Aufsätze zum Verständnis des Buddhismus Erster Teil Von Paul Dahlke BERLIN C. A. Schwetschke und Sohn 1903 2 Vorrede Die nachfolgenden Aufsätze enthalten nichts Neues, Ungehörtes über den Buddhismus. Aber vielleicht werden sie dazu dienen, das Verständnis einiger sog. dunklen Punkte zu erleichtern. Wenn die Arbeit vor mancher andern über den Buddhismus einen Vorzug hat, so ist es der, daß sie nicht nur aus Bücherstudien, sondern auch aus dem persönlichen Verkehr mit einheimischen Gelehrten Ceylons und Birmas hervorgegangen ist. Die Citate sind, soweit nicht andere Quellen angegeben sind, der Hauptsache nach der mittleren Sammlung des zweiten Buches des Pali-Kanons, dem Majjhima-Nikayo entnommen, welches durch K. E. Neumanns schöne Übersetzung zur bei weitem wertvollsten Fundgrube über den Buddhismus geworden ist, welche die letzten Jahrzehnte uns eröffnet haben. Soweit es zum Verständnis notwendig erschien, sind die Bezeichnungen in der Ursprache hinzugefügt worden. Ohne Zweifel verdient hier das Pali den Vorzug vor dem Sanskrit, weil unser Bestes über den Buddhismus aus den Pali-Quellen stammt. Aber wir sind seit zu langer Zeit an die Sanskrit-Namen gewöhnt, als das Ausdrücke wie Dhammo (anstatt Dharma) oder Kammam (anstatt Karma) u. s. w. in einem für Laien berechneten Buch schon für sich allein bestehen könnten. Daher sind meist Pali- und Sanskrit-Bezeichnungen zusammen gegeben, resp. nur Pali, wo Pali-Quellen, nur Sanskrit, wo Sanskrit-Quellen zitiert werden. 3 Bezüglich der Aussprache ist zu beachten, daß: c = tsch (genauer etwa wie „t" zusammen mit dem französischen „j" in jamais), j = dsch („d" zusammen mit dem französischen „j"), n = n, s = seh, v = w y, i = ist, „h" hinter dem Consonanten tönt deutlich mit (z. B. Budd-ha, Magad-ha, b-hikk-hu), „s" tönt scharf (z. B. Sramana, Sakya). Das Buch erscheint in zwei Teilen, deren jeder zehn Aufsätze enthält. Hinweis des Herausgebers: Die vorliegende Ausgabe als Datei beruht auf einer mit Hilfe eines Texterkennungsprogramms erstellten digitalen Kopie des Druckwerkes von 1903 (Erster und Zweiter Teil). Durch Fehler beim automatischen einlesen war die Lesbarkeit des Textes erheblich eingeschränkt. Eine Bearbeitung erfolgte, um die Lesbarkeit wieder herzustellen und evtl. einen Druck in einem heute gängigen Format und Layout zu ermöglichen. Die Diktion, die Schreibweise und das Layout der Originalausgabe von 1903 wurden weitestgehend beibehalten. Im Juni 2016 / DOEB 4 Inhalt Erster Teil Seite 1. Das Leben des Buddha 2. Kurze Darstellung der Hauptlehrsätze 7 23 des Buddhismus 3. Einige Charakteristika des Buddhismus 39 4. Der Pessimismus und das Leiden 59 5. Nirvana 75 6. Gott 91 7. Karma der Weltrichter 99 8. Moral im Buddhismus 113 9. Das Geben 131 10. Das Wissen 137 5 6 Das Leben des Buddha Der Buddhismus, jene wunderbare Lehre, welche das Leben als Leiden predigt und doch frei von Pessimismus ist, welche scheinbar stärksten Egoismus lehrt und doch voll höchster Moral ist, welche das ‚Ich‘, die Seele leugnet und doch absolute Verantwortlichkeit für unser Tun in den Wiedergeburten lehrt, welche ohne Gott, ohne Glauben, ohne Bittgebet doch die sicherste Erlösung bietet — diese wunderbare Lehre wurde begründet von Gautama (Pali: Gotamo) aus der hochadligen Familie der Sakya, der ‚stolzen Sakya‘. Sein Vater hieß Suddhodana, seine Mutter Maya. Seine Geburtsstadt war Kapilavastu (Pali: Kapilavatthu) am Südabhang des Himalaya, im heutigen Nepal. Geboren wurde er um 560 v. Chr. (nach anderen um 500 v. Chr.). Sein Familienname war Siddhartha (Pali: Siddhattho). Im höchsten Wohlleben erzogen, früh verheiratet und Vater eines Sohnes, ging ihm im dreißigsten Jahre die Erkenntnis über die wahre Natur des Lebens auf: Er erkannte, daß all Leben Leiden ist, er fühlte es, und angeekelt, geängstigt verließ er ‚schwarzhaarig, in der Blüte der Jugend‘ als Bettler den Palast seiner Väter, um in religiösen Übungen und Kasteiungen Erlösung von diesem Leiden zu finden. Jäh hatten ihn die Schrecken von Krankheit, Alter und Tod aufgerüttelt. Es war ihm ergangen wie dem Wanderer bei Nacht, der in schöner Landschaft zu sein glaubt: Plötzlich tritt der Mond hervor und er erkennt den Leichenacker rings um sich und den Galgen vor sich. So hatte er sein bisheriges Leben erkannt. Einem solchen Zustand mußte abgeholfen werden um jeden Preis. Nicht hohe Pläne, sondern Widerwille und Ekel trieben hinaus. Ganz Indien, zum mindesten das ganze religiöse Indien (vielleicht bestand aber in Wirklichkeit kaum ein Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen) stand schon zu Gautamas 7 Zeit unter der Herrschaft jener fürchterlichen Phrase: Die Askese läutert! Inmitten sonstiger unerhörter Freiheit der Spekulation war dieses der fixe Punkt; und wie der aufgespießte Falter um die Nadel, so drehte sich um ihn der Flügelschlag all religiösen Lebens: Kein Heil ohne Selbstpeinigung! Auch Gautama ging diesen von so vielen anderen vor ihm ausgetretenen Weg; er beschritt ihn mit dem Eifer der Jugend und mit der Gewalt der Verzweiflung. Nach sechsjähriger, bis zum Übermaß getriebener, aber vergeblicher Bußübung ging ihm endlich unter dem Bodhibaum in Uruvela die wahre Erkenntnis auf: Er wurde zum Buddha (Pali: Buddho), das heißt zum Erleuchteten, zum Erwachten. Hinter dem Ausdruck „Buddha" versteckt sich nichts Übernatürliches. Er bedeutet nichts als das völlige Durchschauen des allgültigen Naturgesetzes der Vergänglichkeit. Buddha ist nichts anderes als einer, der diesen spezifischen Gedanken von der Vergänglichkeit, den jeder fassen kann, bis zum Ende verfolgt und verwirklicht hat. Das hatte Gautama erreicht, anders ausgedrückt: Er erkannte die Ursache des Leidens und damit dessen Vernichtbarkeit. Seine Lehre, die später zur Religion wurde, war somit gegründet. Lediglich das konzentrierte Streben nach Leidenslosigkeit ist der Ausgangspunkt des Buddhismus, — das Erreichen des Zustandes der Leidenslosigkeit ist sein Endpunkt. Mit der Exaktheit eines Pendels schwingt buddhistisches Denken nur zwischen diesen beiden Punkten: zwischen Leiden und Leidenslosigkeit. — Für den Buddhisten existiert nichts anderes, Außenliegendes, wie es für den in der Arena Laufenden nur zwei Punkte gibt. Sieben Tage lang, so berichtet die Legende, brachte Gautama, jetzt der Buddha, am Fuße des Bodhibaumes zu Uruvela zu, die Seligkeit der Erlösung genießend. Es war die Ruhe nach dem Sturm sechsjähriger Askese. 