fragen aus der Einleitung können folgendermaßen beantwortet werden:
1. In welchen Bereichen kann die Rhythmik dem stotternden Kind im besonderen Maße zu Gute
kommen?
Positivierung der (Selbst-)wahrnehmung
Es wohnt der Rhythmik inne, Begriffe erfahrbar und von verschiedenen Blickwinkeln aus
erlebbar zu machen (vgl. Kapitel 5.3). Ob in Musik, Bewegung, im Raum oder durch Gruppenoder Einzelaufgaben können Kinder ganzkörperlich Zusammenhänge zwischen bspw. hoch-tief,
lang-kurz, schmal-breit erfahren. Diese Eindrücke haben eine positive Auswirkung auf die eigene
Wahrnehmung und das eigene Handeln und sind damit besonders wertvoll für die Therapie von
stotternden Kinder.
Förderung der emotionalen Stabilität
Eine offene und kreative Auseinandersetzung mit dem eigenen Stottern fördert den Abbau von
Angst, Druck- und Vermeidungsverhalten (vgl. Kapitel 5.6). Im Rhythmikunterricht können die
eigenen Gefühle und Erlebnisse mit der Redestörung musikalisch, tänzerisch oder szenisch,
einzeln oder in der Gruppe umgesetzt und verarbeitet werden. Das kreative Tun unterstützt den
Betroffenen (und falls es zu einer Aufführung der Gestaltungen kommt, auch die Angehörigen)
dabei, mit dem Stottern natürlicher umzugehen und unempfindlicher zu werden. Das kreative
Zum-Ausdruck-Bringen steht im positiven Kontrast zu dem Stecken-Bleiben und sich nicht
richtig mitteilen können und ermöglicht Kompetenzerlebnisse auf sprachlicher und musikalischer
Ebene.
Integration in das soziale System
Ebenso hervorzuheben ist der soziale Aspekt des Rhythmikunterrichts: Das Interagieren in einer
Gruppe bietet die Möglichkeit, Anstöße zur Umbewertung und eventuell Umstrukturierung der
eigenen subjektiven Theorien zu geben (vgl. Kapitel 5.8). Selbstaktualisierung ist für stotternde
Kinder von Wichtigkeit, um von einer durch das Stottern ausgelösten erschwerten
91
Kommunikation, einer negativen Selbstwahrnehmung entgegen zu wirken und seine eigenen
Fähigkeiten kennen und schätzen zu lernen. Darüber hinaus lernt das Kind durch das Aufgreifen
und Weiterentwickeln von kindlichen Initiativen im Unterricht sein eigenes Handeln als
bedeutend kennen. Das „'leibhaftige' Handeln“ (Schaefer 1992, S. 149) im Rhythmikunterricht
kann dabei helfen, die Beziehung zu sich, zu anderen und zur sachlichen Umwelt bewusst zu
machen und zu verstärken.
Steigerung des Selbstwertgefühls
Davon kann das stotternde Kind auch bezogen auf die eigene Einstellung und das Selbstkonzept
(vgl. Kapitel 5.9) profitieren: Das Kind hat die Möglichkeit Kompetenzen auf musikalischem,
motorischem, kreativem und sozialem Gebiet auszubauen. Durch das Kennenlernen und Erlernen
von neuen Fähigkeiten auf den eben genannten Gebieten, rückt die Wahrnehmung vom Fokus der
kommunikativen Inkompetenz ab und das Kind kann ein positiveres Selbstbild erlangen.
Verbesserung der sozialen Interaktionsfähigkeit
Nonverbale Kommunikation ist durch Musizieren, Tanzen, Mimik und Gestik möglich (vgl.
Kapitel 5. 11). Solche improvisatorischen Momente nehmen dem Kind den Druck sich sprachlich
ausdrücken zu müssen. Für stotternde Kinder kann es eine Wohltat sein die Welt der nonverbalen
Kommunikation kennenzulernen, in der man nicht ständig auf der Suche nach Formulierungen
sein muss und die dennoch als kommunikatives und kreatives Ventil dienen kann.
