Zwischen Augenblick und Ewigkeit – Zeitdimensionen im Islam

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ZEITFRAGEN
Samstag, 01.01.2000 Nr.0
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Zwischen Augenblick und Ewigkeit – Zeitdimensionen im Islam
Von Gerhard Böwering, Islamwissenschafter, Universität Yale
Im Jahr 2000 zeigt der islamische Kalender das Jahr 1420 an. Während die westliche und christliche Welt einem neuen Jahrtausend entgegenfiebert, sieht die islamische Welt auf Grund ihrer
Geschichte in diesem Datum keine Besonderheit. Unsere Zeitrechnung teilt das Jahr nach dem
Lauf der Sonne in 365 Tage und Nächte ein, wohingegen die islamische sich mit 354 Tagen und
Nächten nach dem Erscheinen des Mondes richtet. Die christliche Welt blickt auf zwei Jahrtausende zurück, die mit dem ungefähren Zeitpunkt der Geburt von Jesus Christus begann. Die
islamische Welt sieht den Ausgangspunkt ihrer Geschichte in der Auswanderung Muhammads
von Mekka nach Medina, bekannt als die Hidschra, die im Jahre 622 n. Chr. stattfand.
An der Schwelle unseres dritten Jahrtausends
sieht sich der Islam in seiner Selbstschau als das
Zentrum der Welt. Er erstreckt sich wie ein breiter
Gürtel über den ganzen Erdball, vom Atlantik
zum Pazifik, von West nach Ost. Nur wenige seiner Staaten gehören zum reichen, hochentwickelten Norden; die meisten sind noch mit vielen
Entwicklungsproblemen
belastet.
Geographisch
gesehen, sitzt der Islam am Schnittpunkt der
Welt, an dem sich Amerika, Westeuropa und
Russland von der einen Seite her und China,
Schwarzafrika und Indien von der anderen Seite
her begegnen.
Der Islam spielt auch historisch gesehen eine
Weltrolle in der Politik und ist daran, die bedeutendste Religion der Erde zum Beginn des neuen
Jahrtausends zu werden. Die islamische Welt
zählt heute mehr als eine Milliarde Menschen,
mehr als ein Sechstel der Weltbevölkerung – jeder
sechste Mensch ist Muslim. Da der Islam nicht
auf eine Nationalkultur beschränkt ist, stellt er
eine Universalkraft dar, die auf allen Kontinenten
der Erde Wurzeln gefasst hat.
Zeitenwende
Die islamische Geschichte begann an einer
Zeitwende, als Muhammad abseits vom Weltgeschehen mit seiner Botschaft des Korans in
Arabien auftrat und eine Gemeinschaft gründete,
die mit junger Kraft und neuem Elan in die Weltgeschichte eingriff. Der Islam bedeutete eine
Wende in der Zeit, die eine neue Einheit des
Glaubens in die Welt der gealterten Religionen
und zerstrittenen Sekten des Mittleren Ostens
brachte und eine Neuordnung der Gesellschaft
vom Mittelmeer bis zum Indischen Ozean erstellte, auf Grund deren es dem Islam möglich
war, sich über Jahrhunderte hin mit atemberaubender Schnelle über den Erdball zu verbreiten.
Im hohen Mittelalter entwickelte sich eine
selbstsichere islamische Zivilisation, aus deren
kulturellen Errungenschaften das kleine Europa
grossen Nutzen zog. Obwohl seine Bevölkerung
weiterhin stark anwuchs, musste der Islam in der
ersten Hälfte seines zweiten Jahrtausends jedoch
feststellen, dass er im Zeitalter der Entdeckungen
den Anschluss an das neue Weltbild der Aufklärung verpasst hatte.
