Wenn du auslöschst Sinn und Ton — Was hörst du dann ?

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Wenn du auslöschst Sinn und Ton —
Was hörst du dann ?
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Ja pa nisc h es Koa n des Zen (11.Jh . n. C h r.) In: Joa c h im -Ernst Berendt, N a da Bra hm a, Reinbek/F rankfurt 198389, S. 56.
Wissenschaftliche Hausarbeit
zur ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien
im Fach: Musik (Doppelfach)
Thema:
MOMENT UND FORM
Die Auflösung traditioneller
Formerwartungen in John Cage’s
Mu s ic o f Ch an g e s und Variatio n s I
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Inhalt
1. Einleitung - Rechtfertigung des Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2. Ein Überblick über die Grundästhetik - was wir unter „Musik“ im Kontext des
Europäischen Kunstverständnisses bis in das 20. Jahrhundert hinein verstehen . . . . . . . . . 8
2.1 Ästhetische Identifikation: Musik - ein Spiel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
2.2 Bild und Emotion - die „Bedeutung“ in der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.3 Musik als Reizgebilde - Klangfarben, Abbildlichkeit und außermusikalische Inhalte . . . . . 20
2.4 Werkidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.5 Erkennendes Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3. Kurze Zusammenfassung der Situation in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts . . . . . . . 29
4. Cages Entwicklung hin zu einer neuen Idee von Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
4.1 Cages Persönlichkeit - Neugier auf Unbekanntes und der Entschluss, einen
eigenen Weg zu beschreiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
4.2 Geräusche. Die Isolation der Töne. Allklang. Stille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
4.3 Der Moment - Zeit und Zeitbegriff. Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
4.4 Emotion. Rückzug der Persönlichkeit. Indische Philosophie und Zen . . . . . . . . . . . . . . . 59
4.5 Anarchismus und „Offenheit für alles“ - Musik und Leben. Beurteilung von Musik . . . . 70
4.6 Raum und Darstellung. Das multimediale Happening. Notation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
4.7 Aleatorik und Indetermination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
5. Betrachtung der kompositorischen Prämissen Cages anhand der Music of Changes
und der Variations I. Analyse und Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
5.1 Music of Changes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
5.2 Variations I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
6. Musik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
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1. E INLEITUNG - R ECHTFERTIGUNG DES T HEMAS
Die Kunst von John Cage hat innerhalb der mächtigen Umwälzungsbewegungen in der
Kunstmusik im Laufe des 20 Jahrhunderts einen Sonderplatz eingenommen. Im Zuge
des zunehmenden Bedürfnisses nach Verstärkung der Kontrolle des Komponisten (insbesondere innerhalb der Richtung des Serialismus) über die musikalischen Parameter in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich John Cage im Laufe seines
Schaffensprozesses zu einem Gegenpol zu dieser Entwicklung. Sein sich zunehmend
radikalisierender Rückzug aus der Kontrolle des Komponisten über Form, musikalische
Sprache, Material, Besetzung, Struktur und sein völlig neues Verständnis von dem
Verhältnis von Komponist zu Interpret und Hörer, seine Erforschung neuer
Klangwelten (auch innerhalb des traditionellen Instrumentariums) und das Suchen eines
neuen - dem 20. Jahrhundert angemessenen - Sinns von Musik (um nur einige Aspekte
zu nennen) hat das gesamte Musikdenken nachhaltig beeinflusst. Sein sehr eigener Weg
hat ihn aber auch von allem entfernt, was wir traditionell unter Musik verstehen, und
ihn herber Kritik von allen Richtungen ausgesetzt; Und die ästhetische Diskussion ist
noch längst nicht abgeschlossen. Cage hat eine langanhaltende Debatte in Gang
gebracht darüber, was wir unter Musik verstehen und von ihr erwarten. Seine
ästhetische Kehrtwende ist enorm und hat vielen der musikalischen Avantgarde an sich
zugewandten Musikern und Experten „Kopfschmerzen” bereitet. Viele Skandalaufführungen säumen seinen „Weg“. Viele musikalische Größen der Zeit, die sich ihm
zunächst neugierig annäherten, haben sich später abgewandt, darunter Stockhausen und
Boulez. Cage steht außerdem nicht nur für ein einziges bestimmtes spezifisches
Merkmal. Man kann ihn nicht nur auf ein Schlagwort wie „Aleatorik“ reduzieren. Diese
Aleatorik hat viele sich wandelnde Gesichter. Er steht daneben genauso symbolisch für
das „präparierte Klavier“, was wiederum nur ein Symbol für die Auslotung der
Klangeigenschaften aller Musikinstrumente außerhalb der Wege traditioneller
Klangerzeugung sein kann. Auch das Verständnis des multimedialen „Happenings“ hat
er sicherlich mitgeprägt; Nicht zu vergessen das ganz besonders zu verstehende
Element der „Stille“. Sein unermüdlich wiederholter Leitspruch „die Musik mit dem
Leben gleichsetzen“ deutet bereits an, welche Umstellung der traditionelle „Beethoven4
Hörer“ zu durchlaufen hat, um sich dieser Kunst anzunähern. Cages Kunst zielt darauf,
den Menschen zu verändern. Natürlich kommt auch eine solche Entwicklung nicht aus
dem Nichts. Auch Cage hat von Kunstrichtungen wie Dadaismus und Futurismus
profitiert. Charles Ives, Edgar Varèse, Marcel Duchamp, Henry Cowell und Eric Satie
und viele Andere haben ihn beeinflußt. Er bezog viele seiner Vorbilder interessanterweise nicht nur aus der Musikszene, sondern aus Literatur, Tanz, Theater und Malerei.
Die Synthese und Beziehung der Künste hat ihn nachweislich sehr beschäftigt. Er
umgab sich mit einem engen Zirkel von Künstlerfreunden, darunter David Tudor, Earl
Brown, Morton Feldmann und Merce Cunningham, die sich gegenseitig halfen und
inspirierten. Zusätzlich wird uns die Frage beschäftigen, inwiefern und inwieweit
indische und japanische Philosophie wirklich mit seiner Kunst zu tun hat.
Cage ist von einem unstetigen, immer vorwärts strebenden Geist besessen gewesen, der,
immer, wenn er etwas Neues geschaffen hatte, sofort nach dem Nächsten griff. Nie hat
sein Werk eine längerwährende Beständigkeit in Form, Prinzip und Material gehabt
(von ganz fundamentalen Grundprinzipien, wie dem des Zufalls / der Unbestimmtheit
abgesehen, doch auch jene haben sich mit der Zeit graduell geändert). Er sagte: „Mich
interessiert
immer nur die Musik, die ich als letztes geschrieben habe“. Die
Entwicklung ist - zwischen den Zeilen gelesen - immer auch das Ergebnis seiner
persönlichen Erfahrungen gewesen. Die Beschäftigung mit seiner Biographie lässt
genug Anhaltspunkte dafür, daß entscheidende Einschnitte in seinem Leben und seine
spezielle Persönlichkeit zu Veränderung in seinem musikalischen Weg geführt haben,
als Beispiel sei hier nur die Publikumsaufnahme seines vielleicht persönlichsten Stückes
The perilous Night, 1944, kurz vor der Scheidung von seiner Frau Xenia genannt. Bei der
Beschäftigung mit Cage muss unbedingt auch darüber gesprochen werden.
Obwohl der Titel dieser Arbeit suggeriert, die Beschäftigung mit Cage reduziere sich
hauptsächlich auf Variations I und Music of Changes, muss der Bogen weiter gespannt
werden und sich eher auf fundamentale Aspekte seiner Kunst beziehen, als auf einzelne
Werke - schon deshalb, weil der Werkbegriff bei Cage nicht zentral ist. Das Werk (und
sein Leben) muss spätestens ab den 50er Jahren als eine Art sich entwickelndes
„musikalisches Kontinuum“ angesehen werden, von dem einzelne Werke oder
Konzerte nur kleine, nach außen hin sichtbare Ausschnitte bilden. Nichtsdestotrotz
bieten diese beiden Werke wichtige Schlüsselaspekte,
5
die in ihrer Begrenztheit
exemplarisch auf das Gesamtwerk übertragen werden können.
Außerdem will ich hier versuchen, mich von der anderen Seite her - nämlich von der
Seite des Zuhörers - dem Werk zu nähern. Diese Arbeit ist keine primär Musikhistorische oder musiksystematische Abhandlung, sondern beschäftigt sich mit dem
interessantesten Teil bei Cage: dem ästhetischen. Cage selbst hat dazu eine Fülle von
Erklärungen und ein umfangreiches Schriftwerk hinterlassen. Er war angesichts seiner
radikal neuen Ideen ständig in Erklärungsnot und hat im Laufe seines Lebens viele
Vorträge und Vorlesungen gehalten, in denen seine Kunstansichten dokumentiert sind.
Diese hat er sogar z.T. systematisch praktisch in die methodische Umsetzung seiner
Veranstaltungen mit einfließen lassen. Das hat dazu geführt, dass man Cage oft lieber als
Musikphilosoph denn als Musiker angesehen hat, der seine Ideen besser hätte
theoretisch als praktisch propagieren sollen. Zudem spielt bei Cage neben seinem
Interesse für fernöstliche Philosophie, und seiner Neigung zur Askese auch seine
„Begeisterung für chaotischen Überfluss“2 und seine zunehmende Entwicklung zum
politischen Anarchisten, resultierend aus seiner Beschäftigung mit Duchamp, eine Rolle.
Diese Prinzipien spiegeln sich auch in seiner Musik selbstredend wieder.
Durch seine Negation von Vielem, was bisher unter Musik verstanden wurde, bietet
sich die Gelegenheit, sich die traditionellen grundlegenden Prinzipien einmal wieder
genau vor Augen zu halten und sie anschließend den neuartigen gegenüberzustellen.
Daher wird die Arbeit sich auch erst einmal mit der traditionellen Musikästhetik
auseinandersetzen. Dabei kann natürlich keine ausführliche Diskussion von allen
unzähligen divergierenden Meinungen und Darstellungen der Geschichte erfolgen, das
würde den Rahmen dieser Arbeit um ein Vielfaches sprengen. Ich kann nur
ausschnitthaft auf meines Erachtens zentrale Aspekte eingehen und nehme hierzu
hauptsächlich auf die relativ junge Musikästhetik „Musik Verstehen“ von Hans Heinrich
Eggebrecht3 Bezug.
Diese Arbeit ist aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit Cage. Nicht alles kann
einfach unbesehen aufgenommen werden. Und schließlich muss und werde ich die
vielleicht schwerwiegendste Frage stellen: nämlich, inwieweit Cages Werk noch mit dem
2
Hans Heinrich Eggebrecht, Musik verstehen, Wilhelmshaven 1999, S. 309/310 .
3
Eggebrecht, Musik Verstehen, 1999.
6
traditionellen Begriff von „Musik“ zu vereinbaren und damit in diese Kategorie einzuordnen ist. Cage hat sich selbst schon bemerkenswert früh dazu geäußert.
Trotz der kritischen Auseinandersetzung mit Cage muss hier ausdrücklich auf die
bemerkenswerte Leistung bezüglich seines Lebenswerkes hingewiesen werden. Die
Beschäftigung mit Cages Biographie öffnet den Leser für den bewundernswerten,
geradlinigen Lebensweg eines konsequenten, unabhängig denkenden Menschen, der
ungeachtet von Hass und Verachtung, bösem Spott, vielen Rückschlägen und langer,
bitterer Armut einen konsequenten Weg gegangen ist und der sich die späte
Anerkennung seines Lebenswerkes hart verdienen musste.
2. E IN Ü BERBLICK ÜBER DIE G RUNDÄSTHETIK - WAS
WIR UNTER „M USIK“ IM K ONTEXT DES
E UROPÄISCHEN K UNSTVERSTÄNDNISSES BIS IN DAS
20. JAHRHUNDERT HINEIN VERSTEHEN
2.1 Ä STHETISCHE IDENTIFIKATION: M USIK - EIN
SPIEL?
Musik hat im Laufe der Geschichte viele Gesichter gezeigt. Von der Erzeugung von
Stimmung und Extase in alter ritueller Musik, über das Symbol von Lobpreisung im
sakralen Gesang des Mittelalters, von der Spielmusik zur Unterhaltung und Ergötzung
auf Jahrmärkten und am Hofe, der Gebrauch ihrer emotionalen Eigenschaften im (auch
rituell-symbolischen) Liebesgesang - angefangen vom Minnesang bis heute - oder der
Gebrauch ihrer mitreissenden rhythmischen Eigenschaften in der Tanzmusik, die
Tradierung von Identifikation und Bräuchen in der authentischen Volksmusik überall
auf der Welt bis hin zur Entwicklung einer weltlichen Kunstmusik in aller ihrer
Variation vom Barock bis in unsere Zeit hinein und darüber hinaus in Jazz und Pop (die
7
modernen Formen von Volks- und Spielmusik) - alles hat dazu beigetragen, dass Musik
zwar universal, aber in ihrer Bedeutung auch sehr vielfältig und schwer zu fassen ist.
Wer traut sich schon zu sagen, was das Wesen von Musik ist?
Fest steht, dass sie etwas mit der Bildung von Kultur (im Sinne von völkischer
Tradition) zu tun hat. In jeder Kultur, und sei es im hintersten Ureinwohnerdorf im
letzten Winkel der Welt, hat sie in irgendeiner Form Platz gefunden. Wie sie verstanden
wird, darüber besteht unter den Denkern und Experten keineswegs Einigkeit. Doch fest
steht auch, dass sie verstanden wird, und zwar - jenseits von kulturellen Vorurteilen, die
sich in Wirklichkeit nur auf ethnische Aspekte bezieht, und nicht auf die Musik als
solche, und auch jenseits von persönlichem Geschmack und Vorlieben - jede Musik und
von jedem. Ob es nun eine emotionale Botschaft ist, ein Nachempfinden von rein
musikalischen Gestalten, oder das Sprechen einer universellen völkerübergreifenden
„Sprache“; Es gibt offenbar eine Art von „Kommunikation“, die einfach verstanden wird
(auch wenn Cage dieses bestreitet). Es ist zweifelsohne kein primär rationales Verstehen
(Eggebrecht nennt es „Erkennendes Verstehen“), sondern
ein sinnliches
Wahrnehmungsverstehen, ein „Ästhetisches Verstehen“ (griech: aísth‘sis =
„Wahrnehmung“).
Grundsätzlich heißt also „Verstehen“ nach Eggebrecht: „daß die Musik den Hörer
affiziert, daß sie von ihm angenommen wird, Einlaß findet in sein Empfinden und
Fühlen, den Hörer ergötzt und bewegt“4. Das passiert ganz natürlich, unbewusst und
begriffslos. Es ist uns offenbar angeboren, Musik „als Sinngefüge zu erfassen, auch
wenn der Sinn unbenannt und der Prozess des Erfassens uns unbewußt bleibt“5. Dieses
„Sinngefüge“, von dem Eggebrecht spricht, ist in seinem Verständnis ein Mitvollzug
des Geistes von dem Tongebilde innewohnenden Tonbeziehungen, und die vom Geist
fassbaren und unterscheidbaren Gebilde (z.b. Motive), die erkannt, wiedererkannt und
zueinander in Beziehung gesetzt werden. Bis zu einem gewissen Grade, argumentiert er,
kann man diese Verstehensprozesse mit einer Form von Sprache vergleichen, die
jedoch auf einer nicht-begrifflichen Ebene verstanden wird. Das Interessante dabei ist,
4
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 19
5
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 26
8
dass sie nicht „missverstanden“ werden kann. Sie ist wie die Muttersprache
(physikalische Erreichbarkeit vorausgesetzt), deren Verständlichkeit man sich einfach
nicht entziehen kann. Der Mitvollzug der Sinneinheiten erfolgt automatisch und
unabhängig von positiver oder negativer Einstellung zu den Inhalten. Das ästhetische
Verstehen ist nach Eggebrecht also geschmacksunabhängig. Deshalb unterscheidet
Eggebrecht hier sehr genau das ästhetische Verstehen von der (emotionalen) Reaktion
des Hörers auf das Gehörte. Dieser Prozess ist rein subjektiv und individuell, und kann
wissenschaftlich auf keinen einheitlichen Nenner gebracht werden (deshalb ist es auch
so schwer, Musik zu bewerten, ihr verbindliche qualitative Merkmale zu verleihen;
verstanden wird sie immer, aber die Bewertung basiert zwangsläufig auf einer
persönlichen Werteinstufung, die vom reinen Verstehen aus immer den Bereich des
Geschmacks passiert. Zur Verifizierung kommen dann erst die objektiven Kriterien
hinzu, die sich bekanntlich immer für oder gegen etwas ausspielen lassen. Von diesem
Manko der Bewertung ist auch der Kritiker oder der Musikwissenschaftler nicht gefeit).
Angeboren ist dabei jedoch nur die Fähigkeit, diese Prozesse aufzunehmen. Mit der
zunehmenden Hörerfahrung bildet sich ein zusammenhängendes System von
„Sinnstiftungen“, in die „das sinnliche Verstehen sich eingewöhnt, einfühlt, einwohnt,
einlebt [...], seine Regulative und Definitionen, ins Spiel der musikalischen Sinnstiftungen“6. Eggebrecht nennt das „ästhetische Erfahrung“. Sie ermöglicht uns unter
anderem auch die Bestimmung von besonderen Stilmerkmalen einzelner Komponisten
oder Epochen (Polyversabilität). Wichtig in diesem Zusammenhang ist noch, dass
Eggebrecht davon ausgeht, dass deswegen das „sinnstiftende“ Element in der Musik
selbst ist, und nicht im Hörer erst entsteht. Sonst müsste die Allgemeinverbindlichkeit
des Verstehensprozesses wieder angezweifelt werden.
Verstanden wird also der „Sinn“ der Musik. Der hier etwas sonderlich gebrauchte
Begriff von „Sinn“ muss noch kurz erklärt werden, damit keine Missverständnisse
entstehen. Er bezieht sich nicht auf einen kausalen Zusammenhang, eine Art von
Daseinsbegründung von Musik und sagt auch nichts über die spezifische Aussage von
Musik aus. Eggebrecht spricht davon an anderer Stelle unter dem Namen „Bedeutung“.
Darauf komme ich später noch zurück. Sinn ist vielmehr nur das System von
6
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 25 .
9
Verbindungen innerhalb der „Sprache“ von Musik, quasi vergleichbar mit einer Syntax,
die zum Teil aus den begreifbaren Einheiten, zum Teil aus tradierten Sinnträgern
besteht. Solche tradierten Sinnträger gibt es interessanterweise je mehr, je restriktiver
eine überlieferte Musik sich von individuellen Einflüssen abschottet. Man denke
beispielsweise an die Reichhaltigkeit der Symbole und Seufzerfiguren im Barock zu
einer Zeit, in der man aber auch um jede Neuerung schwer ringen musste, da man
immerwährend an den damaligen Größen (zum Beispiel Händel und Telemann)
gemessen wurde. Hingegen ist es im 20. Jahrhundert fast unmöglich geworden, ein von
jedem verstandenes System von symbolischen Figurationen aufzubauen, da die
persönliche Freiheit eines jeden komponierenden Individuums und die damit
verbundene Vielfalt das nicht zulässt.
Die Sinnstiftung geht also von der Musik aus, doch an welcher Stelle steht der Hörer?
Eggebrecht gebraucht für diese Aktivität des Nachvollziehens eine schöne Metapher. Er
spricht vom „Spiel“. Damit deutet er an, warum wir überhaupt bereit sind, diesen
Prozess mitzuvollziehen. Wir „spielen“ ein ästhetisches, sinnliches Wahrnehmungsspiel,
„das als Formung sich darbietet und sich zu verstehen gibt durch das Mitspielen des
Spiels“7.
Die Gehalte, die innerhalb der Musik transportiert werden, können sich nur mitteilen,
in dem die musikalische „Sprache“ aufgeschlüsselt wird. An dieser Stelle muss bereits
vorweggenommen werden, dass Cage hier ganz anderer Meinung ist. Für ihn hat der
Gedanke von Kommunikation keine Bedeutung. Auch für den spielerischen Gedanken
im Sinne eines „Mitvollziehens“ ist kein Platz bei ihm. Was er dagegen hält, und wie es
bei ihm zu dem andersartigen Verständnis kommt, wird dann im zweiten Teil der Arbeit
diskutiert.
7
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 79 .
10
2.2 B ILD UND E MOTION - DIE „B EDEUTUNG“ IN DER
M USIK
Im vergangenen Kapitel ist von der sich mitteilenden Syntax in der Musik gesprochen
worden, die durch ihren sinnlichen Spiel- und Sprachcharakter schon selbst einen Teil
der Bedeutung von Musik ausmacht und offenbar darin enthaltene Inhalte
transportiert.
Wir sind am Punkt angelangt, an dem wir den „Sinn“ von Musik verstehen. Wir spielen
ein Spiel. Doch kann das alles sein? Sitzen wir im Konzert, nur um „zu Spielen“ ?
Steckt da nicht mehr dahinter? Was ist das für ein trauriges Spiel, das uns die Tränen der
Rührung in die Augen treibt, wenn wir der Filmmusik von „Casablanca“ lauschen,
während die Schatten auf der Leinwand dazu die existentielle Verzweiflung mimen?
Wozu gäbe es die Verbindung von Musik und Film, die sich schon lange als
unverzichtbar für die Filmindustrie gezeigt hat, wenn der Film allein die Botschaft
tragen würde? Auch im Kontext zur Ästhetik von Cage, die keine transportierten
Inhalte kennt und alle sich mitteilende (auch emotionale) Persönlichkeit von Komponist
und Interpret auszuschalten versucht, müssen wir die Frage nach dem Transport von
Emotionen durch Musik stellen. Der geneigte Leser wird mir deshalb gestatten, mich
mit dieser wichtigen Frage etwas gründlicher auseinanderzusetzen.
Natürlich weiß jeder Mensch, dass Musik in irgend einer Verbindung mit der Emotion
steht. Wie diese Verbindung aussieht, darüber wage ich keine definitive Prognose. Dies
ist ein Thema, über das sich die Menschen schon lange (gegenseitig) die Köpfe
zerbrechen. Die historische Situation ist folgende:
Die vom frühen 19. Jahrhundert ausgehende starke Betonung des Gefühls in der Musik
hat einige mächtige Gegner dieser Ansicht auf den Plan gerufen. Der Streitpunkt liegt
vor allem darin, ob die Emotion in der Musik begründet liegt oder im Hörer individuell
hervorgerufen werden kann, und somit für das Wesen von Musik irrelevant ist. Gegner
der Theorie, dass Musik Emotion selbst transportiert, haben die Betonung auf das
Gefühl gelegentlich etwas polemisch als „pathologisches Hören“ denunziert, die die
Musik auf die „einseitige Reaktion auf das Emotionale [reduziert], die es lediglich als
11
Auslöser subjektiver Gefühlsprojektionen benutzt“8. Der Prominenteste in dieser
Beziehung ist vielleicht Eduard Hanslick, Freund von Brahms und mächtiger
Musikkritiker seiner Zeit, der, nicht zuletzt in seinem Buch „Vom Musikalisch
Schönen“ von 1854, immer wieder gegen diese „außermusikalische“ Verbindung
gewettert hat. Er war der Ansicht, dass die Bedeutung von Musik immer nur in sich
selbst liege, und es keinerlei beweisbare Verbindung zwischen der Musik und der
hervorgerufenen Emotion bestünde.
Die Debatte ist dabei aber schon viel älter und dauert auch bis heute an. Ich kann aus
Zeitgründen den Fortgang der Debatte nicht beleuchten, das sprengt bei weitem den
Rahmen dieser Arbeit. Ich möchte hier nur auf einen Diskurs des britischen
Philosophen Malcolm Budd über die Thesen Hanslicks eingehen, der in dem Kapitel
„The repudiation of emotion“ („Die Zurückweisung von Emotion“) in seinem Buch
„Music and the emotions“9 auf elaborierte Weise versucht, Hanslicks Thesen auf Basis
philosophischer Argumentation teilweise zu entkräften. Nach einer langen Abhandlung
über das Wesen von Emotion kommt er auf Hanslicks Argumentation zu sprechen.
Diese beruht auf drei aufeinander aufbauenden Annahmen:
1. Musik kann keine „Bedeutung“ in Form von Gedanken repräsentieren
2. Benennbare Emotionen (die einzigen, die er zweifelsfrei als Emotionen identifizieren
kann), wie Hoffnung, Traurigkeit und Liebe beinhalten jedoch immer Gedanken
3. Also kann Musik keine definitiven Emotionen repräsentieren
Hanslick geht dabei davon aus, dass eine Emotion aus nichts Anderem als einem
Gedanken verbunden mit einem allgemeinen körperlichen Gefühl von Befriedigung
oder Unbehagen besteht, die die „dynamischen Eigenschaften“ von ihm ausmachen,
also den inhaltlichen Gedanken in unterschiedlicher Stärke fühlbar machen. Die
Emotionen können also nur durch die beinhalteten Gedanken von einander
unterschieden werden (weil die Kategorie der Befindlichkeit von Befriedigung und
Unbehagen zu allgemein zur Unterscheidung ist, und weil mehrere Gefühle den
8
Sinngemäßes Hanslick-Zitat in Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 79 .
9
Malcolm Budd, Music and the Emotions - The Philosophical Theories, London 1985, S.20-47 .
12
gleichen Grad von Befriedigung oder Unbehagen beinhalten können). Hanslick
„erlaubt“ der Musik eine Imitation der dynamischen Eigenschaften von Emotionen,
aber keineswegs von anderen Eigenschaften.
Die These wird davon gestützt, dass Emotion selbst keine „hörbare“ Qualität besitzt,
höchstens die äußerlichen Anzeichen (die in Verbindung mit den dynamischen Parametern
stehen) sind hörbar, genauso, wie Emotion keine sichtbare Qualität besitzt, sondern nur
über ihre äußerlichen Anzeichen, d.h. den Ausdruck der Emotion (beispielsweise im
Gesicht) wahrnehmbar ist.
Die Probleme tauchen jedoch weniger am Ende, denn am Anfang der Argumentation
auf. Ob es wirklich so ist, dass es Gefühle nur in Verbindung mit zugehörigen
Gedanken gibt, den Beweis bleibt er letztendlich schuldig. Beispielsweise gibt es
Gefühle, die die schleichende Grenze zu Stimmungen beschreiten, beispielsweise die
(von ihm als Emotion anerkannte) Fröhlichkeit. Man kann nicht wirklich beweisen, dass
es im Falle von Fröhlichkeit einen Auslösergedanken geben muss. Ähnliche Fälle lassen
sich sicherlich bei eingehender Betrachtung noch weitere finden. Somit ist ihm das
Argument aus der Hand geschlagen, dass Musik nicht diese speziellen Gefühle
ausdrücken könne.
Außerdem, wenn Musik die dynamischen Eigenschaften von einer Emotion
repräsentieren oder imitieren kann, was Hanslick nicht bestreitet, repräsentiert sie
unweigerlich dasjenige Element der Emotion, ohne welches die Erfahrung des
Gedankens der spezifischen Emotion nicht „emotional“ wäre!10
So könnte bereits die Erfahrung der dynamischen Parameter der Emotion den Hörer
stimulieren, und „belohnen“, nur eben, dass die nicht im Sinne einer spezifischen
Emotion definiert werden könnte.
Des Weiteren gibt es unbestreitbare Parallelen zwischen harmonischer Spannung und
dem Drang nach Auflösung (Konsonanz/Dissonanz) auf der einen Seite, und dem
Gefühl von psychischer oder emotionaler Spannung und dem Drang nach seiner
Auflösung auf der anderen Seite.
Hanslick führt weiter an, dass, selbst wenn Musik Emotionen darstellen könne, die
Qualität der Musik nicht auf die emotionale Repräsentation angewiesen wäre. Neben
10
Siehe: Budd, Music and the Emotions - The Philosophical Theories, S. 25
13
anderen Argumenten vokale Musik betreffend gibt er als Beispiel, die Möglichkeit an,
dass durch schlechte Interpretation die Schönheit (und infolge dessen der Wert) einer
Musik zerstört werden könne, ohne dass die Richtigkeit der Repräsentation einer
angeblichen Emotion berührt sei. Doch das widerlegt nicht die Existenz einer solchen
Repräsentation von Gefühlen durch Musik. Und andersherum, durch schlechte
Repräsentation von Gefühlen muss nicht die Schönheit (oder der Wert) von Musik
beeinträchtigt sein. Beide Parameter, Schönheit/Wert und Emotion sind unabhängig
von einander.
