TLZ MUSIK TREFFPUNKT · Seite 4 Sonnabend, 12. April 2014 Musik von Automaten Josef Bulvas Wiederkehr (wohi) In den 80er Jahren war er der Klaviervirtuose schlechthin: Josef Bulva. Dem gewesenen tschechischen Staatskünstler lagen nach seiner Flucht in den Westen die Fans schier zu Füßen. Doch 1996 stürzte er bei einem Besuch in der Heimat so unglücklich auf schneeglattem Trottoir mit der linken Hand in einen Scherbenhaufen, dass die grässlichen Verletzungen seine Karriere abschnitten. Scheinbar. Nach 13 Jahren als Investmentberater in Monaco ließ Bulva sich erneut in der Schweiz operieren, und er übte wieder am Instrument – als ein Besessener, wie ehedem. Die ersten öffentlichen Auftritte spielte er inkognito in der Provinz. Jetzt ist er, 71-jährig, wieder da. Eine Aufnahme mit Beethovens „Appassionata“, Chopins b-Moll-Sonate Nr. 2 und Szymanowskis „Masken“ op. 34 ist beim Klassikerlabel RCA „Red Seal“ erschienen (CD, ca. 19 Euro). Was für ein Wunder, diesen lebensweisen, eleganten Interpreten wieder zu hören! Am 23. April gastiert er in Weimar. Beeskow erwirbt eine historische Sammlung (dpa) Beeskow bekommt ein Museum mit selbstspielenden Instrumenten. Das Stadtparlament der Kommune im Kreis Oder-Spree hat dem Ankauf einer umfangreichen Privatsammlung historischer Musikautomaten aus der Eifel zugestimmt. Ein Drittel der Sammlung soll als Leihgabe kommen. Ein tapferer Afghanen-Prinz Telemanns „Miriways“ aufgenommen n Von Wolfgang Hirsch Neben dem Denkmal seiner selbst: Siegfried Matthus in Rheinsberg, wo er lange die Kammeroper leitete. Foto: dpa/Bernd Settnik Weckt mit seinen Werken Neugier und Lebenslust Das opulente Schaffen Georg Philipp Telemanns für die Bühne birgt noch manches Desiderat, viele seiner drei Dutzend Musikdramen sind nicht auf Tonträger gebannt, nicht wenige allerdings gelten als verschollen. Eine wahrhaft wunderbare Ausnahme indes bildet das Singspiel „Miriways“, das Telemann 1728 – als er noch in Eisenacher Korrespondenzdiensten stand – für Hamburg komponierte. Den ungemein farbigen, herzerfrischenden Dreiakter hat das L‘Orfeo Barockorchester unter seiner famosen Dirigentin Michi Gaigg bei den Telemann-Festtagen in Magdeburg vor zwei Jahren aufgeführt. Den Live-Mitschnitt von Deutschlandradio Kultur bringt jetzt cpo auf CD heraus. Siegfried Matthus, einer der erfolgreichsten Komponisten der Gegenwart, wird 80 Kirchenjahr mit J. S. Bach Den Kantaten-Zyklus „Das Kirchenjahr mit Johann Sebastian Bach“ setzt das Leipziger Label Rondeau mit zwei Aufnahmen fort: Die für Estomihi und Palmarum komponierten Kantaten BWV 22, 23 und 182 auf der einen CD (je ca. 16 Euro) gehören dem ersten Leipziger Jahrgang 1723 bzw. noch der Weimarer Zeit 1714 an; die für Ostersonntag und Quasimodogeniti verfassten BWV 4 („Christ lag in Todesbanden“), 31 und 67 auf der anderen sind älter und wiederum für Weimar sowie vermutlich für Mühlhausen entstanden. Georg Christoph Biller dirigiert seinen Thomanerchor und das Gewandhausorchester Leipzig. Rekonstruierte Passion Eine eigenwillige Rekonstruktion der „PaßsionsMusic nach dem Evangelisten Marco“ aus der Feder des Musikologen Simon Heighes haben die Hannoversche Hofkapelle und Knabenchor jetzt aufgenommen (Rondeau, 2 CDs, ca. 25 Euro). Die von Johann Sebastian Bach offenbar für Karfreitag 1731 verfasste Partitur ist leider verschollen, so dass Heighes sich an eine regelrechte Puzzlearbeit gemacht hat und sogar einige Passagen selbst beisteuerte. Wer sich an diesem Verfahren nicht stört, dem sei diese Einspielung ans Herz gelegt. Im Herbst soll ein Teil des klingenden Schatzes in einer Ausstellung auf Burg Beeskow gezeigt werden. Neben großen Instrumenten, die einen ganzen Raum füllen, gibt es viele Notenrollen, die wie Tonträger funktionieren. Werden sie abgespielt, erklingt das persönliche Handspiel berühmter Pianisten. n Von Michael Dissmeier „Als eine individuelle Stärke glaube ich bei mir den Sinn für das Klangliche erkannt zu haben.