Clara Schirren abstreifen und über sich selbst hinaus wachsen ZUKUNFTSVISIONEN können. „Die Cyborg-Ära hat begonnen“1 zitierte der Spiegel im Dezember – DIE FASZINATION DES GEHIRNS 2013 das Wissenschaftsmagazin Science und unterfüttert diese Das Gehirn fasziniert uns. Mit ihm haben wir unglaublich klingenden die Welt erschlossen und sind bis auf die nissen. So soll man den Menschen schon bald bizarre Quantenteilchen mit künstlichen Sinnen wie Infrarotsensoren vorgedrungen. Wir haben ferne Galaxien ausstatten, die Gedanken der Vorfahren entdeckt und Erklärungen für Unerklärliches speichern und zu einem beliebigen Zeitpunkt gesucht. herunter Ebene der Angesichts dessen wissen wir Aussage laden mit schier Forschungsergeb- oder die komplette erstaunlich wenig über den unscheinbaren Persönlichkeit eines Menschen auf Avataren Gewebeklumpen in unserem Schädel, den das hochladen Gehirn selbst darstellt. Wie kaum etwas thesen seien möglich – und im Affen- anderes beflügelt er aber unsere Phantasie, experiment schon erfolgreich getestet. „Gut lässt uns träumen, forschen, glauben und möglich, dass die Individuen dann dem, was investieren. Was macht das Gehirn für unsere wir heute die menschliche Rasse nennen, sehr heutige Gesellschaft so faszinierend? Und unähnlich sein werden“ schließt der Spiegel- welchen Zukunftsvisionen dürfen wir trauen? Artikel mit einem Zitat des Hirnforschers können. Auch Gedächtnispro- Miguel Nicolelis. Bei den alten Ägyptern noch als nutzlose So Masse im Kopf aufgefasst, um die man sich erscheinen, so stark ist die Faszination, die sie nicht weiter kümmerte, kommt man um das auf uns ausüben. Was macht diese Faszination Gehirn als Objekt heute kaum noch herum. Ob aus – und wo stehen wir tatsächlich mit in unserem wissenschaftlichen politischen Veröffentlichungen, Diskussionen, Überlegungen, esoterischen unvorstellbar Wissen uns über diese das Szenarien menschliche Gehirn? ökonomischen Verheißungen oder populären Medien: Es ist allgegenwärtig. Glaubt man dem Spiegel, so scheint die Welt Allgegenwärtig von sind auch euphorische morgen – dank Fortschritten im Zukunftsvisionen, in denen die Erlösung des Neuroengineering – kaum noch etwas mit Menschen durch die Hirnforschung kurz bevor unserer heutigen Realität gemein zu haben. zu stehen scheint. Dabei gibt man sich nicht Das sieht der Futurologe Matthias Horx in der mit der Heilung von neurologischen Erkrankungen zufrieden; der Mensch soll schon bald die Fesseln seiner Biologie 1 Johann Grolle, „Die Hirningenieure“, in Der Spiegel, 49/2013, 120-130 1 Clara Schirren Philosophiezeitschrift Hohe Luft anders2. Im erklärt unsere Präferenz für Übertreibungen, Gegensatz zu Miguel Nicolelis erwartet er Alarme, Apokalypsen aller Art.“ auch in hundert Jahren noch eine Welt, die Kann die Hirnforschung nun also die Zukunft uns heutigen Menschen sehr vertraut wäre: unserer Gesellschaft radikal verändern oder „Stellen wir uns vor, es gäbe immer noch nur Häuser aus dem 18. Jahrhundert, in denen das Veränderungskraft erklären? Parkett Beispiel deutlich, knarzt und Paare mit Kindern unseren Glauben wird an ihre An diesem was die wohnen.“ So, wie die Vergangenheit in der Neurowissenschaften strukturell von anderen Gegenwart allgegenwärtig ist, wird sie es auch Wissenschaften in der Zukunft sein. Was zunehmen werde, sei erforschen, lediglich interpretierendes Objekt – es ist selbst das die Variabilität menschlicher unterscheidet: ist nicht sie ein zu Lebensweisen – das unspektakuläre, uns interpretierende vertraute, einfache Leben, die Gefühle und Fragen Sorgen der Menschen, all das werde es immer Funktionsweisen des Gehirns zu Fragen nach geben. Unseren Hang, uns die Zukunft als der Deutung des Menschen in der Welt. radikal Gegenwart Woher kommen wir? Wie sollen wir leben? vorzustellen, verortet Horx nun wiederum Wer bin ich? – Fragen, deren Antworten verschieden zur nach Subjekt. nur Was dem Dabei Aufbau werden und den „Mein Ansatz ist von einer Wahrheit bestimmt, von der ich denke, dass sie unumstößlich ist: dass jede menschliche Handlung von der Organisation und den Gesetzen des Gehirns bestimmt ist und dass es deshalb keine wahre Kunst- und Ästhetik-Theorie geben kann, außer wenn sie auf Neurobiologie beruht.