Auf der anderen Seite bestreitet er nicht, dass Musik Emotionen im Hörer hervorrufen
kann, er bestreitet lediglich, dass sie für die Betrachtung von Musik relevant oder
überhaupt angemessen sei, da sie nicht innerhalb der Musik beweisbar ist. Er führt an, dass
Musik vom Typen des emotionalen Hörers oft für emotionale Höhenflüge
„missbraucht“ wird, während der „musikalische“ Hörer die wahren Qualitäten im
strukturellen Entwicklungsgeschehen suche. Nun, dies ist eine Argumentation, die stark
auf das musikalische Wesen des 18. Jahrhunderts schielt (vielleicht noch mit begrenzter
Ausweitung auf Bach). Eine große Palette musikalischer Erscheinungsformen vor 1600
und nach ca 1850 n. Chr. legen dagegen kein besonderes Augenmerk auf ihre
immanente Struktur und verstehen sich primär als Träger von Inhalten. Dies ist so breit
anerkannt, dass ich nicht glaube, es anhand einzelner Beispiele beweisen zu müssen.
Dieses Musikverständnis wird bei Hanslick nicht in angemessener Weise berücksichtigt.
Diese Argumentation erbringt somit nicht den Beweis der Allgemeingültigkeit und
sollte mit Vorsicht genossen werden, besonders, weil das (bei Adorno wiederkehrende)
Element des strukturellen Hörens bei vielen Menschen gar nicht wirklich entwickelt ist.
Die meisten Menschen wären damit vom „korrekten“ Musikverstehen ausgeschlossen.
Budd seinerseits behauptet gar nicht, dass Emotionen in Musik enthalten seien. Er führt
selbst folgende Beweisführung dagegen an:
Emotionen rufen unweigerlich körperliche Reaktionen hervor. Als Beispiel nennt er die
„Unruhe“, da die äußerliche Reaktion daran besonders plastisch darzulegen ist. Unruhe
ruft „unruhige“ Bewegungen hervor; allerhand Bewegungen sind zu beobachten, die
sich ohne echten Grund wiederholen, nervös zucken, mitunter hastig sind, nicht fähig,
still zu stehen. Diese Bewegung kann zweifelsfrei erkennbar in Musik imitiert werden.
Stakkato-Passagen, Triller, starke Betonungen, Beschleunigungen, Schüttelbewegungen,
14
immerwährende feingliedrige Bewegung, unmotivierte Sprünge, und vieles mehr. Diese
Entsprechungen kann man akzeptieren. Damit stehen die musikalischen Mittel für die
äußerlichen (körperlichen) Anzeichen eines mentalen Zustandes und könnten ihn
bedeuten, da er mit seinen äußerlichen Anzeichen gleichgesetzt wird. Doch hier entsteht
nach seiner Ansicht ein unbemerkter Paradigmenwechsel: Die Musik klingt so, wie der
Körper sich anfühlt. So stellt die Musik in diesem Fall lediglich mittelbar körperliche
Anzeichen, nicht aber den mentalen Zustand akkurat dar. Mentale Zustände können
nicht direkt von Musik dargestellt werden, nur die körperlichen Anzeichen werden
nachgeahmt. So fehlt bereits an zwei Stellen die beweisbare direkte Entsprechung.
Budd übersieht allerdings in aller Spitzfindigkeit philosophischer Argumentation hier,
dass der Wille, also die Intention eines Komponisten zur Entsprechung sehr wohl da sein
kann, wenn sie auch nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar erfolgen kann. Ihre
Existenz ist nicht widerlegt. Wenn die Entsprechungen nicht missverstanden oder
anderweitig fehlgeleitet wird, kann die Entsprechung über die Mittelbarkeit hinweg
erfolgen. Die Emotion würde in diesem Fall symbolisch in der Musik vorhanden sein wenn gewollt. Die hier ausführlich behandelten „äußerlichen Anzeichen“ können ohne
weiteres mit der Bezeichnung „Ausdruck/Expression“ gleichgesetzt werden. Es stellt
sich also die Frage: Kann Musik Emotion „ausdrücken?“ Der symbolische Akt einer
Entsprechung tritt dort an die Stelle eines direkten Transportes. Es stellt sich die Frage,
ob Beides gleichgesetzt werden kann.
Eggebrechts Position in „Musik verstehen“ dazu ist nicht zweifelsfrei zu erkennen,
wobei jedoch auffällt, dass er ebenfalls eine sehr negative Einstellung gegenüber dem
Typus des emotionalen Hörers zu erkennen gibt. Und er holt sich zu diesem Zwecke
mächtige Verbündete heran.
„Das Subjekt, das die Musik ästhetisch versteht, bringt seine Subjektivität in der Weise
ins Spiel, daß es auf das ästhetischVerstandene reagiert. Dieses Reagieren wird durch die
Musik ausgelöst, hat jedoch im Rahmen dieser Auslösung und Bezogenheit [...] einen
unendlichen Spielraum an Möglichkeiten.“11 Eggebrecht bezieht sich damit eindeutig
auf Hanslicks Trennung von Musik und Emotion. Des weiteren unterscheidet er die
11
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 42 .
15
Begriffe „Empfinden“ und „Fühlen“. Das Zweite ist dabei der Auslöser von Ersterem.
Es ist ein Sinneseindruck, der von der „Empfindung auch den emotionalen Gehalt des
Reizes [registriert] und leitet ihn weiter an das Gefühl, das auf die vom Objekt
ausgehende emotionale Seite der Reizempfindung subjektiv reagiert“12.
Hier spricht er allerdings plötzlich vom “emotionalen Gehalt des Reizes“ (ich habe den
betreffenden Ausdruck unterstrichen), und ein paar Zeilen weiter unten vom „ihm
innewohnenden emotionalen Element [...], das [...] in unserem subjektiven Gefühlsbereich ein Gefühl erzeugt“. Darauf basiert seine Argumentation, dass das
„Empfinden“ vom Sinneseindruck her kommt, und demnach direkt objektgebunden
(von der Musik kommend) ist, während das „Gefühl“ subjektive Reaktion darauf ist.
Was nun aber der genaue Unterschied zwischen einem „emotionalen Element“ und
einem „Gefühl“ ist, die Erklärung bleibt er schuldig, insbesondere weil er den Terminus
„Emotion“ ein paar Zeilen später mit „Gefühlswert“13 übersetzt und verwirrenderweise
von der „Gefühlsempfindung“ als subjektive Reaktion des Hörers spricht (was seiner
eigenen Definition von „Empfindung“ widerspricht). Er führt aus, dass „sich die
Empfindung mit dem Gefühl [berührt] und gelangt mit ihm zur Deckung, weshalb im
Sprachgebrauch beide Begriffe austauschbar sind“. Gefühl und das aus der Musik
kommende „emotionale Element“ sind demnach Eggebrecht zufolge deckungsgleich. Man
muss sich fragen, weshalb solches Aufhebens gemacht wird um den feinen Unterschied
zweier Begriffe, die letztendlich doch einen identischen Inhalt haben. Diese
Deckungsgleichheit würde überdies Hanslick das Argument aus der Hand schlagen, dass
die subjektive Reaktion ohne jede Relevanz für die Bedeutung der Musik (oder ihre
„Schönheit“) ist.
Auf Seite 75 ff. wendet sich Eggebrecht gegen den Typus des ausgeprägt emotionalen
Hörers, der „die Definitionsprozesse des musikalischen Sinns“ übertönend, primär die
„Gefühlsbotschaft“ als „Stimulanz der eigenen Gefühlswelt benutzt“. Im Folgenden
gibt er der „Form“, also dem System von Sinnstiftungen eindeutig das Primat gegenüber
den „Gehalten“ von denen er die Emotion als die Wichtigste nennt. Zur Verstärkung
zitiert er Immanuel Kant aus seiner „Kritik der Urteilskraft“ (§51 und 53). Ich möchte
12
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 73 .
13
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 74 .
16
im Folgenden die Textstelle (S. 76) als Ganzes abdrucken:
Abb. 1: Eggebrecht, Musik verstehen, S. 76
Eggebrecht deutet Kants Ausdruck von „Form“ in Z. 9 im Sinne seines Begriffes von
„Formsinn“ (siehe Z. 5 und 18). Das ist, so wie er Kant zitiert, jedoch nicht im Sinne
des Verfassers interpretiert, der von „Form der Zusammensetzung dieser
Empfindungen“
spricht, die gegenüber der Einzelemotion den Vorrang habe.
Demnach beinhaltet die ganze Stelle eine Fehlinterpretation Kants und bleibt in der
Beweisführung nicht schlüssig.
Schon eher in seinem Sinne ist folgendes Hegel-Zitat:
(b.w.)
17
Abb. 2: Eggebrecht, Musik verstehen,
S. 77
Hegel sagt hier sinngemäß, dass die emotionale Lautäußerung erst durch Stilisierung
(kadenzale Interjektion) zur Kunst wird. Hegel gibt der „Form“ im Sinne Eggebrechts
in diesem Fall ebenfalls den Vorzug, jedoch ausdrücklich als Darstellung von Emotion.
Beide Philosophen sprechen von Musik als einer Sprache des „Gefühls“ oder „Gemüts“
oder der „Affekte“ (was hier gleichzusetzen ist), dessen bevorzugter Untersuchung
Hegel im folgenden Zitat (S. 77/78) aber auch wegen ihrer „inhaltslosen Subjektivität“
eindeutig eine Absage erteilt. Damit erhebt er die Form der Darstellung von Emotionen
zum eigentlich künstlerischen Element in der Kunst.
Der schärfste Gegner des emotionalen Hörers erweist sich jedoch Th. W. Adorno im
Zitat seiner Abhandlung über „Typen Musikalischen Verhaltens“ dessen Argumentation
sich jedoch an Hanslick anlehnt, und deshalb hier nicht noch gesondert diskutiert wird.
Über dieses Thema ließe sich sicher noch eine getrennte Staatsarbeit schreiben, ich
muss jedoch, um den Rahmen nicht zu sprengen, vor den Augen des ermüdeten Lesers
jetzt die Diskussion abbrechen. Es gibt im Bereich der „Bedeutung von Musik“
natürlich noch andere Inhalte, beispielsweise die sogenannten außermusikalischen
Inhalte wie bildliche Symbole und Naturlautnachahmungen, die im folgenden Kapitel
behandelt werden.
18
2.3 M USIK ALS R EIZGEBILDE - K LANGFARBEN ,
A BBILDLICHKEIT UND AUßERMUSIKALISCHE INHALTE
Entgegen Johannes Brahms und Eduard Hanslick bildete sich Mitte des 19.
Jahrhunderts um Franz Liszt die sogenannte Gruppe der „Neudeutschen Fortschrittler“14, die gegenüber dem traditionellen Modell des vorrangigen „Sinngebildes“
der musikalischen Abbildlichkeit den Vorzug geben. Damit gemeint waren Bilder und
Symbole der gegenständlichen Welt oder aber der persönlichen inneren Welt des
Komponisten, seinen Ängsten und Leidenschaften, die mittels bestmöglicher
Nachahmung in die Musik importiert wurden.
Eggebrecht nennt hier als Möglichkeiten malerische, idiomatische, emotionale,
assoziative und gestische Abbildetypen. Als Beispiele gibt er Naturnachahmungen,
sozial und geschichtlich geprägte und traditionsgestiftete Abbilder wie Märsche, Tanz-,
oder Signalidiome (u.a.) und außerdem anthropologisch begründete Abbildtypen,
beispielsweise das Seufzermotiv oder Aufschrei und Verstummen an.
Der Unterschied zum traditionellen Verständnis, wo der „Sinn“ innerhalb eines
ausschließlich musikimmanenten Beziehungsgebildes als Definition sich bildet, liegt der
Sinn beim Abbild durch das Symbolhafte schon vor und wird lediglich „wiedererkannt“.
Es braucht nicht „musikalisch definiert“ zu werden (muss aber laut Hegel erst
„künstlerisch zubereitet“ werden, um als Musik wahrgenommen zu werden; siehe
voriges Kapitel). Ein anfänglicher Meilenstein in diese Richtung bildete sicherlich die
allseits bekannte Sinfonie Fantastique von Hector Berlioz aus dem Jahre 1830. Das Modell
der Sinfonie wurde von den Komponisten um Liszt jedoch von der Sinfonischen
Dichtung weitestgehend abgelöst, die durch ihre Anlagen dem Ideal des „Sinfonischen
Klanggemäldes“15 mehr entgegenkam.
In der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts, wo dem Hörer das Verstehen des
traditionellen Sinnverstehens (angesichts der sehr individuellen und komplexen
14
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 71 .
15
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 71 .
19
Klangsprache) oft sichtlich schwerfällt, rät Eggebrecht dem ratlosen Hörer als ein erstes
Hilfsmittel die Beachtung der abbildlichen Vorgänge an. Genommen ist dem Hörer
durch das Durchstoßen der Tonalitätsgrenze durch Schönberg nicht nur ein
allgemeinverbindliches System von Stinnstiftungen, sondern auch ein ebenso
allgemeinverständliches Bedeutungs- und Ausdruckssystem16. Das „tonale Haus ist
abgerissen“ metaphoriert Eggebrecht treffend. Abbilder sind weiterhin möglich, werden
aber nicht mehr im gewachsenen traditionellen System kodiert. Ab nun ist jedes
komponierende Subjekt (nach Schönberg durch weitere Radikalisierung noch zunehmend) mit seinem eigenen, selbstgewählten System alleingelassen. Die musikalische
Sprache wird zunehmend subjektiver. Doch wo bleibt der arme Hörer? Er steht vor den
Trümmern des gleichen „Hauses“ und hat außerdem das Problem, dass es nicht das
seine ist. Er muss sich im individualisierten, neuen System des einzelnen Werkes
zurechtfinden. Der Hörer benötigt, schreibt Eggebrecht, „die Kultivierung der
ästhetischen Erfahrung gegenüber dem Neuartigen“17. Das ist zugegebenermaßen nicht
leicht und benötigt häufig eine Erklärung des Komponisten für eine Chance des vollen
Verständnisses der Komposition. Diese Form der „Beiheft-Erklärung“ ist uns jedoch
schon seit Berlioz geläufig. Jegliche subjektive Gedankenwelt, jede „Erzählung“ in
Musik, braucht eine Erklärung, will man sie im Sinne des Komponisten verstehen.
Schönberg setzt das im Kern im 19. Jahrhundert angelegte Expressionsdenken weiter
fort und steigert es bis zum Extrem. Das musikalische Geschehen in der Kunstmusik
der 20er Jahre heißt demnach konsequenterweise „Expressionismus“. Die Expression
benötigt neben der Abbildlichkeit und der Klangfarbe nicht die Tonalität, um wirksam
und verständlich zu sein18. Sie konstituiert sich aus „Idiome[n] assoziativer, emotionaler,
gebärdischer Art“ - und kann deshalb als Abbild vom Hörer erkannt werden.
Auf die Situation im 20. Jahrhundert werde ich jedoch in einem späteren Kapitel noch
ausführliches eingehen. Ich will hier noch den Gedanken der „Reizästhetik“ kurz
beleuchten.
16
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 91 ff.
17
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 110.
18
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 95 .
20
Jegliche Musik besteht aus akustischen Reizen, die durch ihre Wahrnehmung
„Erregungen auslösen und Empfindungen [...] verursachen“19. So wie das Abbild
benötigt der Reiz als Erlebnis keine musikalische Sinndefinition, der Sinn liegt in der
unmittelbaren sinnlichen Wirkung, schreibt Eggebrecht. Jeder Reiz hat einen in sich
selbst vordefinierten Charakter, der auf seine eigene Art „verstanden“ wird. Ein
wichtiges Beispiel der Idee vom Reiz ist die Klangfarbe, wie sie besonders augenfällig
im sogenannten musikalischen „Impressionismus“ kultiviert wurde.
Zu erwähnen ist im Zusammenhang mit dem Impressionismus allerdings die
verwirrende Tatsache, dass dort die Klangfarbe der Musik nicht ausschließlich von der
Klangfarbe des einzelnen Tones abhängt, sondern auch von der Verwendung eines
ausgeklügelten, speziellen harmonischen Systems, was die schöne klare Trennung
zwischen der Tonalität als sinnstiftendes Ordnungssystem auf der einen Seite, und dem
Reiz als unmittelbare sinnliche Wirkung auf der anderen Seite zumindest teilweise
wieder in Frage stellt. Besonders deutlich wird das in der impressionistischen
Klaviermusik, beispielsweise Debussys, denn die eigentliche Klangfarbe des Klaviers ist
bei Debussy objektiv nicht wesentlich von derjenigen der Klassik unterscheidbar. Das
ändert sich erst mit dem Erscheinen Cages in den 30er Jahren und gehört nicht in den
Zusammenhang mit dem Impressionismus.
Der Klangfarbe kommt unter anderem die Bedeutung als Charakterträger und
Ausdruckswert zu. Eggebrecht zählt die Klangfarbe zu den „peripheren“ Toneigenschaften, da sie kein reguliertes, skalenartiges Ordnungssystem als Grundlage
haben, was einen gegebenen Wert als relativen Bezugswert dazu definieren würde, und
das Ganze somit ein schlüssiges Sinngefüge, ähnlich wie das der Tonalität, bilden würde.
Nun, bei genauer Betrachtung gibt es sicherlich Tendenzen zwischen Extremen wie
espressivo und dolce, dunkel, und hell, zart und stark. Ob sie aber systematisch genug sind,
um sinnstiftend zu sein, muss dahingestellt bleiben. Schönberg allerdings ist da ganz
anderer Meinung, wie wir noch im Kapitel 3 sehen werden.
In diesem Zusammenhang zeichnen sich allerdings genaugenommen wieder
Unklarheiten zwischen Klangfarbe als Reiz und Tonalität ab. Die tonalitätsbezogenen
Parameter Dur (hart) und Moll (weich) sind nämlich ebenfalls eigentlich
19
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 64 .
21
Klangfarbendefinitionen.
Man kann jedoch nicht auf alle Ungenauigkeiten eingehen. Es gibt immer Schlupflöcher
Ausnahmen und Generalisierungen im Auffindungsprozess von Prinzipien. Lassen wir
Eggebrechts Aussagen deshalb im Großen und Ganzen ihre Gültigkeit.
Auch auf Klangfarbenreize reagiert das Subjekt auf eine „genießerische“, imaginative
Art20, ohne einen „objektivierten“ Verstehensanspruch im traditionellen Sinne zu
erheben, schreibt Eggebrecht. Infolge meiner Argumentation bei der Frage um die
Emotion im vorigen Kapitel, die uns vor die gleiche Situation stellt, muss ich allerdings
hier wiederum aus den gleichen Gründen Bedenken erheben. Wenn die sinnliche
Reaktion des Subjekts wiederum deckungsgleich mit dem Farbwert des ausgehenden
sinnlichen Reizes ist - wozu sich Eggebrecht diesmal jedoch nicht distinktiv äußert - so
muss sie auch als objektiv gelten (s. Gefühl vs. emotionales Element in Kapitel 2.2).
Die Bedeutung, die dem Reizgeschehen zukommt ist kann trotz der feinen
Unterscheidung, ob sie subjektiv oder objektiv ist, unangefochten als wichtig eingestuft
werden. Reiz und Abbild bleiben in einigen Stilrichtungen am Anfang des 20.
Jahrhunderts wichtige Parameter auf der Suche nach Ersatz der allgemeinen
Sinnstiftung der Tonalität. In musikalischen Formen außerhalb der „Kunstmusik“,
beispielsweise in der Filmmusik, spielt sie auch bis heute noch eine zentrale Rolle.
2.4 W ERKIDENTITÄT
Die Frage nach der Identität eines Werkes ist eine sehr wichtige im Zusammenhang mit
Cage. Sie beleuchtet einerseits, wie abgeschlossen ein Werk für sich allein steht, und
andererseits - noch interessanter im Zusammenhang mit Cage - wie es mit der
Wiedererkennbarkeit, der Identifikation eines Werkes bestellt ist. Die Identität macht die
Wiedererkennbarkeit des Werkes trotz der individuellen Interpretationsunterschiede aus,
Eggebrecht nennt sie die „Zeichnung“ eines Stückes. Grob gesagt ist die Zeichnung
das, was der Komponist niederschreibt. Eggebrecht unterscheidet zu recht hier sehr
20
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 67 .
22
genau von dem „Dasein“ des Werkes. Denn allein das Niedergeschriebene „lebt“ noch
nicht als tönende Musik. Erst das individuelle, persönliche Spiel des (oder der)
Interpreten erweckt das Leben des Werkes und erhebt das trockene theoretische
Konstrukt zum genießbaren Erlebnis. Die Persönlichkeit des Interpreten kann ein Werk
jedoch auch sehr unterschiedlicherscheinen lassen, im Extremfall bis zur Entstellung.
Diese Verwirklichung des Werks als Klang nennt Eggebrecht das „Dasein“ des Werkes.
Es subsumiert allerdings im Gegensatz zur Zeichnung eher die „Verschiedenheit“ eines
Werkes mit sich selbst, das heißt, die Einmaligkeit seines Daseins in jeder einzelnen
Aufführung.
Ein Spezialfall ist allerdings die Wiedergabe einer Aufführung vom Tonträger. Die
Einmaligkeit des Augenblicks ist hier außer Kraft gesetzt, wird reproduzierbar. Das hat
den Vorteil, dass die schönsten, gelungensten Momente erhalten bleiben, man kann sie
das nächste Mal wieder in voller „Einmaligkeit“ genießen und sich völlig darin einleben.
Andererseits wird die „konservierte Einmaligkeit“ allmählich zur Wiederholung, die
nach einiger Zeit abgeschmackt und fahl werden kann. Der „Kick“ ist weg. Viele Hörer
greifen als Konsequenz zum Lautstärkeregler; doch auch das hilft nur begrenzt. Hier
zeigt sich, das der Mensch zum neuen, frischen Erlebnis eine gewisse Variation braucht.
Sie gibt dem gleichen Stück neue Lebendigkeit.
Ein Werk bestimmt sich aber darüber hinaus seine Identität noch durch sein Verhältnis
zum Geist der Zeit: Es arbeitet mit den Stilmitteln der Zeit, in der es entstand.
Gleichzeitig bringt fast jedes Stück durch seine Individualität der Komposition kleine
Neuerungen, die wiederum den Stil bereichern. Jede Komposition „altert“ irgendwann,
denn der Geist der Zeit ändert sich kontinuierlich. Die Komposition gehört dann an
ihren geschichtlichen Ort. Die Komposition ist in ihren - nun historischen - Stil
einordbar.
Die Stilfrage ist deshalb so wichtig, weil im traditionellen Notentext nicht alles fixierbar
ist. Viele tradierte Spielkonventionen ergänzen den skizzenhaften Notentext und
ersetzen auch viele komplizierte Sonderzeichen, die jedesmal vom Komponisten neu
definiert werden müssten. Das macht es aber auch so schwierig, ein Werk in seiner
historischen Gestalt neu zu rekonstruieren, wenn die Traditionslinien einmal abgerissen
sind, wie am Beispiel des Barock - und vorher - zu erkennen ist.
Eggebrecht erwähnt im Hinblick auf die sogenannte „Historische Aufführungspraxis“,
23
das es nicht ohne Schwierigkeit ist, dem heutigen Hörer ein (selbst wenn auch perfektes)
Klangkonstrukt einer vergangenen Zeit zu präsentieren21. In der hitzigen Debatte um
das Für und Wieder wird nämlich oft der Hörer ganz vergessen. Das mit allen
Kontexten vergangenen Kunstverständnisses und tradierten Stilbedeutungen (z.b.
musikalisch-rhetorischen Figuren) vergangener Jahrhunderte behaftete Werk trifft
nämlich auf meist unbedarfte Ohren, die die Botschaften oft gar nicht entschlüsseln
können, da Kunstverständnis und auch Weltsicht eine andere geworden sind. Ob aber
andererseits eine moderne Interpretation einem alten Werk in den Ohren des Hörers
mehr gerecht wird, bleibt ebenso fraglich.
Bei der Neuartigkeit einer Musiksprache, wie die von John Cage (besonders in seiner
mittleren und späten Schaffensphase) kann der Komponist nur sehr eingeschränkt auf
solche Konventionen zurückgreifen. Deswegen ist eine große Vielfalt von Sonderzeichen entstanden, die sich mit zunehmender Mehrdeutigkeit der Kompositionen bis
hin zu einer graphischen Notation entwickelte, die dem Betrachter eher an ein Bild
erinnert, als an die Fixierung von Musik. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang das Improvisationsstück December 1952 von Earle Brown, einem Freund von John
Cage:
Abb. 3: Earle Brown: December
1952 aus: Dahlhaus, „Die Musik
des 20. Jahrhunderts“, Handbuch
der Musikwissenschaft 7 S. 336.
21
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 56/57 .
24
Die Identität des „Werkes“ hat mit allen genannten Faktoren zu tun, und spaltet sich
dort in eine verwirrende Vielfalt auf. Noch viel größer ist die Vielfalt eines einzigen
Werkes jedoch dort, wo es eigentlich hingehört: In jedem einzelnen Hörer, der ihr
durch seine eigene Persönlichkeit und Disposition ihren eigenen, ganz individuellen
Sinn verleiht. Dort hören jedoch die Kategorien der Wissenschaft auf und fängt die
Musik an als das zu wirken, was sie ist:
Als KUNST .
2.5 E RKENNENDES V ERSTEHEN
Zurückgehend auf die im vorigen Kapitel erwähnten Probleme des unbedarfteren
Hörers im Verstehen der musikalisch-rhetorischen Figuren, insbesondere des Barock22,
ist als Erklärung wichtig, dass die natürlich in größerem Masse auf die intellektuelle Seite
des Verstehens zielt, die Eggebrecht „erkennendes Verstehen“ nennt. Dazu gehören
Zahlensymbole (häufig bei J.S. Bach zu finden), wichtige Motivtypen wie etwa das
„Suspirato“ (Seufzerfigur), oder der „Lamento Bass“, auch „Passus Duriuskulus“
genannt (absteigende Basslinie, ein Leidensmotiv im religiösen Sinne) und unzählige
mehr, aber auch verschiedenste Abbilder-typen, die im Stil-geschehen ihrer Zeit häufig
gebraucht wurden und den Hörern gut vertraut waren. Viele Figuren vermitteln ihre
Bedeutung nur reflektiv, auf der Basis des begrifflichen Wissens23. Wir wollen uns
deshalb die Verstehensprozesse des erkennenden Verstehens und die wichtigsten
Gründe anschauen, warum das „erkennende Verstehen“ neben dem „ästhetischen
Verstehen“ eine so wichtige Rolle spielt.
Während das ästhetische Verstehen das „begriffslose Verstehen“ darstellt, ist das
erkennende Verstehen das „begriffshafte Verstehen“. Das ästhetische Verstehen arbeitet
22
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 67/68 .
23
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 68 .
25
auf begriffsloser Ebene bereits ebenfalls „erkennend“, zum Beispiel in der Verarbeitung
und dem Wiedererkennen von Motiven und Themen. Das begriffshafte Verstehen
filtert ebenfalls zusammengehörige Tonfolgen aus dem Gehörten und kann sie durch
Wiedererkennen und Einordnen intellektuell verarbeiten. Man kann sie nun benennen,
mit Worten beschreiben und vergleichen. In der Folge wird das Analysieren und ÜberMusik-Sprechen, und auch das Bewerten von Musik möglich. So hängt fast der gesamte
Bereich musikalischer Bildung, die gesamte Forschung innerhalb der Musikwissenschaft
und nicht zuletzt die Musiktheorie (das Verstehen seiner Machart und Stilmittel
einschließlich der Effekte) vom erkennenden Verstehen ab. Davon ausgenommen ist
dabei aber das bloße Wiedererkennen von Musik (-stücken), das fast nur begriffslos
abläuft.
So wichtig das erkennende Verstehen ist, es bleibt „gegenüber dem Dasein der Musik
immer sekundär, begrenzt und uneigentlich“24. Doch es erlaubt das Fragen nach der
objektiven Aussage eines Werkes. Besonders im Zusammenhang mit vokaler Musik
kann es die häufig besonders konkrete Aussage durch Analyse von Abbildlkichkeit,
Struktur, Zahlensymbolik und besondere Hervorhebung von Wörtern oder Textstellen
in Hinblick auf den Worttext unterstützen. Besonders Zahlensymbolik erschließt sich
selten allein durch das Ohr. Die raffinierten verborgenen Geheimnisse bringt oft erst
die Analyse der Partitur zutage. So hilft sie zur stilistischen Standortbestimmung und
Einordnung in einen spezifischen Kontext.
