Neue Z}rcer Zeitung ZEITFRAGEN Samstag, 01.01.2000 Nr.0 37 Zwischen Augenblick und Ewigkeit – Zeitdimensionen im Islam Von Gerhard Böwering, Islamwissenschafter, Universität Yale Im Jahr 2000 zeigt der islamische Kalender das Jahr 1420 an. Während die westliche und christliche Welt einem neuen Jahrtausend entgegenfiebert, sieht die islamische Welt auf Grund ihrer Geschichte in diesem Datum keine Besonderheit. Unsere Zeitrechnung teilt das Jahr nach dem Lauf der Sonne in 365 Tage und Nächte ein, wohingegen die islamische sich mit 354 Tagen und Nächten nach dem Erscheinen des Mondes richtet. Die christliche Welt blickt auf zwei Jahrtausende zurück, die mit dem ungefähren Zeitpunkt der Geburt von Jesus Christus begann. Die islamische Welt sieht den Ausgangspunkt ihrer Geschichte in der Auswanderung Muhammads von Mekka nach Medina, bekannt als die Hidschra, die im Jahre 622 n. Chr. stattfand. An der Schwelle unseres dritten Jahrtausends sieht sich der Islam in seiner Selbstschau als das Zentrum der Welt. Er erstreckt sich wie ein breiter Gürtel über den ganzen Erdball, vom Atlantik zum Pazifik, von West nach Ost. Nur wenige seiner Staaten gehören zum reichen, hochentwickelten Norden; die meisten sind noch mit vielen Entwicklungsproblemen belastet. Geographisch gesehen, sitzt der Islam am Schnittpunkt der Welt, an dem sich Amerika, Westeuropa und Russland von der einen Seite her und China, Schwarzafrika und Indien von der anderen Seite her begegnen. Der Islam spielt auch historisch gesehen eine Weltrolle in der Politik und ist daran, die bedeutendste Religion der Erde zum Beginn des neuen Jahrtausends zu werden. Die islamische Welt zählt heute mehr als eine Milliarde Menschen, mehr als ein Sechstel der Weltbevölkerung – jeder sechste Mensch ist Muslim. Da der Islam nicht auf eine Nationalkultur beschränkt ist, stellt er eine Universalkraft dar, die auf allen Kontinenten der Erde Wurzeln gefasst hat. Zeitenwende Die islamische Geschichte begann an einer Zeitwende, als Muhammad abseits vom Weltgeschehen mit seiner Botschaft des Korans in Arabien auftrat und eine Gemeinschaft gründete, die mit junger Kraft und neuem Elan in die Weltgeschichte eingriff. Der Islam bedeutete eine Wende in der Zeit, die eine neue Einheit des Glaubens in die Welt der gealterten Religionen und zerstrittenen Sekten des Mittleren Ostens brachte und eine Neuordnung der Gesellschaft vom Mittelmeer bis zum Indischen Ozean erstellte, auf Grund deren es dem Islam möglich war, sich über Jahrhunderte hin mit atemberaubender Schnelle über den Erdball zu verbreiten. Im hohen Mittelalter entwickelte sich eine selbstsichere islamische Zivilisation, aus deren kulturellen Errungenschaften das kleine Europa grossen Nutzen zog. Obwohl seine Bevölkerung weiterhin stark anwuchs, musste der Islam in der ersten Hälfte seines zweiten Jahrtausends jedoch feststellen, dass er im Zeitalter der Entdeckungen den Anschluss an das neue Weltbild der Aufklärung verpasst hatte. Vergangenheitsorientiertes Zukunftsideal Es war dem Islam denn auch nicht möglich, der westlichen Vorrangstellung und der militärischen Macht der industrialisierten Kolonialmächte, die sich über seine Zivilisation ausbreiteten, Widerstand zu leisten. Mit Enttäuschung nimmt die islamische Welt heute zur Kenntnis, wie erfolglos die Versuche waren, in den westlichen Idealen von Nation und Kapitalismus Lösungen für die moderne islamische Gesellschaft zu finden. Voll entschlossen, die technologischen Errungenschaften des modernen Westens zu integrieren, versuchen viele Muslime zum Ideal einer utopisch gesehenen Frühzeit des Islam zurückzukehren. Mit den Schlagworten «Islam ist die Lösung» und «Allah ist die Antwort» sehen die Fundamentalisten im Wort Islam das einzige Prinzip, das die Kraft ihrer Gesellschaft erneuern und in © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG einem islamischen Staat nach islamischem Gesetz ordnen kann. Dieses Zukunftsideal eines stabilen Gemeinwesens, errichtet nach dem Grundplan eines Islambildes der Vergangenheit, soll den Islam zum gottgewollten Erfolg auch in der Gegenwart führen. Das Nebeneinander von Zeitvorstellungen Was ist der Begriff der Zeit, der den Islam von innen her seit seinem Eintritt in das Weltgeschehen mit ungeheurer Durchstosskraft durch die Geschichte vorangetrieben hat und ihm im gegenwärtigen religiösen