2. Wo sind die Grenzen der Rhythmik in der Behandlung von stotternden Kindern?
Die rhythmisch-musikalische Erziehung ist und kann keine eigenständige Therapie für stotternde
Kinder sein. Die ersten Gespräche mit den betroffenen Kindern und deren Eltern, die daraus
resultierende Diagnose (auch im Hinblick auf weitere Sprachentwicklungsrückstände) sowie die
anschließende Therapieplanung gehören in die Hände von Therapeuten. Als Rhythmiker ist man
ohne sprachtherapeutische Zusatzausbildung nicht in der Lage, die vorhergehenden Gespräche
und Analysen durchzuführen sowie Schlussfolgerungen für die Schwerpunkte und den Ablauf der
Therapie zu ziehen. Mit dieser Grenze muss sehr bewusst umgegangen werden, da sie fließend
sein kann. Dies erfordert viel Eigenverantwortung und eine kritische Sicht auf das eigene Tun,
damit diese Grenzen der Möglichkeiten nicht überschritten werden.
Aber in enger Zusammenarbeit und Absprache mit den behandelnden Logopäden kann die
Rhythmik als zusätzlicher Teil der Therapie durch die resultierende Methodenvielfalt stotternde
Kinder ganzheitlich unterstützen und fördern.
92
3. Wie könnte die Zusammenarbeit zwischen Logopäden und Rhythmikern aussehen?
In erster Linie ist diese Arbeit dazu gedacht, über die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten der
Rhythmik in der Behandlung von stotternden Kindern zu informieren. Es geht also nicht um ein
Konzept oder eine Methode für stotternde Kinder, da die Grenzen der Rhythmik diesbezüglich
klar definiert sind. Aber ich habe den Wunsch, auf Logopäden zuzugehen, um für stotternde
Kinder ein Rhythmikangebot zusätzlich zur Therapie zu kreieren. Daher folgt eine Einschätzung
zur Realisierbarkeit dieses Vorhabens:
Auf die Frage hin, ob es in der Logopädie überhaupt üblich ist, auch andere Disziplinen in der
Behandlung hinzu zuziehen wurde dies in einem Gespräch mit Kathrin Otto, einer Logopädin aus
Biesenthal20, eindeutig bejaht. Ihren Erfahrungen zu Folge, schließen sich immer häufiger
Logopäden, Ergo- und Physiotherapeuten zu einer Praxis zusammen, um von den vielfältigen
Konzepten und Herangehensweisen zu profitieren. Anders formuliert: der Trend geht in Richtung
Ganzheitlichkeit. Diese Tatsache könnte auch der Rhythmik zu Gute kommen. Zum einen
verfügen diese interdisziplinären Praxen über mehrere Räume und einen größeren Kundenstamm,
die das Zustandekommen von einer wöchentlichen Rhythmikstunde für stotternde Kinder
erleichtern könnten. Zum anderen könnte der ganzheitliche Ansatz der Rhythmik, der Kinder auf
sozialen, motorischen, kognitiven, kinästhetischen und auditiven Gebiet fördert, ein
ausschlaggebender Punkt sein, Logopäden mit den Arbeitsweisen der Rhythmik vertraut zu
machen.
Dennoch war selbst mir als Rhythmikerin der Begriff der Sprachheilpädagogischen Rhythmik vor
Beginn dieser Arbeit nicht bekannt und auch Kathrin Otto und die Kollegin aus ihrer Praxis, Delia
Schillmann, kannten sowohl die Sprachheilpädagogische Rhythmik, als auch das Fach Rhythmik
nicht. Möchte man also als RhythmikerIn mit LogopädInnen zusammenarbeiten, so muss man
erst einmal über das Fach und dessen Arbeitsweisen informieren. In einem zweiten Schritt könnte
dann ein Probeunterricht folgen, bei dem sich die Therapeuten ein praktisches Bild machen
können. Dennoch bleibt man darauf angewiesen, das Interesse und Vertrauen von Logopäden zu
gewinnen um zusammen arbeiten zu können.