Auch kann mittels Analyse (die ja auf dem erkennenden Verstehen aufbaut) die
Schlüssigkeit beispielsweise einer Werkstruktur untersucht werden und möglicherweise
vermitteln, warum ein Werk so wirkt, wie es wirkt.
Eggebrecht wirbt auf der anderen Seite um Verständnis darum, dass viele, insbesondre
junge Hörer sich dem erkennenden Verstehen verweigern, aus Angst, den emotionalen
Zugang durch das Wissen zu unterhöhlen und abgeschmackt werden zu lassen. Durch
das kritisch Fragende nach Struktur, Aussage und Beziehung zum stilistischen Umfeld
wird die subjektive Öffnung des ästhetischen Verstehens zur Musik hin eingeschränkt,
objektiviert und nicht selten gestört. Die Problematik solle man ernst nehmen, und die
ästhetische Identifikation nur so stark wie unbedingt nötig helfend unterstützen. So
24
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 120.
26
kann eine Bewusstseinserweiterung für kaum oder gar nicht beachtete Erscheinungen
stattfinden, ohne zur aufdringlichen Bevormundung zu werden. Aus leider häufig
gegebenem Anlass muss davor gewarnt werden, jemals die helfende Rolle der Analyse
zum selbstdarstellerischen Selbstzweck emporkommen zu lassen, der in keinem Falle
hilfreich ist, und oft eher einen negativen, abschreckenden Effekt hat.
Fa zit
Ich habe bis jetzt versucht, einen kurzen Überblick über einige zentrale Aspekte im
traditionellen europäischen Musikverständnis zu liefern, und habe es mir doch nicht
nehmen lassen, dabei auch hier und da einen kritischen Blick auf alle mir vorliegenden
Informationen zu werfen und hier und dort zu vergleichen, und so wird mir der
geneigte Leser verzeihen, wenn sogar meine persönliche Ansicht sich an einigen Stellen
- gut gekennzeichnet - darin widerspiegelt. Einige Aspekte sind dabei allgemein wichtig
in Hinblick auf die Thematik, andere sind besonders interessant im Hinblick auf den
kommenden Hauptteil der Arbeit und haben so ihren Weg in den Überblick gefunden.
27
3. K URZE Z USAMMENFASSUNG DER SITUATION IN DER
ERSTEN H ÄLFTE DES 20.JAHRHUNDERTS
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeichneten sich bereits große Veränderungen in der
Musikwelt ab. Die Musik war bereits hoch komplex geworden und die Tonalität
ausgereizt. Der Impressionismus hatte die Tonalität bereits erweitert und sie in seinen
dunstigen Schleier gehüllt. Die Richtungen gingen spätestens am Beginn des 20.
Jahrhunderts deutlich auseinander. Einige Komponisten hielten weiterhin am alten,
spätromantischen Stil fest, beispielsweise Rachmaninow, oder Strauss, der jedoch in
Salome und Elektra zwischenzeitlich ebenfalls bis an die Grenzen der Tonalität ging, aber
danach mit dem Rosenkavalier zur traditionellen, leichter verständlichen Musik des
vorigen Jahrhunderts zurückkehrte. Er war als „Star“ der deutschen Oper zu sehr dem
Publikum verpflichtet. Andere griffen die modernen rhythmischen Tendenzen auf und
suchten die „Ur-kräfte“ einer vorzeitlichen, rituellen Musik, wie Strawinsky in seinem Le
sacre du printemps, das bei der Uraufführung 1913 einen Skandal provozierte. Die
Komponisten des „Futurismus“ um Prattella und Russolo integrierten die immer mehr
den Alltag bestimmende Industrialisierung mit ihrem Maschinenlärm in ihre Musik25,
manche mit großem Enthusiasmus. In diesem Zusammenhang symbolisch geworden ist
Honneggers Pacific 231, einer schweren amerikanischen Dampflokomotive. Vor allem
im Balkan integrierten Komponisten wie Bartok und Kodaly folkloristische Einflüsse in
ihre Musik.
Nach einigen Vorstudien durchbrach Schönberg, dicht gefolgt von Skrjabin, erstmals
1909 im Klavierstück op. 11,1 die Tonalität endgültig. Schönberg steht symbolisch für die
größten Neuerungen der Zeit. Er ersetzt die Tonalität durch eine „Klangfarbenmelodie“, die mit jedem Ton wechselt und Melodie, Harmonik und Rhythmik durch ein
eigenes Ordnungssystem von Helligkeit, Dichte und Abfolge entgegenstellt (und steht
damit ganz im Gegensatz zu dem, was die traditionelle Auffassung der Klangfarbe
zutraut, siehe Kapitel 2.3). Er steigert das expressive Element der Musik bis zum
25
DTV Atlas zur Musik 2, hrsg. von Ulrich Michels, Kassel 1997, S. 519
28
Extrem (beispielsweise in „Das Buch der hängenden Gärten“ 1808/09 und „Pierrot lunaire“
von 1912) und begründet damit die kurze Periode des Expressionismus mit.
Die „Neue Musik“ bis 1920 litt aber nach der Aufkündigung aller traditioneller
Strukturen an Strukturmangel und extremer Kürze. Es muss aber betont werden, dass
trotz der Aufkündigung der Tonalität viele andere Parameter der Musik immer noch
ihre Gültigkeit hatten. Die Musik als Sprache und Ausdruckssystem blieb bei Schönberg
immer erhalten.
Hinzu zur Atonalität trat die „Emanzipation der Dissonanz“. Schönberg wollte
erreichen, dass der Hörer den komplexeren Schwingungsverhältnissen dissonanter
Intervalle einen gleichwertigen Platz neben den konsonanten Intervallen einräumte
(statt sie als auflösungsbedürftige Spannung zu empfinden). Damit wollte er die
traditionelle Geschmacksbildung, die zu sehr an alten Mustern der Zentrumsbildung
hing, ersetzen.
In den 20er Jahren entwickelte Schönberg dann an Stelle der alten, natürlich gewachsenen Ordnung der Tonalität eine künstliche, die berühmte „Zwölftontechnik“.
Der bereits in der Einleitung erwähnte Drang nach zusätzlicher Kontrolle des
Komponisten über das Klangmaterial führte zur Zunahme der Determinierung, und
zwar nicht auf Grund von konventionierten Stilbedeutungen, sondern dem
Komponisten direkt unterworfen, und mit einer neuen mathematischen Systematik. Das
Gesetz der Zwölftonreihe war, dass jeder einzelne Ton der Reihe erst wiedererscheinen
konnte, nachdem alle anderen Töne einmal erschienen waren. Alle 12 Halbtöne unseres
europäischen Tonsystems waren enthalten. Die nötigen Variationsmöglichkeiten
wurden durch Umkehrformen (Umkehrung, Krebs, Spiegel, usw.) erreicht. Die Reihe
war dabei in der Behandlung eine Art Thema, oder Melodie, die begleitenden Stimmen
waren in ihrer Ausführung zunächst nicht so strengen Gesetzmäßigkeiten unterworfen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass gleichzeitig mit der Entwicklung ganz
neuer Formen um Schönberg herum, mit Igor Stravinsky ab den 20er Jahren eine
Rückbesinnung auf klassische Formen im sogenannten „Neoklassizismus“ stattfand.
Damit einher ging eine „Anti-Ausdrucks-Ästhetik“26 gepaart mit klassischem Formideal.
Sie wurde jedoch bewusst tonal verfremdet. Auch hier vorherrschend war der Drang
26
DTV Atlas zur Musik 2, S. 531
29
nach Determination. Stravinsky: „je mehr die Kunst kontrolliert, begrenzt und
gearbeitet ist, um so freier ist sie“27. Die Forderung hinter dieser Musik war, mehr zu
einer bodenständigen, objektiveren „Alltagsmusik“ zurückzukehren, weg von Gefühl,
Subjektivität und Ornament. Ihr fehlt aber, entgegen, der „echten“ Klassik die lyrische
„Unschuld“ und Weltenharmonie und so wirkt sie oft kühl und distanziert28.
Verzerrung und Ironie ersetzten gepaart mit Bi-Tonalität häufig traditionellen Ausdruck
und das Bemühen um tiefen, sich mitteilenden Ausdruck. Sinnbild dafür ist u.a. Charles
Ives in den USA geworden. Auch der Jazz machte sich in vielen Kompositionen,
insbesondere in den USA bemerkbar. George Gershwin, Charles Ives und Aaron
Copland sind (unterschiedlich stark) davon beeinflusst. Der frische, rhythmisch betonte,
aber auch in der Harmonik reizvolle Musikstil mit seinem hohen Improvisationsanteil
reizte viele Komponisten, bis hin nach Russland zu Schostakowitsch.
Im Zuge der sogenannten „Seriellen Bewegung“ in den 50er Jahren wurden zunehmend
auch andere Parameter der Musik seriell, das heißt in geplanten Reihensystemen,
durchorganisiert. Die Stufe der Determinierung nahm zu. Durch simultane Verwendung
mehrerer Reihenstrukturen wurde das wahrnehmbare, hörbare Klangbild zunehmend
punktuell. Zusammenhänge wurden immer schwieriger hörend zu erkennen, obgleich
perfekt durchrationalisiert. Hörbare und komponierte Struktur drifteten zunehmend
auseinander.
Die fortschreitende elektrotechnische Entwicklung eröffnete ganz neuen Klangwelten.
Die elektronische Musik ab etwa 1948 kennt zwei grundsätzliche Klangerzeugungsmethoden. Einerseits die Verfremdung und Verzerrung natürlich erzeugter Klänge und
Geräusche (Sinnbild für die „Musique concrète“ um P. Schaeffer und P. Henry),
andererseits die elektronische Generierung völlig neuer Klänge (die eigentliche
„Elektronische Musik“ um Stockhausen und Edgar Varèse).
Neben der (gemäßigten) „Neuen Musik“ hat vor allem die avantgardistische Musik des
20. Jahrhunderts, von den Anfängen bis heute, auch eine Geschichte der Exklusivität
und Elitenbildung wie nie zuvor. Hervorgerufen durch die starke Ablehnung im breiten
Publikum angesichts des Ausmaßes und der Geschwindigkeit der ästhetischen
27
DTV Atlas zur Musik 2, S. 531
28
DTV Atlas zur Musik 2, S. 533
30
Veränderungen, und nur verehrt und unterstützt von einer kleinen Gemeinde von
Erneuerern, Intellektuellen und Kunstgönnern, zog sie sich zunehmend aus der
Öffentlichkeit zurück in kleine private Veranstaltungen und exklusive Festivals29.
Neben einigen fortschrittlichen Universitäten griff allenfalls der Rundfunk in seinem
Selbstverständnis als Kulturträger die avantgardistische Musik auf und protegierte sie
immer wieder mit spektakulären Konzertmittschnitten, erklärenden Sendereihen und
technischer Ausstattung.
Ich bin meinerseits der Ansicht, dass nicht nur die Schnelligkeit der Entwicklung und
die große Vielfalt der Stile dafür verantwortlich war, dass große Teile, vor allem der
avantgardistischen Musik bis heute in der breiten Öffentlichkeit so wenig Fuß gefasst
hat, sondern auch gerade die Entsubjektivierung, Intellektualisierung und Komplexität
der Struktur und Musiksprache. Musik teilt sich vielfach nur noch mit Hilfe verbaler
Erklärungen wirklich mit und verliert damit ihren (fast) rein ästhetischen Charakter.
Manchmal ist an die Stelle der ästhetischen Botschaft die reine Vorstellung eines
Kompositionsprinzips getreten, oftmals mit dem Ziel, den Hörer zu einem neuartigen
Hörverständnis oder sogar zur Änderung seines Selbstverständnisses im Bezug auf seine
gesamte Selbst- und Umgebungswahrnehmung zu erziehen. Wir werden im Bezug auf
Cage unbedingt auf diesen Punkt zurückkommen müssen. So tritt die Bedeutung
gänzlich hinter der Form zurück. Aber natürlich muss betont werden, dass dieses nicht
für alle in diesen Kontext einbezogene komponierte Musik gilt. Der DTV-Atlas sieht
ebenfalls ein erneuertes Selbstverständnis von Musik:
„Die alten ästhet. Gestaltungsprinzipien der Musik als einer der schönen Künste werden
z.T. radikal geleugnet. Musik muß nicht mehr unbedingt schön oder harmonisch sein,
sondern vor allem wahr, also auch häßlich. Ziel ist nicht die Erbauung, sondern die
Erschütterung des Menschen[...]“30
Diese Feststellung halte ich persönlich für eine der wichtigsten und in ihren
Konsequenzen am weitreichsten greifenden. Die Musik hat im 20. Jahrhundert ihre
traditionelle Rolle verlassen und neues Gebiet betreten. Offenbar können und wollen
ihr viele Menschen zur Zeit nicht dorthin folgen. Dies gilt auch für Teile der Hörer der
29
DTV Atlas zur Musik 2, S. 547
30
DTV Atlas zur Musik 2, S. 521
31
sogenannten „E-Musik“, die sich hauptsächlich auf die Musik vergangener Jahrhunderte
beschränken. Davon ist ebenfalls die Musikerziehung betroffen. Die Heranführung
junger Menschen an speziell avantgardistische Musik mit ihren neuen Konzepten ist
kaum rudimentär angelegt. Damit greift die Konfrontation dieser Musik mit einem voll
ausgebildetem traditionellen Musikverständnis natürlich meist ins Leere.
Auf diese Probleme stößt Cage mit seinen neuen Konzepten und seiner neuen
Musiksprache selbstverständlich auch. Doch seine Reaktion darauf ist eine ganz
Spezielle.
32
4. C AGES E NTWICKLUNG HIN ZU EINER NEUEN IDEE
VON M USIK
Ich habe hier in dieser Arbeit darauf verzichtet, die Biographie von Cage darzustellen.
Sie ist gut dokumentiert und überall nachzulesen. Für empfehlenswert halte ich die
Cage-Biographie von David Revill mit dem Titel „Tosende Stille“31, auf die ich mich im
Laufe meiner nächsten Kapitel oft beziehen werde. Sie bietet eine ihm wohlgesonnene,
aber nicht unkritische Betrachtung von Cages Leben mit einigen Sonderkapiteln, die
näher auf einige wenige zentrale Aspekte in Cages Schaffen eingehen. Selbstverständlich
wird aber auch auf eine Vielzahl anderer Quellen, nicht zuletzt von Cage selbst,
eingegangen. Ich möchte an Stelle der Biographie einige Charaktereigenschaften,
Umstände und Zeitpunkte herausheben, von denen ich (auf Basis des Biographen)
glaube, dass sich daran Richtungsentscheidungen in Cages Leben ablesen lassen und
somit das Klangphänomen sowie die dahinterstehende Kunstphilosophie zumindest
teilweise erklären.
Meine These ist, dass nicht in erster Linie äußere Begleitumstände, wie etwa bestimmte
Richtungsentwicklungen
der
Zeit
für
Cages
Entwicklung
eines
neuen
Musikverständnisses die Hauptgrundlage bilden (obwohl er sicherlich auch von
verschiedensten Einflüssen profitiert hat), sondern vielmehr zum großen Teil auf eine
bestimmte Entwicklung seiner Biographie und seine Persönlichkeit zurückzuführen
sind. Dabei ist selbst-verständlich Vorsicht in der Interpretation geboten, jedoch Cage
hat sich selbst meist dazu geäußert, so dass die Schlüsse auf keinen Fall aus der Luft
gegriffen sind.
Ich werde in der Betrachtung über einige Schlüsselaspekte von Cages Musik - in
Themengebiete gegliedert - Jeden mehr oder minder einzeln besprechen. Nicht immer
einfach ist dabei die saubere Trennung der Aspekte voneinander, da sie oft eng
miteinander verbunden sind und sich gegenseitig erklären. Aus Gründen der Systematik
werde ich dennoch versuchen, sie getrennt voneinander zu behandeln.
31
David Revill, Tosende Stille - Eine John-Cage-Biographie, Deutsche Ausgabe, München 1995
33
Doch zunächst möchte ich vom Hörerlebnis ausgehen, die auffälligsten Merkmale der
Musik ansprechen, und anschließend auf die einzelnen Kapitel weiterverweisen.
Wenn man sich Cages Music of Changes von 1951 anhört, fällt als erstes die (scheinbare?)
Zusammenhangslosigkeit der Töne auf. Der Hörer steht vor einem Fluss an Tönen, die
scheinbar ziellos, mal dichtgedrängt, mal tröpfelnd, auf den Hörer zuströmen. Sie
werden weder von einer zusammenhaltenden Tonalität gebunden, die die Töne nach
ihrer akkordischen Zugehörigkeit bündeln und von einander abgrenzen würde, noch ist
eine Strukturierung des Klangbildes nach zusammenhängenden Linien oder Akkordstrukturen zu erkennen. Die Strukturierung des Klangbildes nach „oben“ und „unten“
gelingt gar nicht, da kein Ton dem anderen in irgendeiner logischen Reihenfolge zu
folgen scheint und so weder Bass-Linien noch Diskant-Melodien, ja nicht einmal
geschlossene Klangflächen in Erscheinung treten. Es gibt keinerlei Bewegung „zu
irgendwas hin“, oder „von irgendwas weg“. Die Dynamik ist in ihrer Gesamtheit nicht
auszumachen, da sich ständig laute und leise Klänge abwechseln und sogar
überschichten. Die Musik macht einen sehr punktuellen Eindruck, die kurzen Töne
scheinen zu überwiegen (das dieser Eindruck zum Teil trügerisch ist, werde ich noch im
Zusammenhang mit der zugrundeliegenden Aleatorik ansprechen). Auch Großstrukturen im traditionellen, bedeutungstragenden Sinne sind nicht auszumachen,
obwohl sich Teile durch Pausen voneinander absetzen. Nicht einmal die Rhythmik
schafft irgendeine Art von Struktur, obwohl doch sie normalerweise eine der
augenfälligsten strukturbildenden Elemente ist. Es ist sogar nicht ganz unproblematisch,
von „Rhythmik“ überhaupt zu sprechen, denn es gibt keinerlei erkennbare regelmäßige
Zeiteinheiten, die eine Art von Struktur oder gar ein durchgehendes Tempo erkennen
lassen.
Kurz, es gibt keinerlei Kontur, keine konventionellen Elemente, an denen sich der aufs
Sortieren, Katalogisieren, Orientieren, Einfühlen und Wiedererkennen geschulte Geist
festhalten kann. Der ratlose Hörer, gewohnt, eine mitvollziehbare, mit Inhalten
gespickte Botschaft zu empfangen, begegnet einem „Kauderwelsch“ an Klangereignissen, das er wohl aufnehmen, aber nicht verarbeiten kann. So bleibt die erhoffte
„Botschaft“ aus. Aus welchem Grund auch immer teilen sich keine Inhalte mit. Man
fragt sich, aus welchem Grund die Klangereignisse überhaupt stattfinden, möchte man
34
als Zuhörer doch Teil haben an Gedanken und Gefühlen des Komponisten oder des
Interpreten,
reich
geschmückte
Figurationen
oder ausdrucksstarke
Klänge
mitempfinden. Keine Spannung und Entspannung nimmt den Hörer in Anspruch,
obwohl es an Dissonanzen objektiv gesehen nicht mangelt. Nein, auch kein
mitreißender Schwung „fährt in die Beine“. Nun, jeder Typ hört anders, manche mögen
auf synästhetische Farben warten, andere, wie bei einer Geschichte, durch ein
labyrinthisches Konstrukt schlüssig und zwingend zu einem bestimmten Finale geführt
werden. Alles das bleibt aus. Mancher traditionell geschulte Hörer gibt hier auf und
„schaltet ab“. Vielleicht gibt es noch einen einzigen Trost. Was man da hört, ist
zweifelsohne ein Klavier, und der Interpret spielt (offenbar wahrheitsgetreu) aus Noten,
also hat man doch noch eine Sicherheit: Man hört gerade „Musik“.
Doch diese Sicherheit ist einem beim Anhören der Aufnahme der Variations I von 1958
auch noch genommen. Es beginnt mit klassischer Musik aus einem Radio, welches von
einem barbarischen Knall, mit Splittern und Bersten von Material durchbrochen wird.
Mehr Knallgeräusche folgen, die Radiosender wechseln. Ab und zu hört man
Klaviergeräusche, wenige konventionell erzeugte Töne, auf den Saiten wird gezupft und
gekratzt. Klopfen und Schlagen auf alle Teile des Instrumentes. Man hört lächerliche
Pfeiftöne, offenbar produziert von Kinderspielzeug. Nicht zu überhören: Das
Publikum. Von Anfang an Lachen, anfangs gemischt mit ärgerlichem Zischen, was bald
verebbt, aber auch immer Rascheln, Knacken und alle bekannten Geräusche, die ein
Publikum normalerweise macht. Die Geräusche überwiegen quantitativ die „Töne“ und
folgen offenbar keinerlei Ordnung. Zwar ist das einzelne Klangereignis in seiner
Herkunft nachvollziehbar: Mit wenig Erfahrung lassen sich allein vom Klangereignis
her beinahe alle Geräusche einigermaßen mühelos in ihrer Erzeugung erklären. Die
Vielzahl der Geräusche erinnert manchen möglicherweise an ein Hörspiel. Man hört
eine „Situation“. Nur der übergeordnete „Sinn“ davon wird nicht klar. Die Wahl des
verwendeten „Instrumentariums“ scheint keiner logischen Ordnung zu folgen. Zudem
sind alle in der Music of Changes erwähnten Beobachtungen auch hier gültig. Man fragt
sich: Was soll das alles?
Wenn man sich dieser Kunst nähern will, so muss man vieles Altbekannte über Bord
werfen, und den Begriff Musik ganz neu definieren. Da Cages Lebensweg eine
35
Entwicklung darstellt, die ihn immer mehr von dem „normalen“ Zuhörer trennt, macht
es Sinn, wenigstens teilweise chronologisch im Sinne seines Lebenslaufes vorzugehen.
Cage war anlagebedingt neugierig auf Neues und Unbekanntes. Der erste Abschnitt
(4.1) beschäftigt sich demnach erst einmal mit Cages Charakter und seiner
Grundeinstellung zur Musik in ihrer tonalen Gestalt und der Rolle seines Schaffens
dazu.
Schon früh experimentierte er mit Geräuschen. Er wollte auch den nicht-etablierten
Klängen ein „Tor“ zur Musik öffnen. Demnach wollen wir uns im Kapitel 4.2 mit den
Geräuschen beschäftigen und bereits zu dem vordringen, was er später dann mit dem
Begriff „Allklang“ verband. Hier her gehört thematisch (wenn auch nicht
chronologisch) die wichtige Idee der Stille. Die Isolation und Zusammenhangslosigkeit
der Töne, bzw. die Zerstörung aller Tonbeziehungen wird näher beleuchtet, und was
damit erreicht werden soll. Hier treten sicherlich die radikalsten Neuerungen im
Klangbild auf.
Cage hatte mit allem, was traditionell strukturbildend wirkte, so seine Probleme. Schon
im Kapitel 4.2 werden wir über Tonhöhenorganisation und Tonalität gesprochen haben
und im Kapitel 4.3 möchte ich mich dann der Struktur im Allgemeinen und der Rolle
der Zeit darin widmen. Wir werden auf die Begriffe „Moment“ bzw. „Momentform“ zu
sprechen kommen.
Cage hatte mit seiner experimentellen Musik in den 30er und 40er Jahren schon früh
wenig Erfolg beim Publikum. Er merkte, dass die Hörer scheinbar seine musikalische
„Sprache“ nicht verstanden und mit Unverständnis auf seinen persönlichen Ausdruck
reagierten. Seine sehr eigene Antwort darauf ist der Rückzug seiner Persönlichkeit aus
seiner Musik. Damit zusammen hängt seine Beschäftigung mit fernöstlicher Philosophie
in den späten 40er und Anfang der 50er Jahren, erst der Indiens, dann des Japanischen
Zen. Im Themenkomplex 4.4 werde ich also auf diese Aspekte eingehen und seine
Auffassung von Zen und die musikalischen Konsequenzen mit anderen Ansichten über
Zen vergleichen. Mit der Zerstörung von allen Leidenschaften in der Musik und die
Rolle des Klangs im Produzierenden und im Rezipienten werden essentielle Fragen
musikalischer Ästhetik aufgegriffen.
Aus dieser Beschäftigung mit Zen ergeben sich weitere Konsequenzen. Cage hat sein
musikalisches Bild in den 50er Jahren ganz umdefiniert und völlig neue Anforderungen
36
an den Hörer gestellt. Seine linksradikale „anti-politische“, anarchistische Einstellung
in bezug auf die Gesellschaft, die er auf seine Musik übertragen hat, wird uns in Kapitel
4.5 beschäftigen u. a. unter dem Stichwort „Offenheit für alles“, die Idee von „Musik
und Leben“ wird angesprochen.
Aus seiner veränderten Einstellung zum Hören von Musik und seiner Beschäftigung mit
anderen Künsten resultieren veränderte Darstellungsformen.
Das sehr von traditionellen Vorstellungen differierende Bild des „Konzertes“ mit seiner
Einbeziehung der Zuhörer und dem Prinzip der Simultanität wird uns hier im Kapitel
4.6 beschäftigen, wie auch seine persönliche Auffassung von Notation.
Dem wichtigen Aspekt Aleatorik bzw. Indetermination werden wir uns am Ende in Kapitel
4.7 zuwenden. Wir werden dann in Kapitel 5 noch einmal auf die Variations I und Music
of Changes (Buch I) zurückkommen und beispielhaft daran untersuchen, ob und in
welcher Form der Zufall hier wirklich eine Rolle spielt, welche weiteren wichtigen
Eigenschaften am deutlichsten zu erkennen sind, und was das im Zusammenhang zu
bedeuten hat.
Am Schluss dessen stehen wir sicherlich vor einem rauchenden „Trümmerhaufen“
musikalischer Konventionen. Ich werde in Kapitel 6 eine kurze Reflexion darüber
wagen, ob dieser Trümmerhaufen den Namen „Musik“ noch verdient, und wie sich
Cage dazu selbst äußert und werde die Arbeit damit abschließen.
4.1 C AGES P ERSÖNLICHKEIT - N EUGIER AUF
U NBEKANNTES UND DER E NTSCHLUSS, EINEN
EIGENEN W EG ZU BESCHREITEN
Am Anfang meiner Betrachtungen möchte ich mich mit Cages Einstellung zu Musik
und seinen persönlichkeitsbezogenen Anlagen beschäftigen. Meine Ansicht ist, dass
neben den Schlüsselerlebnissen, die ich in den folgenden Teilkapiteln versuchen werde
darzustellen, und selbstverständlich auch Vorbildern und gesellschaftlichen Einflüssen,
die vermutlich in dieser Arbeit etwas zu kurz kommen werden, immer ein Stückweit
37
seine Persönlichkeit die Voraussetzungen für die Richtungsentscheidungen seiner
Ästhetik verantwortlich sind.
Geboren ist Cage am 5. September 1912 in Los Angeles. Dabei ist nicht ganz unwichtig,
dass er der Sohn des innovativen Erfinders John Milton Cage war, der selbst „nicht nur
Praktiker, sondern auch ein Visionär“32 war und u.a. das erste Wechselstromradio baute,
sich mit elektromagnetischen Feldern und der U-boottechnik befasste. Sein Sohn John
jnr. hat wohl den selben Hang zum Pragmatismus und zum Visionären geerbt. Sein
Lehrer Schönberg hat einmal über Cage gesagt: “Natürlich ist er kein Komponist,
sondern ein Erfinder - ein genialer Erfinder“33.
Meine Interpretation dessen führt dahin, dass Cage mehr nach außen als nach innen,
mehr auf „Vision und Aktion“ als auf „Reflexion und Emotion“34 gerichtet war. Er hat
sich mit der Emotion notgedrungen vielfach befasst und sich in Gesprächen oft darüber
äußern müssen, warum er sie zunehmend aus seiner Musik verbannt hat. Seine
Begründung war immer, Töne hätten keine Emotionen, lediglich Menschen hätten
Welche. Davon wird aber später noch ausführlicher die Rede sein. Wie bereits zu
Anfang in der Einleitung erwähnt, war er von einem stetigen, ruhelosen Drang nach
Neuerung und Fortschritt besessen. Sobald er etwas geschaffen hatte, warf er sich sofort
auf das Nächste, Andere, Neuartige. Sein berühmtes Statement: „Meine Lieblingsmusik
ist die Musik, die ich noch nicht gehört habe [...] Ich höre nicht die Musik, die ich
schreibe. Ich schreibe, um Musik zu hören, die ich noch nicht gehört habe. So bin ich ich bin am meisten an dem interessiert, was ich noch nicht getan habe. Aber [...] wenn
ich an dem interessiert sein muß, was ich getan habe, so bin ich immer an dem zuletzt
Geschriebenen interessiert.“35 Ist überall nachzulesen. Sicher hat man als Leser solcher
Flaggschiff-Statements (die es bei Cage in größerer Anzahl gibt) immer auch das Gefühl
der propagandistischen Übertreibung, jedoch passt sie in diesem Fall ganz gut zu Cages
Biographie.