8 Endlich wieder zu sich selbst gekommen, überlegte er: „Was soll ich nun tun, nachdem ich dieses heilige Wissen, diese Wissensklarheit erworben habe? Dieses Geschlecht, das nur der Lust dient, wird mich nicht verstehen, und wenn ich meine Lehre, die unter Schmerzen geborene, verkünde, so wird Plage und Enttäuschung mein Lohn sein.― So kam ihn das Verlangen an, sich in sich selbst genügen zu lassen, aber Brahma Sahampati, so erzählt die Legende, erschien vor ihm, ihn bittend die Welt nicht verloren gehen zu lassen. Durch ihn überzeugt, erkannte der Buddha, daß unter der Masse der Wesen wohl solche sein möchten, welche fähig wären, die Tiefe der Lehre zu ergründen, und er entschloß sich zum Predigen. So machte er sich auf den Weg nach Benares, um dort den fünf Mönchen, die ihn in seiner sechsjährigen Askese umgeben hatten, die Wahrheit zu eröffnen. Unterwegs traf er den nackten Asketen Upaka, der ihn fragte: „Dein Antlitz ist so heiter-still. Wer ist der, als dessen Schüler du der Welt entsagt hast?― Gautama aber, im Treiben seines Genius, antwortet: „Ich habe keinen Lehrer. Mir ist keiner gleich. Ich bin der Vollendete, der Buddha. Die Ruhe habe ich erreicht, Nirvana gewonnen. Um das Reich der Wahrheit zu gründen, gehe ich jetzt zur Stadt Benares. Dort will ich des Lebens Trommel schlagen in dieser Welt der Dunkelheit.― — „So bist du der Allbesieger?― fragt Upaka. — „Das Böse habe ich besiegt, darum bin ich Allbesieger― — In Benares kam der Buddha im Tierpark Isipatana an und traf dort jene fünf Bhikshu (Pali: bhikkhu, Asket, Bettelmönch), die er suchte. Als diese ihn von weitem sahen, sprachen sie zueinander: „Dort kommt jener Gautama, der die Askese aufgegeben hat und jetzt ein Wohlleben führt. Laßt uns ihn nicht empfangen.― Als aber der Buddha herankam, da entfielen ihnen ihre Absichten. Der eine nahm ihm Schale und Kleid ab, der andere bereitete den Sitz, der dritte brachte Fußwasser u. s. w. 9 Und nun spricht der Buddha zu ihnen: „Hört, ihr Mönche, das Totlose (amatam) ist gefunden.― Die aber wehren ab, weil sie das Vertrauen zu ihm Verloren haben. Zweimal noch muß er seine Aufforderung wiederholen, nachdrücklich fragen „Habe ich je zu euch so gesprochen?" Da endlich geben sie nach, und der Buddha legt sein Gesetz von Grund und Folge, vom Leiden und vom Pfad der Mitte dar. Gautama Buddha beginnt seine Laufbahn als Lehrer der Welt. Es folgen nun die Bekehrungsgeschichten einzelner Personen, meist social und geistig hochstehender Leute, und ganze Philosophenschulen, und damit reißt der fortlaufende Faden über den Lebensgang des Buddha ab, soweit er uns im Mahavagga, einem Teil des ersten Buches des Palikanon, gegeben wird. Erst im Sutta-Pitakam, in dem großen Parinibbana-Sutta folgt nach langer Lücke die Fortsetzung. Es ist der Bericht über die letzten Lebenstage des Buddha, der hier gegeben wird. Zwischen dem Bericht des Mahavagga und diesem hier liegt somit ein Zeitraum von etwa 45 Jahren. In der Stadt Rajagriha (Pali: Rajagaham), einem seiner Lieblingsaufenthalte, treffen wir den Erhabenen wieder. Mit Ananda (Pali: Anando), seinem Lieblingsschüler, und von einer Menge Mönche begleitet, tritt er von hier aus seine gewohnten Wanderungen von Ort zu Ort an, überall religiöse Discurse haltend. Immer wiederholt sich dasselbe Thema: „Groß, wahrlich, ist die Frucht, groß, wahrlich, ist der Lohn standhaften Nachdenkens, wenn gestützt durch richtiges Benehmen. Groß, wahrlich, ist die Frucht, groß der Lohn der Einsicht, wenn gestützt durch standhaftes Nachdenken. Der Geist, gestützt durch Einsicht, wird befreit von den großen Übeln: von der Sinnlichkeit, der Persönlichkeit, der Täuschung, der Unwissenheit.― Immer weiter wandernd, weiter predigend kam er nach der reichen Stadt Vesali, wo er der Gast der Courtisane Ambapali war. Von hier begab er sich nach dem nahen Ort Beluva und entließ die Mönche, um selber wie alljährlich die 10 dreimonatliche Regenzeit (vassa) hier zuzubringen. Hier nun überfällt ihn schwere Krankheit, er aber denkt: „Es würde nicht recht sein, aus dem Dasein, zu scheiden, ohne zu den Jüngern geredet zu haben. Ich will durch eine Willensanstrengung diese Krankheit niederzwingen und mich am Leben halten, bis die Zeit da ist.― Und die Krankheit weicht von ihm. Nach abgelaufener Regenzeit läßt er die Gemeinde zusammenrufen, ermahnt die Brüder und teilt ihnen mit, daß sein Lebensende in drei Monaten erreicht sein würde. Dann tritt er seine Wanderungen wieder an. Im Ort Pava wird er vom Schmied Cunda im Mangohain bewirtet und bald danach wieder von einer heftigen, schmerzhaften Krankheit überfallen. Er trägt geduldig, aber auf dem Wege zwischen Pava und Kusinara bricht er zusammen. Nachdem er sich durch einen Trunk Wasser gestärkt, wandert er weiter und kommt im Salahain von Kusinara an, der letzten Station seiner Wanderschaft. Zwischen zwei Salabäumen läßt er sich sein Ruhelager bereiten und, so heißt es, die Bäume lassen einen Schauer von Blüten auf ihn herabfallen, trotzdem es nicht die Jahreszeit ist. Da spricht der Buddha zu Ananda: „Siehe! ganz voll Blüten sind diese Salabäume außer ihrer Zeit; einen Blütenregen lassen sie auf den Leib des Tathagata*) herabfallen aus Ehrfurcht für den Nachfolger der Buddhas der Vorzeit. Aber das ist nicht die Weise, o Ananda, wie der Tathagata wahrhaft geehrt wird, sondern dadurch, daß das Gesetz befolgt wird, dadurch ehrt man wahrhaft den Tathagata.― Noch einmal beruft er dann seine Mönche, noch einmal fragt er sie, ob in einem von ihnen irgendein Zweifel über irgendeinen Punkt der Lehre verborgen liege: „damit ihr nicht später bereut, mich nicht gefragt zu haben, als ich noch unter euch weilte.