Risikobeurteilung bei psychisch Kranken

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Rüdiger Müller-Isberner
Klinik für forensische Psychiatrie Haina
D- 35114 Haina
Riskobeurteilung bei
psychisch Kranken
Forensik in der Vernetzung
Gießen. 15.05.2003
Was ist
Risikoeinschätzung?
!
!
!
!
!
Beurteilung und Versuch der Minimierung der
Wahrscheinlichkeit, daß ein unerwünschtes Ereignis
eintritt
Identifizierung des Risikos
(welches Ereignis könnte eintreten?)
Frequenzabschätzung
(wie häufig ist das Ereignis zu erwarten?)
Risikoszenario
(unter welchen Umständen verwirklicht sich das Risiko?)
Charakterisierung des aktuellen Risikos
(welche Bedingungen liegen derzeit vor?)
Risikomanagement
(welche Interventionen sind erforderlich?)
Fragestellungen, die bei der Entscheidung,
welches Potential an Gewalttäterrisiko
besteht, zu berücksichtigen sind
1.Wie
groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß das
1.
Individuum - sofern nicht rechtzeitig eingeschritten wird Gewalttaten begehen wird?
2.Was
ist der zu erwartende Delikttyp, welche Häufigkeit
2.
und welchen Schweregrad werden zukünftige
Gewalttaten haben?
3.Wer
wird am wahrscheinlichsten das Opfer zukünftiger
3.
Gewalthandlungen sein?
4.Mit
welchen Maßnahmen könnte das Risiko zukünftiger
4.
Gewalt beherrscht werden?
5.Welche
Umstände könnten im vorliegenden Fall das
5.
Risiko von Gewalthandlungen steigern?
Die Durchführung der
Risikobeurteilung
Die Einschätzung des Risikos von Gewalthandlungen muß
! Informationen aus verschiedenen Bereichen
psychosozialen Funktionierens einbeziehen.
! auf multiple Methoden der Informationsbeschaffung
beruhen.
! auf Informationen mehrerer Quellen beruhen.
! auf Informationen statischen und dynamischen
Charakters beruhen.
! die Überprüfung der Korrektheit der gesammelten
Informationen beinhalten.
! in gewissen Zeitabschnitten wiederholt werden.
Generelle Prinzipien
um die Genauigkeit prognostischer Vorhersagen zu verbessern
MüllerMüller-Isberner (1996, 2000)
1.Bestehe
auf adäquaten Untersuchungsbedingungen
1.
2.Folge
anerkannten Prozeduren:
2.
" Erhebe die relevanten Daten
" Gib historischen Daten den Vorrang
" Verifiziere die Daten aus der
Vergangenheit
" Erst Aktenstudium, dann Interview
" Überprüfe die Informationen aus
dem Interview
3.Keine
Überbewertung von Selbstdarstellung
3.
und momentanem Persönlichkeitsbild
4.Gib
Wahrscheinlichkeiten an,
4.
vermeide Ja-Nein-Antworten
5.Gib
Prognosen für spezifizierte Bedingungen und Zeitabschnitte
5.
Das Risiko von Gewalttaten
wo stehen wir heute?
Meta-Analysen
Lipsey & Wilson (1993) untersuchten
302 Meta-analysen
Sie bestimmten typische Effektraten für
psychologische, pädagogische und
medizinische Interventionen
Gewaltvorhersage im Kontext
•
Sprachtherapie bei Stottern
.54
•
CBT bei Depression
.44
•
HCR-20 score " Gewalt auf Station
.40
•
By-pass Operation " Angina Pectoris
.37
•
PCL-R score " Gewalt
.35
•
Psychose " Gewalt
.20
•
Kleinere Klassen " bessere Schulnoten
.10
•
By-pass Operation " Mortalität
.07
•
ASS " Reinfarkt
.04
Aktuelle Trends in der
Prognoseforschung
1. Starke Gewichtung historischer Variablen
2. Starke Gewichtung der Merkmale der
(kriminellen) Persönlichkeit: 'Psychopathy'
3. Von 'Gefährlichkeit' zu 'Risikoeinschätzung‘
4. Von 'Risikoeinschätzung‘ zu
'Risikomanagement‘
5. Anwendung von Checklisten
Zusammenfassende Ergebnisse
wichtiger aktueller Arbeiten
1.Wenn
aktuarische Variablen sorgfältig erhoben
1.
werden, sind sie alleine oder in Kombination gute
Prädiktoren für zukünftige Gewalt (Harris et al.
