Medienästhetik - Vorlesungen: Klang http://www.medienaesthetik.uni-siegen.de/index.php?id=465 Peter Matussek Medienästhetik des Klangs 0. Einführung [PDF] Klangwahrnehmung [PDF] Electronic Sounds [kommt nicht dran] 1. Physiologie des Hörens [PDF] 2. Psychologie des Hörens [PDF] 9. Digitale Klangproduktion 10. Auditive Mood-Modulation 3. Phänomenologie des Hörens [PDF] 4. Hörerzentrierte Klangforschung [PDF] 11. Sounddesign 12. Living in a Sound Culture Historische Anthropologie des Klangs [PDF] *Bibliographie* 5. Ursprünge der Musik [PDF] 6. Musik der griechischen Antike [PDF] 7. Orpheus: Leitfigur der Klangmagie [PDF] *Druckversion* 8. Die musikalische Orpheus-Rezeption [PDF] Medienästhetik des Klangs Der Begriff Medienästhetik ist zusammengesetzt aus dem lateinischen Wort medium (= das Mittlere, Vermittelnde) und dem griechischen Wort aísthesis (= Wahrnehmung, Empfindung). Untersuchungsgegenstand der Medienästhetik ist also dem Wortsinn nach die Wissenschaft von der Vermitteltheit der menschlichen Wahrnehmung. Mit dem Begriff "Ästhetik" ist aber seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert noch mehr gemeint als Aisthetik oder Wahrnehmungslehre, auch wenn es gelegentlich so definiert wird (vgl. G. Böhme 2001). Zunächst hatte Kant die Ästhetik als "Theorie des Schönen und Erhabenen in Kunst und Natur" konzipiert, in der Moderne wurde dieser Ansatz dann auch auf die "nicht mehr schönen Künste" (Jauß 1968) ausgeweitet, und im Zuge der popkulturellen Nivellierung von Kunst und Design wurde er abermals erweitert zu einem Verständnis von Ästhetik als Theorie künstlerischer (einschließlich gebrauchskünstlerischer) Gestaltung. Auch der Begriff "Medium" ist durch die Relevanzsteigerung, die er mit der Computermoderne erfuhr, heute weiter zu fassen: Im Unterschied zum früheren Sprachgebrauch, der eher von einzelnen Vermittlungsformen wie Sprache, optische Geräte, Spiritisten oder Massenmedien ausging, sind die technischen Medien heute so tief in unseren Alltag eingedrungen, dass wir von einer "mediatisierten" Lebenswelt ausgehen, die die menschliche Natur selbst erfasst und als bestimmender Faktor kultureller Entwicklungen angesehen wird, wie es der Begriff "Medienkultur" zum Ausdruck bringt. Die Medienästhetik des Klangs, um die es in dieser Vorlesung geht, trägt diesen Erweiterungen Rechnung, indem sie drei Untersuchungsebenen ansetzt, die den Stoff in drei Hauptteile mit jeweils vier Lektionen gliedert: • Der erste Teil widmet sich der Wahrnehmung (Aisthesis) von Klängen, d.h. dem Vorgang des Hörens unter physiologischen, psychologischen, phänomenologischen und medienkulturtheoretischen Aspekten (Lektionen 1–4). • Im zweiten Teil verfolgen wir die Geschichte der abendländischen Klangproduktion und -rezeption von den Anfängen bis zur Computermoderne. Wie in der Einleitung erläutert, können wir dabei Orpheus als Leitfigur nehmen, da nahezu alle epochalen musikalischen Innovationen zur Steigerung von Klangwirkungen sich in seinem Namen vollzogen (Lektionen 5–8). • Im dritten Teil untersuchen wir die Besonderheiten digitaler Sounds hinsichtlich ihrer eindringlichen Effekte auf alle Bereiche der heutigen Lebenswelt. Neue mediale Praktiken wie auditive Stimmungsmodulation und Sounddesign führen uns schließlich zu der Frage, was es heißt, in einer Sound Culture zu leben (Lektionen 9–12). 1 von 1 07.07.14 13:08 Medienästhetik - Vorlesungen: 0. Einführung http://www.medienaesthetik.uni-siegen.de/index.php?id=472 Peter Matussek Medienästhetik des Klangs 0. Einführung 0. Einführung 0.1 "Klang" etymologisch 0.2 Klangwirkung mythologisch 0. Einführung Wenn man einen Wahrnehmungsgegenstand – sei es eine Naturerscheinung oder ein medientechnischer Effekt – näher kennenlernen möchte, ist es hilfreich, zunächst nach der Herkunft seines Namens und den Urszenen seines Vorkommens zu fragen. Denn das Versprachlichen eines Wahrnehmungsinhalts und die Mythenbildung über sein frühestes Auftreten setzen voraus, dass Menschen sich in einem langen