― *) Tathagata bedeutet dem Sinne nach ‚der Vollendete‘. Neben Bhagavat (der Gesegnete) ist es das häufigste Beiwort des Buddha 11 Als alles schweigt, folgt seine letzte Ermahnung, die letzten Worte aus seinem Munde: „Ich ermahne euch, o Brüder: Alles was entstanden ist, muß auch vergehen. Kämpft für euer Heil ohn Unterlaß.― So preßte er diesen letzten Atemzügen noch einmal den Stempel seines ganzen Lebens und seiner ganzen Lehre auf. Man setzt sein Todesjahr etwa auf 480 (resp. 420) vor unserer Zeitrechnung. Von den achtzig Jahren seines Lebens waren fünfzig einer Unermüdlichen Lehrtätigkeit, einem einzigen Gedanken gewidmet, und mit Recht konnte er, als er, das Sterben vor sich, einmal noch den Blick hinter sich wandte zu Subhadda, seinem letzten Schüler, sagen: „Kaum dreißig Jahre war ich alt, Subhadda, Als ich die Welt ließ, nach dem Höchsten suchend Und fünfzig Jahre dann und eins, Subhadda, Bin ledig wohl ein Pilgrim ich gewesen Im weiten Reich der Tugend und der Wahrheit. Merke: Nur in ihm allein ist Heil zu finden.“ Es ist nicht viel, was wir vom Leben dieses Außerordentlichen wissen. Vor allem vermissen wir schmerzlich die feineren Züge. Es fehlen die Farben. Die Sutras (Pali: Suttam), die Lehrreden, welche der Buddha selber gehalten hat, füllen diese Lücke nicht genügend aus. Vom Persönlichen erfahren wir in ihnen nicht viel mehr, als daß der Erhabene zu der und der Zeit da und da weilte, etwa zu Savatthi im Garten Anathapindikas oder im Bambushain zu Rajagaha u. s. w. Stets und überall ist der buddhistische Stil der gleiche. Jener Mangel an Wärme, jene Affectlosigkeit, die auch sonst dem System anhaften, machen sich hier besonders störend bemerkbar. Nie hat der Buddha wie Christus oder Paulus geeifert, von der finstern, tödlichen Glut der alten Propheten gar nicht zu reden. In der Legende heißt es vom Buddha: „Die Würde der Erscheinung macht ihn kenntlich als wie den Tempel die gestickte Flagge.― 12 Diese bis zur Schwerfälligkeit gesteigerte Würde charakterisiert auch seine religiösen, Gespräche. In erhabener Gleichförmigkeit fließt der Discurs dahin, sorgfältig in jeder Äußerung das Maß wahrend. Unter der Last schematischer, endloser Wiederholungen wird jedes Aufschnellen unmöglich gemacht. Kaum daß, wenn einer aus der Gemeinde in ketzerische Ansicht verfallen ist, für einen Augenblick der Affect durchleuchtet. „Mißverständigen Sinnes, o Tor, willst du uns verbessern und gräbst dir selbst das Grab und schaffst dir schwere Schuld. Das wird dir, o Tor, lange zum Unheil, zum Leiden gereichen.― Damit aber gleitet auch die Rede schon wieder in die ruhige Form zurück. Selten auch sehen wir den Discurs in selbständiger, lebendiger Rede und Gegenrede sich abspielen. Selten erfolgt auf eine directe Frage die directe Antwort. Durch eine Gegenfrage wird vielmehr der Frager auf sich selbst zurückgeworfen. Wenn er hier in sich die zu einer ersprießlichen Beweisführung nötige Basis gefunden hat, dann beginnt der Buddha sein stereotypes System von Fragen, dem ein ebenso stereotypes System von Antworten folgt. Nie wird vom Buddha gesagt, daß er lächelte oder weinte. Solche Sätze wie: „Da ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst, und ihm gingen die Augen über― haben keinen Platz im buddhistischen Kanon. Nur die Legende erzählt, daß der Buddha lächelte. Als z. B. bei seiner Rückkehr nach Kapilavastu, seiner Vaterstadt, sein Schwiegervater ihm mit Schmähungen den Weg vertrat, da lächelte der Buddha. „Das war, heißt es ausdrücklich, das erste Mal, daß er lächelte seit seiner Buddhaschaft.― Das Untertauchen in menschliche Gefühle ist nicht Sache des Buddha. Affect ist Unwissenheit. Selten nur sehen wir über diese eherne Klarheit, die sich hoch erhaben über alles Menschliche hinspannt wie der Himmelsdom über die Erde, hellen Wolken gleich Gefühle hinstreichen. Aber es mag wohl sein, daß hieran nicht der Mann, sondern nur der starre 13 Überzug buddhistischer Diction schuld ist. Die Persönlichkeit Gautama Buddhas ist zu groß, zu vielseitig, als daß ihr irgend etwas Menschliches sollte ferngeblieben sein. Wie rührend, wie zart ist z. B. jene Episode, die uns das Mahaparinibbana-Sutta erzählt: Der Lieblingsjünger Anando steht, fassungslos vor Trauer über das bald zu erwartende Abscheiden des Buddha, hinter der Tür und weint. Da ruft ihn der Buddha zu sich und tröstet ihn wie die Mutter ihr Kind tröstet: „Laß gut sein, Ananda. Weine nicht. Habe ich es dir nicht oft gesagt, daß das der Lauf der Dinge ist, daß wir uns von allem was uns lieb und teuer ist, trennen müssen. Wie sollte es wohl möglich sein, daß etwas, das entstanden ist, nicht auch vergehen sollte?― Ein andermal trifft er einen kranken Mönch hilflos und verlassen in seiner Zelle liegen. Da ermahnt er seine Mönche: „Ihr habt nicht Vater, nicht Mutter; so seid euch selber Vater und Mutter. Wie ihr mich selber verwarten würdet, so verwartet auch die Kranken.― (Mahavaggo). Wenn Mönche von fern her zu ihm kommen, so hält er es nicht für unter seiner Würde sie zu fragen: „Wie steht es mit dir, o Mönch? Hast du Mangel an Nahrung gehabt? Hast du eine beschwerliche Reise gehabt?― Auch die Geißel des Spottes weiß er wohl zu schwingen: Eines Tages saß der Erhabene unter einem Laubbaum, sich der Meditation erfreuend. Da kam der vornehme Stutzer Dandapani, begrüßte den Erhabenen und auf seinen Spazierstock gestützt frug er von oben herab: „Was bekennt und verkündet der Asket?― — „Daß er durch nichts auf der Welt aus der Fassung gerät, daß dem Heiligen, der keine Fragen mehr stellt, jeden Unmut vertilgt hat, weder Dasein noch Nichtsein begehrt, Wahrnehmungen nicht anhaften. Das bekenne ich, Bruder, das verkündige ich.― (Heißt auf gut Deutsch: Du bist Luft für mich.) Die Art des Verkehrs mit seinen Mönchen spiegelt sich in folgender Episode des Sutta vom ‚Heiligen Ziel‘ wieder: „Da 14 nun begaben sich viele Mönche zum ehrwürdigen Anando und sagten zu ihm: „Lang ist her, Bruder Anando, seitdem wir vom Munde des Erhabenen ein lehrreiches Gespräch gehört haben. Gut wäre es, Bruder Anando, wenn wir vom Munde des Erhabenen ein lehrreiches Gespräch zu hören bekämen.