32
Revill, Tosende Stille, S. 32 .
33
Zitat aus Revill, Tosende Stille, S. 68 .
34
Revill, Tosende Stille, S. 24 .
35
Revill, Tosende Stille, S. 25 .
38
Zudem war er mit einer (für seinen Lebensweg essentiellen) Portion Optimismus
gesegnet. Revill schreibt: „Mit der Unbekümmertheit seines Handelns geht eine
ungewöhnlich einfache und positive Art der Lebensbewältigung einher. [... Cage: ] »Ich
habe das Gefühl, daß Optimismus ein natürlicher Zustand des menschlichen Verhaltens
ist«“36.
Cage war ein guter Schüler. Es wird berichtet, dass er die Abschlussprüfung an seinem
College mit der höchsten Punktzahl der Geschichte der Schule abschloss. Es war lange
nicht klar, dass Cage die Laufbahn des Komponisten einschlagen würde. Nach dem
Collegeabschluss dachte er zuerst an eine kirchliche Karriere, wurde aber von einem
Geistlichen, bei dem er vorsprach, abgewiesen und verlor bald das Interesse daran. Er
war von Anfang an vielseitig interessiert und begann gleichzeitig mit den ersten
Kompositionsversuchen 1930 auch an zu malen und sich für Architektur zu
interessieren37.
Cage war offenbar nicht mit traditionellen musikalischen Fähigkeiten gesegnet, wie
vielerorts zu lesen ist. Insbesondere hatte er keinen Sinn für Harmonik und machte
trotzig um die Mitte der 30er Jahre aus dem Mangel eine Tugend „und konzentrierte
sich fortan auf die experimentelle „Organisation von Klang“ “38.
Rainer Riem zitiert in seinem Artikel mit dem Titel „Noten zu Cage“39 Stockhausen, der
einige Zeit mit Cage befreundet war, zu diesem Thema: „Cage ist der verrückteste
Kombinationsgeist, der mir begegnet ist; er ist weniger ein Erfinder - als den man ihn
gewöhnlich bezeichnet - als ein Finder; er hat zudem jene Gleichgültigkeit allem
Bekannten und Erfahrenen gegenüber, die für einen Forscher notwendig ist; ihm fehlt
hingegen die unausweichliche klangliche Vorstellungskraft, das Visionäre, das
heimsucht“.
Revill hebt hervor, dass Cage zwar ein „feinfühliger Spieler“ war, der einen „schönen
36
Revill, Tosende Stille, S. 26 .
37
Musikkonzepte, Sonderband John Cage I, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Rihm, München 1990, S. 155-
162 .
38
„Die Musik des 20. Jahrhunderts“, Handbuch der Musikwissenschaft 7, hrsg. von Carl Dahlhaus, Laaber 1984,
S. 330.
39
„Noten zu Cage“, in: Musikkonzepte, Sonderband John Cage I, S. 100. (Siehe Anmerkung 55 )
39
Anschlag“ und „ein Gefühl für natürlichen Fluss“ hatte, aber „seine Unfähigkeit in
bezug auf [andere] traditionelle musikalische Fähigkeiten [feiert]. [Cage:] »Ich kann nicht
rein singen« [...] »In Wirklichkeit habe ich keinerlei musikalische Begabung«. William
Duckworth gegenüber betonte er, er könne keine Melodien erinnern und behalten;
immer komme ein Augenblick, sogar bei den Melodien, die er sehr häufig gehört hat, da
er sich nicht mehr daran erinnern könne, was als nächstes kommt. [Cage:] »Alles was in
der Musik mit Tonhöhe zusammenhängt, entgeht mir [...] ob ein Ton zu hoch oder zu
tief ist, ist für mich wenig ausschlaggebend«“40. Cages Schwierigkeiten mit Schönberg
gegen Ende ihrer gemeinsamen Arbeit in den 30er Jahren war zum Teil auch darin
begründet, dass er insbesondere kein Gespür und kein Interesse an Harmonik hatte, die
für Schönberg eine zentrale strukturbildende Grundlage hatte.41
Ob diese Behauptungen über seine musikalischen Fähigkeiten wiederum in ihrer
Radikalität eine Übertreibung sind, ist nicht so wichtig; prinzipiell glaubhaft werden sie
schon bei der Betrachtung darüber, wie wenig sich Cage in seinem Schaffen um (die
Aussagekräftigkeit einer) Tonhöhenorganisation gekümmert hat. Neben seinem zu
Schau getragenen Stolz gegen die ihm angeblich fehlenden Fähigkeiten reagierte er
zuweilen bissig gegen die musikalischen Konventionen. Seine Ansicht über den Leitton
deutet das an: „Man schreite auf eine Art und Weise fort, die die Präsenz eines Tones
voraussetzt, der nicht wirklich präsent ist; dann halte man alle Leute zum Narren, indem
man nicht bei diesem Ton landet, sondern ganz woanders. Wer wird zum Narren
gehalten? Nicht das Ohr, sondern der Geist“42. Diese Aussage drückt seine
(wohlbekannte) Opposition gegen alle Tonbeziehungen aus. Eine sehr außergewöhnliche Ansicht, da die Herstellung von Tonbeziehungen im Hörer meines
Wissens eigentlich vorher noch von niemandem in Frage gestellt wurden. Diese
Einstellung hängt unter anderem mit seiner veränderten Weltsicht infolge der
Beschäftigung mit Zen, ab der Mitte der 40er Jahre zusammen. Mehr dazu in Kapitel 4.4
und 4.5 .
40
Revill, Tosende Stille, S. 41-43 .
41
Revill, Tosende Stille, S. 74 .
42
Revill, Tosende Stille, S. 42 .
40
Eine weitere besondere Charaktereigenschaft ist seine Zähigkeit und das
Durchhaltevermögen, mit dem er seine Ziele verfolgte, gegen den Widerstand und die
oft niederschmetternde Kritik der Öffentlichkeit, auch beißendem Spott und wüsten
Beschimpfungen, und nicht zuletzt auch gegen eine jahrzehntelange Armut und
Hunger. Revill schreibt, dass der seit der frühen Jugend angelegte schöpferische
Ausdrucksdrang in Cage im Musikschreiben sein Ventil fand. Cage: „Wenn man die
Neigung verspürt, etwas zu machen [...] ist Schreiben eine Weise, ohne andere Übung
schöpferisch tätig zu sein“43. Nach seinen ersten Kontakten mit moderner Kunst (vor
allem in Paris 1931) war er der Meinung, dass man ohne besondere Vorkenntnisse
Kunst machen könne. Er hat sich nach seiner Ausbildung bei Schönberg in den frühen
30er Jahren bewusst wenig um die traditionellen Kunstregeln geschert.
Ich bin überzeugt davon, dass auch seine Grundeinstellung zu sich und seinen
Fähigkeiten durch einen Entschluss in eine bestimmte Richtung gegangen ist, die für
seine weitere Entwicklung Vorbedingung war. Cage liebte die Musik schon als Kind. Er
spielte gern Grieg und Chopin auf dem Klavier. Aber er ließ sich schnell durch bessere
Leistungen anderer und seine angeblich mäßige Singe-Fähigkeit verunsichern, berichtet
Revill. Später, mit wachsender Selbstsicherheit entschloss er sich, „jede Unzulänglichkeit eher als Schlüssel zum Erfolg denn als Ursache des Misserfolges zu werten.
[Cage:] »Ich hatte nicht das Bedürfnis, meine Mängel zu überwinden [...] Ich versuchte
eher, sie zu nutzen, indem ich sie in den Dienst der Erfindung stellte«“44. Wir werden
sehen, dass dieser Entschluss für andere Entschlüsse prägend war. Cage hat sich an
diesem Leitsatz orientiert, ganz gleich, was andere über ihn sagten. Er hat sich bei Kritik
an verschiedenen Stellen zunehmend radikalisiert, anstatt sich anzupassen. Auf
besondere Beispiele werde ich u. A. im Zusammenhang mit der „Offenheit für alles“
und dem „Allklang“ zurückkommen. Er ist seinen eigenen Weg konsequent zu Ende
gegangen. Er „ist ganz einfach John Cage. Er hat bestimmte anlagebedingte Neigungen,
und seine Musik sollte eine bestimmte spirituelle Ausrichtung haben. Er fand seinen
existenziellen Ort, eine Weltsicht, die ihn in die Lage versetzte, von seinen angeborenen
43
Revill, Tosende Stille, S. 48 .
44
Revill, Tosende Stille, S. 43 .
41
Gaben und Mängeln Gebrauch zu machen“45.
Ulrich Dibelius hat sich in seinem Artikel „Kompositorische Experimente“46 im
Abschnitt über John Cage mit der sich selbst extremisierenden Rolle des Avantgardisten
befasst. Er kritisiert, dass das „die Bahnen des Gewohnten verlassende“
kompositorische Subjekt nach einiger Zeit in Originalitätszwänge gerät, insbesondere in
den unmittelbaren Neuerungen nachfolgenden Werken, um trotz eines sich
„aufbrauchenden“ Unternehmungsgeistes sich seinem Ruf der bisherigen Originalität
würdig zu erweisen. Der Individualist „muß produzieren, was seinem Ruf entspricht,
also partout Ausgefallenes, Überraschendes, Abwegiges ersinnen. Damit „verfällt das
Besondere, Herausgehobene der initialen Idee, die den ersten künstlerischen Schub
verschaffte [...] dem abstumpfenden Zwang der Serie“.
So kritisiert er eine fortschreitende Radikalisierung, oder zumindest eine immerwährende Suche nach Neuem, und damit den möglichen Verlust der Schlüssigkeit einer
Ideologie. Das ist natürlich nicht zwangsläufig so, jedoch möglicherweise ein
berechtigter Ansatz von Dibelius’ Kritik an Cage. Leider bleibt bei Dibelius auf der
anderen Seite eine weitere Präzisierung und Erläuterung seiner Anschuldigungen aus,
inwieweit dieses Prinzip seiner Meinung nach wirklich bei Cage greift. Er bleibt sehr
allgemein, so dass der Leser des Artikels mit den Behauptungen im Wesentlichen allein
gelassen wird.
Es gibt noch einige andere Charaktereigenschaften von Cage, die unbedingt Erwähnung
finden müssen. Sie gehören jedoch in einen anderen Zusammenhang, und werden
deshalb im Laufe der nächsten Kapitel erläutert werden.
45
Revill, Tosende Stille, S. 233.
46
Ulrich Dibelius, Moderne Musik II 1965-85, München 1989, S. 113.
42
4.2 G ERÄUSCHE. D IE ISOLATION DER T ÖNE.
A LLKLANG. STILLE
Seit seinem Pariser Aufenthalt 1931 bis in die Mitte der 30er Jahre hat Cage innerhalb
der Bahnen des traditionellen 12-tönigen Tonsystems mit verschiedenen, u.a. seriellen
Verfahren experimentiert. Er erinnert sich nicht daran, vorher je ein besonderes
Interesse an Geräuschen gehabt zu haben47. Dann begann er sich für Schlagzeugkompositionen zu interessieren. Cage war nicht der Erste, der Geräusche in seine
Kompositionen einbezog. Bereits die Futuristen hatten in ihrer Begeisterung für die
technischen Fortschritte der Zeit bereits Maschinengeräusche in ihre Musik einbezogen
oder instrumental nachgeahmt. Möglicherweise hat Cage solche Kompositionen
gekannt. Er traf George Antheil, der in sein Ballet méchanique Industriegeräusche
einbezogen hatte. Cages Bekanntschaft mit Edgar Varése und Henry Cowell und der
Besuch von dessen Vorlesungen müssen ebenfalls Anreize in diese Richtung gegeben
haben. Cage schrieb 1935 sein erstes Werk („Quartet“) für Schlagzeug als Auftakt einer
Serie von Kompositionen für Schlagzeug, dass er in einer eigens gegründeten
Schlagzeuggruppe noch bis Mitte der 40er Jahre aufführte. Sie weckten sein weiteres
Interesse an Geräuschen. In der „Musik-Szene“ stieß Cage mit seiner sich bereits
radikalisierenden Tonsprache zunehmend auf Kritik. Seine interessantesten Befürworter
kamen aus meist anderen Kunstsparten, aus bildender Kunst, Theater und vor allem aus
dem Ballett, bzw. dem modernen Ausdruckstanz. Sein Freund und späterer Lebensgefährte Merce Cunningham war ein bedeutender Tänzer. In dem Zusammen-hang mit
dieser Kunstsparte liegt auch das Erlebnis, welches ihn zum „präparierten Klavier“
führte, eines der bekanntesten Errungenschaften seines Schaffens. Er war wiederum
nicht wirklich der Erste, der die traditionelle Klangerzeugung auf dem Klavier um
verfremdete Klänge erweiterte. Cage hat Cowells Banshee, das erste Werk mit der
direkten Behandlung der Klaviersaiten zur Tonerzeugung, gekannt und sehr geschätzt.
Cowell hatte jedoch lediglich mit den Fingern oder einem Stopfei die Saiten zum
47
Revill, Tosende Stille, S. 35 .
43
Schwingen gebracht. Außerdem hat Revill darauf hingewiesen, dass bereits in der
Unterhaltungsmusik zu der Zeit die Hämmer oder Saiten des Klaviers mit Materialien
bestückt wurden, um andere Instrumente oder Charakteristika, beispielsweise des
Cembalos zu imitieren, jedoch nie mit dem Hintergedanken der Schaffung ganz neuer
Klänge.
Offenbar hat Cage schon seit 1938 mit Saitenmanipulationen am Klavier
experimentiert48, jedoch für die Erfindung des präparierten Klaviers ist folgende
Anekdote bekannt geworden: Im März 1940 wurde Cage gebeten, bei einer
Tanzperformance mit afrikanischer Thematik als Komponist für jemand anders
einzuspringen. Er hatte nur eine Woche Zeit und die Bühne war zu klein, um ein
Schlagzeugensemble neben der Tanzfläche unterzubringen. Es stand nur ein alter
Flügel da, für den Cage nun gezwungen war, etwas zu schreiben. Nach längerer
fruchtloser Herumprobiererei kam er auf den Gedanken, die Saiten mit allerlei kleinen
Gebrauchsgegenständen zu präparieren, um durch die Raschel- und Scheppergeräusche
und die Tonverfremdung möglichst nahe an eine Schlagzeugcharakteristik
heranzukommen. Die Klangproduktion wurde außerdem unberechenbarer, was Cage
auch gefiel (hier kann vorausgenommen werden, dass das bereits ein stückweit
„Indetermination“ ist, die uns später noch beschäftigen wird). So entstand das erste
Stück „Baccanale“ auf einem präparierten Klavier. Die Idee wurde eine Zeitlang Cages
Markenzeichen.
Die Verwendung von Geräuschen ist eine Sache, doch Cage ist in seinem Werk noch
einen ideologischen Schritt weitergegangen. Angestoßen worden ist das (Revill zufolge)
von Oscar Fischinger, mit dem er in dieser Zeit zusammen einige experimentelle
Filmprojekte (und der dazugehörigen experimentellen Musik) durchführte. Revill
beschreibt das folgendermaßen:
„Eines Tages, mitten in der Arbeit, vertraute Fischinger Cage an: »Alles in der Welt hat
seinen eigenen Geist, und dieser Geist wird hörbar, wenn man ihn in Schwingung
versetzt.« »Das brachte mich auf Trab«, erinnert sich Cage. »Er setzte mich auf die
Fährte der Erkundung der Welt um mich herum, die seither kein Ende gefunden hat mit Schlagen und Strecken, Kratzen und Reiben an allem nur möglichen.« Cages
48
Revill, Tosende Stille, S. 95 .
44
Begeisterung für etwas, was ein anderer als recht wunderliches und folgenloses
Ansinnen aufgegeben haben würde, ist wohl nicht nur eine Bestätigung seiner Vorliebe
fürs Experiment, sondern auch ein erster Hinweis auf seine Auffassung der spirituellen
Dimensionen der Musik - die allerdings ihrem Wesen nach mit der Sinnlichkeit der
Alltagswelt verbunden ist. »Ich war kein Spiritist« sagt Cage »aber ich begann alles, was
ich sah, zu beklopfen«“49. Cage entwickelte sich in eine Richtung mit dem Ziel dessen,
was heute rückblickend „Allklang“ genannt wird. Der „Allklang“ geht davon aus, dass
alles in der Welt einen Klang hat, und man sich diesem „Klang“ öffnen und ihn
neugierig erkunden soll.
Hier wird noch eine ihm sehr eigene Ansicht über Musik deutlich, die ihn sein ganzes
Leben auf konsequenteste Weise begleitet hat. Cage geht es offensichtlich nie um geistige
Konzepte, oder Beziehungen, die hinter dem Klangereignis stehen, sondern immer nur
um die blanke Präsenz (oder Nicht-Präsenz) eines Tones, ohne irgendwelche
bedeutungsschwangeren Attribute. Diese verleugnet er auf verbohrteste Art, wo immer
er sich über Musik äußert. Diese Ansicht spiegelt sich natürlich unübersehbar in seinem
Werk. Dies unterscheidet ihn grundsätzlich von aller traditionellen Musikästhetik (Ich
habe das Modell des musikalischen Sinns und der Sprachhaftigkeit von Musik im
Kapitel 2.1 beschrieben). So neigen seine Klänge (spätestens ab Mitte der 40er Jahre)
zur völligen Zusammenhangslosigkeit. Der MGG beschreibt das (sich auf Konrad
Boehmer berufend) folgendermaßen: „Dem Gesamtwerk ist seiner gesamten Struktur
nach, das Prinzip der Vermittlung fremd, welches es durch bloße Setzung, Addition von
Material, ersetzt hat. Darin schon tendiert es zur Isolation der musikalischen
Elemente“50.
Seine Vorliebe fürs Experimentelle und sein Nach-außen-Gerichtetsein ließen ihn die
geheimnisvolle Anregung Fischingers aufgreifen und bereiteten den Boden für die neue
Orientierung, die sich allmählich auch direkt in seiner Musik niederschlagen sollte.
Diese neue Wahrnehmung von der Außenwelt interessierte ihn immer mehr und wurde
im Laufe der nächsten 10 Jahre zum zentralen Bestandteil seiner Musik.
49
Revill, Tosende Stille, S. 71 .
50
Martin Erdmann, Art. „Cage, John“, in: MGG 2 Personenteil, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel 2000,
Sp. 1568.
45
„Musik ist für Cage nicht das Resultat einer künstlichen Zusammensetzung von Tönen,
Klängen und Geräuschen, um ihnen künstlerische Bedeutung zu verleihen, sondern die
Organisation klanglicher Ereignisse, derart, daß sie als das erscheinen, was sie sind“51,
schreibt Eggebrecht dazu. Cage trat vehement für die „Gleichberechtigung“ der
Geräusche gegenüber der traditionellen Tonorganisation ein. Er redete deshalb auch
nicht gern von „Tönen“, sondern von „Klängen“, wobei die ganze Welt der Geräusche
damit einbezogen wurde. Cage: „Ich vertrete nicht den Standpunkt, den westlichen
Hörer eine bestimmte Einstellung aufzubürden, sondern sie zu überzeugen, daß es Klänge
gibt und daß diese Klänge, was immer sie sind, wert sind, gehört zu werden“52. Gemeint
sind neben dem Experimentieren mit der möglichen Anzahl von Klangeigenschaften
von Gegenständen auch die Produktion von „natürlichen“ Geräuschen des alltäglichen
Lebens. Er wollte den Hörer öffnen für das, was auf ihn zukommt und ihn so
verändern. Cage benutzte dazu nahezu alle Gegenstände. Er traf keine Auswahl nach
ästhetischen Kriterien. Begünstigt wurde diese Entwicklung jedoch auch von profaneren
Dingen wie seiner Armut; er konnte sich in den 40er und 50er Jahren konventionelle
Instrumente zum größten Teil gar nicht leisten. So musste er sich mit dem begnügen,
was er hatte, und begann, damit zu improvisieren.
Das zielt schon hin auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen, die über die reine
Musik hinaus auf das Menschenbild zielen. Die noch zu behandelnde „Offenheit für
alles“ und die ihm sehr eigene Interpretation von dem Bezug der Musik zum Leben und
ist thematisch kaum noch davon zu trennen. Wir werden da nahtlos ansetzen, wo wir
hier aufgehört haben. Jedoch muss der Chronologie halber gesagt werden, dass Cages
Interesse für Geräusche sehr viel früher noch angelegt ist (nämlich in der zweiten Hälfte
der 30er Jahre) als die totale Offenheit/Indetermination, oder die sich daraus
entwickelnde philosophische Dimension. Vorerst verband er die Offenheit der Klänge
noch mit einer Art rhythmischer Struktur. So vermied Cage Harmonie und
Tonhöhenorganisation zugunsten von anderen Parametern, wie beispielsweise der Zeit,
auf die ich ebenfalls in einem gesonderten Kapitel zurückkommen werde.
51
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 192.
52
Cage in: Für die Vögel (Deutsche Ausgabe), Berlin 1984, S. 259.
46
Für den Hörer bedeutet das also, dass er sich öffnen muss für eine Welt der
gleichberechtigten Klänge. Er muss eine Entdeckungsreise mitgehen, weg vom
„künstlichen“ Kunstgebilde und weg von den Tonbeziehungen, hin in eine Welt der
ästhetisierten „natürlichen“ Geräusche (hier würde allerdings der Begriff „naturidentisch“ vielleicht besser passen, da die „natürlichen“ Geräusche dennoch künstlich
im Konzert erzeugt werden). Der Hörer muss seinen ganzen Werkbegriff umdenken,
und ein Stück nicht länger als eine in sich stimmige Einheit sehen, die gedanklich
ineinander verwoben ist, sondern als ein Kontinuum aus existierenden Klängen. Es
kommt nicht mehr darauf an, einen Ton innerhalb einer bestimmten Ordnung zu
anderen Tönen in Beziehung zu setzen, oder Zieltöne vorauszuahnen (ob sie nun
kommen oder nicht), sondern die reine Präsenz eines Tones an sich ist „schön“. Obwohl
Cage sich im Laufe seines Lebens immer wieder elaboriert philosophisch darüber
äußert, ist diese Ästhetik im Grunde viel ursprünglicher, vielleicht könnte man fast
sagen „primitiver“ als diejenige früherer Jahrhunderte, da sie keinerlei geistige
Verarbeitung der sensuellen Reize beinhaltet. Sie fragt nicht einmal notwendigerweise
nach der Herkunft der Geräusche. Vom Geist wird nur verlangt, dass er ohne Urteil
oder Einordnung das „Signal“ offen aufnimmt, ohne sich im Vorhinein vor bestimmten
Reizen zu verschließen.
Diese Einstellung erinnert etwas an die frühgeistige Entwicklung eines Kindes, dass
offen staunend die Welt um sich herum aufnimmt, ohne dafür gleich geistige Kategorien
mitbekommen zu haben. Dieser naiven Offenheit trauern wir Erwachsenen gelegentlich
melancholisch nach. Hier setzt allerdings auch meine eigene Kritik an dieser geistigen
Haltung an. Ich glaube, dass es unser natürlich angeborenes Bestreben und unsere
unaufhaltsame Entwicklung ist, die auf uns einströmenden Signale nach einiger Zeit
einzuordnen, beurteilbar zu machen, und ihnen durch Beziehung zueinander einen Sinn
zu verleihen. Allmählich erfolgt die Auswahl und gegebenenfalls auch die Ablehnung
von Reizen. Das ist ein grundlegender Bestandteil des Reifeprozesses eines normal
begabten Menschen, der sich damit seine Umwelt begreifbar macht. Gelegentlich kann
das in der Übertreibung zur geistig einengenden Verkrustung und damit zum
verknöcherten Konservatismus führen, den man ja besonders den Gegnern der
avantgardistischen Kunst vorwirft; aber wenn man nach den Gründen sucht, weshalb
die Kunst von John Cage bei so wenigen Menschen wirklich Akzeptanz findet, so kann
47
man hier möglicherweise einen „Regelverstoß“ Cages gegen die natürliche geistige
Ordnungsbildung im Hörer feststellen, die vergeblich nach einer sinngebenden Regel
sucht. Cage begründet das mit einer veränderten Weltsicht infolge seiner Beschäftigung
mit fernöstlicher Philosophie, auf die wir in Kapitel 4.4 noch zu sprechen kommen
werden. Eine Konsequenz daraus ist auch, dass der Hörer zur Passivität verdammt ist.
Da jeglicher musikalischer „Sinn“ (im Sinne von Eggebrecht) aus der Musik gebannt ist,
bleibt dem „zur konzentrierten Passivität angehaltenen Hörer“53 keine Möglichkeit des
Mitvollzugs. Was bleibt, ist das bloße „Anschauen“.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass der normale Mensch sehr wohl
offen für Geräusche aller Art ist, deren Sinn er erkennt. Zur Verdeutlichung muss ich
noch einmal auf einen Vergleich zur Filmwelt zurückkommen. Beispielsweise ist es
auffällig, wie aufwendig die Nachvertonungen bei den großen Kinoproduktionen
gestaltet werden und mit welcher technischen Ausstattung sie wiedergegeben werden,
obwohl die Geräusche den Sinn einer Geschichte kaum unterstützen. Klangliche Reize
werden sehr wohl genossen, doch der Unterschied zu Cage ist (und das gilt über ihn
hinaus für viele avantgardistische Musik die mit Geräuschen arbeitet, beispielsweise die
musique concréte), dass die Geräusche zu ihrer Entstehung zuordbar sind und so in ihrem
Sinn verstanden werden. Besonders deutlich ist mir das mit der Geschichte des
musikalischen (Hör-) Wunderkindes Elias in der Vilsmaier-Produktion Schlafes Bruder54
geworden. Der Film arbeitet (in Übereinstimmung mit dem Thema) sehr viel mit
Klangreizen, auch (Umwelt-) Geräuschen, und fordert deren Genuss geradezu heraus;
doch der unmittelbare Klang steht immer in Beziehung zu seinem Auslöser und bleibt
damit nachvollziehbar. Auch bleiben die Klänge immer in einer Art akustischer
„Umgebung“, sie „passen“ quasi zueinander, niemals wird - wie das bei Cage im
Zusammenhang mit dem „Zufall“ der Fall ist - der Hörer überrascht und verwirrt durch
neuartige, das Umfeld in Frage stellende Klänge. Zur Trennung dieser Klänge von
ihrem musikalischen Umfeld hat sich Cage erfreulicherweise auch selbst in „Für die
Vögel“ (seinen Gesprächen mit Daniel Charles) geäußert:
„Ich weiß in der Tat, daß Watts an mich dachte, als er das schrieb[...] Sein Standpunkt
53
Dahlhaus, „Die Musik des 20. Jahrhunderts“, S. 330.
54
Schlafes Bruder, Regie Joseph Vilsmaier, nach einem Roman von Robert Schneider, Perathon Film
48
zur Musik war, daß Stadtgeräusche nicht herausgelöst und in einen Konzertsaal
verpflanzt werden sollten. Die Trennung der Klänge von ihrer Umgebung war, nach
seiner Meinung, tödlich. Gut, ich hab nie etwas anderes gefordert! Und es ist mein
tiefster Wunsch, daß die Leute letztendlich in ihrer eigenen Umgebung auf Klänge
hören. In ihrem natürlichen Raum“55.
Cage plädiert hier ebenfalls für eine Rückverpflanzung der Geräusche in ihre
umgebungsmäßige Heimat und betrachtet offenbar deren Darstellung in seinen
Performances als eine Art Zwischenstufe auf dem Weg zu einer permanent
ästhetisierten Wahrnehmung der Umwelt. Das Leben wird zur Kunst.
Die atemberaubend zwingende Schlussfolgerung daraus ist allerdings die, dass damit alle
Arten von Konzerten und Aufführungen, überflüssig würde. Sie würden nicht
gebraucht, weil das „Leben“ bereits die Gesamtheit der erfahrbaren Reize bereitstellt.