historischen Austauschprozess über ihre subjektiven Erfahrungen zu verständigen suchten, bis sie schließlich transsubjektive (über das Subjekt hinausgehende) Benennungen und Narrative (von lat. narrare = erzählen) fanden, die gemeinschaftlich anerkannt und tradiert wurden. Wir fragen also zunächst • nach den Ursprüngen unseres Wortes "Klang" (0.1) • und nach den ursprünglichen Narrativen, die für seine Bedeutung charakteristisch sind (0.2). Beides finden wir im alten Griechenland: Unser Wort "Klang" geht auf das altgriechische klaggé (neugr. Aussprache klangé) zurück, was wiederum mit unserem Wort "Klage" verwandt ist. Und die Urszene solchen Klage-Klangs ist der Mythos vom ersten Sänger Orpheus, der die gesamte Natur bezaubert und sogar die Grenze zwischen Leben und Tod überwunden haben soll, indem er so klangvoll über den Verlust seiner verstorbenen Geliebten klagte, dass er sie aus dem Schattenreich in die erlebte Gegenwart zurückholen konnte. Aber lassen sich solche subjektiven Erlebnisse von Klangwirkungen auch objektivieren? Wir werden hierzu den wissenschaftlichen Erkenntnisstand befragen – was ein interdisziplinäres Vorgehen erfordert. Dabei werden wir nicht nur lernen, jene außergewöhnlichen Bewusstseinszustände beim Musikhören besser zu verstehen, sondern auch, welche tiefgreifenden Folgen es hat, unter den medienästhetischen Bedingungen einer Sound Culture zu leben. 1 von 1 11.06.14 20:42 Medienästhetik - Vorlesungen: 0.1 "Klang" etymologisch http://www.medienaesthetik.uni-siegen.de/index.php?id=861 Peter Matussek Medienästhetik des Klangs 0. Einführung 0.1 "Klang" etymologisch Auszüge aus dem Artikel "Klang". In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1838 ff.). [Download des kompletten Artikels als PDF] 1) eigentlich, äußerlich klang ist hauptsächlich ein heller und hallender ton, während ton mehr den musikalischen oder gemütlichen wert und gehalt eines lautes, laut mehr den hall der stimme eines lebenden wesens, hall und schall einen klang von mehr grösze und umfang bezeichnen; doch wird klang, wie ton und laut, auch allgemein für sonus gebraucht, obwol seltener. a) von gesang und stimme b) von musikinstrumenten, glocken, schellen u. ä. c) dasselbe bildlich in der welt der empfindungen, von denen die dichter auch klingen, anklingen, nachklingen, verklingen eingeführt haben. [...] wo es schon aus dem bilde heraustritt in neue geltung, wie in anklang, einklang, nachklang, zusammenklang. d) sang und klang: eine beliebte reimformel e) eine ausgesungene stimme hat keinen klang mehr. frz. timbre, daher heißt es auch gebrochner, dumpfer, trüber, stumpfer, harter klang. f) wortton, das singen beim sprechen. 2) innerlich, dem inhalte nach wie das hören selbst ein doppeltes ist, ein äuszeres und ein inneres, so kann auch klang von dem schalle, der dem ohre angehört, übergehen zu dem inhalte, den er mitführt. a) in bezug auf den geist, verstand, von wort, rede: der blosze klang von verbrechen schreckte ihn aus dem schlafe auf. b) in bezug aufs gemüt (vgl. 1, c): und das ist der klang der wehmuth. dazu viele zusammensetzungen, wie freudenklang, lustklang, trauerklang, schmerzensklang, sehnsuchtsklang, auch zu friedensklang u.ä. c) hohler, leerer klang, der eben ohne inhalt, nichts als klang ist: ein leerer klang der worte. d) klang vom werte, inhalte eines namens: o name, dessen klang und werth wie man die echtheit, den silbergehalt eines geldstücks am klange prüft; früher galt klang schlechthin für ruf, fama: er hat einen bösen klang. nachklang: nachrede. Fachsprachen: Die griechischen Wurzeln: 0.1 "Klang" etymologisch Die Wissenschaft, die sich mit der Herkunft von Wörtern beschäftigt, nent sich Etymologie (von griech. étymos = wahr und logos =Wort; etymología bezeichnet also "das Suchen nach dem jedem Wort innewohnenden Wahren" – Pfister 1980: 9). Das umfangreichste und gründlichste Nachschlagewerk zur deutschen Etymologie ist das Deutsche Wörterbuch, das von Jacob und Wilhelm Grimm 1838 begründet wurde und bis heute