― „Wohlan, Ehrwürdige, so begebt euch, zur Klause des Brahmanen Rammako. Vielleicht werdet ihr vom Munde des Erhabenen ein lehrreiches Gespräch zu hören bekommen.― „Das wollen wir tun, Bruder― erwiderten da jene Mönche dem ehrwürdigen Anando. Nachdem nun der Erhabene in Savatthi von Haus zu Haus getreten und vom Almosengange zurückgekehrt war, wandte er sich nach dem Mahle an den ehrwürdigen Anando: „Komm, Anando, laß uns in den Osthain gehen zu Mutter Migaros Terrasse und bis gegen Abend dort verweilen.― „Wohl, o Herr― erwiderte der ehrwürdige Anando dem Erhabenen. Und der Erhabene begab sich nun in den Osthain zu Mutter Migaros Terrasse für den Tag. Als nun der Erhabene gegen Abend die Gedenkensruhe beendet hatte, wandte er sich zum ehrwürdigen Anando: „Komm, Anando, gehen wir ins ‚Alte Bad‘ die Glieder erfrischen.― „Wohl, o Herr― erwiderte der ehrwürdige Anando dem Erhabenen. Und der Erhabene ging nun mit dem ehrwürdigen Anando ins ‚Alte Bad‘ die Glieder erfrischen. Da nun sprach der ehrwürdige Anando zum Erhabenen also: „Jene Klause des Brahmanen Rammako, o Herr, ist nicht weit von hier, entzückend gelegen, in heiterer Ruhe. Gut wäre es, o Herr, wenn der Erhabene sich dorthin begeben möchte, von Mitleid bewogen.― Schweigend gewährte der Erhabene die Bitte. Und der Erhabene, begab sich nun zur Klause des Brahmanen Rammako. Um diese Zeit aber waren dort viele Mönche in lehrreichem Gespräche versammelt. Da blieb der Erhabene vor dem Tor der Klause stehen und wartete das Ende des Gespräches ab. 15 Als nun der Erhabene merkte, das Gespräch sei zu Ende, räusperte er sich und schlug mit dem Klopfer an; jene Mönche aber öffneten dem Erhabenen die Pforte. Und der Erhabene betrat nun die Klause des Brahmanen Rammako und setzte sich auf den. angebotenen Sitz. Hierauf wandte sich der Erhabene an die Mönche u. s. w.― An den Vorschriften, die er seinen Mönchen gegeben hatte, hat er selber bis zuletzt festgehalten. Noch als Achtzigjährigen sehen wir ihn nach beendeter Regenzeit seine Wanderungen von Ort zu Ort machen und von öffentlicher Mildtätigkeit leben. Nicht selten begegnen wir in den Suttas dieser Einleitung: „Da nun erhob sich der Erhabene am frühen Morgen, nahm Mantel und Almosenschale und begab sich u. s. w.―, d. h. er machte wie jeder seiner Mönche den täglichen Bettelgang in den Vormittagsstunden. War der Almosengang und die Mahlzeit erledigt, so wurde der Rest des Tages unter einem Baum im Walde in Meditation zugebracht. „Zu einer Zeit―, heißt es in einem Sutta des AnguttaraNikayo*), „weilte der Erhabene zu Alavi, am Kuhwege, in einem Simsapawalde, auf einem Lager von Blättern. Da nun bemerkte ein Einwohner von Alavi, Namens Hatthako, als er durch den Wald ging, den Erhabenen am Kuhwege im Simsapawalde, in Meditation versenkt auf einem Laublager sitzen. Hierauf schritt er zu dem Orte hin, wo der Erhabene sich befand, begrüßte den Erhabenen ehrerbietig und setzte sich zur Seite nieder. Dort sitzend sprach er nun zum Erhabenen also: „Lebt, o Herr, der Erhabene wohl glücklich?― „So ist es, o Jüngling, ich lebe glücklich. Und von denen, die in der Welt glücklich leben, bin ich auch einer.― *) Nikayo (Nikaya) heißt Sammlung, Abteilung. Dieser und alle später erwähnten Nikayas sind Teile des Sutta-Pitakam (2tes Buch des Palikanon). 16 „Kalt, o Herr, ist die Winternacht, es kommt die Zeit des Reifs, rauh ist der von den Hufen der Rinder zertretene Boden, dünn ist das Laublager, fein, sind die Blätter der Bäume, leicht die gelben Mönchsgewänder; scharf der schneidende Winterwind.― Und in erhabener Eintönigkeit erwidert der Buddha: „So ist es, o Jüngling, ich lebe glücklich. Und von denen, die in der Welt glücklich leben, bin ich auch einer.― Unter anderem Bild tritt uns der Buddha in seinen Disputationen mit Andersgläubigen entgegen. Etwas schematisch wird der ermattete, schweißbedeckte Gegner dem Buddha gegenübergestellt, der ruhig, ohne äußere Anzeichen der Erregung dasitzt, „die Hautfarbe klar wie Gold". Er selber freilich hatte erklärt: „Daß ich nun (bei Disputationen mit irgendjemandem) in Bestürzung oder Verlegenheit geraten könnte, eine solche Möglichkeit ist nicht vorhanden, und weil ich keine solche Möglichkeit kenne, deswegen bleibe ich ruhig, unverstört, zuversichtlich.― Mit jenem Stolz, wie er nur dem Genius erlaubt ist, hatte er, schon ein Greis, dem Sariputta, seinem Hauptjünger, erklärt: „Und wenn ihr mich auf dem Bette herbeitragen werdet, Sariputto: Die Geisteskraft des Vollendeten wird unverändert sein.― Wir meinen jenen Einfluß zu fühlen, der von der übermächtigen Persönlichkeit dieses wunderbaren Mannes ausgegangen sein muß, wenn es an einer Stelle, heißt: „Ich weiß wohl, wenn ich da einer Schar von vielen Hunderten die Lehre verkündet habe, so denkt ein jeder von mir: Nur für mich hat der Asket Gotamo die Lehre verkündet.― Doch ist das nicht also zu verstehen, weil ja der Vollendete den anderen die Lehre zur Aufklärung verkündet. Aber wenn eine solche Darlegung zu Ende ist, dann richte ich auch das einzelne Gemüt eines jeden Friede Suchenden auf, bring es zur 17 Ruhe, einige es, füge es zusammen. Und so halte ich es alle Zeit, alle Zeit.― Sicher haben wir in der sich häufig wiederholenden Antwort seiner Mönche: „Vom Erhabenen stammt all unser Wissen― nicht nur eine Phrase, sondern die Anerkennung dieser allüberragenden Geistesfähigkeit zu sehen. Trotzdem hält er es aber nicht für unter seiner Würde, sich der Mönchsgemeinde zu unterstellen und sich ihrem Urteil zu unterwerfen gleich jedem anderen Mönch: „Zu jener Zeit nun―, heißt es im Samyuttaka-Nikayo, „bei der Uposathofeier*) an einem Vollmondsabende, bei der alljährlichen letzten Zusammenkunft der Jünger vor der Wanderzeit, saß der Erhabene umgeben von der Jüngergemeinde unter freiem Himmel. Da nun sah der Erhabene über die schweigsame Mönchsgemeinde hin und sprach zu den Mönchen: „Wohlan denn, ihr Jünger, ich lade euch ein zu sagen, ob ihr irgendetwas an mir mißbilligt, sei es in Taten oder in Worten.