“ – Ein gewisses Understatement spricht aus diesem Satz von Siegfried Matthus, einem der erfolgreichsten und gesellschaftlich engagiertesten deutschen Komponisten der Gegenwart, der am morgigen Sonntag seinen 80. Geburtstag feiert. In der Tat scheinen die Welten, die Matthus seinen Hörern eröffnet, eher unbegrenzt zu sein; seine Partituren verblüffen durch eine Vielzahl erstaunlicher, unerhörter Klang-Erfindungen. Im Paukenkonzert „Der Wald“ treibt Matthus beispielsweise die Solopauke in eine furiose Auseinandersetzung mit der Romantik. „Die blaue Insel“ aus dem Jahr 2013 ist ein farbenreiches Klang-Portrait Gran Canarias für großes Orchester. Das Spektrum seiner Opernfiguren reicht vom knarzenden und rumpelnden Felsenbeißer aus der „Unendlichen Geschichte“ bis zu Friedrich dem Großen, der durch nicht weniger als 14 Flöten charakterisiert wird. Aber auch inhaltlich setzt Matthus’ Klangkosmos Maßstäbe, etwa wenn der Komponist sich im Antikriegs-Oratorium „Laudate pacem“, das 1974 nach einer Hiroshima-Reise entstand, mit den Folgen des atomaren Kriegs befasst, oder wenn er im „Lamento“ (2007) in den Sätzen Kindheit – Krieg – Kälte – Katastrophe seine Erinnerung daran verarbeitet, wie er als Zehnjähriger aus Ostpreußen fliehen musste. Eine Sopranstimme „verkörpert“ in dieser Komposition Matthus’ persönlichen Schutzengel. Im Jahr 1964, im Alter von nur dreißig Jahren, wird Siegfried Matthus Dramaturg und Komponist an der Komischen Oper Berlin. Nach seinem Studium bei Eisler und Wagner-Régeny arbeitet er nun mit Walter Felsenstein, Götz Friedrich und später Harry Kupfer zusammen und sammelt eine Unmenge theaterpraktischer Erfahrung. Neben zahlreichen großen Orchesterwerken entstehen nicht weniger als 35 Hörspielmusiken, 12 Fernsehspiel- und 15 Schauspielmusiken (u. a. die Musik zu Felsensteins Inszenierung „Käthchen von Heilbronn“, 1973 am Wiener Burgtheater), sowie die Musik zum Defa-Film „Die Leiden des jungen Werther“. Sein Opernschaffen beginnt nach ersten Gehversuchen mit einem Paukenschlag: Zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution, als erste Opern-Uraufführung der Felsenstein-Ära überhaupt, erklingt 1967 an der Komischen Oper „Der letzte Schuss“. Götz Friedrich ist Librettist und Regisseur. Die Geschichte ist eine Übertragung des Romeo-und-Julia-Stoffs in die kommunistische Sphäre: Das zur Roten Armee gehörende Fischermädchen Marjutka hat als Scharfschützin bereits 40 Weißgardisten erschossen. Sie verliebt sich jedoch unsterblich in einen verwundeten, verfeindeten Offizier und pflegt ihn gesund. Als er zurück zu den Weißgardisten will, erschießt sie ihn pflichtgemäß – trotz ihrer Liebe – mit dem 41. Schuss. Das Stück wird an zahlreichen Bühnen der DDR nachgespielt, besonders die Weimarer Inszenierung durch Harry Kupfer gerät zu einem ungeheuren Erfolg. Im „Letzten Schuss“ führt Matthus zum ersten Mal seine musiktheatralische Erfindung ein: die Gedankenstimme, mit der er die Figuren doppelt. Das Gesagte und das Gedachte oder Gefühlte können in Matthus’ Opern fortan gleichzeitig in der dramaturgischen Totale erscheinen. Ein Monolog kann zu einem Duett, ein Dialog zu einem Quartett werden. Matthus gelingt es im „Letzten Schuss“ auf