Vergangenheitsorientiertes Zukunftsideal
Es war dem Islam denn auch nicht möglich, der
westlichen Vorrangstellung und der militärischen
Macht der industrialisierten Kolonialmächte, die
sich über seine Zivilisation ausbreiteten, Widerstand zu leisten. Mit Enttäuschung nimmt die
islamische Welt heute zur Kenntnis, wie erfolglos
die Versuche waren, in den westlichen Idealen
von Nation und Kapitalismus Lösungen für die
moderne islamische Gesellschaft zu finden. Voll
entschlossen, die technologischen Errungenschaften des modernen Westens zu integrieren, versuchen viele Muslime zum Ideal einer utopisch
gesehenen Frühzeit des Islam zurückzukehren.
Mit den Schlagworten «Islam ist die Lösung»
und «Allah ist die Antwort» sehen die Fundamentalisten im Wort Islam das einzige Prinzip,
das die Kraft ihrer Gesellschaft erneuern und in
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einem islamischen Staat nach islamischem Gesetz
ordnen kann. Dieses Zukunftsideal eines stabilen
Gemeinwesens, errichtet nach dem Grundplan
eines Islambildes der Vergangenheit, soll den
Islam zum gottgewollten Erfolg auch in der
Gegenwart führen.
Das Nebeneinander von Zeitvorstellungen
Was ist der Begriff der Zeit, der den Islam von
innen her seit seinem Eintritt in das Weltgeschehen mit ungeheurer Durchstosskraft durch die
Geschichte vorangetrieben hat und ihm im gegenwärtigen religiösen Erstarken innerlich Wachstum
und Ausdauer verleiht? Ist die Auffassung von
«Zeit» im Islam unserer eigenen ähnlich, oder
unterscheidet sie sich davon in wesentlichen
Dimensionen? Wie kann Zeit auf Grund islamischer Begriffe und Prinzipien verstanden werden?
Ist der islamische Zeitbegriff anderen Kulturen
entlehnt, oder ist er voll und ganz auf islamischem Boden gewachsen? Gibt es eine einzige
islamische Zeitvorstellung, oder bestehen unterschiedliche Zeitvorstellungen nebeneinander?
Die Schwierigkeit, den Begriff «Zeit» im Islam
herauszuschälen, verdeutlicht sich bei der Konsultation von Enzyklopädien oder philosophischen
Wörterbüchern. Dort findet man gelehrte Artikel,
die die zyklischen Zeitvorstellungen Indiens mit
dem linearen Verlauf der Zeit im westlichen Bewusstsein vergleichen und als je bestimmend hervorheben. Im Bezug auf den Islam, der dem indischen und den westlichen Kulturbereichen benachbart ist, fehlt eine solche Kennzeichnung des
Zeitbegriffs.
Der Versuch, Komponenten islamischer Zeitvorstellungen aufzuzeigen, soll sich hier erstens
am Koran, zweitens an der islamischen Tradition
(Hadith), drittens an der islamischen Theologie
und viertens an der Mystik des Sufismus orientieren. Im Gegensatz zu vorislamischen, arabischen
Vorstellungen der Zeit als unvermeidlicher und
verhängnisvoller Dauer des Schicksals während
eines ausschliesslich diesseitigen Lebens erklärt
der Koran die Zeit aus der Perspektive eines transzendenten Monotheismus und von der Auferstehung zum ewigen Leben nach dem Tod her.
Die Zeitspanne des Individuums
Gott, Allah, erschafft die Welt und alles, was
sich in ihr befindet, durch seinen Befehl, der die
Dinge ins Dasein ruft und den Bann des Schicksals zerschlägt. Vom ersten Augenblick seines Daseins bis zu seinem letzten Atemzug steht der
Mensch unter dem Ratschluss Gottes. Es gibt
keine unpersönliche Zeit, denn Gott selbst bestimmt das Schicksal jedes Menschen zu jedem
Augenblick menschlichen Seins. Das Geschick
des Einzelnen ist in der Hand Gottes, der Mann
und Frau erschuf, Leben schenkt und Tod bringt,
Reichtum gönnt und Untergang verursacht.