― Er schämt sich nicht, als ein Brahmane ihn fragt: „Gibt der verehrte Gotamo wohl zu, bei Tage zu schlafen?―, einfach und ohne Umschweife zu antworten: „Ich gebe es zu, im letzten Monat des Sommers, nach dem Mahle, wenn man vom Almosengange zurückgekehrt ist, den Mantel vierfach gefaltet auszubreiten und, auf der rechten Seite liegend, gesammelten Sinnes einzuschlafen.― In erhabenster Menschlichkeit aber sehen wir ihn vor uns, wenn er von seinem Ringen vor erlangter Buddhaschaft spricht. Mit Rührung und Ehrfurcht lauschen wir hier seinen Worten. So hat noch nie ein Religionsstifter gesprochen. Einer der so spricht, braucht nicht mit Himmelswonnen zu locken. Einer der so spricht, zieht durch sich selbst mit jener Gewalt, mit der die Wahrheit jeden zieht, der in ihren Bereich kommt. *) Uposathafeier ist die zweimal im Monat stattfindende Feier, bei welcher öffentlich gebeichtet wurde 18 „Auch ich habe einst, ihr Mönche, noch vor der vollen Erwachung, als unvollkommen Erwachter, Erwachung erst Erringender, selber der Geburt unterworfen, gesucht was auch der Geburt unterworfen ist, selber dem Altern unterworfen, gesucht was auch dem Altern unterworfen ist, selber der Krankheit unterworfen, gesucht was auch der Krankheit unterworfen ist, selber dem Sterben unterworfen, gesucht was auch dem Sterben unterworfen ist, selber dem Schmerz unterworfen, gesucht was auch dem Schmerz unterworfen ist, selber dem Schmutz unterworfen, gesucht was auch dem Schmutz unterworfen ist. Da kam mir, ihr Mönche, der Gedanke: ‚Was suche ich denn, selber der Geburt, dem Altern, der Krankheit, dem Sterben, dem Schmerze, dem Schmutze unterworfen, was auch der Geburt, dem Altern, der Krankheit, dem Sterben, dem Schmerze, dem Schmutze unterworfen ist! Wie, wenn ich nun, selber der Geburt unterworfen, das Elend dieses Naturgesetzes merkend, die geburtlose, unvergleichliche Sicherheit, die Wahnerlöschung suchte; selber dem Altern unterworfen, das Elend dieses Naturgesetzes merkend, die alterlose, unvergleichliche Sicherheit, die Wahnerlöschung suchte; selber der Krankheit unterworfen, das Elend dieses Naturgesetzes merkend, die krankheitslose, unvergleichliche Sicherheit, die Wahnerlöschung suchte; selber dem Sterben unterworfen, das Elend dieses Naturgesetzes merkend, die unsterbliche, unvergleichliche Sicherheit, die Wahnerlöschung suchte; selber dem Schmutze unterworfen, das Elend dieses Naturgesetzes merkend, die unbeschmutzte, unvergleichliche Sicherheit, die Wahnerlöschung suchte‘. Und ich zog, ihr Mönche, nach einiger Zeit, noch in frischer Blüte, glänzend dunkelhaarig, im Genusse glücklicher Jugend, im ersten Mannesalter, gegen den Wunsch meiner weinenden und klagenden Eltern, mit geschorenem Haar und Barte, mit fahlem Gewande bekleidet, vom Hause fort in die Heimatlosigkeit hinaus.― 19 Kann der Mensch dem Menschen Bedeutenderes sagen! — Wie sehr fühlen wir ihn als unseresgleichen, wenn er gesteht: „Auch ich hatte schon vor der vollen Erwachung, als unvollkommen Erwachter, Erwachung erst Erringender, den Satz: ‚Unbefriedigend sind die Begierden, voller Qual, voller Verzweiflung und noch mehr des Elends‘ der Wahrheit gemäß mit vollkommener Weisheit erkannt, doch außer den Begierden, außer dem Schlechten fand ich keine Glückseligkeit.― Wie fühlt und bangt unser Herz mit ihm, wenn wir ihn an der Arbeit sehen im Kampf mit diesem widerstrebenden Leib. So erzählt er selber: „Da sagte ich mir: Wie wenn ich nun in gewissen verrufenen Nächten, bei Vollmond und bei Neumond, bei zunehmendem und bei abnehmendem Viertel Grabhügel in Hainen, in Wäldern, unter Bäumen aufsuchte, an Stätten des Grauens und Entsetzens weilte, damit ich doch erführe, was es mit jener Furcht und Angst sei. Und im Laufe der Zeit suchte ich in gewissen verrufenen Nächten bei Vollmond und bei Neumond, beim ersten und beim letzten Viertel Grabhügel auf in Hainen, in Wäldern, unter Bäumen, weilte an Stätten des Grauens und Entsetzens. Da saß ich nun, und ein Reh kam herbei, oder ein Waldhuhn knickte einen Ast, oder Wind schüttelte das Laubwerk. Ich aber dachte: Hier wird sich wohl jene Furcht und Angst einstellen, und ich sagte mir: Was warte ich denn unverwandt auf das Erscheinen der Furcht? Wie wenn ich nun, sobald sich jene Furcht und Angst zeigen sollte, auch schon alsbald jener Furcht und Angst begegnete? Und jene Furcht und Angst kam über mich, als ich auf- und abging. Aber weder stand ich da still, noch setzte ich mich nieder, noch legte ich mich hin, bis ich auf- und abgehend jener Furcht und Angst begegnet hatte. Und jene Furcht und Angst fand sich ein, als ich stille stand. Aber weder ging ich da auf und ab, noch setzte ich mich nieder, noch legte ich mich hin, bis ich stille stehend jener Furcht und Angst begegnet hatte. Und jene Furcht und Angst nahte mir, als ich saß. Aber weder legte ich mich da hin, noch stand ich auf, 20 noch ging ich umher, bis ich sitzend jener Furcht und Angst begegnet hatte. Und jene Furcht und Angst kam heran als ich lag. Aber weder hob ich mich da empor, noch stand ich auf, noch ging ich hin und her, bis ich liegend jener Furcht und Angst begegnet hatte.― Wie aufrichtig, wie ernst, wie kindlich ist dieser Kampf. Wie reißt er alle unsere Sympathien an sich. Selbst die unerhörte, fast übernatürliche Höhe seiner Selbstpeinigung wird durch die Naturwahrheit, durch die packende Schlichtheit, mit der er sie darstellt, uns näher gerückt. Aufatmend fühlen wir mit ihm, sind wir überzeugt mit ihm: „Das ist das Höchste, weiter geht es nicht.― Wie traurig und doch wie tröstlich klingt es, wenn er zu seinen Jüngern spricht: „Mangel an Verständnis und an Einsicht in die Vier heiligen Wahrheiten, o ihr Brüder, trägt die Schuld, daß wir solange die traurigen Pfade des Samsara*) wandeln mußten — beide, ihr und ich.