Außerdem wären sie auch gar nicht möglich, denn außer den natürlichen
Publikumsgeräuschen (die ja bei Cage eine wichtige Rolle spielen, wie ich in Kapitel 4.6
noch darstellen werde) wäre jede Art (absichtlicher) Klangerzeugung unnatürlich, weil
aus ihrem Umfeld gerissen. Diese Schlussfolgerung führt weiterhin bewundernswert
konsequent zu Cages Indetermination. Die Klänge dürfen nicht mehr intentioniert sein,
um nicht eine unnatürliche Realität zu kreieren. Meines Erachtens ist Cage jedoch bis
zur Schaffung seines „Stillen Stücks“ - heute allgemein bekannt unter dem Titel „4'33“
- in gewisser Weise inkonsequent, denn trotz dem Anspruch der Nicht-Intentionalität
der Klänge ist jede Klangproduktion im Moment ihrer Schaffung notwendigerweise
intentioniert. Nicht intentioniert ist lediglich die Art der Klänge, und damit ihr geistiger
Hintergrund. Und das führt zu Unverständnis beim Hörer, da er in jeder
Konzertsituation (richtigerweise!) davon ausgeht, dass die Klänge vom Ausführenden
absichtlich hervorgebracht werden, aber den Zusammenhang nicht erkennt. Die letzte
Konsequenz ist also bei Cage richtigerweise die Schaffung eines Stückes ohne
intentionierte Klänge, d.h. der „intentionierten Stille“, die also nicht als Provokation
gedacht ist, als die sie bei ihrer Uraufführung 1952 von Vielen verstanden wurde,
sondern die letzte Konsequenz ist, aus einer Kette von Gedanken, die möglicherweise
bei Cage ähnlich wie hier dargestellt abgelaufen ist. Cage nennt das Stück die
55
Cage Für die Vögel, S. 124.
49
„Gesamtheit der unintentionierten Klänge“, ich würde sie vielmehr als die „Realität der
unintentionierten Klänge“ bezeichnen.
Doch was heißt das für den Fortbestand der „reformierten“ Kunst? Schauen wir einmal
auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen: Kunst löscht sich hier selbst aus. Es gibt
keine absichtlich hervorgebrachte Kunst mehr. Darin wird sie eine Kunst der Isolation.
Durch das Fehlen einer absichtlichen (wie auch immer gearteten) kommunikativen
Botschaft sind keine Begegnungen zum gemeinsamen Kunsterlebnis mehr nötig (Dieter
Schnebel gibt mir in seinem Artikel „Wie ich das schaffe? - Die Verwirklichung von
Cages Werk“ recht)56. Jeder genießt einsam „seine eigene Kunst“ seiner eigenen
unmittelbaren Umwelt. Fakt ist die totale Individualisierung; ohne Möglichkeit des
Teilens eines gemeinsamen künstlerischen Erlebnisses, schon aufgrund der fehlenden
gemeinsamen Kriterien, da die Klänge in ihrem „unmittelbaren Sein“ keine vordefinierte oder verabredete Sinngebung haben. Sie ist Ergebnis einer vollständigen
Orientierung nach außen, ohne Mitteilung der inneren Welt eines Individuums: Die
Kunst als Brückenschlag zwischen den Menschen ist nicht mehr möglich, da dort wieder
Beziehungen und Bedeutungen vorausgesetzt werden, die über die reine Präsenz des
(Klang-) Ereignisses hinausgehen. Ob das die Kunst ist, die wir im 20. Jahrhundert zur
Bewältigung unserer sozialen Problemstellungen brauchten, bleibt meiner Ansicht nach
fraglich.
4.3 D ER M OMENT - Z EIT UND Z EITBEGRIFF.
STRUKTUR
Der Begriff Struktur (und auch Form) ist in Cages Schaffen zunehmend zurückgedrängt
worden zugunsten der Methode, die sein Denken ganz und gar eingenommen hat.
Konventionelle Strukturen (und Formen) boten sich bei Cage (dem Zeitgeist gemäß)
von vornherein nicht an; Tonalität oder Harmonie aufgrund seiner Abneigung dagegen
56
Musikkonzepte, Sonderband John Cage I, München 1990, S.53 .
50
ebenfalls nicht. Was sich aber bei Schlagzeugkompositionen offensichtlich anbot, war
die Dimension der Zeit, also eine Struktur durch den Rhythmus. So experimentierte
Cage in den 30er Jahren unter anderem eine Zeitlang mit einem Prinzip, das kleine
rhythmische Einheiten (Mikrostruktur) proportional auf die Großstruktur übertrug (und
andersherum) und nannte es entsprechend „mikro-makrokosmische rhythmische
Struktur“57. Diese wird uns aber als Übergangsphänomen nicht weiter beschäftigen.
Im weiteren Schaffen ist nach Heinz-Klaus Metzgers Ansicht eine zunehmende
„Desorganisation“ der Musik Ausdruck von Cages Abneigung gegen die traditionelle
Objektbildung in der Musik, die zu oft in ein erstarrtes Gebilde gegossen sind, was mit
dem natürlichen Fluss der Dinge nichts mehr zu tun hat58:
„Wohl bezeichnet Cage mit der Zertrümmerung des »obligaten Stils«, dessen
Ausbildung die abendländische Musik überhaupt ihre Verbindlichkeit verdankte, mit der
aller Objektbildung entgegengesetzten Tendenz seines Komponierens das absolute
antitraditionalistische Extrem. Sein Begriff des musikalischen Objekts trifft, was er an
der Tradition nicht mehr erträgt: daß die Themen und Gestalten in ihr wie geprägte
Gegenstände sind, die man stets wiedererkennt, auch wenn sie an einen anderen Platz
gerückt werden, daß das ganze Werk schließlich ein solches Objekt ist, buchstäblich ein
Ding, durch jede Aufführung bloß in seiner beharrenden Beschaffenheit wieder
repräsentiert [...] Bis vor kurzem hatte der Verlauf der Musikgeschichte ja in der Tat die
umgekehrte Tendenz gezeigt: ließ etwa noch Johann Sebastian Bach in seiner Notation
fast durchweg Kategorien wie Tempo, Phrasierung, Artikulation, Lautstärke,
Akzentuation offen, so daß diese in die Kompetenz der sinngemäßen Interpretation
fielen, so hat das Komponieren in der Folgezeit das alles stets zunehmend seiner
eigenen Disziplin unterworfen, in strikte Elemente des Kompositorischen es
verwandelt, und ist darüber zum Integralen geraten“.
57
Revill, Tosende Stille, S. 83 .
58
Bei meiner Lektüre von Heinz Klaus Metzgers Artikeln bin ich zu der Absicht gelangt, dass man seine
Aussagen manchmal mit Vorsicht betrachten muss, da er (wie auch sein Co-Herausgeber des Sonderbandes über
Cage, Rainer Riem) im „Eifer des Gefechts“ seiner verteidigenden Argumentation manchmal übers Ziel
hinausschießt und sich in unpräzisierte Pauschalaussagen und zuweilen üble Polemik versteigt. Sprachlich gepaart
mit einer unnötigen Überbetonung von Fach- und Fremdworten ist die Lektüre zuweilen unerquicklich. Trotzdem
sind auch bei ihm interessante Ideen und Sichtweisen zu finden, die eine Beachtung verdienen.
Sein Artikel: „John Cage oder die freigelassene Musik“, Musikkonzepte, Sonderband John Cage I, S.53 .
51
Metzger kritisiert hier in der gesamten traditionellen Musik die Bildung von
verbindlichen musikalischen Gestalten, die zunehmend in die berechnende Kontrolle
des Komponisten geraten. Cage demontiert demnach dieses Konstrukt durch seine
absichtliche Desorganisation und Nicht-Objektbildung (die ja mit der bereits
beschriebenen Dissoziation der Töne einhergeht) und stellt sie in die Freiheit des
Augenblicks. Ob Töne als zusammengehörig erkannt werden ist Sache des Hörers. Cage
möchte den Hörer befreien von vordefinierten Sinngebungen, die den Zuhörer auf
jeweils eine Interpretation festlegen. Cage selbst hat das in „Empty words“59
folgendermaßen ausgedrückt:
„A structure is like a piece of furniture, whereas the process is like the weather. In the
case of a table, the beginning and end of the whole and each of its parts are known. In
the case of weather, though we notice change in it, we have no clear knowledge of its
beginning or ending. At a given moment, we are when we are. The nowmoment. [...]
For some time now, I have preferred processes to objects for just this reason: processes
do not exclude objects. It doesn’t work the other way round.“
Übersetzung:
Eine Struktur ist wie ein Möbelstück, während ein Prozess wie das Wetter beschaffen ist. An einem Tisch sind Anfang
und Ende des Ganzen und aller Einzelteile bekannt. Beim Wetter haben wir keine genaue Vorstellung von Anfang
und Ende, obgleich wir gewisse Veränderungen wahrnehmen. An einem beliebigen gegebenen Moment sind wir,
wenn wir [dort] sind. Im Augenblick. [...] Seit einiger Zeit nun bevorzuge ich Prozesse den Objekten, aus diesem
einen Grund: Prozesse können Objekte beinhalten, das ist andersherum aber ausgeschlossen.
Nach Cage ist in der Starrheit der Objekte das Wesentliche nicht möglich: der Blick auf
den Moment, der den Hörer da „abholt“, wo er ihm begegnet. Objekte sind im Prozess
auch möglich, (nach seiner Ansicht) nicht aber Prozesse bei Objekten. Cages Argumentation ist hier jedoch nicht wirklich schlüssig, man denke beispielsweise an die
Veränderungsprozesse eines Themas durch konfrontierende Reibung mit einem
gegensätzlichen Thema in der Musik des 18. Jahrhunderts. Besonders bei Beethoven
werden so Objekte variiert, gedreht und gewendet; im Extremfall bis an die Grenze des
Erkennbaren. Dennoch gibt es immer ein Objekt, das von der Aufmerksamkeit
59
Cage: „The future of music“, Empty words, Middletown 1979, S. 178.
52
fokussiert wird. Diese Fokussierung lehnt Cage ab, da sie notwendigerweise eine
Selektion mit sich bringt und damit die „Offenheit für Alles“ nicht ermöglicht.
Cage wendet sich insbesondere gegen das in traditioneller Musik vorherrschende
Prinzip der Prioritätsbildung; besonders derjenigen, der sich die Zeit unterwerfen muss.
Sie wird organisiert, strukturiert, betont, in „wichtige“ und „unwichtige“ Zählzeiten
eingeteilt, in eine lineares Gerüst gesteckt. „Alle musikalische Form ist nichts anderes als
Abhandlung von Prioritätsverhältnissen in der Zeit“(Metzger)60. Cage dagegen setzt
(Metzger zufolge) alle Prioritäten außer Kraft und ersetzt sie durch die alle Objekte
gleichwertig betrachtende „Reihenfolge“. Als Methode bedient er sich unter anderem
der indeterminierten Notation, die wir aber noch in folgenden Kapiteln besprechen
werden. Die Hierarchielosigkeit wird in den 40er und 50er Jahren zu einem der
Grundprinzipien von Cage, resultierend aus seinen anarchistischen Tendenzen (s.
Kapitel 4.5). Eggebrecht zitiert Cage: „Ich interessiere mich für jede Kunst, insofern sie
kein in sich Geschlossenes ist, sondern etwas, was aus sich heraus geht, um sich mit
allen anderen Dingen gegenseitig zu durchdringen, selbst wenn diese auch zu den
Künsten zählen. Dabei wird allen diesen Dingen - jedem einzelnen - gleiches Gewicht
zuteil; keines wird als wichtiger angesehen als ein anderes“61. Es ist auffällig, dass
„Quantität“ eine größere Rolle spielte als „Qualität“62. Damit ist gemeint, Selektion und
Priorität durch Vielfalt zu ersetzen. Etwa kann man in einer Bemerkung von ihm sehen,
die er 1930 (in der Zeit vor seinem Unterricht bei Schönberg) über eine
(vorübergehende) Liebe für die Zwölftonmusik von Schönberg äußerte, wie Revill es
beschrieben hat: “Was Cage an der Zwölftonmusik so reizvoll fand, war, [Cage:] »daß
diese zwölf Töne alle gleich wichtig waren, daß keiner davon wichtiger war als ein
anderer. Es ergab sich ein Prinzip, das man mit dem eigenen Leben in Beziehung setzen
und akzeptieren konnte, während die Prinzipien des Neoklassizismus sich dazu nicht
eigneten, sie hatten mit dem eigenen Leben nichts zu tun«“63. Diese, bei Cage oft zu
60
Metzger, „John Cage oder die freigelassene Musik“; Musikkonzepte, Sonderband John Cage I, S. 8/9 .
61
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 185/186 .
62
Siehe: Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 197.
63
Revill, Tosende Stille, S. 56/57
53
findende Beziehung „zum eigenen Leben“ ist ab der Mitte der 50er Jahre überall in
seinen Äußerungen zu finden.
Zeit hat Cage stark beschäftigt. Er sah sie als eines der fundamentalsten Dinge in der
Kunst und im Leben an. Revill beschreibt eine Anekdote, mittels derer er feststellt, wie
Cage dazu gekommen ist64:
Sein Interesse für Schönberg führte ihn vorerst zu Richard Buhlig, einem Pianisten
aus Los Angeles, der sich mit den Kompositionen Schönbergs auseinandergesetzt hatte,
und sich schließlich dazu bereiterklärte, Cages Kompositionen zu prüfen und ihm
Unterricht zu erteilen. Bei einem der Termine bei Buhlig stand er am verabredeten Tag
vor Buhligs Tür - eine halbe Stunde zu früh - „weil ich, wenn ich unterwegs war, mehr
aufs Trampen als auf die gewöhnlichen Transportmittel angewiesen war! Also, ich
komme an, ich klopfe an seiner Tür, er öffnet und sagt: »Sie sind eine halbe Stunde zu
früh. Kommen Sie zur richtigen Zeit wieder.« Nun, ich hatte einige Bücher dabei, die
ich der Bücherei zurückgeben mußte. Ich nutzte diese Zeit aus, um das zu erledigen. Ich
ging zur Bücherei, gab meine Bücher ab und ging wieder zu seinem Haus. Eine halbe
Stunde zu spät! Als er mir das zweite Mal die Tür öffnete, war er außer sich. An diesem
Nachmittag hatten wir eine zweistündige Sitzung, er lehnte es ab, meine Arbeit
anzusehen und hielt mir nur einen Vortrag über Zeit; über die Wichtigkeit von Zeit
nicht nur in der Musik, sondern auch im Leben desjenigen, der sein Leben der Musik
widmen will. [...] Seitdem habe ich immer die Zeit als die wesentliche Dimension aller
Musik angesehen.“
In wieweit diese Begebenheit wirklich für seine Wahrnehmung für Zeit zentral war,
kann ich nicht mit Sicherheit beurteilen, man muss eine solche Bemerkung zumindest
ernst nehmen, wenn sie in zwei der wichtigsten Bücher Cages („Silence“ und „Für die
Vögel“) vorkommt, und auch bei Revill hervorgehoben wird.
Cage sah ihren Gebrauch in der traditionellen, „aus begrenzt zeitlichen Objekten
geschaffene Musik mit einem Davor und Danach“65 als falsch an. Er kritisierte, dass sich
die Menschen einbildeten, sie könnten die Zeit durch Strukturierung beherrschen. Er
64
Cage, Für die Vögel, S. 75/76
65
Cage, Für die Vögel, S. 97 .
54
wollte die Musik durch Destrukturierung von ihrer Beherrschung und Zerstückelung
befreien66. Als ein Mittel dazu benutzte er die Zufallsoperationen.
Interessanterweise ist ihm von Leonard Meyer 67 der Vorwurf gemacht worden, dass bei
seiner Musik musikalische Zeit überhaupt gemieden wird, und so eine „Stasis“ (eine
statische Musik) entstehe. Cage hat diesen Vorwurf nicht entkräftet. Er spricht vielmehr
davon, die „Linearität der Zeit zu brechen“68. Die Nicht-Linearität bewirke, dass sich die
Musik türmt, überschichtet und damit selbst „annuliert“. Cage empfand eine große
Begeisterung für die Idee, (auch konventionelle) Stücke gleichzeitig aufzuführen. Sein
„HPSCHD“ und der Musicircus stehen unter diesem Motto. Er sagte einmal, er habe
nichts dagegen, Beethovens Sinfonien aufzuführen - vorausgesetzt, sie würden alle auf
einmal aufgeführt. Cage führt an, Tyrannei und Gewalt fielen unter die Linearität,
während die Unbestimmtheit ein Sprung in die Nicht-Linearität, und damit in die
Freiheit und den „Überfluß“ darstelle. Hier ist interessanterweise wieder zu bemerken,
wie er über die Musik hinausweist auf den Menschen und die Gesellschaft. Seine
Argumentation ist im Ganzen geprägt von diesen Übertragungen und es wird deutlich,
in welcher Rolle er die Musik sieht. Sie steht gerade zu in einer gesellschaftlichen
Verantwortung. Ich werde darauf im Kapitel über den Anarchismus noch
zurückkommen.
Cages Bemerkungen69 entnimmt man, dass seine Musik keine vordefinierte Zeiteinteilung beinhaltet, sondern die Zeit erst im Moment der Aufführung real wird. Sie ist
also im Konzept des Stückes gar nicht enthalten. Cage gibt höchstens einen Zeitraum
an, der das Ganze umschließt. Es gibt kein „Zeitmaß“. Nichts wird eingeteilt, es gibt
keine „Interpretation“ irgend einer Vorgabe. Dafür eignen sich die indeterminierten
Notationen, beispielsweise von Variations I, ganz besonders, weil sie keinerlei Ablauf
festlegen, zumindest nicht einen in Zeit gemessenen. Der Hörer erlebt seine eigene,
persönliche Zeit. Wie er sie erlebt, ist seine Sache. Cage lässt hier wieder seinen
66
Cage, Für die Vögel, S. 38 ff.
67
Cage, Für die Vögel, S. 97 .
68
Cage, Für die Vögel, S. 251.
69
Cage, Für die Vögel, S. 156/157 .
55
Unwillen gegenüber jeglicher Bevormundung des Hörers durch Vorgaben erkennen.
Cage befindet sich dort jedoch nicht in Überseinstimmung mit dem Empfinden der
Mehrzahl der Hörer. Selbst wenn der Hörer mit einer gegebenen Interpretation eines
Stückes nicht einverstanden ist, sie vielleicht schneller oder langsamer bevorzugen
würde, so stellt er in der Regel damit nicht das Prinzip der eingeteilten Zeit generell in
Frage (außerdem wären genaugenommen auch Cages Stücke vor solcher Kritik nicht
gefeit, nur eben nicht in Verbindung mit einem durchgehenden Zeitmaß, sondern mit
einer generellen Klanghäufigkeit). Im Gegenteil, das Mitempfinden eines Zeitmaßes
gehört zu den schönen Eigenschaften der Musik. Damit ist das Gefühl von Schwung
verbunden, was durchaus erlebbar ist und auch genossen wird. Auf deren
Verbindlichkeit gründet sich beispielsweise die ganze Tanzmusik. Die Probleme Cages
mit den Eigenschaften traditioneller Musik sind an dieser Stelle nicht ganz
nachvollziehbar. Möglicherweise hängt das mit dem zusammen, was wir Europäer
gelegentlich mit dem etwas überzogenen Freiheitsbedürfnis der Amerikaner verbinden.
Ulrich Dibelius formuliert Cages Umgang mit Zeit folgendermaßen: „Musik oder, auf der Cage’schen Reduktionsstufe, Hören - soll dazu verhelfen, Gegenwart zu
erfahren, ohne sich um das Vergangene zu kümmern oder Zukünftiges zu erwarten.
Und solches Akzeptieren von Sein und Zeit, vermittelt durch akustische sowie,
begleitend, auch visuelle Wahrnehmung, entspricht der grundlegenden Definition von
Musik als Zeitkunst“70. Dibelius legt in seiner Interpretation die Betonung auf die
Ablehnung der Erwartungshaltung (worüber wir ja schon gesprochen hatten).
Cage setzt demnach hier einen Trend fort, der aber schon länger in der Musik des 20.
Jahrhunderts angelegt ist, die Ent-Teleologisierung. Man versucht, Erwartungshaltungen
des Hörers zu enttäuschen und abzubauen, um sich aus alten Strukturen zu lösen und
den Weg für Neues freizumachen.
Für den Hörer bedeutet dies, dass er seinen festen Werkbegriff mit seinen
abgeschlossenen Abschnitten und seinen überschaubaren, wiedererkennbaren
Gestalten ganz aufgeben muss. In Cages Musik gibt es nichts wiederzuerkennen und
nichts von „oben herab“ zu überschauen, sondern vielmehr ein sich vom unmittelbaren
70
Dibelius, Kompositorische Experimente, S. 103.
56
Geschehen „einhüllen lassen“ und zeitloses Schauen auf das, was auditiv (und auch
visuell) vorüberzieht. Somit ist keinerlei wirkliche Kontrolle über das Geschehen
möglich, weder vom Komponisten, noch vom Interpreten, und schon gar nicht vom
Hörer. Man treibt im Augenblick, von Moment zu Moment, und ist dazu angehalten,
alles für sich, also vergleichs- und kritiklos aufzunehmen. Ein Vorausahnen und
(vergleichendes) Zurück-schauen ist nicht möglich, weil sich keine Kontur zum Greifen
anbietet. Besonders das „Erkennende Verstehen“ (s. Kapitel 2.5) ist betroffen, es ist fast
völlig ausgeschaltet, weil es völlig auf Kontur und Gedächtnis, auf Messung und
Vergleich angewiesen ist.
Cages Musik versteht sich nicht als abgeschlossene Sinneinheit, sondern als ein
sichtbarer Teil, ein Art zufälliger Ausschnitt, aus einem Klangkontinuum, was den
Menschen eigentlich schon von jeher ständig umgeben hat, er es aber anders, nämlich
ästhetisch wahrnehmen soll. Die dort verlebte Zeit ist keine vorher geplante, strukturierte
„Kunst-Zeit“, sondern nur ein Ausschnitt der sowieso vorüberziehenden Lebenszeit.
Damit ist ein Konzert keine besondere Situation und Kunst kein besonderes Erlebnis
mehr. Die Konzerte mit Cages Musik sind nur ein Übergang, eine Art „Lehrgang“, um
die alten „neuen“ Inhalte in einer vertrauten Situation neu kennenzulernen. Das alte
Spiel mit Erwartung und Erfüllung/Nicht-Erfüllung ist eine künstliche Hülle, die
abgestreift ist.
Mit dem Entfernen der „Zeit“ aus der Konstruktion (als Gerüst um die Inhalte) hat sie
ihre Bedeutung verloren und ist gewichen, „nur“ die Inhalte bleiben übrig. Doch auch
die Inhalte sprechen keine Sprache, sind nur so beschaffen, wie sie auftreten und sind
vom Geist deshalb nicht verarbeitbar. Damit wird das Interesse die einzige mögliche
Geistesregung, mit der man der Musik Cages begegnen kann. Bleibt die Frage, ob das
dem hörenden Menschen auf Dauer genug ist.
57
4.4 E MOTION. R ÜCKZUG DER P ERSÖNLICHKEIT.
INDISCHE P HILOSOPHIE UND Z EN
Wir hatten in Kapitel 2.2 behandelt, welch wichtige Rolle im Musikleben bis heute die
Frage nach der Emotion, als Wichtigste der Inhalte in der Musik, spielt. Der Leser,
welcher sich bis hier durch meine Erläuterungen durchgearbeitet hat, wird ahnen, dass
ohne Struktur, ohne „Sprache“ von Mensch zu Mensch auch keine Emotionen
transportiert werden können.
Cage negiert ab seiner mittleren Schaffensphase nicht nur, dass Töne Emotionen
bergen, er geht noch einen Schritt weiter. Bei ihm verliert sich jeder Bezug zwischen
Musik und Emotion im Hörer; das heißt, die Musik ist nicht mehr direkt für die
empfundene Emotion verantwortlich. Für Cage ist die Freiheit der eigenen Emotion das
entscheidende71. Die Musik soll dem Hörer keine bestimmte Emotion aufdrängen.
Diese wird also nicht durch die Musik selbst gezeugt, sondern höchstens von ihrer
Präsenz als Anlass im Hörer selbst. Cage ist Emotionen in der Musik gegenüber generell
sehr negativ eingestellt. Er gibt dazu letztendlich (wie so oft) gesellschaftliche Gründe
an: „Emotionen, wie aller Geschmack und das Gedächtnis, sind zu stark mit dem Selbst,
dem Ego verbunden. Die Emotionen zeigen, daß wir innerlich betroffen sind, und der
Geschmack beweist unsere Art, äußerlich betroffen zu sein. Wir haben aus dem Ego
eine Wand fabriziert, und die Wand hat nicht einmal eine Tür, durch die das Innere mit
dem Äußeren kommunizieren könnte! Suzuki hat mich gelehrt, diese Wand zu
zerstören. Es ist wichtig, das Individuum in den Fluß dessen was geschieht zu tauchen.
Und um das zu tun, muß die Wand zerstört werden; Geschmack, Gedächtnis und
Emotionen müssen geschwächt werden; alle Schutzwälle müssen niedergerissen werden.
Man kann eine Emotion fühlen; nur denke man nicht, sie sei so wichtig...Nimm sie so,
daß du sie fallen lassen kannst. Bestehe nicht darauf. Es ist wie mit dem Hähnchen, das
ich im Restaurant bestelle: es betrifft mich, aber es ist nicht wichtig. Und wenn wir
Emotionen beibehalten und sie verstärken, können sie eine kritische Situation auf der
71
Siehe: Cage, Für die Vögel, S. 180/181 .
58
Welt herbeiführen. Genau die Situation, in der die Gesellschaft heute gefangen ist“.
Nun, welche Situation das ist, wird im Folgenden leider nicht klar. Ihm kommt es
jedenfalls darauf an, dass der Austausch zwischen Außen und Innen nicht blockiert oder
gefiltert wird. Emotionen sind „erlaubt“, haben aber nichts mit der Musik zu tun, und
sind deshalb für deren Betrachtung irrelevant. Diese Position erinnert an diejenige von
Hanslick, die ich in Kapitel 2.2 diskutiert habe, bezweifelt aber noch radikaler die
Möglichkeit eines direkten Zusammenhanges von Musik und Emotion. Cage ist deshalb
in Diskussionen immer wieder in die Defensive gedrängt worden. Wie es zu einer solch
radikalen Ablehnung kam, will ich im Folgenden versuchen zu beleuchten.
Ich habe bereits erwähnt, dass Cage eine Tendenz hat, sich gegenüber von
Widerständen weiter zu radikalisieren. Zuerst muss ich dazu zum Ende der 30er/
Anfang der 40er Jahre zurückschauen, wo Cage zum Ende der frühen Phase seines
Schaffens mit Geräuschen und verschiedenen Strukturverhältnissen experimentierte und
sich langsam immer mehr von traditionellen Strukturelementen entfernte. Die Musik bis
zum Ende der 40er Jahre verwendet hauptsächlich Geräusche oder, wie bei seinem
präparierten Klavier, verfremdete Töne. Das Klangbild ist von feingliedrigen
rhythmischen Elementen durchzogen, viele Offbeats und kompliziertere Muster
schaffen zusammen mit dem neuartigen Geräusch-Klang ein interessantes,
abwechslungsreiches Klangbild. Man kann dort sehen, dass Cage ein feinsinniges
Gespür für das Spiel mit klingenden Gegenständen hatte. In diesen Jahren reiste Cage
mit seinem Schlagzeugensemble herum auf der Suche nach Aufträgen und dem nötigen
Geld für eine Existenzgründung. Er war mit seiner Frau Xenia seit 1935 verheiratet.
Noch war Cage bemüht, seine Persönlichkeit in den Werken zu verwirklichen. Als eine
Art Höhepunkt kann dabei das Stück Amores von 1943 angesehen werden. Cage meinte:
„Amores ist dazu ausersehen, ich würde sagen: Liebesgefühle zu wecken“72. Das
Klangbild ist ein Typisches für die Musik dieser Jahre. Jedoch ist ein eher hohes Maß an
Klangfarbigkeit und ein gestisches, vielleicht in dieser Musiksprache durchaus
persönlich emotionales Moment im Stück zu erkennen. Er interessierte sich zu dieser
Zeit schon für indische Philosophie. Es ist das erste Werk von Cage, „in dem sich sein
Interesse an östlichem Denken zeigt. [...] Das Stück ist ein Versuch, die Kombination
72
Revill, Tosende Stille; S. 110.