Erstarken innerlich Wachstum und Ausdauer verleiht? Ist die Auffassung von «Zeit» im Islam unserer eigenen ähnlich, oder unterscheidet sie sich davon in wesentlichen Dimensionen? Wie kann Zeit auf Grund islamischer Begriffe und Prinzipien verstanden werden? Ist der islamische Zeitbegriff anderen Kulturen entlehnt, oder ist er voll und ganz auf islamischem Boden gewachsen? Gibt es eine einzige islamische Zeitvorstellung, oder bestehen unterschiedliche Zeitvorstellungen nebeneinander? Die Schwierigkeit, den Begriff «Zeit» im Islam herauszuschälen, verdeutlicht sich bei der Konsultation von Enzyklopädien oder philosophischen Wörterbüchern. Dort findet man gelehrte Artikel, die die zyklischen Zeitvorstellungen Indiens mit dem linearen Verlauf der Zeit im westlichen Bewusstsein vergleichen und als je bestimmend hervorheben. Im Bezug auf den Islam, der dem indischen und den westlichen Kulturbereichen benachbart ist, fehlt eine solche Kennzeichnung des Zeitbegriffs. Der Versuch, Komponenten islamischer Zeitvorstellungen aufzuzeigen, soll sich hier erstens am Koran, zweitens an der islamischen Tradition (Hadith), drittens an der islamischen Theologie und viertens an der Mystik des Sufismus orientieren. Im Gegensatz zu vorislamischen, arabischen Vorstellungen der Zeit als unvermeidlicher und verhängnisvoller Dauer des Schicksals während eines ausschliesslich diesseitigen Lebens erklärt der Koran die Zeit aus der Perspektive eines transzendenten Monotheismus und von der Auferstehung zum ewigen Leben nach dem Tod her. Die Zeitspanne des Individuums Gott, Allah, erschafft die Welt und alles, was sich in ihr befindet, durch seinen Befehl, der die Dinge ins Dasein ruft und den Bann des Schicksals zerschlägt. Vom ersten Augenblick seines Daseins bis zu seinem letzten Atemzug steht der Mensch unter dem Ratschluss Gottes. Es gibt keine unpersönliche Zeit, denn Gott selbst bestimmt das Schicksal jedes Menschen zu jedem Augenblick menschlichen Seins. Das Geschick des Einzelnen ist in der Hand Gottes, der Mann und Frau erschuf, Leben schenkt und Tod bringt, Reichtum gönnt und Untergang verursacht. Selbst im Schlaf des Menschen ist Gott tätig, denn im Schlaf nimmt er die Seelen zu sich. Er beruft die Menschen ab, deren Frist des Entschlafens gekommen ist, während er die bewahrt und erneut entlässt, deren Todesfrist noch nicht eingetroffen ist. Vom Moment, da Gott den Menschen ins Dasein ruft, bis zum Augenblick des Todes steht der Mensch unter dem Erlass Gottes. Gott ist der Herr eines jeden Augenblicks. Zeit ist ihm untertan. Was er bestimmt hat, geschieht. Prädestination als verhängnisvolle Zeit Die islamische Überlieferung (Hadith) verwandelte den Nachdruck des Korans auf die göttliche Bestimmung eines jeden Augenblicks menschlichen Lebens in eine unbeugsame Lehre der Vorherbestimmung. Gleichzeitig versuchte sie, die vorislamische Auffassung der Zeit als Bann des Schicksals dadurch in die islamische Glaubensvorstellung hinüberzuretten, dass sie Gott das heilige Wort «Ich bin das Schicksal!» in den Mund legte und damit die überpersönliche Zeit mit Gott in eins setzte. Wesentlich für die Auffassung der Zeit im Hadith war der Gedanke, dass alle zeitlichen Vorkommnisse in einem himmlischen Buche aufgezeichnet seien und so dann auch tatsächlich geschehen würden. Noch wenn das Kind im Mutterleib ist, schreibt ein Engel auf, welche Nahrung diesem Menschen zustehen soll, welche Werke er verrichten wird, welches Glück und Unglück ihm zuteil werden sollen und zu welcher Stunde er aus dieser Welt scheiden soll. Der Begriff einer unpersönlichen, verhängnisvollen Zeit verband sich mit der Auffassung des Korans von Gottes persönlichem Ratschluss und Erlass, der jeden Augenblick menschlichen Seins bestimmt. Dadurch verstand die islamische Überlieferung die Zeit als eine Reihe vorherbestimmter Ereignisse, in denen die göttliche Allmacht an das mit Sicherheit hereinbrechende Geschehen gleichzeitig gebunden war. Andererseits wurde jeder Augenblick während der Spanne eines Menschenlebens unwiderruflich Akt und Erlass Gottes. Atomismus als Zeitempfinden Die islamische Theologie fand einen Weg, dieses stark am Augenblick haftende Denken in eine Theorie zu kleiden, die man als Atomismus bezeichnen kann. Diese Theorie öffnete einen Weg, die Unveränderlichkeit der Wirklichkeit mit dem unzähligen Wechsel