― (Maha-ParinibbanaSuttam) Vielleicht nie, solange die Welt steht, ist eine Persönlichkeit von so ungeheurem Einfluß auf das Denken der Menschheit gewesen, als Gautama, der Träger des Buddha-Gedankens. Diese Behauptung wird zur unzweifelhaften Tatsache für jeden, der sich von jenem unmotivierten Dünkel freigemacht hat, in der Welt nur das griechisch-römisch-christliche Culturcentrum. und seine Radien in Raum und Zeit zu sehen. Diese Behauptung wird ferner zur unzweifelhaften Tatsache für jeden, der gelernt hat, unter Cultur etwas anderes zu verstehen, als nur die Kunst comfortabel zu leben und schnell Geld zu machen, der verstehen gelernt hat, daß wahrer Fortschritt nicht nach außen geht, daß wahre Entwicklung nur in jener Verinnerlichung besteht, die das suchen und umfassen lernt, was die Welt nicht kennt, oder mit Indifferenz, vielleicht auch mit Verachtung behandelt. *)Pali: Samsaro; wörtlich: das Zusammenwandern; die Welt von Geburt und Tod; die endlose Reihe der Wiedergeburten. 21 Wer das erkennt, der erkennt auch, daß schon fast vor zweieinhalb Jahrtausenden der Gipfelpunkt geistiger Entwicklung erreicht worden ist, und daß schon damals in jenen stillen Büßerhainen am Ganges das Höchste gedacht worden ist, was Menschen denken können, und daß in den Zeiten nur die Schale, aber nicht der Kern gewechselt hat, die Ausdrucksweise, aber nicht die Sache, und daß in den endlosen Jahrtausenden nach uns es nicht anders gehen wird. Denn einen Gedanken, höher als jenen Buddhagedanken, der mit der ganzen Welt auch seinen Träger aufhebt, gibt es nicht. Das waren jene einzigen Zeiten, in denen ein dem Suchen nach dem höchsten, überweltlichen Gut gewidmetes Leben nicht für Torheit, sondern für etwas Verehrungswürdiges galt; jene einzigen Zeiten, in denen es naturgemäß schien, die Wahrheit, das Gute nicht nur zu lehren, sondern auch zu leben. Kann diese Einförmigkeit Menschen zugeschrieben werden, so ist der Buddha Gautama unter ihnen. 22 Kurze Darstellung der Hauptlehrsätze des Buddhismus „Überhaupt ist der nächste Zweck der Glaubenslehren, den Intellect zu befriedigen, aber so daß der Wille auf den rechten Weg, den der Moralität und Entsagung geleitet werde.“ (Schopenhauer, Briefe.) Wie der Körper auf zwei Füßen, so ruht das System des Buddha auf zwei Sätzen: 1. All Leben ist Leiden, 2. Stets geh den Pfad der richtigen Mitte. Sie enthalten in ihren Consequenzen und in ihrem gegenseitigen Aufeinanderwirken die ganze Masse dessen, was man Buddhismus nennt. Beide Sätze sind vom Buddha selber in den vier heiligen Wahrheiten (ariyasacca) zusammengefaßt worden. Die drei ersten derselben enthalten die Philosophie der Lehre, die letzte die Moral der Lehre, gesehen durch die Brille dieser Philosophie. Folgendermaßen lauten diese vier heiligen Wahrheiten: „Dies ist die heilige Wahrheit vom Leiden: Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden. Sterben ist Leiden, mit Unliebem vereint sein ist Leiden, von Liebem getrennt sein ist Leiden, nicht erlangen was man begehrt ist Leiden; kurz die fünf Elemente des Lebensdranges sind Leiden.― „Dies ist die heilige Wahrheit von der Entstehung des Leidens: Es ist diese Sucht, die von Wiedergeburt zu Wiedergeburt führt, die von Lust und Leidenschaft begleitete, die bald da, bald dort sich ergötzt, es ist der Geschlechtstrieb, der Daseinstrieb, der Entfaltungstrieb.― „Dies ist die heilige Wahrheit von der Vernichtung des Leidens: Die restlose, totale Vernichtung eben dieser Sucht, das Verlassen, das Sichlosmachen, die Befreiung, die Erlösung von ihr.― 23 „Dies ist die heilige Wahrheit von dem zur Vernichtung des Leidens führenden Wege: Es ist der heilige, achtteilige Pfad, der da besteht in rechtem Erkennen, rechtem Entschließen, rechter Rede, rechtem Tun, rechtem Leben,, rechtem Streben, rechtem Gedenken, rechtem Sichversenken.― (Mahavaggo.) Dieser heilige Achtpfad ist aber nur ein anderer Ausdruck für den Satz vom Pfad der Mitte. Die vier heiligen Wahrheiten begreifen nicht nur intellectuell, sondern auch formell den ganzen Buddhismus von Anfang bis zu Ende. Mit der Tatsache des Leidens einsetzend, führen sie zur Vernichtung dieses Leidens, mit dem Samsara, dieser Welt des Leidens einsetzend, führen sie zum Nirvana. Weil der Buddha mit der Tatsache des Leidens einsetzt, weil ihm mit dem Leiden die Welt beginnt, so ist mit der Vernichtung des Leidens der natürliche Abschluß da, ist die gestellte Aufgabe gelöst. Es sei dieses von vornherein hervorgehoben: Nur für solche, denen Leben Leiden ist, paßt der Buddhismus. Nur solche, welche von dieser Basis aus hochbauen, können zum Abschluß gelangen. Es hat keinen Zweck, Buddhismus zu lehren, außer da, wo Leben als Leiden gefühlt resp. verstanden wird. Überall wo dieses nicht der Fall ist, werden die vom Buddha gezogenen Consequenzen absurd oder fürchterlich erscheinen. Nun erklärt der Buddha, daß Leben in jeder Form, in jeder Äußerung Leiden ist. Weshalb ist aber all Leben Leiden? — Weil all Leben dauerlos, vergänglich ist. Alles Vergängliche, Wechselnde aber ist leidvoll, weil es zur Leidensfreiheit, zur Seligkeit als etwas Wechsellosem in natürlichem Gegensatz steht. Weshalb ist aber alles dauerlos? — Weil alles aus einem Grund, einer Ursache, entstanden ist, folglich aufhören muß, sobald diese Ursache aufhört zu wirken. Und das ist der Grund, warum nicht nur da, wo Leben als Leiden gefühlt wird, 24 sondern überall da, wo etwas entsteht und vergeht, wo Vergänglichkeit ist, das Gesetz des Buddha herrscht. Nicht Leben als Leiden zu fühlen, sondern zu erkennen, schafft die Befähigung zum Buddhismus. Wie ist es aber möglich, sich aus diesem Leiden hinauszuretten, wenn nirgends ein fester Punkt sich bietet? — Durch wahre Erkenntnis, durch wahres Wissen. — Auf welche Weise erreichbar? — Durch consequente Befolgung des Achtpfades. Und welches ist dieses Wissen? — Daß mein eigenes Ich, diese meine Persönlichkeit, weil gleich allem anderen ganz und gar aus einer Ursache entstanden, auch ganz und gar vergänglich ist, daß also in diesem Ich kein ewiger Bestandteil, keine Seele enthalten ist. Dieser Satz enthält Leiden sowohl wie Seligkeit in höchster Potenz umschlungen: Höchstes Leiden, weil mir so mein eigenes Ich entrissen und in eine ‚Leidensmasse‘ verwandelt wird, höchste Seligkeit, weil im Moment dieser Erkenntnis der Weg zur Erlösung sich mir auftut. Leiden ist nicht Strafe, Folge der Sünde, sondern Unwissenheit. Weil dieses Ich, diese meine Persönlichkeit, wie alles andere in der Welt bedingt ist, aus einer Ursache entstanden, also in toto vergänglich ist, darum kann es nicht in Wahrheit mein Ich sein, an welches letztere man die Anforderung einer Seele, eines ewigen Principes stellen müßte. Darum ist dieses Ich nur ein Schein-Ich, wie der Buddha sagt: „Es gehört mir nicht.