Auch wenn es kaum bekannt ist, dass Rhythmik und Sprachtherapie, insbesondere die
Behandlung von stotternden Kindern, miteinander verbunden sind, wie das Kapitel zur
sprachheilpädagogischen
Rhythmik
zeigt,
ist
es
wünschenswert,
dass
die
vielen
Anwendungsmöglichkeiten der Rhythmik in der Behandlung von stotternden Kindern mehr
Verbreitung finden. Neben einer flüssigeren Sprechweise könnte dies auch zu mündigeren,
selbstbewussten Menschen in einer sozialen Gesellschaft führen.
20 Kathrin Otto, Praxis für Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schlucktherapie, Bahnhofsplatz 1, 16359
Biesenthal (Brandenburg)
93
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96
Anhang
97
Übungsgruppen
Sprachunterbau
Übungen mit der Verbindung von Bewegung und elementarer Lautung
Beispiele
➢ Stechmücke: Sie singt im Raum. Wenn der Stimmatem aus ist, setzt sich die
Stechmücke nieder. Sie „sticht“ ein Kind, das schreit: „Au!“ - Kinder mit
geschlossenen Augen zeigen, wo sie fliegt.21
Sprachaufbau
Ruhe und ruhige Bewegungen:
Über das Vorstellen von ruhigen Bewegungen (ziehende Wolken, wogendes
Feld im Wind, Wellen, etc.) sollen die Stotternden zu ruhigerem Sprechen
gelangen. Töne oder Tonfolgen sollen durch Körperbewegung, Laute und
Sprechen begleitet werden.
➢ Die Kinder haben die Augen geschlossen und die Arme ausgebreitet. Sie
lauschen dem Klang eines Tonstabes aus dem Orff-Instrumentarium oder
der Triangel. Sie begleiten das Verhallen des Tones durch sinken lassen ihrer
Arme. Ist der Ton verklungen, so sind auch die Arme der Kinder gesenkt.
Entladung und Aufladung
Bewegung dient sowohl der motorischen Entladung, bei der Aggressionen
und andere negative Anstauungen abgebaut werden können, als auch der
Aufladung im Sinne von Kraftzuwachs.
➢ Beispiele werden für diese Übungsgruppe nicht genannt. Elstner verweist
jedoch auf seine letzte Übungsgruppe „Ausdrücken von Gefühlen als
Bewegungs- und Redeaufgabe“.
Takt schreiten - klopfen – sprechen
Rhythmische Sequenzen sollen erfasst, gespeichert und wiedergegeben
werden können. Der Grundrhythmus wird geschritten. Achtel, Achteltriolen,
Sechzehntel, usw. werden mit Klanghölzern geklopft und gleichzeitig wird
dazu gesprochen.
Koordination Körperbewegung – Sprechbewegung
Der Sprechablauf wird mit Bewegungsläufen verbunden, wobei die
Bewegungsaufgabe im Vordergrund steht. Dadurch muss der Stotternde sich
nicht persönlich äußern und kann dennoch fließendes Sprechen erleben.
Elstner unterscheidet verschiedene Möglichkeiten die Verbindung von
Körperbewegung und Sprechbewegung zu üben (1994, S. 48 ff.):
• Der Inhalt des Gesprochenen bezieht sich auf die ausgeführte
Tätigkeit
Dieses und weitere Übungsbeispiele in:
Elstner, 1994, S. 47.
➢ „Feuerwehr“: Die Kinder stehen hinter einem auf dem Boden liegenden
Tau. Auf Kommando bewegen sie das Tau rhythmisch auf und ab und
sprechen dazu: „Pum-pen, pum-pen, ...“.
21 Diese und weitere Übungen in: Elstner 1994, S. 43.
98
•
Bewegen eines kleinen (tennisballgroßen) Balles mit koordiniertem
Sprechen
➢ Vor dem Körper von einer Hand in die andere geben („hin und her, hin und
her, hin und her, das ist nicht schwer“).