“ Semir Zeki (Hasler, 2011, 1) selbst im menschlichen Gehirn und bemüht zunächst dabei neurowissenschaftliche Philosophie, Physik und Soziologie gesucht Befunde: „in diesem Sinne evolutionierten wurden, werden heute der Hirnforschung unsere Vorfahren ein ‚neophiles’ Gehirn. Alles, gestellt. was gleich bleibt, was Kontinuität verspricht, „Selbstobjektivierung des Menschen“3, der, wird nicht als signifikant wahrgenommen. sich selbst als cerebrales Subjekt auffassend, Alles, was anders erscheint, versetzt uns in seine subjektiven Erfahrungen als bloße Erstaunen und Erregung. Diese[r] ‚Future Bias’ Illusionen neuronaler Aktivität versteht und ebenfalls sich in den Damit verlässlichere Religionen, einher dann geht Antworten in in die der 3 Jan Slaby, „Perspektiven einer kritischen Philosophie der Neurowissenschaften“, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Akademie Verlag, 39 (2011) 3, 1-16 2 Matthias Horx, „Entspannt in die Zukunft“, in Hohe Luft, 1/2014, 66-73 2 Clara Schirren objektiven Messung selbiger verspricht. „So 20 bis 30 Jahren, den Zusammenhang werden die Neurowissenschaften zu einer der zwischen letzten chemischen verbindlichen Quellen von neuroelektrischen Prozessen und einerseits neuround lebensweltlichem Orientierungswissen.“ Wer perzeptiven, kognitiven, psychischen und das Gehirn versteht, ist also der tieferen motorischen Leistungen andererseits so weit Wahrheit menschlicher Existenz so nah wie erklären können, dass Voraussagen über diese kein anderer. Zusammenhänge in beiden Richtungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad Ist das wahr? Wird uns die moderne möglich sind [...] in diesem zukünftigen Hirnforschung unsere letzten Fragen zu uns Moment schickt sich unser Gehirn ernsthaft selbst beantworten können? Die Forscher an, sich selbst zu erkennen.“ Wolfgang Prinz, „Mehr Wissen führt nicht automatisch zu mehr Verstehen“ Wolfgang Prinz (Gehirn und Geist 6/2004, 34-35) selbst sind diesbezüglich geteilter Meinung. Direktor So kritisiert der Wissenschaftsjournalist und Kognitions- und Neurowissenschaften, sah Forscher Felix Hasler die „weltbildgebenden genau in dieser Aussage einen Grund, sich Auftritte“ einiger Kollegen und möchte mit dem seiner die anzuschließen: „Wir wissen viel, verstehen „schier unglaubliche Diskrepanz zwischen dem aber nur wenig [...] Was die Beziehung gegenwärtigen Welterklärungsanspruch der zwischen Gehirnprozessen und Bewusstsein Neurowissenschaften und den empirischen betrifft, wissen wir de facto [...] noch nicht Daten“4 aufzeigen. einmal, wie wir die Frage genau stellen Demgegenüber proklamierten elf führende sollen.“ Seiner Meinung nach kommen wir Neurowissenschaftler 2004 in ihrem viel ohne neue Ideen bei diesen Fragen nicht beachteten Manifest5, in dem sie über den weiter. Bei solch komplexen Fragestellungen aktuellen Wissensstand ihrer Zunft aufklären wie denen nach Subjektivität und Bewusstsein und übertriebenen Erwartungen eigentlich führe mehr empirisches Wissen eben nicht entgegen wirken wollten: „Die Hirnforschung automatisch zu mehr Verstehen. Hier sieht wird in absehbarer Zeit, also in den nächsten der Philosophieprofessor Jan Slaby eine Streitschrift Neuromythologie kritische am Max-Planck-Institut Manifest Philosophie nicht der für vorbehaltlos Neurowissen- schaften in der Verantwortung: „Es geht um 4 Felix Hasler,Neuromythologie, 2012 transcript Verlag, 1-11 5 G. Roth, W. Singer et al., „Das Manifest“, in Gehirn und Geist, das Explizitmachen vorausgesetzter Gehalte, 6/2004, 30-37 um das Hinterfragen von Selbstverständ- 3 Clara Schirren lichkeiten und von werden kann. Denn wenn Gedanken auf Alternativen.