― „Gleichwie z. B. ihr Jünger, wenn ein Mann das, was an Gräsern und Reisig, Zweiglein und Blättern in diesem JetaWaldhain daliegt, wegtrüge oder verbrennte, oder sonst nach Belieben damit schaltete, würdet ihr da wohl denken: Uns trägt der Mann weg, oder verbrennt er, oder schaltet sonst nach Belieben?― „Und was euch nicht angehöret, das gebet auf; das von euch Aufgegebene wird euch für immer zum Wohle, zum Heile gereichen.― 25 Darin liegt die Seligkeit, die Erlösung: Das Ich ist aufgebbar, aufhebbar, es schwindet mit der Ursache, die zu seiner Bildung geführt hat, was nicht möglich wäre bei einem wahren, Seele-begabten Ich. Was folgt nun aus dem Satz, daß alles Entstandene durch eine Ursache bedingt ist? — Das folgt daraus, daß diese Ursache selber wieder eine Ursache haben und dieser Ursache gegenüber Wirkung sein muß und so weiter rückwärts ad infinitum. Das heißt in anderen Worten: Leben ist ewig, ohne Anfang. Dieses Bewußtsein in Verbindung gebracht mit der Tatsache des Geborenwerdens und Sterbens hat in indischem Denken zur Lehre von der Seelenwanderung geführt. Eine Existenz geht aus der anderen hervor in ununterbrochener Kette, und die Seele ist der verbindende Faden. Nun lehrt der Buddhismus, daß eine Seele, ein Unvergängliches in diesem Leib nicht zu finden ist und er hat daher keine Seelenwanderung, sondern einen ‚Kreislauf der Wiedergeburten‘. Wie aber ist dieser möglich, wenn im Tode nichts Ewiges zurückbleibt, welches die Verbindung von einer Existenz zur nächsten liefert? — Die Function der Seele wird hier gewissermaßen vom Karma übernommen. Der Gedankengang ist folgender: Diese Persönlichkeit (bhavo*) ist ein Schein-Ich, wie wir gesehen haben, weil es uns etwas Seiendes, Ewiges, eine Seele vortäuscht, wo nichts ist als ein Werden ohne ewigen Kern. Jede Täuschung muß aber irgendetwas Reales hinter sich haben, auf Grund dessen sie zustande kommt. So muß auch dieses mein Schein-Ich, dieser Bhava auf etwas Realem basiert sein. Dieses reale Substrat sind die fünf Skandhas (Pali: khandho**) mit Namen: Körperlichkeit (rupam), Gefühl, *) wörtlich: Zustand des Seins resp. Werdens. **) wörtlich: Haufe. Das Verb desselben Stammes heißt ‚gerinnen machen‘. 26 Wahrnehmung, Unterscheidung (sanskara, Pali: sankharo), Bewußtsein (vinnanam). Alle fünf zusammen als Repräsentant des ‚Ich‘ heißen auch Nama-Rupam (Name und Form), wobei Nama die vier letzteren mit Vinnana an der Spitze darstellt. Man sieht, das sind Realitäten, wie sie nur jemand aufstellen darf, für den in Wahrheit nichts existiert als das Leiden. Für sich ist jedes von ihnen ein Nichts; erst durch ihren Zusammenschluß bilden sie Persönlichkeit, Bhava. Fünf fingierte Realitäten schließen sich zusammen zur realen Fiction. Leben ist Täuschung und Wirklichkeit, Sein und Nichtsein gleichzeitig. Was bewirkt nun den Zusammenschluß der Khandhas? — Das Karma (Pali: kammam). Die fünf werden zusammengehalten d. h. Leben besteht, solange das Karma in Kraft ist. Sie fallen auseinander, sobald das Karma erschöpft ist. Man merke wohl: Nichts wird im Tode zerstört, nichts geht zu Grunde, als der Schein, die Täuschung dieses Bhava. Die aufeinanderfolgenden Existenzen sind nichts als ein Sichauflösen, und wieder aufs neue Sichzusammenschließen der Khandhas. Was ist denn aber Karma? — Es ist die Kraft, welche aus dem Schlag den Rückschlag hervorgehen läßt. Es ist das was aus der Action dieses Lebens als Reaction das nächste Leben schafft. Das Wollen dieses Lebens, der Lebenstrieb ist wie eine Spannkraft, welche als Karma die Brücke zur nächsten Existenz und damit diese nächste Existenz selber schafft. Der Wille zum Leben, die Lust am Leben ist die Kraft, welche das endlose Spiel von Action und Reaction, von Entstehung eines Lebens aus dem anderen in Gang erhält. Soweit Leben gleich ‚Wollen‘ ist, solange Leben gleich Wollen ist, soweit, solange entsteht Karma. Soweit dieses Leben gleich Wollen ist, soweit steckt in ihm schon das nächste Leben. Wie das was Action und Reaction verbindet, einerseits zur Action, anderseits zur Reaction gehört, so gehört das Karma, als dieses Leben mit 27 dem nächsten verbindend, zu einem sowohl wie zum anderen. ‚Karma ist da‘, bedeutet nichts, als daß mit diesem Leben auch schon das nächste, mit diesem das übernächste und so die ganze, endlose Reihe der Existenzen gegeben ist. ‚Leben‘ ist gleichbedeutend mit Anfangs- und Endlosigkeit des Lebens, und Karma ist nichts als die einwertige Formel dafür, daß diese unergründliche Endlosigkeit, dieses Spiel des Lebens im Gange ist. Wenn die Verbindung zwischen dieser und der nächsten Existenz eine derartige ist, kann mich dann diese nächste Existenz nicht sehr kühl lassen? Keine Seele verbindet eine mit der anderen, kein Bewußtsein geht von einer zur anderen über; denn Bewußtsein ist individuell, mit jedem Bhava frisch entstehend, mit jedem Bhava vergehend. Was habe ich denn für ein Interesse an solcher nächsten Existenz? — Ein sehr naheliegendes: In ihm trifft mich Lohn und Strafe für die Taten dieses Daseins. — Wie ist das aber möglich, wenn kein Ich da ist? Ist kein Ich da, so ist doch auch kein Täter da. Ist kein Täter da, wie kann es dann eine Folge der Tat d. h. Strafe und Lohn geben? Wie ist es denkbar, daß dann nicht jedes Streben nutzlos, nicht jede Moral ein Scherz wird? — Freilich ist kein Ich-Täter da, aber die Tat ist da. Sie bedarf zu ihrer Realisierung keines wahren Ich, sie haftet an diesem aus dem Willen zum Leben sich immer wieder aufs neue reconstruierenden Schein-Ich; sie haftet an ihm, wie das Leiden an ihm