•
Seiltanzen22
•
Der Inhalt des Gesprochenen hat keine oder nur eine lose Beziehung
zur Bewegung
•
Die Sprechleistung steht am Ende einer vollzogenen Bewegung
➢ Von einem Ende des Seils zum anderen gehen, der Partner wartet an einem
Ende. Das Kind, das geht, spricht: „Ich komm näher, ich komm näher … ich
bin da!“
➢ Hier dient die Bewegung der Verstärkung des Sprachrhythmus, z.B.
gereimte Sprüche durch rhythmisches Klatschen, Stampfen, Klopfen usw.
unterstützen
➢ Die Sprechleistung hat Kundgabe- oder Appellfunktion, z.B. beim Erreichen
eines Zieles folgt der Ruf: „Hier bin ich!“
•
Sprechleistung und Bewegung sind voneinander unabhängig (Durch
die Körperbewegungen wird verhindert, dass dem Sprechgeschehen
zu viel Aufmerksamkeit beigemessen wird.)
➢ Die Lehrperson wirft mit dem Stotternden einen Ball hin und her. Zunächst
wird immer auf „hopp“ der Ball geworfen. Dann kann die Lehrperson von
ihrem Partner die als schwierig empfundenen Laute, Lautverbindungen,
Wörter oder kleine Sätze zurufen, die dieser dann im Rhythmus des
Ballwerfens wiederholen soll.
•
Das Inhaltliche des Gesprochenen wird durch Körperbewegungen
erschlossen und vertieft (Hierbei sollen emotionale Qualitäten der
Sprache freigesetzt werden.)
➢ Die Kinder bewegen sich zur musikalischen Improvisation des Lehrers
(Themen: Blätter im Wind, der Kohlenmann schleppt einen schweren Sack,
Elfen tanzen, …). Sie suchen dann zur körperlichen Darstellung einen
sprachlichen Ausdruck in Form eines passenden Wortes, eines Satzes oder
einer kleinen Geschichte.
Koordination Schreibbewegung – Sprechbewegung
Laut Elstner wirkt sich gleichzeitig Sprechen und Schreiben positiv auf den
Redefluss aus. Wörter, die besonders problematisch sind, können bei
gleichzeitigem Mitsprechen geschrieben werden, wobei darauf zu achten ist,
dass das Sprechen dem Schreiben nicht voraus oder langsamer ist.
Gedankenprogrammierung
Kann der Betroffene keine eindeutig festgelegten Satzkonzepte erstellen und
baut während des Sprechens den Satz um, so empfiehlt Elstner „Stopps zur
➢ Die Lehrperson gibt ein Stoppsignal und der Schüler das Startsignal, wenn
dieser meint mit seinem Satzkonzept fertig zu sein. Signale können zwei
verschieden farbige Tücher sein, oder zwei verschiedene Geräusche oder
22 Elstner weist an dieser Stelle nochmals darauf hin, dass die Übungsanforderungen der mit der Leistungsfähigkeit des Schülers auf diesem Gebiet in Einklang gebracht werden
sollten, um Frustration zu vermeiden.
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Gedankenprogrammierung“ (vgl. Elstner, 1994, S. 52).
Stimme und Bewegung
Nicht nur beim Singen können redeflussgehemmte Menschen in der Regel
störungsfrei artikulieren, sondern auch beim Ausführen von „melodischrhythmisch-dynamischen Stimmbewegungen, welche über Tonqualität und
Bewegungsausdruck kommunikative Bedeutungen übermitteln.“ (vgl. Elstner,
1994, S. 53).
Ausdrücken von Gefühlen als Bewegungs- und Redeaufgabe
Redeflussgehemmte sind häufig sehr zurückhaltend, was das Zeigen von und
Sprechen über Gefühle angeht. Mit Hilfe von Bewegungen soll schrittweise
dieses Ziel erreicht werden mit folgendem Ablauf:
– Stumme Pantomime
– Pantomime und Lautung
– Verbale Form im Gesamt von Haltung und Lautung
Elstner unterscheidet drei Übungsbereiche:
• Motorische Entladung – Beherrschung (Aggressionsarbeit)
Hierbei soll den Kindern die Möglichkeit gegeben werden,
angestauten Gefühlen freien Lauf zu lassen. Ruhephasen und
explosive Aktionen sollen sich abwechseln, um ein Ausufern zu
verhindern.