Selbst im Schlaf des Menschen ist Gott tätig,
denn im Schlaf nimmt er die Seelen zu sich. Er
beruft die Menschen ab, deren Frist des Entschlafens gekommen ist, während er die bewahrt und
erneut entlässt, deren Todesfrist noch nicht eingetroffen ist. Vom Moment, da Gott den Menschen
ins Dasein ruft, bis zum Augenblick des Todes
steht der Mensch unter dem Erlass Gottes. Gott
ist der Herr eines jeden Augenblicks. Zeit ist ihm
untertan. Was er bestimmt hat, geschieht.
Prädestination als verhängnisvolle Zeit
Die islamische Überlieferung (Hadith) verwandelte den Nachdruck des Korans auf die göttliche
Bestimmung eines jeden Augenblicks menschlichen Lebens in eine unbeugsame Lehre der Vorherbestimmung. Gleichzeitig versuchte sie, die
vorislamische Auffassung der Zeit als Bann des
Schicksals dadurch in die islamische Glaubensvorstellung hinüberzuretten, dass sie Gott das heilige Wort «Ich bin das Schicksal!» in den Mund
legte und damit die überpersönliche Zeit mit Gott
in eins setzte.
Wesentlich für die Auffassung der Zeit im
Hadith war der Gedanke, dass alle zeitlichen Vorkommnisse in einem himmlischen Buche aufgezeichnet seien und so dann auch tatsächlich geschehen würden. Noch wenn das Kind im Mutterleib ist, schreibt ein Engel auf, welche Nahrung
diesem Menschen zustehen soll, welche Werke er
verrichten wird, welches Glück und Unglück ihm
zuteil werden sollen und zu welcher Stunde er aus
dieser Welt scheiden soll. Der Begriff einer unpersönlichen, verhängnisvollen Zeit verband sich
mit der Auffassung des Korans von Gottes persönlichem Ratschluss und Erlass, der jeden
Augenblick menschlichen Seins bestimmt. Dadurch verstand die islamische Überlieferung die
Zeit als eine Reihe vorherbestimmter Ereignisse,
in denen die göttliche Allmacht an das mit Sicherheit
hereinbrechende
Geschehen
gleichzeitig
gebunden war. Andererseits wurde jeder Augenblick während der Spanne eines Menschenlebens
unwiderruflich Akt und Erlass Gottes.
Atomismus als Zeitempfinden
Die islamische Theologie fand einen Weg, dieses stark am Augenblick haftende Denken in eine
Theorie zu kleiden, die man als Atomismus bezeichnen kann. Diese Theorie öffnete einen Weg,
die Unveränderlichkeit der Wirklichkeit mit dem
unzähligen Wechsel der Formen in der Natur zu
vereinbaren, indem man sich die Wirklichkeit als
aus einfachen, unveränderlichen Teilchen zusammengesetzt vorstellte. Diese Teilchen, die Atome,
zusammen mit ihren Eigenschaften, existieren jeweils nur für einen Augenblick. Ohne Unterlass
formt Gott die Welt erneut. Jeder Moment in der
Zeit ist eine direkte Schöpfung eines dauernd
schaffenden Gottes. In sich selbst ist die Wirklichkeit diskontinuierlich und unterbrochen, denn die
Atome existieren ja nur für einen Augenblick. Die
Welt erscheint uns jedoch deshalb als kontinuierlich und ununterbrochen, weil Gott in seiner gnadenreichen Konsequenz in seinem Handeln sich
stetig gegenüber der Welt verhält. Wenn er das
einmal nicht tut, dann ergibt sich ein Wunder.