diese Weise, die ideologische Radikalität der Vorlage offen und vielschichtig zu gestalten. Die im Jahr 1985 uraufgeführten Opern „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ (inszeniert von Ruth Berghaus zur Wiedereröffnung der Semperoper) und „Judith“ (in der Regie von Harry Kupfer an der Komischen Oper) gelten als Matthus’ Meisterwerke, in denen er seinen Personalstil ausformt und definiert. Die Auseinandersetzung mit Krieg und Heldenmythen führt in beiden Stücken zu erschütternden emotionalen Wirkungen. Die beiden in Weimar zur Uraufführung gebrachten Werke „Omphale“ (1976) und „Die unendliche Geschichte“ (2004) sind faszinierende Beispiele für Matthus’ Umgang mit dem Klang. In „Omphale“ entwirft er eine höchst artifizielle, impressionistisch wirkende Atmosphäre für die Gärten der Königin, in denen der Held Herkules seines Heldentums überdrüssig wird; die Vertonung des Michael-Ende-Romans bietet mit den vielfältigen Charakterisierungen der Figuren des Landes Phantásien beinahe etwas wie eine Matthussche Instrumentationslehre. Ebenso beeindruckend wie sein musikalisches Oeuvre ist Siegfried Matthus’ gesellschaftliches Engagement. In besonderer Verbundenheit zur Stadt Rheinsberg im Norden Brandenburgs, wo er die Oberschule besuchte, ist es ihm gelungen, mit der „Kammeroper Schloss Rheinsberg“ ein inzwischen seit 24 Jahren bestehendes Opernfestival zu etablieren, das die Förderung junger Sänger zum Inhalt hat. Gleichzeitig hat Matthus sich erfolgreich für die Rekonstruktion des Schlosstheaters Rheinsberg eingesetzt, das am 30. Dezember 1999 zur Jahrtausendwende eröffnet wird. Das Orchesterkonzert „Responso“ erklingt 1979 in Anwesenheit des Komponisten vor der UNO in New York; mit seinem „Te Deum“ wird im Jahr 2005 die Wiedereröffnung der Dresdner Frauenkirche gefeiert. Siegfried Matthus selbst beschreibt seine gesellschaftliche Aufgabe als Komponist überraschend einfach: Er sei nicht dazu da, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern sie neu zu wecken. Diese Neugier, Sinnlichkeit und Lebenslust ist es, die sein Werk so überaus entdeckenswert macht. i Die Klassikstadt veranstaltet vom 24. bis 27. April in der Weimarhalle ein internationales Symposium mit Konzerten zum 80. Geburtstag von Siegfried Matthus: „Die weiten Flügel der Musik: Von Ostpreußen nach Berlin in die Welt“ Nelsons dirigiert alle Neune Nike Wagner empfängt prominente Gäste bei ihrem ersten Beethovenfest in Bonn (dpa) Das diesjährige internationale Beethovenfest Bonn lockt mit mehr als 60 Konzerten und zahlreichen weiteren Veranstaltungen. Unter dem Motto „Götterfunken“ findet das vierwöchige Festival vom 6. September bis zum 3. Oktober 2014 statt. Die Leitung liegt erstmals bei der neuen Intendantin Nike Wagner, die das Programm am Freitag in Bonn vorstellte. Das Gesamtprogramm, zu dem auch Uraufführungen gehören, ist noch von ihrer Vorgängerin Ilona Schmiel zusammengestellt worden. Zu den renommierten Orchestern, die in Bonn auftreten, gehören Lorin Maazel und die Münchner Philharmoniker, das London Symphony Orchestra mit Sir John Eliot Gardiner, die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen mit Paavo Järvi sowie Yannick Nézet-Séguin und das Rotterdams Philharmonisch Orkest. Andris Nelsons und das City of Birmingham Symphony Orchestra werden alle neun Beethoven-Symphonien an vier aufeinanderfolgenden Abenden spielen. Als Solisten werden unter anderen Isabelle Faust, Jean-Guihen Queyras, Kristian Bezuidenhout, Waltraud Meier, Jan Lisiecki, Gautier Capuçon und Arcadi Volodos erwartet. Rund 39 000 Eintrittskarten