•
Gefühle zeigen
Kommunikativ leichte Aufgaben wie das Darstellen der Beziehung
von einem Menschen zu seinem Haustier sind hierfür geeignet.
•
Zustimmung – Ablehnung
Hierbei wird das „Ja“- und „Nein“- Sagen thematisiert, da dies
wichtige Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Selbstwertgefühl
sind.
Töne. Später übernimmt der Schüler beide Signale, wenn er das Innehalten
schon verinnerlicht hat. Dabei geht es darum, dass der Stotternde lernt, den
Dialogpartner warten zu lassen, bevor geantwortet wird, sich die Zeit zu
nehmen, seine Antwort zu überlegen.
➢ Ein Partnerspiel: Ein Kind ist stumm und soll das andere Kind nur durch
Laute und Gesten zu einer bestimmten Handlung animieren, z.B. etwas
holen, etwas Gezeigtes anschauen, ein bestimmtes Musikinstrument spielen,
usw. Wurde die Aufgabe richtig ausgeführt, werden die Rollen gewechselt.
➢ Die Kinder stehen jedes in einem Reifen, die so weit voneinander entfernt
sind, dass sie einander nicht berühren können. Innerhalb dieses
beschränkten Raumes darf das Kind beliebige Bewegungen, Handlungen,
Schreie, etc. produzieren, solange es die Trommelschläge und Zurufe des
Leiters dazu ermuntern. Schweigt die Trommel, kauert sich das Kind mit
geschlossenen Augen in dem Reifen hin, bis erneut die Trommel ertönt.
➢ Ein verlassenes Tier finden, ihm seine Zuneigung mitteilen, es mit nach
Hause nehmen.
➢ einer Aufforderung wortlos nachkommen, ein Geschenk überreichen,
jemanden nicht einlassen, weg drehen, bei Zustimmung: Laute der Freude,
lachen jauchzen, bei Ablehnung: Laute des Abscheus, des Widerwillens,
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Sprachablauf
Hören
Um Hörübungen durchzuführen ist Ruhe von Nöten. Eine Übung, die sehr
beruhigend wirken soll, folgt nebenstehend:
Andere Übungen haben das schnelle Reagieren auf Höreindrücke zum Thema
Sehen
Durch das direkte Erleben und Begreifen von Dingen und Vorgängen soll der
Wortschatz erweitert und die Wortbedeutung klarer und greifbarer gemacht
werden
➢ Die Kinder führen einen kleinen Ball mit den Händen oder Füßen nach den
Klängen einer pentatonischen Weise oder nach einem ostinaten Motiv
summend über den Boden. Ruhige Bewegungen zur eigenen Stimme sind
auch Grundlagen für den Redefluss.
Diese und weitere Übungen aus: Elstner, 1994, S. 57.
➢ Laufen zu Trommelschlägen oder dem Gesang des Lehrers. Auf „hipp“
springen die Kinder hoch, auf „hopp“ stolpern sie und auf „happ“ berühren
sie mit ihren Händen den Boden.
Übung aus: Elstner, 1994, S. 57.
➢ Verschiedene Gegenstände werden der Reihe nach vorgezeigt, dann
versteckt; nun sollen sie aufgezählt werden.
Wer sieht etwas Helles, Dunkles, Dickes, Blaues...?
Lösungsmöglichkeiten: Hinzeigen, den Gegenstand berühren, im Raum
umhergehen und sich hinsetzen, sobald man einen entsprechenden
Gegenstand gefunden hat, das Wort aufschreiben, …
Tasten
➢ Gegenstände (ein Messer, ein Glas, eine Schüssel) sind unter einer Decke
versteckt. Das tastende Kind beschreibt den andren Kindern, die raten
müssen seine Funktion, oder es zeichnet den ertasteten Gegenstand.
Riechen
➢ Gegenstände am Geruch erkennen: Orangen, Zitronen, Apfel, Banane,
Schokolade, Zwiebel, Knoblauch, Essig, Leder, verlöschende Kerze,
Zeitungspapier...
Diese und weitere Übungen in: Elstner, 1994 (S. 58-59).
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