59
des Erotischen und der Ruhe zum Ausdruck zu bringen“73. Sowohl die Erotik, wie auch
die Ruhe gehören zu den zentralen 9 Gefühlen nach der hinduistischen Philosophie. Ich
werde im Laufe des Kapitels noch darauf zu sprechen kommen; der Rückzug von Cages
Persönlichkeit hängt meiner Ansicht nach aber nicht primär damit zusammen. Cage
hatte vielmehr Probleme in der Kommunikation der inneren Botschaft seiner Werke. Er
fühlte sich nicht verstanden. Revill schreibt, die Stücke aus dieser Zeit des Krieges und
der persönlichen Krise: Imaginary Landscape Nr 3, Credo in US, In the Name of Holocaust
„waren dazu bestimmt, seine Gefühle und Ideen zum Ausdruck zu bringen und
mitzuteilen. Expression aber, Ausdruck, erzeugt Mißverständnisse. »Ich wurde gewahr,
daß, wenn ich sorgfältig und gewissenhaft etwas Trauriges schrieb, die Hörer und
Kritiker zum Lachen neigten«, erinnert [Cage] sich. »Ich konnte die akademische Idee
nicht akzeptieren, daß der Zweck von Musik Kommunikation sein sollte«“74. Noch dazu
kam eine schwere Lebenskrise in der Mitte der 40er Jahre, in Verbindung mit der
Trennung von Xenia 1945.
Den ganzen folgenden Abschnitt entnehme ich Auszügen direkt aus Revills Biographie
(Kapitel 8, Abschnitt III; S. 113-116), da die Krise und ihre kompositorischen Folgen
dort detailliert beschrieben sind und einen guten Einblick ermöglichen:
„Die bevorstehende Trennung von Xenia war nicht nur der Verlust einer Beziehung,
einer wichtigen Beziehung, sondern auch Zeichen des Verlustes sexueller Identität und
Orientierung. [...] Cages Verwirrung und Traurigkeit kommt in einer sechssätzigen Suite
für präpariertes Klavier zum Ausdruck, The Perilous Night, geschrieben im Winter 194344. [...] Die Musik erzählt von den Gefahren des Liebeslebens, vom Elend dessen, »was
zusammengehörte und zersprang« [...] The Perilous Night ist sehr eindringliche Musik. [...]
Offenbar suchte er nach einer Balance der Emotionen, die er offenbar später in der
Stille der Leere finden sollte. [...] Die Störung blieb nicht auf sein Gefühlsleben
beschränkt. »Ich war« erinnert [Cage] sich, »sowohl in meinem Privatleben als auch in
meiner öffentlichen Arbeit als Komponist Opfer dieser Verwirrung«. [...] Am Ende
dieser Entwicklung stand The Perilous Night, mit Cages abgründigstem Gram und
73
Revill, Tosende Stille; S. 110.
74
Revill, Tosende Stille; S. 115/116 .
60
Kummer gesättigt, während ein Kritiker schreiben konnte, das Stück klinge »wie ein
Specht im Glockenturm«. »Ich hatte ein gut Teil Emotion in diesem Stück verarbeitet,
und das teilte sich offensichtlich überhaupt nicht mit«, berichtet Cage. »Oder ich teilte
etwas mit, aber alle anderen Künstler sprachen eine andere Sprache, und das nur für
sich selbst. Die ganze Situation machte auf mich mehr und mehr den Eindruck einer
babylonischen Verwirrung.« Und er fährt fort: »Ich entschloß mich, das Komponieren
aufzugeben, bis ich einen besseren Grund dafür gefunden hatte als Kommunikation.«“
Mit diesem Zitat möchte ich zeigen, dass Cage meiner Ansicht nach seine Ablehnung
von Emotion und auch Kommunikation in der Musik eher aus der Frustration über die
Ablehnung seiner Versuche Emotion mitzuteilen gezogen hat, oder wenigstens darin
eine Bestätigung seiner Ahnungen fand, und zum Anderen mit der Verbannung der
„Verstrickung der Leidenschaften“ versuchte, sein aus den Fugen geratenes Leben
wieder in den Griff zu bekommen. Ich glaube, dass das weniger mit seinen Erklärungen
aus der Zen-Philosophie wirklich zu tun hat, sondern er lediglich nachträglich darin eine
ideologische Bestätigung fand.
Des weiteren möchte ich das Zitat auch als eines der deutlichsten Beispiele markieren
für meine Ansicht, dass Cage in seiner musikalischen Entwicklung weniger von seiner
künstlerischen Umwelt beeinflusst ist, als viel mehr durch seine Biographie und seine
sich ins weitere Extrem verbohrende Charaktereigenheit, die aus einer Niederlage ihre
ganz eigenen Schlüsse zieht.
Ich kann im Rahmen dieser Arbeit keine Analyse der genauen Umstände der
Publikumsreaktionen durchführen, und damit bleiben meine Überlegungen ein
stückweit Hypothese. Ich glaube dennoch, dass Cage einen falschen Schluss aus dem
Unverständnis gezogen hat, denn ich halte es in konventioneller Musiksprache
keineswegs für unmöglich, solche persönlichen Gefühle mitzuteilen (oder wenigstens
im Hörer zum „Wiederhall“ zu bringen)75. Wir müssen Cages verzweifelte Versuche
sich mitzuteilen nämlich in den Kontext seiner erneuerten Musiksprache stellen, dazu
75
Eines der unzähligen prominenten Beispiele dafür ist die 6. Sinfonie Tschaikowskis, der sie nachweisbar in
größter Verzweiflung wenige Wochen vor seinem Tode schrieb, und dessen Kommentare über das Stück und seine
Situation eindeutig in diese Richtung verweisen. Es gibt wohl Wenige, die ihm die Eindeutigkeit der persönlichen
emotionalen Reaktion in dieser Musik ernsthaft absprechen.
61
noch in einer Zeit, die der Tradition innerhalb des Musikbetriebs noch weit mehr
verpflichtet war, als das bei uns heute der Fall ist (vgl. dazu in Kapitel 3).
Möglicherweise ist seine Musiksprache nicht verstanden worden, was aber den
Transport von Inhalten nicht notwendigerweise ausschließt.
Cage hat sich bald nach der Scheidung 1945 intensiver mit der fernöstlichen
Philosophie beschäftigt, angefangen mit indischer, dann gefolgt von der noch
prägenderen Zen-Philosophie Japans. Ersteres wurde durch den Kontakt zu Gita
Sarabhai, einer jungen Frau aus einer reichen indischen Familie, möglich. Er hatte sich
schon vorher dafür interessiert, und so praktizierten die beiden einen Kulturaustausch
zu beiderseitigem Vorteil. Er fand sofort Parallelen von der tala (die den Rhythmus in
der indischen Musik organisiert) und seiner Musik76. Dort lernte er eine Lebenseinstellung kennen, die ohne einen „Anfang“ und ein „Ende“ auskommt. Er, der auf
der Suche war nach einem neuen Sinn für Musik, lernte von Gita „das Ziel von Musik
liege darin, den Geist zu reinigen und zu beruhigen und ihn dadurch für göttliche
Einflüsse empfänglich zu machen“. Ähnliche Beispiele ließen sich schnell auch in der
eigenen christlichen Religion finden. Er veröffentlichte einen Aufsatz mit dem Namen
„Forerunners of Modern Music“ in der er seiner neuen Begeisterung für den spirituellen
Ansatz in der Musik Ausdruck verlieh77. Gegen Ende der 40er Jahre macht sich eine
Strenge im Satz seiner Stücke bemerkbar in denen „das Bemühen um Ausdruckslosigkeit“78 spürbar wird. Cage setzte sich mit den neun ständigen Gefühlen des
Hinduismus auseinander, die da sind: Das Heroische, das Erotische, das Heitere und das
Wunderbare, und ihre dunklen Widerparts: die Angst, der Zorn, der Kummer und der
Widerwille. Das zentrale Gefühl zwischen der „hellen“ und der „dunklen“ Seite liegt die
Ruhe. Die Ruhe faszinierte Cage sofort und seine Stücke sind ein Umkreisen dessen.
Anfang der 50er Jahre hat Cage die Vorlesungen von Deisetz Teitaro Suzuki an der
Columbia University besucht. Suzukis Lehre wurde einer der wichtigsten Einflüsse in
Cages Denken und er hat dessen Folgen in seinem Denken an zahllosen Stellen
76
Revill, Tosende Stille, S. 117.
77
Revill, Tosende Stille, S. 117.
78
Revill, Tosende Stille, S. 136.
62
betont79. Suzuki kam aus Japan, war aber kein praktizierender Mönch oder Zen-Meister.
Er widmete sein Leben dem Vermitteln der Zen-Philosophie im Westen, um der
„Rastlosigkeit“ und dem „spirituellen Mangel“ der westlichen Zivilisation abzuhelfen.
Dort lernte Cage, dass das Leben als Einheit zu betrachten ist, und er schloss daraus:
„Ob das richtig ist oder falsch, darauf kommt es nicht an, ein ›Fehler‹ gehört nicht zur
Sache, denn sobald etwas passiert ist es authentisch, es ist, was es ist“80. Für ihn war
entscheidend: „Ich glaube nicht, daß wir an dem Wert der Dinge interessiert sind. Wir
sind an der Erfahrung der Dinge interessiert“. Infolge der Lehren von Suzuki bekam
Cage eine Weltsicht von „Ungehindertheit“ und „wechselseitiger Durchdringung“. Das
bedeutet, dass jeder Mensch sein eigenes Zentrum bildet, aus dem er sich in alle
Richtungen auf alle anderen Individuen zu verströmt und sie durchdringt. So entsteht
ein dichtes Netz wechselseitiger Beziehungen, was ungehindert durch Zeit und Raum
geht. Der kontinuierliche Fluss darf demnach nie ins Stocken geraten. Festlegungen, wie
„Ja“ oder „Nein“ sind schon statische Gebilde. Das Prinzip Yun liegt zwischen Ja und
Nein, und vermeidet so die Stasis einer endgültigen Festlegung.
Die Sorglosigkeit, mit der der Erleuchtete dem Tag begegnet, kam Cages „heiterer
Wesensart“ sehr entgegen. Er begegnete dem Tag gerne mit der japanischen Weisheit:
„Jeder Tag ist ein schöner Tag“.
Nach Cages Meinung ist die westliche Kunst eher dazu bestimmt, die Realität zu
transformieren oder zu verbessern, als das Bewußtsein oder Verständnis für das
natürliche Wesen der Dinge zu erlangen. Im Zen gilt es, die Realität so zu erkennen und
anzunehmen, wie sie ist. Unser Kausalitätsprinzip, das nach dem „Warum“ der Dinge
fragt, ist ein Beispiel für eine verminderte, gefärbte Weltsicht, denn die beinhaltet ein
Gedankenkonstrukt und Filterung. Nichts soll beurteilt und begründet werden, sondern
durch die Öffnung für alles verändert man sein Inneres. Jede Art der Wiederholung ist
schädlich (auch die, sich ein Stück mehrmals anzuhören), da es damit konserviert bleibt,
anstatt sich im Fluss des Lebens aufzulösen, und dabei „lebendig“ zu bleiben.
„Im Laufe des Studiums des Zen“, sagte Suzuki, „benutzen [Sie] ihre Vorlieben und
Abneigungen nicht mehr, um sich in der Welt der Relativität zu schützen, sondern Sie
79
Siehe: Revill, Tosende Stille, S. 139-165 .
80
Revill, Tosende Stille, S. 143.
63
wachsen damit“81.
Vorlieben und Abneigungen führen zu extremen Erfahrungen: Lust, wenn etwas
stattfindet, was wir lieben, und Schmerz, wenn etwas passiert, wogegen wir Abneigung
empfinden. Cage schließt mit einer vielleicht etwas „eigenen“ Logik daraus, dass, wenn
wir uns davon losmachen, die Lust „universaler“ und „konstanter“ wird.
Cage begann, seine früheren Stücke hinsichtlich dieser Einstellung abzuklopfen und
ganz neu zu bewerten. Er begann, alle Art der Konstruktion als unwichtig anzusehen.
Am meisten polemisierte er gegen die traditionelle Tonalität und Harmonik, die
zugegebenermaßen dem sehr entgegensteht. Die Tonalität steht für Präferenz und
Selektion des Tonmaterials und die Zuordnung der Töne zu Funktionen und
Konstrukten. „Sogenannte Harmonie“ sagt er, „ist eine erzwungene abstrakte vertikale
Beziehung, die das spontan sich vermittelnde Wesen der darunter gefaßten Klänge
verdeckt. Sie ist künstlich und unrealistisch“82. „Die Kunst wird vom Leben getrennt,
und um sie zu erreichen, müssen wir erst das Zentrum von jemand anderem
überqueren“.
Cage neigt in seinen Erklärungen und Rechtfertigungen zur Dogmatik und
Übertreibung. Ein Beispiel: „Wenn man Tönen mit einem periodischen Rhythmus
zuhört, hört man notwendigerweise etwas anderes als allein die Töne. Man hört nicht
die Töne - man hört den Tatbestand, daß die Töne organisiert wurden.83“ Ohne lange
Erklärungen merkt hier der Leser, dass diese Aussagen nicht ganz der Wahrheit
entsprechen. Wenn wir Töne innerhalb eines streng tonalen mehrstimmigen Gebildes
hören, ordnen wir sicher dem Ton eine Funktion zu, und stellen Zusammenhänge her.
Das ist auch wichtig, da wir nicht immer jeden einzelnen Ton verarbeiten können. Auf
diese Weise reduzieren wir gegebenenfalls die Eindrücke auf ein verarbeitbares Maß.
Trotzdem können wir Töne auch einzeln wahrnehmen und verstehen deren
Beschaffenheit. Darüber hinaus machen die Attribute eines Klangs aber oft erst dessen
Reiz aus. Die Bedeutung wächst weit über den reinen Ton hinaus. Man „versteht“ eine
81
Revill, Tosende Stille, S. 148.
82
Revill, Tosende Stille, S. 157.
83
Cage, Für die Vögel, S. 255.
64
Stimmung; man ergreift den Gestus einer Melodie; man misst, inwieweit ein Ton in
seine Umgebung passt, und was das heißt. Soweit geht Cages Musik nicht im Hörer. Sie
wird nicht „begriffen“, sondern nur angeschaut.
Revill meint rückblickend: „Cage war zu einer Ästhetik gelangt, die im Grunde
optimistisch und leicht zugänglich war: Steigerung von Freude und Genuß Angesichts
von Allem, was geschieht. Un doch war er im Begriff, eines der verwirrensten
künstlerischen Werke der Geschichte zu vollbringen, das von den meisten Leuten als
unverständlich und anmaßend abgelehnt wurde“84.
Jede Art von Dialog wird in der Musik Cages abgelehnt. Deshalb entwickelte er mit der
Zeit eine besondere Abneigung gegen Jazz, selbst gegen Freejazz, der zwar seinem
Idealbild am nächsten kam, aber das Prinzip des Dialogs nach wie vor beibehalten hatte.
„Musik als Diskurs funktioniert nicht. Wenn Sie eine Diskussion führen wollen, führen
Sie sie und benutzen Sie dazu Wörter“85.
Cage hat seine Abneigung gegen Emotionen und Persönlichkeit in der Musik im
Nachhinein oft mit den Lehren aus dem Zen begründet. „Wir haben aus dem Ego eine
Wand fabriziert, und die Wand hat nicht einmal eine Tür, durch die das Innere mit dem
Äußeren kommunizieren könnte! Suzuki hat mich gelehrt, diese Wand zu zerstören. Es
ist wichtig, das Individuum in die Strömung, den Fluß dessen was geschieht zu
tauchen“86.
Man muss vielleicht betonen, dass Cage sich vom Zen nicht in irgend einer Weise hat
religiös beeinflussen lassen. Zen war eingereiht in das System der „Nützlichkeiten“, mit
dem Cage sein Leben gestaltete und das ihm bei der Lösung seiner Aufgaben und
Probleme half.
Soweit ein Überblick über Cages Verständnis von Zen. Ich habe mich bemüht, Cages
Verständnis von Zen mit anderen Quellen zu vergleichen und bin dabei auf „Nada
Brahma“ von Joachim Ernst Berendt gestoßen, der eine detaillierte Beschreibung der
indischen und japanischen Philosophien gibt. Trotz der Nähe zur Popularwissenschaft,
84
Revill, Tosende Stille, S. 162/163 .
85
Aus: Revill, Tosende Stille, S. 159.
86
Cage, Für die Vögel, S. 57 .
65
die man ihm manchmal vorwirft, habe ich dort wertvolle Informationen gefunden. Von
dort aus werde ich versuchen, einen kurzen Überblick der grundlegenden Idee zu geben
und die mit Cages Verständnis zu vergleichen. Ich habe leider keine genaue Vorstellung
von der Gesamtheit von Cages Verständnisses von Zen, und muss mich auf das
verlassen, was er in den mir bekannten Gesprächen darüber gesagt hat, und was er
davon in die Musik transportiert hat.
Zen bietet einen spirituellen Weg zwischen praktischem Denken und Irrationalität.
Beide Bereiche haben viel miteinander zu tun. Zen ist eine spätere nach Japan
überlieferte Form (oder Methode) des indischen Buddhismus, ab dem 13. Jh n. Chr., und
ihm wird eine besondere Praxisnähe nachgesagt. Um zum näheren Verständnis der
buddhistischen Geisteseinstellung zu gelangen, muss man sich mit deren Meditationstechniken auseinandersetzen:
In der Mantra- (Indien) bzw. Koan- (Zen) Technik des Buddhismus geht es um das
Erlernen eines anderen Verständnisses vom menschlichen Geist. Die Koans
unterscheiden sich genaugenommen etwas von den Mantras, was wir in diesem Kontext
aber nicht weiter verfolgen. Es wird dem Schüler vom Weisen eine Aufgabe gestellt, die
auf den ersten Blick mit der menschlichen Logik nicht lösbar ist. Beispiele sind:
„Gebrauche den Spaten, den du in deinen leeren Händen hältst“ oder dasjenige,
welches ich dieser Arbeit als Leitspruch vorangestellt habe: „Wenn du auslöschst Sinn
und Ton - was hörst du dann?“. Der Schüler wird verpflichtet, dieses Koan zu lösen,
und wenn er Jahre darüber meditieren muss. Dabei geht es oftmals gar nicht um die
Lösung des inhaltlichen Problems, sondern man stößt auf die Grenzen der
menschlichen Rationalität und lernt mit der Frage selbst umzugehen. Wenn nötig, wird sie
mit dem Hinweis auf die alles erfüllende Gottheit oder dem allumschließenden Nichts
(MU) beantwortet. „Das ist der Trick des Koans: Indem der Verstand die ihm
aufgegebene Frage tage-, wochen-, jahrelang abtastet, entdeckt der Schüler von ganz
allein: Mit dem Verstand komme ich nicht weiter. Es gibt keine rationalere Methode, die
Grenzen der Rationalität zu erkennen und - was wichtiger ist - selbst zu erfahren als die
Arbeit an einem Koan“87, schreibt Berendt. Das Ziel ist, den Menschen freizumachen
von den Fesseln des beschränkten Geistes und seiner Willensanstrengung zum
87
Joachim-Ernst Berendt, Nada Brahma, Reinbek/Frankfurt 1985, S. 56 .
66
Erreichen seiner nichtigen persönlichen Ziele.
Der „Klang“ ist ein wichtiges Element des Buddhismus. Die Welt wird als UrSchwingung aufgefasst: „Nada Brahma“ (Die Welt ist Klang). Der Klang als „Musik“
hat mit dem Klang als „Ur-Schwingung“ nichts zu tun. Es ist eine Vibration der Welt,
nicht direkt hörbar, nur nachvollziehbar im buddhistischen Ur-Mantra „OM“. „Die
Weisen Indiens und des Tibet wie die Mönche von Sri Lanka meinen: Wenn es einen für uns normale Sterbliche - hörbaren Klang gibt, der diesem Urklang, der die Welt ist,
nahekommt, dann ist es der Klang des heiligen Wortes OM“88.
Das Kernproblem bei Cage liegt nun in dem Versuch, ein religiöses und
philosophisches Prinzip einer alten Kultur, das den Menschen formen, erweitern und
für göttliche Einflüsse bereitmachen soll, auf eine abendländische Kunstform zu
übertragen und sie damit völlig zweckzuentfremden. Cages Umweltgeräusche haben
meinem Verständnis nach keine Ähnlichkeit mit dem buddhistischen Welt-Klang; der
eben nicht zu verwechseln ist
mit den „Klängen der Welt“, d.h. den
Umweltgeräuschen. Der Weltklang hat auch nichts mit dem Zufall zu tun. Die
Zufallsproduktion von Geräuschen gibt nicht die (durchaus periodische) Schwingung
der Welt wieder. Bezeichnend ist deswegen auch die Reaktion Suzukis, Cages ZenLehrmeister, als Cage ihn auf die Verbindung des Zen zu seiner Musikproduktion
aufmerksam macht. Er sagte nur: „Ich verstehe von Musik rein gar nichts“. „Ich wollte
Zustimmung von ihm“ berichtet Cage. „Als ich sie nicht bekam, ging ich einfach
meinen Weg weiter“89. Ebenfalls hat die indische oder japanische Musik, außer vielleicht
in ihrer Tendenz zur Überschreitung von Anfang und Ende, keinerlei Ähnlichkeit mit
Cages Kunst.
Das „OM“ ist mächtigste Mantra-Prinzip. Es ist wie eine Ur-Keimzelle, aus der alles
entsteht. Dieses Prinzip ist in Cages Werk deutlich enthalten. Der Aufstieg zur
Universalität, das Verlassen der eigenen beschränkten Menschlichkeit, die „Durchdringung der Zentren“ ist Cages Bestrebung. Im Buddhismus gibt es aber auch den
88
Berendt, Nada Brahma, S. 39 .
89
Revill, Tosende Stille, S. 163.
67
umgekehrten Weg, das Prinzip „HUM“, das „Mantraische Maß des Menschlichen“90,
welches er ignoriert. Hier wird der umgekehrte Weg in den Menschen hinein, zu seiner
Persönlichkeit beschrieben. Weiterhin gibt es das Prinzip „HRIH“, der Wärme,
Intensität, und Inspiration. Auch hier findet sich die Persönlichkeit des Menschen, die
Cage im Menschen natürlich nicht leugnet, aber in seiner Musik ignoriert.
„Im OM macht sich der Meditierende so weit wie das All [...] im HRIH aber entzündet
er die aufwärts lodernde Flamme der Inspiration und der Hingabe“91.
Interessant ist der Drang nach dem „Nichts“ im japanischen Zen. Berendt schreibt:
„Die japanischen Worte ku - Leere - und mu - Nichts - sind Hauptworte des Zen. »Mu!
Mu! Mu!« sagen die Meditierenden vor sich hin - in Gedanken oder auch psalmodierend,
gegen Ende langer Meditationen gar schreitend - stundenlang, tagelang, wochenlang, um
leer zu werden: leer von all dem Nichtigen, womit wir Menschen uns anfüllen, damit
Raum wird für die einzige Fülle, die zählt - die Fülle des Seins, welche die Fülle des
Nichts ist“92. Gleichzeitig gilt das Bestreben, sich immer nur einer Sache ganz zu
widmen. Damit wird die volle Konzentration auf das MU, die „Leere“ erreicht.
Für den Hörer heißt das, dass er vorher wissen muss, welchen Sinn Cages Musik
erfüllen soll. Es geht nicht um eine Form des Genusses von „Kunst“, sondern das
Ausleben von Prinzipien. Leere, Konzentration, Verlassen der gewohnten Denkbahnen, das Erleben eines Zeitkontinuums, das Empfinden des „Welt-Klangs“, die
„Nicht-Aussage“ ist das Ziel. Man geht weg vom „Ich“ mit seinen Vorlieben und
Abneigungen, weg vom „Warum“, einer hinterfragbaren Aussage. Realität wird nicht
künstlich transformiert, überhöht, sondern alles ist jetzt. Kurz: Cages Musik ist
Meditation.
Sosehr Cage auch betont, den Klang „für sich“ wahrzunehmen, sosehr ist der einzelne
Klang in Wirklichkeit unwichtig. Im Hinblick auf Zen ist die „Musik“ ein Vehikel eines
spirituellen Lebensprinzips. Eggebrecht hat betont, dass „Cages Affinität zu fern-
90
Berendt, Nada Brahma, S. 40 .
91
Berendt, Nada Brahma, S. 40 .
92
Berendt, Nada Brahma, S. 239/240 .
68
östlichem Denken wohl nicht zu hoch veranschlagt werden [sollte] [...] für derartige
Ideen fand Cage in der fernöstlichen Philosophie wohl weniger einen Ausgangspunkt
als vielmehr eine Bestätigung, Rechtfertigung, Bekräftigung, einen philosophischen Halt,
den er benutzte, wie er ihn gebrauchen konnte“93.
4.5 A NARCHISMUS UND „O FFENHEIT FÜR A LLES“ M USIK UND LEBEN . B EURTEILUNG VON M USIK
Im Kapitel 4.2 waren bereits wichtige Aspekte der „Offenheit für alles“ angesprochen
worden. Ich möchte an dieser Stelle nicht alles wiederholen, sondern das Bild
verdeutlichen und ergänzen und zudem versuchen zu erklären, wie Cage auf diesen
Gedanken gekommen ist.
Wie bereits dargestellt hat Cage immer schon eine Tendenz zur Offenheit gegenüber
Neuem und der Lust zum Experimentellen gehabt. Schon zum Ende der 30er Jahre
hatte Cage eine Erfahrung, die für seine weitere Ästhetik von entscheidender Bedeutung
werden sollte. Revill schreibt94:
„Ein anderer Maler, dessen Bekanntschaft Cage damals machte, war Mark Tobey[...] Das
Wichtigste, worauf Tobey ihn hinwies, war die Bedeutung der alltäglichen Dinge. [...]
Einige Jahre später, nachdem er in New York heimisch geworden war, besuchte Cage
eine Ausstellung in der Williard Gallery - wo schon sehr früh Werke von Tobey und
Graves hingen. Als er an einer Kreuzung der Madison Avenue auf den Bus wartete,
wurde er gewahr, daß das Betrachten des Straßenpflasters zu seinen Füßen eine ebenso
bereichernde Erfahrung war, wie die weißen Bilder Tobeys, die er sich gerade
angeschaut hatte. Es war eine bestimmte Art von Aufmerksamkeit, die in späteren
Jahren für Cages Ästhetik sehr bedeutsam werden sollte.“ Beim Warten auf den Bus
entstand folgendes Gedicht:
93
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 203.
94
Revill, Tosende Stille, S. 80/81 .
69
»Ich schaute zufällig auf das Muster des Straßenpflasters,
Auf dem ich stand; ich sah
keinen UnteRschied zwischen dem
Betrachten von Kunst und dem Schauen anderswohin«
Der Quersinn „M ARK“ ist der Vorname des Malers Mark Tobey. Diese Art von Gedicht heißt M esostichon. Sie faszinierte
Cage sehr und er verarbeitete sie erst in Grüßen und Glückwünschen, später auch als Textgrundlage mehrerer Kompositionen
Er begann seine Umwelt als eine Künstlerische zu entdecken. Plötzlich war die Welt
überall Kunst. „Es ist die Vorstellung, daß Musik, die in diesem Falle auf Geräuschen
beruht, von allen Leuten benutzt werden kann, um ihre - oft als unangenehm erlebten Erfahrungen des Alltagslebens zu integrieren, und nicht dazu, einen ästhetisch höheren
Bereich abseits der Welt zu hegen“95. Cage sah sogar einen therapeutischen Wert in
seiner Musik: „Dann werden sie ganz plötzlich die Schönheiten in ihrem Alltagsleben
hören“96.
Hier wird noch ein tiefgreifender Aspekt seiner Kunstanschauung deutlich, der aber
eine durchaus verbreitete Ansicht der Avantgarde des 20. Jahrhunderts ist. Seit den 20er
Jahren, wo die Dadaisten bereits gewöhnliche Gegenstände zu Kunst erklärt hatten, um
damit gegen das tradierte Kunstideal zu protestieren, hat man aus Mangel an
verbindlicher Form den Begriff der „Kunst“ immer wieder erweitern müssen. Heute ist
vielleicht das einzige Kriterium, worunter man Kunst allgemein in ihrer unerschöpflichen Vielfalt der Erscheinungsformen noch zuverlässig zusammenfassen
kann, die Absicht. Kunst ist dann Kunst, wenn sie als solche angesehen wird. Auch die
banalsten Gegenstände des täglichen Lebens werden dann zur Kunst, wenn man sich
ihnen nicht von ihrer funktionalen Seite her nähert, sondern von der ästhetischen bzw.
ihrer Daseinsform, also zum Beispiel ihrem Aussehen, oder, in Cages Fall, ihrem Klang.