Dieser Atomismus kann wohl am besten am
Beispiel eines Menschen, der den Akt des Schreibens vollzieht, verdeutlicht werden. Gott erschafft
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im Menschen zuerst den Willen und dann die
Fähigkeit zum Schreiben, wobei er den Willen
und die Fähigkeit in jedem Augenblick neu erschafft. Dann erschafft Gott, wieder in jedem
Augenblick, die Bewegung der Hand und
schliesslich gleichzeitig die der Feder. Jeder
Moment im Akt des Schreibens ist unabhängig
von jedem anderen. Der kontinuierliche Prozess
des Schreibens und des Schreibers ist nur ein
Schein. Genauso ist es mit der Schöpfung, die
zwar als kontinuierlich erscheint, aber in jedem
Augenblick vom Akt des Schöpfers abhängt.
Zwischen Vor- und Nachzeitlichkeit
Die islamischen Theologen versuchten die Zeit
zu erklären. Die islamischen Mystiker, als Sufis
bekannt, machten sich daran, die Zeit in innerer
Erfahrung zu erobern. Für die Sufis beginnt die
Zeit vor der Schöpfung in einem Urvertrag zwischen Gott und der Menschheit, als Gott die
Menschen, die eine nur ideelle Existenz als
Samen Adams besassen, zu dem Einheitsbekenntnis des Monotheismus verpflichtete. Diesem vorzeitlichen Tag des Urvertrags entspricht
der nachzeitliche Tag des Letzten Gerichtes nach
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der Auferstehung, an dem der Mystiker zu seiner
ursprünglichen Existenz in der Gegenwart Gottes
zurückfindet.
Hier in der Welt, nachdem der Mensch geschöpfliche Existenz und physische Gestalt gewonnen hat, unterliegt der Mystiker dem Kampf
zweier Kräfte, die seine Seele beherrschen. Die
egoistische Kraft seiner Triebseele zieht ihn auf
sich selbst zurück, die zu Gott hingewandte Kraft
seines Herzens lenkt ihn auf Gott hin. Nach der
Reinigung seiner Seele durch den Dhikr, die
Gebetstechnik der Sufis, und der totalen Orientierung auf Gott hin erspäht der Mystiker im Inneren seines Herzens, im Seelenfunken, den Augenblick, an dem er sich vor Gott in seiner ideellen
Existenz zum Urvertrag verpflichtete. In dieser
Erinnerung an seine vorzeitliche Existenz erfasst
er sein wirkliches Sein, zu dem er die Gewissheit
hat, in seiner Nachzeitlichkeit zurückzukehren.
Für den Sufi ist die Zeit hufeisen- oder kegelschnittartig. Verankert in der Vorzeitlichkeit und
Nachdenklichkeit als ihren Anfangs- und Endpunkten, erstreckt sich die Zeit in die Welt der
Schöpfung hinein, in der der Mystiker hier und
jetzt in seiner Praxis des Dhikr zu seinem ursprünglichen Augenblick in der Gegenwart Got-
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tes, zu seiner wahren Existenz, durchstösst. Die
Erfahrung dieses ewigen Augenblicks in der Zeit
ist die Entdeckung eigener Unsterblichkeit.
Augenblick und Unsterblichkeit
Die theozentrische Auffassung der Zeit im
Koran, die Vorherbestimmungslehre im Hadith,
der theologische Atomismus einer Zeit, die von
einem stets schaffenden Gott beherrscht ist, und
die Vorstellung des Sufismus von einem Zeitmodell mit überzeitlichem Anfang und Ende,
haben alle einen zentralen Punkt gemeinsam, den
Augenblick. Der Augenblick, der weder zeitlich
erfasst noch räumlich beschrieben werden kann,
ist das gedankliche Fundament, auf dem die
monotheistische Religion des Islam gründet.
Der Augenblick, als Ort göttlichen Schaffens
und Wirkens und als Moment theologischer Erfassung und mystischer Innenschau, ist der Punkt,
an dem der ewige Schöpfer mit dem zeitlichen
Geschöpf in Kontakt kommt. Die Abhängigkeit
von Gott, die das islamische Denken beherrscht,
findet im Augenblick das Gegengewicht menschlicher Gewissheit von eigener Unsterblichkeit.
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