fortgesetzt wird – inzwischen auch online verfügbar unter http://dwb.uni-trier.de/de/ (1.2.2014). Im oberen Teil der Folie finden Sie einen Auszug aus dem Artikel "Klang" sowie einen Link zum Download des kompletten Artikels. Beachten Sie insbesondere die systematische Gruppierung der vielfältigen Wortbedeutungen in "äußerliche" und "innerliche", also das Wahrnehmungsphänomen als solches und seine übertragenen Inhalte betreffende. Dabei wird "sonus", aus dem das englische "Sound" abgeleitet ist, nur der ersten Gruppe zugeordnet, und auch das nur eingeschränkt. Das deutsche "Klang" hat also einen weiteren Bedeutungsradius. Bemerkenswert ist ferner, dass "ton" auf den "musikalischen und gemütlichen wert", also nur auf eine Teilbedeutung von Klang, den Wohlklang, bezogen wird. Von diesen umgangssprachlichen Bedeutungen sind allerdings die fachsprachlichen zu unterscheiden (s. Tabelle unten links). So bezeichnet die physikalische Akustik als "Ton" eine regelmäßige Schallwelle, den Sinuston (der nicht gerade wohlklingend ist), während sie unter "Klang" mehrere sich harmonisch überlagernde Töne versteht (wobei die Überlagerung zu einer unregelmäßigen Welle führt, die für den jeweiligen Klang charakteristisch ist). Natürlich ist das mit "Klang" Gemeinte weit älter als die deutsche Sprache. Die sprachlichen Wurzeln für unsere deutschen Wörter "Klang", "Ton" und "Musik" liegen – ebenso wie ihre Entsprechungen in anderen europäischen Sprachen – im Altgriechischen (s. Tabelle unten rechts). 1 von 1 07.07.14 13:04 Medienästhetik - Vorlesungen: 0.2 Klang-Narrative mythologisch http://www.medienaesthetik.uni-siegen.de/index.php?id=860&shCo=1 Peter Matussek Medienästhetik des Klangs 0. Einführung 0.2 Klang-Narrative mythologisch Orpheus: Der Mythos von der Macht der musiké Hermes, Eurydike, Orpheus – Grabplattenrelief aus der Villa Albani in Neapel (5. Jh. v.Chr.) Judge Smith: Orfeas (2011) 0.2 Klang-Narrative mythologisch Die frühesten Erzählungen unseres Kulturkreises über das Wirkungspotential von Klängen stammen aus der griechischen Mythologie. Das griechische Wort musiké geht auf die Musen (griech. mousai) zurück, die Schutzgöttinnen der Künste. Und wenn die alten Griechen etwas zu erzählen hatten, dann riefen sie zunächst die Musen an. Denn in ihrer vor-schriftlichen Zeit überlieferten sie ihre Erzählungen in einem Sprechgesang, und die Musen sollten sie dafür in die rechte Stimmung bringen (vgl. die Musenanrufe bei Homer: Schriftvorlesung 6.5.3.1). Aus der Verbindung der Muse Kalliópē, der "Schönstimmigen" mit Apollon, dem Gott der Musik, ging Orpheus hervor, der legendäre Sänger, der allein mit den Klängen seiner Stimme und seines Begleitinstruments, der Leier (griech. lyra, daher unser Wort "Lyrik"), die gesamte Natur bezaubert und sogar die Grenze zwischen Leben und Tod überwunden haben soll, indem er so bewegend über den Verlust seiner verstorbenen Geliebten klagte, dass die Unterwelt sie frei gab. Wie kein anderes Narrativ ist der Orpheus-Mythos zum Inbegriff für das enorme, buchstäblich exorbitante, Wirkungspotential von Klängen geworden. Wann immer in der Geschichte neue Wahrnehmungsintensitäten durch neue musikalische Ausdrucksformen angepriesen werden sollten, so geschah dies in der Regel unter Berufung auf Orpheus. Und zwar bis heute: Die Songstory Orfeas von Judge Smith, u.a. Gründer der Psychedelic Rock Band Van der Graaf Generator, ist nur eines von buchstäblich tausenden Beispielen hierfür. Möglich sind solche historisch wiederkehrenden Reaktualisierungen eines Narrativs nur, wenn diesem bei aller mythologischen Einkleidung ein Wahrheitskern zugesprochen wird. In der Tat ist uns die Erfahrung durchaus geläufig, dass Klänge von uns manchmal so intensiv erlebt und empfunden werden, dass wir unseren Alltag, ja unser irdisches Dasein transzendieren. Und wenn wir das Gehörte mit einem geliebten Menschen verbinden, den wir verloren haben, kann ein intensives Klangerleben ihn scheinbar wieder ins Leben rufen. 1 von 1 07.07.14 13:06