1993)
2.Frühere
Gewalt ist ein gutes Vorhersagekriterium
2.
für zukünftige Gewalt (Menzies et al. 1994)
3.Persönlichkeitsstörung
ist weit mehr ein Risiko als
3.
Schizophrenie (Lidz et al. 1993; Harris et al. 1993)
4. Das einzige bisher getestete klinische Vorhersageinstrument (DBRS), ist zwar reliabel hat aber
wenig Vorhersagekraft (Menzies et al. 1994)
Zusammenfassende Ergebnisse
aktueller Arbeiten
5.Kliniker
unterscheiden sich teils sehr stark in ihrer
5.
Fähigkeit vorherzusagen (Menzies et al. 1994) und scheinen
zuweilen einige Gruppen besser einschätzen zu können als
andere (Lidz et al. 1993)
6.Der
PCL-R hat eine erstaunliche Vorhersagekraft als
6.
aktuarisches Instrument selbst dann, wenn die Daten aus
den Akten stammen und von trainierten Hilfskräften
erhoben wurden (Harris et al. 1993)
Literaturnachweis
Harris, Rice & Quinsey (1993). Criminal Justice and Behavior, 20, 315-335.
Menzies, Webster, McMain, Staley & Scaglione (1994). Law and Human
Behavior, 18, 1-28.
Lidz, Mulvey & Gardener (1993). JAMA, 269, 1007-1111
Oak Ridge Studie: risk marker for violence
(Harris et al. 1993)
Variable
Korrelation mit
gewalttätigem Rückfall
PCL-R Score
Fehlanpassung im Grundschulalter
Diagnose einer Persönlichkeitsstörung
Alter bei Indexdelikt
Von den Eltern getrennt im Alter von unter 16
Scheitern einer früheren bedingten Entlassung
Vorgeschichte nicht-gewalttätiger Delinquenz
Nie verheiratet
Alkoholmißbrauch
0,34
0,31
0,26
- 0,26
0,25
0,24
0,20
0,18
0,13
Strukturierte
Prognose-Instrumente
PCL-R / SV
HCR - 20
SVR - 20
PCL-R/SV, HCR-20 & SVR-20
Gemeinsame Merkmale
Codierung
0 Nein:
Das Merkmal liegt definitiv nicht vor oder läßt sich aus
den Untersuchungen und Erhebungen nicht ableiten.
1 Möglicherweise, teilweise:
Das Merkmal liegt wahrscheinlich vor, oder liegt nur
teilweise vor.
2 Ja: Das Merkmal liegt eindeutig vor.
X Aufgrund fehlender Informationen kann zum Fehlen
oder Vorhandensein des Merkmals keine Stellung
bezogen werden
Qualität der Instrumente
Psychopathy Konstrukt
PCL-R
PCL:SV
Psychopathy Literaturstellen
seit 1946
seit 1991
seit 1995
1.268 (03.01.2001)
HCR-20 (Version 1)
HCR-20 (Version 2)
HCR-20 Literaturstellen
1995
1997
56 (15.05.2000)
SVR-20
SVR-20 Literaturstellen
1998
< 10
American Psychological Association
Ethische Standards für psychologische Testverfahren und Checklisten
Checklisten
PCL HCR SVR
Handbuch
#
#
#
Reliabilität
#
#
$
Standardisierung
#
#
$
Validität
#
#
%
PCL:SV
"Psychopathy"
(Hart, Cox & Hare, 1995)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
Oberflächlich, glatt
Grandios
Betrügerisch-manipulativ
Fehlen von Reue
Fehlen von Empathie
Akzeptiert keine Verantwortung
Impulsiv
Schlechte Verhaltenskontrolle
Fehlende Lebensziele
Verantwortungslos
Antisoziales Verhalten in der Adoleszenz
Antisoziales Verhalten im Erwachsenenalter
Der HCR 20
Der HCR 20
A. Historical
10 Items (statisch)