Seines Erachtens „konnte jeder Klang durch die einfache Tatsache musikalisch werden,
daß er in ein musikalisches Stück aufgenommen werden konnte“97.
Nicht unwichtig ist eine Schlussfolgerung, die sich daraus ergibt, und wo sich eine
95
Revill, Tosende Stille, S. 87 .
96
Revill, Tosende Stille, S. 87 .
97
Cage, Für die Vögel, S. 81 .
70
Lücke in Cages Argumentation auftut: Wenn Alles Kunst ist, ist auch ein Jeder Künstler.
Gegenstandslos ist dann zwar die oft gehörte Kritik über Alltagskunst oder
Geräuschkunst geworden, „das sei gar keine Kunst, das könne man ja auch; dafür
brauche man nicht in ein Konzert gehen“, denn genau dieses ist ja deren Sinn. Es ergibt
sich eine fantastische Vision davon, dass jeder - weil in den künstlerischen Prozess
eingebunden - sich mit Kunst zu identifizieren die Möglichkeit hat. Eine andere Sache
ist jedoch, ob sich das Publikum in dieser Rolle auch selbst sieht. Bei einer Aufführung
von Atlas Eclipticalis in Venedig 1961, eine der vielen Skandalaufführungen von Cages
Musik, gab es zum wiederholten Male einen Tumult. Mittendrin klopfte ein alter Mann
mit seinem Krückstock auf seinen Sitz und schrie: „Jetzt bin ich auch Musiker!“98. Cage
haben diese Tumulte nicht gefallen, aber sie gehören doch zum „Klangbild“ der
Aufführung dazu, also, wenn man so will, in seiner Ästhetik auch zur Musik. Der
Zuhörer ist kein Zuhörer, sondern wird selbst ungewollt aktiv im Lautgeschehen.
Problematisch daran ist nur, dass die Geräusche der Zuhörer nicht notwendigerweise
ästhetisch intendiert sind, und als solche deswegen eigentlich auch nicht angesehen werden
dürfen. Wenn etwas beispielsweise als Störgeräusch intendiert ist, bleibt es auch ein
Störgeräusch. Andernfalls säße der alte Mann gefangen wie ein Vogel im Käfig, dessen
Schrei nach Freiheit als „Gesang“ interpretiert wird. Wenn man also Intention durch
Ästhetik ersetzt, hat die Intention keine Chance mehr.
Cage hält deshalb nicht alle Menschen für reif für die gegebene Freiheit. Er spricht in
diesem Zusammenhang von der „Disziplin des Egos“. In „Für die Vögel“ sagt er: „Ein
Ego ohne Disziplin ist verschlossen, es neigt dazu, sich in seine Gefühle einzuschließen.
Disziplin ist das Einzige, was diese Verschlossenheit verhindert. Mit ihr kann man sich
dem Äußeren, wie dem Inneren öffnen.“99 An anderer Stelle meint er: „Mein
Verständnis von Disziplin geht dahin, daß sie uns von der Tyrannei der in uns
aufkommenden Neigungen und Abneigungen frei macht“100. Damit ist wohl gemeint,
dass der Hörer sich einer eigenen Erziehung zur „Offenheit“ unterziehen soll. Ulrich
98
Revill, Tosende Stille, S. 271.
99
Cage, Für die Vögel, S. 60 .
100
Dieter Schnebel, „Wie ich das schaffe?“, Musikkonzepte, Sonderband John Cage I, S. 52 .
71
Dibelius hält dies allerdings für eine Utopie. „Gelassenheit gegenüber dem
Ungewöhnlichen, ob vom Komponisten mit Lust inszeniert und heiter zur Schau
gestellt oder vom Hörer als Akt der Einübung in Lebenswirklichkeit erwartet, ist
letztlich eine Wunschhaltung. Sie schützt Abgeklärtheit vor und unterminiert dabei die
natürlichen Reaktionen [...] Zweifelsohne ist ruhiges Abwarten, die Bereitschaft,
zuzuhören, sich auf eine Sache einzulassen [...] immer noch der bessere Weg zu
Einsichten und Erfahrungen zu gelangen, als vorschnell und borniert dagegen das ganze
Arsenal an klischierten Vorurteilen, abwiegelnden Vergleichsmaßstäben und empörter
Grundwertverteidigung aufzubieten. Aber das Bemühen, dies um Himmels willen zu
vermeiden, kippt doch ins genaue Gegenteil um, wenn alles, was ist, mit dem selben
Gleichmut [...] hingenommen wird“101. Die Schlussfolgerung, dass alles ins Gegenteil
umkippt, vermag ich nicht ganz nachzuvollziehen, bin aber grundsätzlich Dibelius’
Meinung, dass die Offenheit für alles Erdenkliche zu einer passiven Teilnahmslosigkeit
führt und für unsern Geist eher „ungesund“ ist.
Ich muss an dieser Stelle noch einmal auf den Dadaismus zurückkommen. Cage hat von
ihm profitiert, man kann sagen, dass seine Kunst von der Methode her eine „akustische
Variante“ von Dadaismus ist, beispielsweise im Gebrauch von Alltagsphänomenen für
Kunst und die Ablehnung von alten Kunstanschauungen. Cage hat jedoch im Laufe der
40er und 50er Jahre eine andere Entwicklung durchgemacht, hat persönlich noch andere
Motive für seine Arbeit entwickelt, hat sich philosophisch anders orientiert und hat
nicht nur die Protesthaltung gegen das „Bürgerliche“ als Ziel. Die Betonung auf die
„Existenz“ einer Sache, ohne Blick auf die Beziehungen oder Attribute hat bei ihm
Vorrang vor dem Protest. Somit ist das „Phänomen Cage“ nur teilweise mit dem
Dadaismus zu erklären.
In Kapitel 4.2 hatte ich bereits über die Hierarchielosigkeit der Töne gesprochen, die
mit der Isolation der Töne einhergeht. Cage hat sich nicht direkt darüber geäußert, aber
es ist dennoch möglich, dies in Cages gedanklichen Hintergrund stellen. Resultierend
aus seiner Bekanntschaft mit Duchamp und der Beschäftigung mit seinen Schriften und
mit dem Dadaismus (dem Duchamp zugerechnet wird) hat er sich zum politischen
Anarchisten entwickelt. Duchamp war „Cages unbestrittenes Leitbild im Blick darauf,
101
Dibelius, Moderne Musik II 1965-85, S. 106.
72
wie ohne Leitbild zu leben sei“102, der dem „disziplinierten“ Menschen zutraut, ohne
Hierarchien zu leben. Er beäugte die Regierungen immer mit großem Misstrauen und
sah auch gesellschaftlich alle Arten von Hierarchie als schädlich an. Wichtig ist zu
betonen, dass Cage die gesellschaftliche Einstellung in seine Musik transportiert hat,
nicht umgekehrt. An dieser Stelle zeigt sich wiederholt, dass seine Musik ein
Konglomerat von Einflüssen ist, die er teilweise aus anderen Bereichen des Lebens in
die Musik hinein transportiert hat. Die Beziehung zum „Leben“, und die
Andersartigkeit seines Kunstverständnisses werden damit wiederum deutlich.
An dieser Stelle möchte ich mich kurz der Frage widmen, wie Cages Musik bewertet
werden kann, im Sinne von „guter“ oder „schlechter“ Musik. Das Besondere - und
Problematische - bei der Beurteilung von Cages Musik ist, dass sie sich jedem Kriterium
entzieht. Eggebrecht schreibt: „Die Beurteilung einer Musik steht im traditionellen
Konzept der Kunstmusik unter der ästhetischen Maxime der Komposition als Resultat
von Determination im Sinne von Beziehungsreichtum, Sinnfülle, Intentionalität. Wo
aber, wie bei Cage, das Gegenteil von all dem gelten soll, [...] wird der Begriff von
»guter« Musik im traditionellen Sinn in Frage gestellt. Was dem Alltag zugehört, dem
Leben, und als solches zum Beispiel im Rahmen des »stillen Stücks« erscheint, was nicht
qua Kunstgesetz determiniert, sondern es selbst sein soll, ist nicht gut oder schlecht - es
steht unter der Maxime, daß es ist.“103. Damit wird klar: was sich den Regeln widersetzt,
kann nicht danach beurteilt werden. Das einzige, was beurteilt werden kann, ist das
Konzept als Ganzes. Cage widersetzt sich bezeichnenderweise in „Für die Vögel“104 auch
jeglicher Beurteilung einer Aufführung seiner Werke. Er sagt wiederholt nur, ob ihn die
„Klänge“ des einen oder anderen Stückes mehr „interessiert“ habe. Auch auf
wiederholte Anfragen ist von ihm demonstrativ keine Beurteilung über die Erfüllung
des Konzeptes seines Stückes zu erfahren (er hat dies aber an anderer Stelle dennoch
getan, beispielsweise bei seinem „Perilous Night“, die aber noch der frühen
Kompositionsphase zugeordnet werden).
102
Clytus Gottwald: „John Cage und Marcel Duchamp“, Musikkonzepte, Sonderband John Cage I, S. 134.
103
Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 192.
104
Für die Vögel, 1984, S. 60/61 .
73
Für den Hörer hat der Inhalt dieses Kapitels nicht sehr viel direkte Auswirkungen auf
das Klangbild. Es ist gedacht als Hintergrund-Erklärung verschiedener schon
anderweitig beschriebener Phänomene, wie Beziehungslosigkeit und Isolation der Töne
oder die Einbeziehung aller Arten von Geräusch. Hier versuche ich eine Erklärung,
warum die Musik in Beziehung zum „Leben“ stehen soll, warum das Augenmerk auf
der ästhetischen Betrachtung der Alltagsumwelt basiert und was vom Hörer erwartet
wird. Außerdem erfährt er hier, nach welchen Kriterien er die Musik bewerten (oder
nicht bewerten) kann.
4.6 R AUM UND D ARSTELLUNG. D AS MULTIMEDIALE
H APPENING. N OTATION
Dieses Kapitel ist nur der Vollständigkeit des Bildes von Cage enthalten, es ist nicht
zentral für die Betrachtung seiner Musik und wird deshalb relativ kurz und allgemein
bleiben.
Ich habe bereits vorher erwähnt, dass Cage sich immer auch an anderen Kunstsparten
orientiert hat, viele Tänzer, Maler und Schriftsteller kannte und sich dort Anregungen
holte, oder dort selbst tätig war, besonders, weil er allgemein der Ansicht war, dass der
Erwerb traditioneller Kenntnisse und Fertigkeiten ein unnötiger Ballast sei, und man
ohne Vorkenntnisse gleich kreativ werden solle. Es ist klar, dass diese Vielseitigkeit sich
auch auf seine Kunst allgemein übertrug. Cage ist ein großer Pionier der
interdisziplinären Betrachtung von Kunst gewesen. Die Anfänge des „multimedialen
Happenings“ in den 60er Jahren hat er stark mitgeprägt. Sinnbild dafür ist das Stück
„HPSCHD“ (steht für „Harpsichord“, die englische Bezeichnung des Cembalos), das
mit einer Besetzung mit 7 Cembali, 208 computergenerierten Tonbändern und vielen
Film- und Diaprojektoren zum multimedialen Spektakel gerät. Quantität ist hier
Maxime, sie ist das Entscheidende. Das Publikum soll in diesem absichtlichen
Durcheinander herumgehen, und seine Aufmerksamkeit dorthin lenken, wo es will. Die
Sinneseindrücke sollten (wie auch im „richtigen Leben“) so vielseitig und zufällig sich
74
kombinierend sein wie möglich.
Die Realisation verlangt nach einer freieren Gestaltung der Räumlichkeiten. Bei
„HPSCHD“ wurden alle eingeladen, sich frei zu bewegen. Schon früher in eher
akustisch dominierten Performances setzte Cage das Publikum „sich gegenüber“, d.h.
im Kreis, so dass die Zuhörer sich gegenseitig sehen konnten; die aktiven Künstler
agierten in der Mitte dazwischen. Der Zweck dessen ist es, das Augenmerk des
Publikums auf sich selbst zu richten. Riem: „der Inhalt ist bei Cage die »Form« und die
»Form« ist die soziale Situation“105.
Man muss vielleicht hier das Wort „soziale“ präzisieren; es handelt sich hier nicht um
die Beziehung der Beteiligten zueinander, sondern das Faktum, dass Menschen an einem
Ort vorhanden sind, die freiwillig oder unfreiwillig interagieren, ohne sich einer
Beziehung bewußt zu sein. Es wird nicht Kunst „präsentiert“, sondern die Situation
wird durch sich selbst, und die Aktion der Beteiligten zur „Kunst“.
Eine Kunst der Grenzüberschreitung und Multimedialität, wie sie bei Cage realisiert ist,
verlangt natürlich auch nach erweiterten Notationsformen. Wie bereits erwähnt, ist die
Notation generell ab den 30er Jahren immer freier geworden, Stücke wie die von Earle
Brown waren immer schwerer als musikalische Notation zu assoziieren. Cage hat eine
ähnliche Entwicklung durchgemacht, hat aber nie den akustischen Zweck aus den
Augen verloren.
Notwendig wurde eine grundsätzliche Veränderung erst mit der Einführung der
„Unbestimmtheit“ (s. Kapitel 4.7). Lange Erklärungen der erweiterten Notation sind
seither die Regel bei Cages Stücken. Die Liquidierung der Dimension „Zeit“ aus der
Notation (s. Kapitel 4.3) machte die sukzessive Notation auf den Notenlinien unnötig.
Ein sehr gutes Beispiel dafür ist die Notation der „Variations I“. Dort werde ich noch
genauer darauf eingehen.
Auf der Suche nach neuen aleatorischen Kompositionsverfahren, hat Cage auch die
Unebenheiten auf dem Notenblatt zur Ortsbestimmung der Noten benutzt. Dort
mischen sich Komposition und Notation.
Mit zunehmender Indetermination nimmt natürlicherweise die Ungenauigkeit der
Notation zu. In seinem Klavierkonzert von 1957/58 hat er nur noch „63 lose Blätter“,
105
Rainer Riem, „Noten zu Cage“, Musikkonzepte, Sonderband John Cage I, S. 100.
75
von denen eine beliebige Anzahl in einer beliebigen Reihenfolge gespielt werden sollen.
Dort finden sich auch mehrere Notationsformen nebeneinander, die ebenfalls teilweise
wählbar sind. Einige Notationsarten bieten einen Tonvorrat an, aus dem der Interpret
Töne wählen kann (s. Abb.; Zeile G23; die gezogene Linie bildet nur einen Vorschlag
für eine mögliche Tonauswahl):
Abb. 4:
John
Cage,
Concerto for Piano
and
Or c h e s t r a
1957/58,
Henmar
©
Press
Inc., New York;
S.9 (Ausz.)
Für den Hörer bedeutet das einerseits, dass er mittels dieser Informationen teilweise
Einblick in die Vorgaben des Interpreten bekommt (dies gilt für Cages Stücke ab der
Mitte der 50er Jahre), und so annähernd beurteilen kann, in welchem Verhältnis dieser
zu den Vorgaben steht; andererseits entdeckt er, das alles was er - als Teil des Publikums
- tut, Teil des Kunstwerkes ist. Er ist somit nicht mehr der (mehr oder minder) passive
Konsument von dargebotenen Inhalten, sondern selbst „Künstler“. Das verlangt aber
auch ein anderes Verhalten von ihm. Er positiver und offener er sich zu der Situation
verhält, desto größer ist die Chance, dass sich aus dieser Situation etwas Interessantes,
Gewinnbringendes ergibt.
76
4.7 A LEATORIK UND INDETERMINATION
Wir haben gesehen, dass Cage die persönliche Aussage und den Transport von Inhalten
anders als dem „Sein“ der Klänge ablehnte. Die Frage entsteht, wie er nun Musik
organisiert. Cage brauchte einen Ersatz für die Ablehnung der ästhetisch organisierten
Musik. Irgendetwas musste die Auswahl des Materials übernehmen. Cage nannte das
Prinzip „unaesthetic choice“106. Um konsequent jeglichen persönlichen Einfluss des
Komponisten (und damit seinen Vorlieben und Abneigungen) auszuschalten, hat er
zunächst den Zufall an Stelle des Komponisten gesetzt, der alle Parameter der Musik
bestimmt. Alle Töne und ihre möglichen Parameter werden durch Zufallsoperationen
bestimmt. Cage fing dieses Verfahren mit den „Sixteen Dances“ 1951 an. Zunächst waren
die zugrundeliegenden Reihen noch von ihm ausgewählt und wurden per
Zufallsoperationen verarbeitet. Im Concerto für Klavier und Kammerorchester von
1951 werden altes und neues Komponieren in Einklang gebracht. Während das Klavier
zunächst „romantisch und expressiv bleibt“107 gibt es im Laufe des 2. Satzes seinen
persönlichen Geschmack auf und gerät im 3. Satz mit dem die ganze Zeit schon nach
dem unpersönlichen Zufallsprinzip agierenden Orchester in Synthese. Zur Bestimmung
der Zufallsprozesse benutzte Cage zunächst den Münzwurf. Eine bald zunehmend
intensiv genutzte Methode zur Zufallsbefragung kommt direkt aus dem Zen. Es ist das
Orakelbuch I Ging. Er bekam 1950 ein Exemplar von seinem Schüler Christian Wolff
geschenkt. Er setzte das Hexagrammsystem des I Ging zu Zahlen in Beziehung und
erhielt so eine zufällige Antwort auf komplexere Fragekombinationen. So ersparte er
sich Zeit, jeden musikalischen Parameter einzeln durch Würfeln oder Münzwurf
abzufragen. Die Zufallsbestimmung der Noten war nämlich mit beträchtlichem
Aufwand verbunden. Später hat Cage dann noch effizientere Mittel zur Zufallsgenerierung verwandt, beispielsweise mit dem Computer, wo er große Massen an
Zufallsantworten quasi im Voraus generierte und dann später im eigentlichen
106
Pierre Boulez und John Cage, Correspondance et documents, hrsg. von Jean-Jacques Nattiez u.a., Winterthur 1990,
S. 124.
107
Revill, Tosende Stille, S. 169.
77
Kompositionsprozess benutzte.
Einige Jahre später erkannte er, dass das einzelne Stück, gleichwohl aus
Zufallsoperationen entstanden, dennoch total determiniert ist. Der Zufall ist im
Moment der Aufführung nicht mehr wirklich präsent und so entsteht wiederum doch
die determinierte, konzeptionierte Gegenständlichkeit, die er aus der Zen-Philosophie
heraus ablehnte er im Laufe der 50er Jahre mehr und mehr verabscheute. Die
Identifikation des Aufführenden sei so nicht möglich und das Ganze „inhuman“.108
Obwohl Cage später immer noch Zufallsprozesse dazu benutzte, Entscheidungen aller
Art zu treffen, hat er sich bald danach von der vollkommenen Determinierung des
Materials durch die Aleatorik abgewandt. Alle Determinierung sollte dem klaren Blick
auf das reine Wesen des Tons weichen. Das habe ich in den Kapiteln 4.4 und 4.5 bereits
erläutert. Die „Indetermination“ gibt dem Klang völlige Freiheit. Alles das, was passiert,
wird akzeptiert. Alles Festgelegte wird zugunsten einer jedesmal völlig neuen Situation
aufgegeben. Der Werkbegriff (das, was Eggebrecht mit „Werkidentität“ bezeichnet; vgl.
Kapitel 2.4) sinkt dabei in die Bedeutungslosigkeit. Das, was bei Eggebrecht das
„Dasein“ eines Werkes ist, wird zur unbedingten Priorität erhoben. Bei Cage ist es das
Einzige, was „interessant“ ist. Der Hörer bleibt passiv.
108
W ortlaut Cage in: Silence, M iddeltown 1973, S. 36: „Though chance operations brought about the determinations of the composition these
operations are not available in its performance. [...] But that its notation is in all respects determinate does not permit the performer any such
identification: his work is specifically laid out before him. He is therefore not able to perform his own center but must identify himself insofar as
posssible with the center of the work as written. The Music of Changes is an object more inhuman than human, since chance operations brought it
into being. The fact that these things that constitue it, though only sounds, have come together to control a hum an being, the performer, gives
the work an alarming aspect of a Frankenstein monster.“
78
5. B ETRACHTUNG DER KOMPOSITORISCHEN
P RÄMISSEN C AGES ANHAND DER „M USIC OF
C HANGES“ UND DER „V ARIATIONS I“. A NALYSE UND
H INTERGRÜNDE
Ich habe in den vergangenen Kapiteln versucht darzustellen, dass Cages Musik auf dem
Zufall (bzw. der Indetermination) beruht. Das bleibt strenggenommen bisher nur eine
Behauptung. Ich werde im Folgenden versuchen, diese Aussagen anhand von 2
Beispielen zu demonstrieren.
5.1 M USIC OF C HANGES
Die „Music of Changes“ entstanden 1951, mitten in der Phase der sogenannten
„Aleatorik“. Das Stück ist David Tudor gewidmet, der es uraufführte. Das Werk
besteht auf 4 „Büchern“ und ist für Klavier. Dem Werk steht eine Erklärung vor,
welche die genaue Ausführung erläutert. Die Gesamtdauer ist genau auf 43 Minuten
festgelegt. Das ist in der Präzision möglich, da alle Tempoangaben absolute
Metronomangaben (Schläge pro Minute) sind.
Die Längenangabe des ersten Buches ist:
Abb. 5: Music of Changes (1951), © 1961 Henmar Press Inc., New
York; Einleitung
Die Takte sind von genau gleich festgelegter Größe, denn der Platz definiert die Länge
der Note, und zwar nicht relativ, wie es in der herkömmlichen Notation auch üblich ist,
sondern absolut (siehe Skala in Abb. oben). Entscheidend ist nicht der Notenkopf,
sondern der Notenhals.
79
Dabei ist die Angabe:
für jede Note im ganzen Stück verbindlich.
Die Angabe:
heißt also, dass eine Viertel auf ihrem Platz von 2 ½ cm mit dem Tempo 69 auf dem
Metronom gespielt wird. Ritardando bzw. Accelerando sind in Verbindung mit
Metronomzahlen angegeben:
Die Notenlängen scheinen taktübergreifend organisiert zu sein, da auch am Ende des
Taktes lange Noten gezeichnet sind. Es scheint dem Takt keine festgelegte
Notenwertlänge zugeordnet zu sein.
Die rhythmische Struktur ist mit den Zahlenverhältnissen
3 - 5 - 6¾ - 6¾ - 5 - 3c
angegeben. Ihre hauptsächliche Funktion ist es, die Abstände zu ermitteln, in denen das
Tempo geändert wird. Also nach 3 Takten das erste mal, nach weiteren 5 Takten das
zweite mal, usw. Die haben auch Bedeutung für die Großstruktur. Ich werde im
Rahmen dieser Betrachtung nicht weiter darauf eingehen, eine genaue Beschreibung
dessen ist bei Stefan Schädler109 nachzulesen.
Offensichtlich wird hier die zeitliche Strukturierung eines Werkes (s. Kapitel 4.3) in
absoluten Zeitmaßstäben.
Alle Dynamikbezeichnungen von
unregelmäßigen Abständen vertreten.
pppp
bis
ffff
sind vorhanden und in
Oft wird plötzlich zwischen Extremen gewechselt. Artikulationszeichen sind
vorhanden, auch Bindebögen sieht man zuweilen.
109
Stefan Schädler, „Transformationen des Zeitbegriffs in John Cages Music of Changes“, in: Musikkonzepte,
Sonderband John Cage II, S. 185-247 .
80
Pedalangaben sind:
Haltepedal:
Haltepedal nach Tonanschlag:
sostenuto:
una chorda:
Vorzeichen trägt jede Note einzeln und sie beziehen sich auch nur auf diese. Das Stück
ist also atonal organisiert. Ebenso ist - auf den ersten Blick - keine rhythmische Struktur
erkennbar.
Im Folgenden möchte ich, die bekannten Aussagen Cages zur Kompositionsweise des
Stückes zunächst ignorierend, einmal die Struktur und Tonsprache des Stückes anhand
einiger kurzer Auszüge analysieren, um zu sehen, ob es Indizien für eine aleatorische
Tonauswahl gibt, oder ob möglicherweise doch der persönliche Geschmack des
Komponisten eine Rolle spielt.
So möchte ich einen analytischen Blick auf die Möglichkeit der Tonbeziehungen,
organisiert in Stimmführung, Lagenverteilung, Akkordstruktur und -häufigkeit, werfen.
Beispielhaft möchte ich die erste Partiturseite heranziehen. Die Notation ist sehr
komplex und dahingehend verwirrend, dass Noten im Hintergrund übergebunden sind,
wobei die Bindebögen meist nicht durchgehend und Aufteilung der Notenwerte zT.
nicht einfach nachvollziehbar sind.
Der Tonumfang bis zur ersten längeren Pause in Takt 4 geht von D-2 bis g4. Danach (bis
zum Seitenende) H-2 bis ebenfalls g4. Das ist in der Musik des 20. Jahrhunderts nicht
unbedingt ungewöhnlich, beispielsweise findet sich Ähnliches in der seriellen Musik. In
einer „traditionellen“ Musikästhetik würde innerhalb des harmonischen Systems eher
auf Kompaktheit der Klänge geachtet.
Laut Partitur treten bis zur Pause im 4. Takt 33 Einzeltöne den 14 Tonkomplexen
(„Akkorden“) gegenüber (wobei die Komplexe zeilenübergreifend gezählt wurden).
81
Problematisch sind zeitgleich auftretende Klänge, die jedoch unterschiedlich lang
gehalten werden. Als „Komplex“ wurden hier nur Klänge zusammengefasst, die auch
gleichlang gehalten sind (wobei diese Definition genauso inkonsequent ist, wie deren
Gegenteil, denn die Klänge werden beim Anschlag als Komplex, im weiteren Verlauf
aber als Einzelton gehört).
Nach der Pause bis zum Seitenende treten 14 Einzeltöne 17 Tonkomplexen gegenüber.
Die Struktur der Tonkomplexe lässt keine Rückschlüsse auf harmonische Strukturen zu.
Die Töne des ersten Tonkomplexes cis1 - eis1 - f1 - g1 - as1 mit dem darüber liegenden c2
ergeben kein sinnvolles Gebilde im Sinne einer Harmonielehre, genau so wenig, wie die
nächsten: F-1 - A-1 - F - B, oder die Folgenden: b1 - des2 - es2 mit Vorhalt auf Einzelton
E3. Auch die folgenden gleichzeitig angeschlagenen fis1 - g1 - h1 - fis2 - gis2 - a2
suggerieren keinerlei erkennbare Struktur. Die Intervallstruktur innerhalb der Akkorde
scheint kaum Regelmäßigkeit zu zeigen. Im Notenbild des ersten Taktes (Abb. 6) ergibt
sich folgende Tabelle:
Abb. 6: Music of Changes (1951), © 1961 Henmar Press Inc., New York; Takt 1
82
Erster Akkord:
gr. Terz/ verm. Sekunde/ gr. Sekunde/ kl. Sekunde/ gr. Terz
Zweiter Akkord: gr. Terz/ kl. Sext/ Quarte
Dritter Akkord:
verm. Terz/ gr. Sekunde
Vierter Akkord: kl. Sekunde/ gr. Terz/ Quinte/ gr. Sekunde/ kl. Sekunde
Fünfter Akkord: gr. Septime/ kl. None
Sexter Akkord:
kl. Septime
Siebter Akkord: gr. Sekunde/ kl. Sekunde/ gr. Terz/ kl. Sekunde
Achter Akkord:
kl. Sekunde/ gr. Sekunde
Neunter Akkord: kl. Sekunde/ verm. Quinte/ Quarte
Zehnter Akkord: gr. Terz/ verm. Quinte über Oktave/ überm. Sekunde/ verm. Sekunde
Elfter Akkord:
kl. Sekunde/ überm. Prim/Quinte/ kl. Sekunde
Zusätzlich klingen noch Töne weiter, die zusätzliche Intervallspannung bilden
Ergebnis: 1x überm. Prim; 2x verm. Sekunde; 9x kl. Sekunde; 5x gr. Sekunde;
1x überm. Sekunde; 1x verm. Terz; 0x kl. Terz; 6x gr. Terz; 2x Quarte; 1x verm. Quinte;
1x verm. Quinte über Oktave; 2x Quinte; 1x kl. Septime; 1x gr. Septime; 1x kl. None
Statistisch gesehen ergibt sich eine Bevorzugung der kl. Sekunde, gefolgt von gr. Terz
und gr. Sekunde. Auffällig ist das Fehlen der kl. Terz, was eine herkömmliche
Akkordstruktur beinahe mit Sicherheit ausschließt.