“ 6 Die Forschung selbst sei dabei neuronalen Netzwerken basieren: Ist es dann weitaus offener für Alternativen als es die in vorstellbar, dass sich zwei Gehirne mit je den Medien „verbreitete Wiederholung des individueller Struktur in exakt den gleichen Immergleichen“ vermuten ließe. Zustand versetzen lassen? Und womit, wenn Klar wird in diesen Debatten, dass wir nicht mit einem anderen Gehirn, ließen sich tatsächlich noch weit von einem umfassenden sonst Verständnis unseres Gehirns und seiner Erlebenskomponente denken? Eigenschaften entfernt sind. diesem Wenn also Forscher wie Theodore Berger Schluss kommen auch heute, zehn Jahre nach Experimente vorstellen, in denen sie Affen Erscheinen des Manifests, die Unterzeichner eine Art „Gedächtnisprothese“ einpflanzen, ist des „Reflexive zu beachten, dass es sich dabei erstens um die Neurowissenschaft“7. Darüber, welche Hirn- praktische Bewältigung simpler Aufgaben regionen essenziell für bestimmte Funktionen handelte und der Affe sind, hat die Forschung schon einiges in Aufgaben tatsächlich Erfahrung bringen können. Ebenso über die ausführte, wobei seine Neuronenaktivität Funktionsweise oder jedes mal erfasst wurde. Nachdem der Affe Stoffe. eine Droge verabreicht bekommen hatte, die Menschliche Gedanken direkt und vollständig ihn das Gelernte vergessen lassen sollte, aus Gehirnen „abzuzapfen“, zu speichern und wurden die vorher gemessenen Aktivitäts- zu wieder muster durch elektrische Spannung einfach abzurufen, wird aber in absehbarer Zeit nicht wieder in seinem Gehirn aktiviert – und er möglich sein. Dafür ist das reale menschliche konnte die Aufgabe wieder ausführen. Weder Gehirn in seinen genetischen Grundlagen und wurde seiner Struktur viel zu individuell aufgebaut Gedächtnisinhalten „beglückt“, noch sagt das und viel zu komplex. Man muss hier Experiment etwas über das subjektive Erleben unterscheiden zwischen elektrischen Signalen, des Affen aus. Wie soll man sich also die die sehr wohl abgeleitet und gespeichert Speicherung und das Abrufen von Gedanken werden könnten, und komplexen Gedanken- und Erinnerungen der Vorfahren vorstellen? gängen, deren exakte Replizier-barkeit in Auch wenn Forschung oft von hohen Zielen einem anderen Hirn doch stark bezweifelt geleitet ist, haben diese Zukunftsvisionen mit kritischen bestimmter einem um die Eröffnung Zu Memorandums einzelner Neurone neurochemischer beliebigen Zeitpunkt vollständigen ein anderer Gedanken inklusive zweitens diese unzählige Affe mit Male seinen wissenschaftlicher Realität wenig zu tun. Es mag unterhaltsam sein, zu träumen: Man 6 Jan Slaby, ebd. sollte sich aber immer wieder bewusst 7 F. Tretter, B. Kotchoubey et al., „Memorandum Reflexive Neurowissenschaft“, in Psychologie Heute, www.psychologieheute.de/home/lesenswert/memorandum-reflexiveneurowissenschaft, Zugriff 24.3.2014 machen, dass nicht überall, wo „Hirnforscher 4 Clara Schirren sagen“ drauf steht, unumstößliche Wahrheit drin steckt. Dabei bleibt seriöse Forschung am Gehirn weiterhin wichtig. Insbesondere in Zeiten, in denen neurodegenerative Erkrankungen zunehmen8, gewinnt sie an Bedeutung – sowohl für die Gesellschaft als Ganzes als auch für betroffene Individuen und ihre Angehörigen. Wie andere Wissenschaftsdisziplinen auch, können die Neurowissenschaften also durchaus unsere Zukunft beeinflussen. Als unfehlbares Wahrheitsserum beim Blick in selbige taugen sie aber ebenso wenig wie andere Wissenschaftsdisziplinen. Clara Schirren studiert im siebten Semester Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Aktuell arbeitet sie als Praktikantin am Forschungsbereich Mind and Brain der Charité. 8 J. A. Aarli et al. „Global burden of neurological disorders: estimates and projections“ und „Neurological disorders: a public health approach“ in Neurological Disorders – public health challenges, World Health Organisation 2006, 27-177 5