B. Clinical
5 Items
(dynamisch)
C. zukünftige Risks
5 Items
(dynamisch)
Der HCR 20
Untersuchungsgang
Phase
Fokus
Zeit
1
Risikomerkmale
Vergangenheit
2
Gefährlichkeit
Gegenwart
3
Risikomanagement Zukunft
Quelle
Akten
Individuum
System
HCR-20
Dimension 1: Statische Variablen (Vergangenheit)
H1
Frühere Gewaltanwendung
H2
Geringes Alter bei 1. Gewalttat
H3
Instabile Beziehungen
H4
Probleme im Arbeitsbereich
H5
Substanzmißbrauch
H6
(gravierende) seelische Störung
H7
Psychopathy (PCL-Score)
H8
Frühe Fehlanpassung
H9
Persönlichkeitsstörung
H 10
Frühere Verstöße gegen Auflagen
HCR-20
Dimension 2: Klinische Variablen (Gegenwart)
C1
Mangel an Einsicht
C2
Negative Einstellungen
C3
Aktive Symptome
C4
Impulsivität
C5
Fehlender Behandlungserfolg
Dimension 3: Risikovariablen (Zukunft)
R1
Fehlen realisierbarer Pläne
R2
Destabilisierende Einflüsse
R3
Mangel an Unterstützung
R4
Fehlende Compliance
R5
Stressoren
Was kann der HCR 20?
Reliabilität (Haina 1997):
⇒.72
Cohens Kappa
Validität
(Gewalt intramural, Haina 1997/98):
r bis zu
⇒ 51 !!!
Standardisierung:
Maßregelvollzug BRD
H 10
C5
R5
HCR 20
Mittelwert
11.97
5.30
7.58
24.87
SD
3.42
2.18
1.86
5.90
Schlußfolgerungen aus der
1. Validierungsstudie (Haina)
Sowohl der HCR 20 als auf der PCL:SV liefern
gute Vorhersagen für aggressives Verhalten
während der Behandlung.
Bei Patienten mit Persönlichkeitsstörung scheint
der PCL:SV das überlegene Instrument zu sein.
Bei Patienten mit Psychosen scheint der HCR-20,
und hier insbesondere der C-Score, die besten
Prognosen zu liefern.
Mittlere CR-10 scores für Patienten in
verschiedenen Lockerungsstufen
17,0
16,0
15,0
14,0
13,0
12,0
11,0
10,0
9,0
8,0
0
1
2
3
4
5
level of in-hospital security
6
7
8
Die Grenzen der
Kriminalprognose
Abnahme prognostischer Zuverlässigkeit
in Abhängigkeit von der Zeit, für welche
die Prognose gelten soll
120
Prozent prognostischer Zuverlässigkeit
100
80
60
Zufall bei
einer
Basisrate
von 50%
40
20
0
0
200
400
600
800
1000
Tage
Unsicherheitsfaktor
1% pro Tag
0,1% pro Tag
1200
Theoretische Grundlagen kriminalprognostischer Entscheidungen
Anzahl der Probanden
20
15
10
5
0
&
&
&
&
&
&
&
&
&
&
&
&
&
&
&
&
&
&
&
&
&&
&&
&
0
5
10
15
20
25
Werte des Prognoseinstruments
&Nicht-Rückfällige
Rückfällige
30
35
Klinik für forensische Psychiatrie Haina
Entweichungen pro 100 Patienten 1984-2002
40,0
35,0
34,7
30,0
25,0
23,5
20,0
17,0
16,1
15,0
13,0
10,5
9,1
10,0
8,9
7,4
7,7
6,4
4,0
5,0
4,9
4,0
1,9
1,7
1,3
2000
2001
2002
0,0
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
Zusammenfassung
!
!
Unser Wissen darüber, wie die
Vorhersage von Gewalttaten psychisch
Kranker verbessert werden kann, hat sich
im letzten Jahrzehnt deutlich
ausgeweitet.
Es wäre wichtig, dieses jetzt verfügbare
Wissen und die jetzt vorhandenen
Instrumente auch in der Allgemeinpsychiatrie zu implementieren
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