Wenn man sich die horizontale Intervallstruktur anschaut, ist das Ergebnis weniger klar.
Ich habe stellvertretend für das Ganze die obersten Töne der ersten 3 Takte
herausgegriffen, um zu sehen, ob hier eine Tauglichkeit zum Herstellen eines
Zusammenhanges erkennbar ist:
a 1 - h 2 - c1 - es 2 - es 2 - e3 - a 2 - b 2 - e1- a2 - a2 - f 1 *) - f 2- c4 - g 4 - es 2 - h 1 - b 2 - a 1 - cis 2 - e2 - d 4
*) rechte H and rutscht hier für die Dauer einer Note in den Bass; links:
Das Nebeneinander von enharmonischen Wechslern wie h - b, c - cis und es - e
suggeriert keine systematische Verwendung von Tönen. Zudem gibt es herbe Sprünge
(bis fast zwei Oktaven), die dem Ohr keinen Eindruck von Zusammengehörigkeit
anbieten. Hier sind nur zwei Terzintervalle und zwei Sekunden zu verzeichnen, der Rest
sind größere Intervalle. Kein Intervall wird direkt nachfolgend wiederholt.
Die Rhythmik ist sehr komplex und von multiplen Ebenen durchzogen. Das Letztere
weist darauf hin, dass hier auch strukturelle Elemente vorhanden sind. Revill schreibt:
83
„Um jedes Segment für sich schreiben zu können, legte Cage zunächst das Tempo fest
und die Anzahl der Lagen in jeder Einheit. Während das Concerto noch monophon110
gewesen war, sollte jede Einheit des neuen Stückes aus zwischen einer und acht
unabhängig voneinander komponierten Lagen bestehen“111. Dabei sind aber Schichten
nicht im klaren überlieferten Sinne von „Melodie“, „Begleitung“, oder „Basslinie“
erkennbar. Sie haben offenbar keinen Bezug zueinander und wechseln oft die
Oktavräume. Die folgende Graphik zeigt das. Allein aus dem Notenbild ist es nicht
möglich, die Lagen sauber zu trennen. Außerdem ergibt es vom Höreindruck ein
anderes Bild als im Schriftbild:
Abb 7.: Music of Changes (1951), © 1961 Henmar Press Inc., New York; Takt 1-3: rote Linie - Höchste Tonhöhe nach
notierter Lage; blaue Linie - Höchste Tonhöhe nach Klangbild
Es ist zu sehen, dass Höreindruck und Klangbild nicht immer deckungsgleich sind. Der
wichtigste Punkt dabei ist, dass vom Höreindruck her eigentlich überhaupt keine Lagen
wahrgenommen werden. Allenfalls liegenbleibende Töne werden als
Überlappung interpretiert. Nur die gelegentlichen kurzen Läufe, wie
Nebenstehender in Takt 3, geben einen Anhaltspunkt, dass hier nicht
nur Töne per Zufallsprinzip nacheinander notiert sind, sondern
110
Gemeint ist offenbar das Concerto für Klavier und Kammerorchester aus dem gleichen Jahr. Hier wurde offenbar
nur eine „Lage“ nach Zufallsoperationen komponiert.
111
Revill, Tosende Stille, S. 177.
84
irgendwie zusammenhängend ausgewählt worden sein müssen. Dieser Anhaltspunkt
ergibt sich jedoch primär rhythmisch, denn die Tonhöhen suggerieren nicht zwingend
einen Zusammenhalt. Was hier deutlich wird, ist, dass Dasein und Form
auseinanderstreben (vgl. Kapitel 2.4). Strukturen, die dem Notenbild zu entnehmen
sind, spiegeln sich im Höreindruck nicht wieder. Das Phänomen ist nicht unbedingt
neu, auch schon viel vorher gab es Inhalte in der Partitur, die vom Hörer nicht
herausgehört werden konnten. Diese Tendenz verstärkt sich jedoch im 20. Jahrhundert,
in dem Sinne, dass nicht nur Details nicht wahrnehmbar sind, sondern wichtige Teile
der Struktur der Tonsprache aus dem Hörbild nicht erkennbar wird. Wenn wir nun
annehmen, das Stück wäre vom Zufall organisiert, ist die Wahrscheinlichkeit, dass jede
Note etwa gleich oft vorkommt, am höchsten. Voraussetzung ist jedoch, dass bei allen
Lagen der gesamte Tonraum des Klaviers zugrunde liegt. Je größer der untersuchte
Ausschnitt zudem ist, desto genauer und aussagekräftiger ist das Ergebnis. Da das Töne
Zählen jedoch einen hohen Zeitaufwand bedeutet, wird der Leser mir verzeihen, dass
ich wiederum nur die ersten 4 Takte als Versuchsfeld verwende, und somit in Kauf
nehme, dass die Ergebnisse nur bedingt aussagekräftig sind.
Ton
Häufigkeit
Ton
Häufigkeit
Ton
Häufigkeit
g4
1
h1
5
cis1
2
d4
1
b1
2
c1
3
c4
2
a1
3
h
e
3
2
fis
5
h
2
1
1
as
3
ais
1
1
1
g
4
gis
1
1
2
ges
1
g
1
2
2
1
fis
2
H
2
e2
2
f1
4
B
1
1
3
Fis
1
1
f
2
es
4
2
des
c
2
eis
2
dis
3
F
1
2
1
2
D
1
F-1
1
d
Die Töne, die hier nicht aufgelistet sind, kommen in dem Ausschnitt nicht vor. Bei einer
Gesamtanzahl von 71 Tönen liegt die Häufigkeit von 1 (bzw. 0) bis 5 durchaus im
Bereich des Möglichen. Allerdings ist ein Anstieg der Häufigkeit im Bereich der zwei85
und eingestrichenen Oktave auffällig. Dies kann dreierlei bedeuten:
1. es trat bei einigen Lagen eine Tonraumbegrenzung auf
2. die Annahme, dass die Tonauswahl vom Zufall gesteuert wurde, ist falsch
3. die Ungenauigkeit ist zu hoch
Ich bin leider nicht in der Lage, mit Sicherheit eine Aussage zu treffen, welche
Möglichkeit die Wahrscheinlichste ist112. Man kann nur soviel sagen, dass die häufigsten
Töne es2, h1, a1, g1 und f1 nicht unbedingt gut zueinander passen, und schon gar nicht
zu eis, dis und as, die in der Häufigkeit danach folgen. Für die Annahme einer
aleatorischen Auswahl der Töne spricht die Bandbreite verschiedener Töne, die auch in
ihrer Reihenfolge zumindest keinen Zusammenhang suggerieren. Mit der Zunahme der
Bandbreite verschiedenster Töne und dem Grad ihrer Verteilung, nimmt die
Wahrscheinlichkeit einer Tonbeziehung proportional dazu ab.
Das alles ist jedoch kein sicherer Beweis für oder gegen die Aleatorik. Was hiermit
untersucht werden kann, ist das Fehlen von Zusammenhängen, Strukturen und
statistischen Präferenzen. Was durch eine Analyse in keinem Fall bewiesen werden
kann, ist das Vorhandensein des Zufalls in der Tonauswahl. Gerade weil der Zufall
keine Spuren seiner Selbst hinterlässt, ist er nicht nachweisbar. Das liegt daran, dass er
einerseits gerade kein System beinhaltet, welches man aufdecken könnte, andererseits
aber die Zufallsanalyse auch keine gesicherten Prognosen über eine unsystematische
Tonauswahl treffen kann. Auch hier sind die Spuren verwischt. Ob die Willkür der
Tonauswahl ästhetisch bedingt ist, oder von nicht-ästhetischen Faktoren (wie Würfel,
Münzwurf, Sternenkarten, oder anderen) gespeist wird, ist gar nicht analysierbar. Hier
muss man den Aussagen des Komponisten vertrauen.
Beim Nachschlagen in der Literatur findet man denn auch Informationen über den
tatsächlichen Kompositionsprozess. Offenbar wurden I-Ging Diagramme zur Tonauswahl benutzt. Revill schreibt: „Cage gestaltete die Diagramme achteckig, so daß jedes
112
Es ist natürlich klar, dass in diesem Abschnitt die verschiedenen Erklärungen Cages über die Machart seines
Stückes ignoriert werden, um zu einem unabhängigen, überprüfenden Ergebnis zu kommen.
86
davon auch zu den vierundsechzig Hexagrammen in Beziehung gesetzt werden konnte
[...] In den Diagrammen für die Klänge stellte er die Klänge in die ungeradzahligen und
die Pausen in die geradzahligen Räume. «Alle zwölf Töne waren in allen vier Elementen
eines gegebenen Diagramms präsent«, erklärte [Cage], «gleichgültig, ob eine Linie des
Diagramms in horizontalem oder vertikalem Sinn gelesen wurde. Nachdem diese
Zwölfton-Forderung einmal erfüllt war, wurden Geräusche und Tonwiederholungen
mit aller Freiheit verwendet« [...] «Die Music of Changes habe ich komponiert [...] indem
ich Klavier spielte, auf Unterschiede achtete und eine Auswahl traf«“113.
Offenbar ist dies also eine Mischform. Erst wurden die Klänge in Hexagrammen nach
dem Zufallsprinzip sortiert, und dann aber beim Ausprobieren der Ergebnisse eine
geschmackliche Auswahl getroffen.
5.2 VARIATIONS I
Das die Variations I indeterminiert komponiert wurden, ist bei Einsicht in das Material
sofort für jedermann ersichtlich. Die Notation umfasst sechs Klarsichtfolien in einer
Kartonhülle mit einer abgedruckten schriftlichen Erklärung. Auf einer Folie befinden
sich verschieden große schwarze Punkte, auf den restlichen fünf Folien je fünf
schwarze Linien, die Notenlinien ähneln, nur dass sie in alle Richtungen verstreut
übereinander liegen. Keine Folie gleicht der anderen. Die Anweisung ist, nach den in
der Erklärung definierten Regeln die Linien in ihrem Abstand zu den Punkten in
Beziehung zu setzen, und damit Spielanweisungen zu erhalten, die jedoch trotzdem in
der Art der Ausführung dem Interpreten überlassen sind. Nach der Größe der Punkte
definiert wird dazu eine Anzahl Folien übereinander gelegt und der Punkt zu den Linien
räumlich in Beziehung gesetzt.
Dabei definiert die Größenklasse des Punktes die Anzahl der zu erzeugenden
Geräusche.
113
Revill, Tosende Stille, S. 176-178 .
87
Abb. 8: Folie mit 4 verschiedenen
Größen von Punkten aus den
Variations I. Da offenbar aufgrund
von Materialunsauberkeiten die
Anzahl der tatsächlich existenten
Punkte die Anzahl der in der
Erklärung Definierten bei weitem
übersteigt, habe ich versuchsweise
die
offenbar
„Intendierten“
herausgesucht und farbig markiert.
Keine Gewähr für die Richtigkeit
der Angaben.
Rot: die 4 größten Punkte
Grün: die 3 zweitgrößten Punkte
Blau: die 7 zweitkleinsten Punkte
Orange: die 13 kleinsten Punkte
Ein Beispiel für eine mögliche Zusammenstellung unter Verwendung nur einer
Linienfolie:
Abb. 9:
Möglichkeit einer Zusammenstellung
von Folien der Variations I
88
Die Spielanweisungen ergeben sich nun aus der Bewertung des direkten Abstandes des
jeweiligen gewählten Punktes von den 5 Linien, wobei jeder Linie symbolisch einem
Parameter zugeordnet ist (tiefste Frequenz, einfachste Obertonstruktur, größte
Amplitude, kürzeste Dauer und frühestes Vorkommen).
Diese Definitionen sind jedoch - wie leicht ersichtlich - relativ ausgesprochen und liegen
in ihrem Maß im Ermessen des Ausführenden. In seinem Ermessen liegt es auch, wie
genau er die Abstände interpretiert, ob er alle Parameter genau abmisst, oder mit einem
flüchtigen Blick alles überschaut und abschätzt.
Wenn man sich nun vor Augen führt, dass die fünf herkömmlichen Linien im System
einen Verlauf darstellen, also eine zeitliche Richtung angeben, kommt man schnell zu
dem Schluss, dass diese zeitliche Richtung hier nicht vorhanden sein kann. Der zeitliche
Ablauf ist also nicht im Stück festgelegt. Die Folien geben keine Reihenfolge, keinen
Anfang und kein Ende an. Kein Ereignis steht in Beziehung zum Anderen (sondern
lediglich zu seinen Parametern). Dieses Werk ist somit kein „Klang-Gebilde“, sondern
ein „Klang-Fundus“.
Dem aufmerksamen Leser fällt sofort auf, dass dies reine Handlungsanweisungen sind,
die über das tatsächliche Klangergebnis in der Realisation nichts aussagen. Noch
offensichtlicher wird das, wenn man in der Anfangserklärung liest, dass Anzahl und Art
der Instrumente dem Interpreten völlig freigestellt sind. In der legendären Uraufführung
bei den Darmstädter Musiktagen 1958 mit Cage und Tudor werden Radios, ein Klavier,
aber auch Rasseln und kleine Spielzeuggegenstände zur Aufführung herangezogen, was
beim Publikum (nach den festgehaltenen Publikumsreaktionen zu urteilen) offenbar
auch einen entsprechend lächerlichen Eindruck gemacht haben wird.
Keine Frage also, dass über alle Arten von „Inhalten“ keine Angaben gemacht werden.
Die obliegen dem im Moment agierenden Interpreten. Das Klangergebnis ist so
ungenau definiert, dass es der jeweiligen Willkür und der momentanen Stimmung des
Interpreten überlassen wird, was dabei inhaltlich herauskommt. Lediglich eine
Rahmenbegrenzung der Handlungen ist gegeben, die dem Werk eine eingeschränkte
Identität als Werk (im theoretischen Sinne) erlauben. Das Stück versteht sich (in seinem
Konzept) ausdrücklich als eine zufällig ausgewählte Möglichkeit, einen Ausschnitt der
unendlichen Fülle möglicher Klänge innerhalb eines festgelegten Zeitraumes zu
89
produzieren. Als Komposition oder gar festgelegte Sinneinheit im Eggebrecht’schen
Sinne von „Identität“ (s. Kapitel 2.4) eines Werkes tritt das Stück in die Bedeutungslosigkeit zurück. Mehr noch, in seiner gedruckten Vorlage ist es als „Stück“ (im Sinne
eines zu erwartenden Ergebnisses) so gar nicht existent (und somit auch nicht
analysierbar), bis es zur klingenden Ausführung kommt. Dies ist eine neue Dimension
von „Werk“, das sich dem Drang nach inhaltlicher Erfassung und struktureller
Durchdringung durch den menschlichen Geist erfolgreich widersetzt. Wenn man aber
weiter nach dem Grund einer solchen Werkanlage fragt, bietet es durchaus Anlass für
wilde Spekulationen.
6. M USIK?
Die völlige Freiheit der Indetermination mag dem einen Ausführenden zu geniöser
Kreativität herausfordern, in einem Andern lediglich Unbehagen angesichts der
Haltlosigkeit erzeugen. Nach der Definition des Stückes ist das Ergebnis jedoch immer
gelungen solange die Anweisungen nicht missachtet werden. Es erfolgt keine ästhetische
Beurteilung des Ergebnisses.
Für den Hörer ist jedoch das (im Aufführungszeitpunkt immer konkrete) Klangergebnis
entscheidend. Er unterscheidet dabei nicht, auf welche Art ein Klang erzeugt wurde und
was für Vorgaben dafür verwendet wurden. Deshalb ist beispielsweise eine Beethoven
Sinfonie - ästhetisch gesehen - vom Klangergebnis her erst einmal mit den „Variations“
absolut gleichzusetzen. Es ist der Prozess des Aufnehmens auditiven Materials und der
Versuch, daraus etwas Sinnvolles zu gestalten und sich zum Ergebnis in Beziehung zu
setzen. Natürlich stellt der gebildete Hörer jedes Stück dennoch in einen stilistischen
Kontext und behandelt also jedes Stück gemäß der verschiedenen Prämissen und
Zielen. Dies setzt jedoch eine genaue Kenntnis dieser Prämissen voraus. Was ist aber,
wenn er diese nicht kennt, oder aber absichtlich ignoriert, weil er mit einer persönlichen
Erwartungshaltung an jedes Stück „Musik“ herangeht? Wird er dann dem Stück nicht
gerecht, oder wird das Stück ihm nicht gerecht?
90
In der Indetermination schafft sich jedes Stück sein eigenes Ziel, seine eigenen
Prämissen, seine eigenen Definitionen, seine eigene Aussage und seine eigene Form.
Wie ich bereits im Kapitel 4.4 dargestellt habe, ist diese Form beim Beispiel Cage eher
an speziellen philosophischen Prämissen orientiert, als an traditionell musikalischen.
Die Erwartungshaltung des Hörers orientiert sich jedoch meist an tradierten
ästhetischen Vorstellungen, die mit dem Begriff „Musik“ verknüpft sind. Sie werden (als
spezifischer Teil) mit dem Begriff „Kulturgut“ assoziiert. Dieser bestimmt - überspitzt
gesagt - ob ein Ereignis in den Definitionsrahmen passt, oder nicht und somit als
„Kunst“ erkannt wird oder nicht. Nicht zu vergessen ist, dass der Hörer sich unter
diesen Voraussetzungen einem Phänomen überhaupt aussetzt und diesen ästhetisch
betrachtet. Einfach ausgedrückt kann es sein, dass ein in einem Konzert sitzender Hörer
Klangereignisse nicht als „Musik“ bzw. „Kunst“ erkennt oder anerkennt, weil sie in
seinen Definitionsrahmen nicht hineinpassen. Damit hält er das Ereignis nicht dem
Anlass adäquat und reagiert darauf mit Unverständnis oder Gereiztheit114.
Hier stellt sich die Frage: Muss er seinen Definitionsrahmen erweitern (unter der
Gefahr, dies „blind“ zu tun, da sich die Definitionen nicht von selbst erschließen), oder
müsste sich das als „Kunst“ bzw. „Musik“ selbst definierte Ereignis den jeweiligen
Prämissen anpassen?
Cage selbst hat eigentlich schon in den 50er Jahren in Bezug auf sein Werk nicht mehr
auf dem Wort „Musik“ bestanden. Er bezeichnete sein Werk gern als „Geräuschkunst“
oder „Klangorganisation“. „Sie brauchen es nicht für Musik zu halten, wenn dieser
Ausdruck Sie choquiert“115 sagte er. Damit trägt er der Verschieden-haftigkeit in der
Werkanlage mit dem traditionellen Musikbegriff durchaus Rechnung. Dennoch wird er
heute immer noch (meist vereinfachend) vor allem aus historischen Gründen fraglos
unter die selbe Kategorie gefasst, wie die Musik vorheriger Jahrhunderte. Das hat auch
systematische Gründe, denn kann man eine Trennlinie mitten durch das Schaffen eines
Künstlers ziehen? Das führt jedoch auf der anderen Seite immer wieder zu den
114
Aus diesem Anlass ist es im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder zu Tumulten bei Aufführungen
gekommen. Das Argument, diese Tumulte habe es schon viel früher gegeben, lasse ich dabei nur eingeschränkt
gelten, da die ästhetischen Umstände nie so radikal waren und nie den Begriff „Musik“ bzw. „Kunst“ als Ganzes in
Frage gestellt haben.
115
Aus: Metzger, „John Cage oder die freigelassene Musik“; Musikkonzepte, S. 12.
91
Ablehnungsreaktionen der Zuhörer, die unter dem Überbegriff Musik intuitiv etwas
Anderes verstehen. Durch eine andere Klassifizierung würde meines Erachtens vieles an
Aufregung und Missverständnissen vermeidbar und würde für Cages Kunst unter einem
anderem „Label“ viele „Türen“ öffnen.
Nicht jedoch ist der Ausdruck „Kunst“ vom Tisch. Cage versteht sich eindeutig als
Künstler. Diese Kunst hat - ähnlich wie der Dadaismus - ein kommunikatives Problem
im Bezug auf Kunst.
Ich möchte in diesem Zusammenhang den bereits erwähnten Satz, Kunst definiere sich
nur noch aus der Absicht Kunst zu machen, aufgreifen und aus der Sicht des
Konsumenten zur Debatte stellen. Ist dabei nur die äußere Form beliebig, oder kann
sich ein Kunstwerk auch seine Prämissen und Zielstellungen frei wählen? Kann es sich
beispielsweise dem Prinzip der Kommunikation - also dem geformten Transport von
Inhalten - verweigern? Kann es Form und Struktur nicht nur aufweichen, sondern ganz
weglassen und sich in einen Pool an Möglichkeiten verwandeln? Kann es funktional
intendierte Gegenstände oder Ereignisse „ästhetisieren“, wie bei Cage und vor allem bei
den Dadaisten davor geschehen, und dabei unabhängig von der reinen Protesthaltung
zu einem „künstlerischen“ Ergebnis kommen? Mir scheint, dass Kunst immer eine
„positive“ Aussage hat. Sie präsentiert ein - wie auch immer geartetes - Ergebnis eines
Prozesses. Was ist, wenn ein Kunstwerk - wie vor allem im Fall Dadaismus - jedoch nur
negiert, protestiert, also kein kreatives, neu schaffendes Ergebnis sondern nur ein
verweigerndes, negierend protestierendes Ergebnis hat? Gerät es damit nicht in Konflikt
mit seinem fundamentalsten Wesen? Ist es dann noch Kunst oder bloß Satire?
Die Ablehnung des kommunikativen Elements in der Kunst führt dazu, dass sich ein
Kunstwerk nicht zum Konsumenten in Beziehung setzen muss. Es ist ihm sozusagen
gleichgültig, ob und von wem es konsumiert wird und was es für denjenigen bedeutet.
Es rückt sich selbst ins Zentrum ohne Berücksichtigung des Empfängers. Das macht es
dem Kunstschaffenden leicht, alles Mögliche mit jeglicher Zielstellung zur Kunst zu
erheben. Ein Kunstwerk macht jedoch nur Sinn im Empfang des Rezipienten. Es führt
kein Eigenleben. Ich glaube deshalb, dass Kunst ohne kreative, intendierte Botschaft als
Kunst fragwürdig ist. Ich begebe mich hiermit in die Gefahr der reaktionären
Argumentation, die auf Altem beharrt und sich einer natürlichen Erneuerung und
Veränderung des Kunstverständnisses verweigert. Für mich steht aber im Mittelpunkt
92
der Versuch der Erklärung, warum die Kunst Cages bei den meisten Menschen keinen
Zugang findet, und meiner Einschätzung nach sich auch in Zukunft nicht durchsetzen
wird, obwohl sie das Nachdenken über Kunst im 20. Jahrhundert durchaus mitgeprägt
hat und in Teilen in ihrer kritischen Haltung und Offenheit für Neues zur konstruktiven
Überprüfung des Kunstverständnisses bereits wirksam beigetragen hat.
Das Prinzip der Kommunikation von Mensch zu Mensch (wenn auch nicht auf
begrifflicher Ebene) und das Spiel von intendiert ästhetischem Reiz, sich aus dem
Inneren mitteilend, absichtlich ausgesendet und adäquat auch am anderen „Ende“
verstanden, ist ein ur-altes Prinzip. Dieses wird man nicht auf Dauer umkehren können,
zu tief ist es verwurzelt in unserer Kultur und in unserem Wesen. Das ist auch im fernen
Osten nicht anders. Beweis dafür ist das Koan des Zen, was ich an den Anfang der
Arbeit gestellt habe. An diesem Punkt ist es möglich, Cage mit seinen eigenen Waffen
zu schlagen:
Was bleibt also, wenn Du auslöschst Sinn und Ton?
93
Anhang
LISTE DER HIER VERWENDETEN LITERATUR UND M ATERIALIEN
-
Joachim-Ernst Berendt, Nada Brahma, Reinbek/Frankfurt 1983-89.
-
Hans Heinrich Eggebrecht, Musik verstehen, Wilhelmshaven 1999.
-
Malcolm Budd, Music and the Emotions - The Philosophical Theories, London 1985.
-
DTV Atlas zur Musik 2, hrsg. von Ulrich Michels, Kassel 1997.
-
David Revill, Tosende Stille - Eine John-Cage-Biographie, Deutsche Ausgabe, München 1995.
-
Musikkonzepte, Sonderband John Cage I, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Rihm, München 1990.
-
Carl Dahlhaus, „Die Musik des 20. Jahrhunderts“, Handbuch der Musikwissenschaft 7, hrsg. von Carl Dahlhaus,
Laaber 1984.
-
„Noten zu Cage“, in: Musikkonzepte, Sonderband John Cage I.
-
Ulrich Dibelius, Moderne Musik II 1965-85, München 1989.
-
Martin Erdmann, Art. „Cage, John“, in: MGG 2 Personenteil, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel 2000.
-
John Cage, Für die Vögel, Berlin 1984.
-
Schlafes Bruder, Regie Joseph Vilsmaier, nach einem Roman von Robert Schneider, Perathon Film.
-
Dieter Schnebel, Art.„Wie ich das schaffe? - Die Verwirklichung von Cages Werk“, in: Musikkonzepte, Sonderband
John Cage I.
-
Metzger, Art.„John Cage oder die freigelassene Musik“, in: Musikkonzepte, Sonderband John Cage I.
-
Cage, Art. „The future of music“, in: Empty words, Middletown 1979.
-
Cage, Art. „Rede an ein Orchester“ (Annotation von Michael Nyman), in: Musikkonzepte, Sonderband John Cage I.
-
Cage, Anarchic Harmony, hrsg. von Stefan Schädler/Walter Zimmermann, Frankfurt/Mainz 1992.
-
Cage, Silence, Middeltown 1973.
-
Cage, Art. „Gedanken eines progressiven Musikers über die beschädigte Gesellschaft“, in: Musikkonzepte,
Sonderband John Cage I.
-
Clytus Gottwald, Art. „John Cage und Marcel Duchamp“, in: Musikkonzepte, Sonderband John Cage I.
-
Rainer Riem, Art. „Noten zu Cage“, in: Musikkonzepte, Sonderband John Cage I.
-
Pierre Boulez und John Cage, Correspondance et documents, hrsg. von Jean-Jacques Nattiez u.a., Winterthur 1990.
-
Stefan Schädler, Art. „Transformationen des Zeitbegriffs in John Cages Music of Changes“, in: Musikkonzepte,
Sonderband John Cage II, München 1990.
94
-
Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt 1998.
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Peter Böttinger, Art. „Vom Außen und Innen der Klänge“, in: Musikkonzepte, Sonderband John Cage I.
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Charles Hamm, Art.„Cage, John“, in: The new Grove Dictionary of American Music, hrsg. Wiley Hitchcock, New
York 1986.
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James Pritchett/Laura Kuhn, Art. „Cage, John“ in: The New Grove (2. Ed.), hrsg. Stanley Sadie, London 2001.
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Klaus Ebbeke, Art. „Aleatorik“, in: MGG 2 Sachteil, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel 2000.
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Richard Kostelanetz, John Cage, Köln 1973.
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Pascal Decroupet, Art. „Dem Zufall einen bestimmten Raum überlassen“ Teil I und II, in: Vom Innen und Außen
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Cage, Variations I, © 1960 Henmar Press Inc., New York.
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Cage, Music of Changes Buch I, © 1961 Henmar Press Inc., New York.
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Cage, Variations I, Interpreten: Cage und Tudor, h 1996, col legno, WWE 1CD 31895.
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Cage, Amores, Quatuor Helios, h 1989, Wergo, WER 6203-2.
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Cage, Music of Changes, Herbert Henck, h 1982/1988, Wergo, WER 60099-50.
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Cage, Concert f. piano and orchestra, S.E.M Ensemble/P. Kotik; Joseph Kubera (pno), h 1993, Wergo, WER 6216-2.
-
Cage, The Perilous Night, Joshua Pierce, h 1988, Wergo, WER 60157-50.
95
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