liegen für die Aufführungen an 21 Spielstätten in Bonn und Umgebung bereit. Bei zwei Uraufführungen gibt es Kooperationen mit der Bundeskunsthalle. Erstmals beginnt das Fest mit einer Eröffnungsmatinee, bei der Intendantin Wagner zum Programm und zu Gegenwartsfragen spricht. Das Festival findet alljährlich zu Ehren des in Bonn geborenen Komponisten Ludwig van Beethoven (1770-1827) statt. Nike Wagner Foto: dpa @ www.beethovenfest.de Die aus politischen und amourösen Verwicklungen abenteuerlich konstruierte Handlung spielt in exotischen Gefilden, dem fernen Isfahan, und die baritonale Titelfigur meint jenen afghanischen Prinzen, der sich gegen persische Besatzer zur Wehr setzte. Dieses exotische Ambiente spiegelt sich nicht nur im Bühnenbild, sondern Telemann komponierte auch orientalisch anverwandelnde Märsche, Arien und Ensembles. Viel Freude hat der Hörer an der Kompetenz der Solisten; insbesondere Markus Volpert in der Titelpartie und Ulrike Hofbauer als Sophi meistern die Anforderungen bravourös. Der heimliche Star der Aufnahme aber ist das Orchester, das unter Gaiggs Leitung so herrlich rösch und animiert begleitet, dass barocker Drive entsteht. Diese Live-Brillanz liefert einen exquisiten Qualitätsnachweis. i Telemann: Miriways. Volpert, Hofbauer u.a., L‘Orfeo Barockorchester, Gaigg. 2 CDs, cpo (www.jpc.de), 29.99 Euro Weitere Rezensionen unter: www.tlz.de / cd-tipps Ein Oeuvre wie in Jahresringen Nils Petter Molvær legt „Switch“ vor n Von Ulrich Steinmetzger Seit seinem Album „Khmer“ von 1997 versöhnt der norwegische Trompeter Nils Petter Molvær die Lager von Jazz, Ambient und Rock. Wie in Jahresringen lässt er seither sein gern kopiertes, nie erreichtes Werk wachsen. „Switch“ ist ein neues Meisterwerk. Nun demonstriert der Nordmann nachdrücklich, wie seine Geschichte mit neuen Mitspielern weitergeht. Der druckvolle Schlagzeuger Erland Dahlen ist geblieben und trifft wieder in schwerster Metal-Manier treibend und insistierend die Zwölf, hat aber sein Instrumentarium deutlich erweitert und agiert als Multitasker, der auf diversen Geräten bis hin zu Spielsachen diesem direkt auf die Seele zielenden Album seinen Stempel aufdrückt. Gemeinsam mit dem Bandleader ergänzt er sich zu einer Druckwelle, mit der der wichtigste Neuzugang im MolværOrganismus eine geradezu somnambule Fusion eingeht: Pedal Steel-Gitarrist Geir Sundstol. Der lässt sein Instrument seufzen und archaisch schwelgen. Die Slide-Gitarre ist vollkommen neu in diesem Klangkos- Nils Petter Molvær mos, doch passt sie wie die Faust aufs Auge. „Als er zu spielen Anfing, war ich sofort von seinem Sound verzaubert und wusste, dass ich dieses Album machen muss“, erklärt Molvær. Friedlicher und entspannter nennt er die Resultate. Wenn er ansonsten die Pole schroff ineinander blendete, dominiert hier das Harmonische. Kontrastreich ist auch das neue Opus, dieser durch Keyboarder Morten Qvenhild, der einst allein das Magical Orchestra der Sängerin Susanna war und nun der Band „In The Country“ vorsteht, und zusätzliche Programmierungen von Jon Marius Aareskjold komplettierten Band. In ihrer Summe belegt diese aus 150 Minuten Musik destillierte CD, dass Nils Petter Molvær kein Wiedergänger seiner selbst geworden ist, sondern die durch ihn geschaffenen Muster mit immer neuen Inhalten und Zutaten aufzuladen vermag, so dass sie frisch und unverbraucht bleiben und gleichermaßen auf Kopf und Beine zielen. Indem er nah bei seinen Wurzeln bleibt, bleibt er auf der Höhe der Zeit seiner futuristischen Musik. i Molvær: Switch. CD, Sony Music, ca. 15 Euro Foto: Andrea Gjestvang