der Formen in der Natur zu vereinbaren, indem man sich die Wirklichkeit als aus einfachen, unveränderlichen Teilchen zusammengesetzt vorstellte. Diese Teilchen, die Atome, zusammen mit ihren Eigenschaften, existieren jeweils nur für einen Augenblick. Ohne Unterlass formt Gott die Welt erneut. Jeder Moment in der Zeit ist eine direkte Schöpfung eines dauernd schaffenden Gottes. In sich selbst ist die Wirklichkeit diskontinuierlich und unterbrochen, denn die Atome existieren ja nur für einen Augenblick. Die Welt erscheint uns jedoch deshalb als kontinuierlich und ununterbrochen, weil Gott in seiner gnadenreichen Konsequenz in seinem Handeln sich stetig gegenüber der Welt verhält. Wenn er das einmal nicht tut, dann ergibt sich ein Wunder. Dieser Atomismus kann wohl am besten am Beispiel eines Menschen, der den Akt des Schreibens vollzieht, verdeutlicht werden. Gott erschafft Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung im Menschen zuerst den Willen und dann die Fähigkeit zum Schreiben, wobei er den Willen und die Fähigkeit in jedem Augenblick neu erschafft. Dann erschafft Gott, wieder in jedem Augenblick, die Bewegung der Hand und schliesslich gleichzeitig die der Feder. Jeder Moment im Akt des Schreibens ist unabhängig von jedem anderen. Der kontinuierliche Prozess des Schreibens und des Schreibers ist nur ein Schein. Genauso ist es mit der Schöpfung, die zwar als kontinuierlich erscheint, aber in jedem Augenblick vom Akt des Schöpfers abhängt. Zwischen Vor- und Nachzeitlichkeit Die islamischen Theologen versuchten die Zeit zu erklären. Die islamischen Mystiker, als Sufis bekannt, machten sich daran, die Zeit in innerer Erfahrung zu erobern. Für die Sufis beginnt die Zeit vor der Schöpfung in einem Urvertrag zwischen Gott und der Menschheit, als Gott die Menschen, die eine nur ideelle Existenz als Samen Adams besassen, zu dem Einheitsbekenntnis des Monotheismus verpflichtete. Diesem vorzeitlichen Tag des Urvertrags entspricht der nachzeitliche Tag des Letzten Gerichtes nach © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG ZEITFRAGEN der Auferstehung, an dem der Mystiker zu seiner ursprünglichen Existenz in der Gegenwart Gottes zurückfindet. Hier in der Welt, nachdem der Mensch geschöpfliche Existenz und physische Gestalt gewonnen hat, unterliegt der Mystiker dem Kampf zweier Kräfte, die seine Seele beherrschen. Die egoistische Kraft seiner Triebseele zieht ihn auf sich selbst zurück, die zu Gott hingewandte Kraft seines Herzens lenkt ihn auf Gott hin. Nach der Reinigung seiner Seele durch den Dhikr, die Gebetstechnik der Sufis, und der totalen Orientierung auf Gott hin erspäht der Mystiker im Inneren seines Herzens, im Seelenfunken, den Augenblick, an dem er sich vor Gott in seiner ideellen Existenz zum Urvertrag verpflichtete. In dieser Erinnerung an seine vorzeitliche Existenz erfasst er sein wirkliches Sein, zu dem er die Gewissheit hat, in seiner Nachzeitlichkeit zurückzukehren. Für den Sufi ist die Zeit hufeisen- oder kegelschnittartig. Verankert in der Vorzeitlichkeit und Nachdenklichkeit als ihren Anfangs- und Endpunkten, erstreckt sich die Zeit in die Welt der Schöpfung hinein, in der der Mystiker hier und jetzt in seiner Praxis des Dhikr zu seinem ursprünglichen Augenblick in der Gegenwart Got- Samstag, 01.01.2000 Nr.0 37 tes, zu seiner wahren Existenz, durchstösst. Die Erfahrung dieses ewigen Augenblicks in der Zeit ist die Entdeckung eigener Unsterblichkeit. Augenblick und Unsterblichkeit Die theozentrische Auffassung der Zeit im Koran, die Vorherbestimmungslehre im Hadith, der theologische Atomismus einer Zeit, die von einem stets schaffenden Gott beherrscht ist, und die Vorstellung des Sufismus von einem Zeitmodell mit überzeitlichem Anfang und Ende, haben alle einen zentralen Punkt gemeinsam, den Augenblick. Der Augenblick, der weder zeitlich erfasst noch räumlich beschrieben werden kann, ist das gedankliche Fundament, auf dem die monotheistische Religion des Islam gründet. Der Augenblick, als Ort göttlichen Schaffens und Wirkens und als Moment theologischer Erfassung und mystischer Innenschau, ist der Punkt, an dem der ewige Schöpfer mit dem zeitlichen Geschöpf in Kontakt kommt. Die Abhängigkeit von Gott, die das islamische Denken beherrscht, findet im Augenblick das Gegengewicht menschlicher Gewissheit von eigener Unsterblichkeit. Blatt 2