haftet. Wie dieses aber ‚haftet‘, werden wir später sehen. Jede Tat zieht nun unweigerlich ihre Folgen nach sich wie der Körper den Schatten wirft, wie der Stein, ins Wasser geworfen, seine Ringe zieht. Und wie jede Reaction durch die specifische Natur der Action bedingt ist, so ist auch die Art und Weise, wie die Folge der Tat sich äußert, durch die Tat selber bestimmt. Das heißt in anderen Worten: Der guten Tat folgt Lohn, der schlechten Strafe. Das nächste Dasein wird demnach in seiner Beschaffenheit den Taten dieses Daseins entsprechen. Ist somit auch kein Ich da, so geht doch nicht das 28 kleinste Teilchen meiner Taten verloren. Jedes Taten-Atom hilft mit zur Construction der nächsten Existenz. Nun wohl, aber was kümmert mich das, wenn doch mein Bewußtsein nicht mit übergeht? Ich weiß ja nichts von dem Leiden der anderen Existenz. Es steht mir unendlich viel ferner, als mir z. B. das Leiden meines Nebenmenschen steht, mit dessen Schmerz ich doch durch meine Sinne in Beziehung stehe. Zum Verständnis müssen wir hier wieder an die Definition erinnern, die der Buddha dem Begriff ‚Leiden‘ gegeben hat: Leiden muß nicht sowohl gefühlt, als vielmehr verstanden werden. Wem freilich Leiden nichts ist als gefühltes Leiden, den mag die nächste Existenz kalt lassen. Rührend, ja der Schrecken aller Schrecken wird der Kreislauf der Wiedergeburten nur da, wo Leiden zu einem Gegenstand des Erkennens, zu einem Wissen geworden ist. Volles Erkennen des Leidens ist aber nur möglich im vollen Erkennen der Vergänglichkeit. Volles Erkennen der Vergänglichkeit ist gleichbedeutend mit Einsicht in das Gesetz von Grund und Folge, dieses gleichbedeutend mit Einsicht in das Wirken des Karma. Wer aber das Wirken des Karma versteht, der versteht, daß in dieser Existenz schon die nächste enthalten ist, ja daß diese Existenz schon die nächste selber ist. Ahnend wittert er die Täuschung von Vor- und Nacheinander, die Täuschung der Zeit; in der Täuschung der Zeit fühlt er die Täuschung des Ich, und das im Nachdenken nach innen sich senkende Auge tut den ersten Aufschlag zum Nirvana. Doch davon später. Noch einmal: Er versteht, daß in dieser Existenz schon die nächste ruht. Er erkennt sich als identisch mit ihr und so lernt er sich vor ihrem Leiden fürchten, wie jemand, der einen heftigen Schmerz überstanden hat, sich vor der Wiederkehr dieses Schmerzes fürchtet. Der Schmerz besteht nicht mehr, das Bewußtsein des Schmerzes ist nicht mehr, es würde erst mit dem neuen Schmerz neu erwachen, und doch fürchtet er sich davor und tut alles, der Wiederkehr 29 desselben vorzubeugen. Der Schmerz lebt in der Erinnerung, im Intellect. So lebt auch die Furcht vor den Leiden der nächsten Existenz im Intellect. Wer den wahren Zusammenhang zwischen dieser und der nächsten Existenz erkannt hat, der weiß: Mit jeder guten Tat nutze ich nur mir selbst, mit jeder schlechten Tat schade ich nur mir selbst, einerlei nach wie vielen Existenzen Strafe und Lohn mich treffen. Nun gut! Mag die Tat unweigerlich ihre Folgen nach sich ziehen, woher weiß ich aber, daß die Folge meiner Tat notgedrungen immer mich trifft? — Im Durchschauen des Gesetzes von Grund und Folge, im Erfassen des Gedankens: „Es ist kein Ich―, weiß ich das. Denn wenn kein Ich da ist, welches die Tat begehen könnte, kein Täter, dessen Product die Tat wäre, nun so bin ich ja selber die Tat, bin verkörperte Tat. Bin ich aber selber die Tat, so bin ich auch selber die Folge der Tat, wie die Reaction die gleiche Kraft repräsentiert wie die Action. Strafe und Lohn braucht mich nicht erst zu suchen, nicht erst zu finden. Ich selber bin verkörperte Strafe, verkörperter Lohn. Das ist die Art und Weise, wie die Tat und ihre Folge am Täter ‚haftet‘. Hiermit wandelt sich das allgemeinste Naturgesetz, das Gesetz von Grund und Folge, wie durch genialen Coup zum obersten Weltenrichter um, und die Creatur, ohne eine unsterbliche Seele, ohne Aufsicht eines Gottes, scheinbar aller Verantwortlichkeit bar, wird in die Formen eines ehernen Moralgesetzes gepreßt, dessen Gerechtigkeit für unser Gefühl zu erhaben dasteht, um immer von Grausamkeit unterschieden werden zu können. Unter dem brutalen Zwang des Egoismus bin ich moralisch, zum Besten dieses Schein-Ich bin ich moralisch. Denn jede Bewegung der Immoralität drückt mir den Stachel ins eigene Fleisch. Egoismus ist zwar das kahlste, aber solideste Fundament der Moral, welches diese Welt bieten kann. 30 So lebt der Mensch, trotzdem keine Seele, kein Ewiges in ihm ist, doch ewig durch den Willen zum Leben. Er lebt ewig durch die unabänderlich ins Dasein tretende Folge seiner Taten: er ‚erlebt‘ seine Taten. Indisch ausgedrückt: Er lebt durch sein Karma. Um die Bedeutung der Worte ‚er lebt durch sein Karma‘, ganz zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die Lehre vom Werden werfen. Sie gehört mit zum ureigensten Kern des Systems, zu dem was aus dem Munde des Buddha selber hervorgegangen ist. Alles, weil durch Ursachen bedingt, ist dauerlos, in einem ständigen Werden, einem ständigen Entstehen und Vergehen begriffen. Mag die Schwingungsdauer dieser Wellen Gedanken-kurz sein im Aufblitzen des Bewußtseins, mag sie sich über zahllose Weltperioden erstrecken, der geklärte Geist erkennt durch die maskierende Hülle der Formen hindurch: Alles ist in diesem werdenden Schwingen begriffen. Das meinte der Buddha, als er in jener berühmten Feuerpredigt seinen Jüngern zurief: „Alles brennt―. Wie das brennende Licht einen Flammenkörper bildet, der scheinbar ständig, in Wahrheit nicht einen Moment der gleiche ist, ebenso alles Entstandene. Auch diese meine Persönlichkeit, dieses ScheinIch ist, gleicht dem Scheinkörper der Flamme, ein flackerndes, in fortwährendem Entstehen und Vergehen begriffenes Ding, bei dem nichts ständig ist als der Wechsel. Es besteht wie die Flamme aus einzelnen Werdemomenten. Der Unerfahrene, ‚der Lehre der Edlen Unkundige‘ kennt nur ein Vergehen: das was die Menschen Tod nennen. Der Erfahrene weiß, daß unser ganzes Leben ein unfaßbar oft sich wiederholendes Entstehen und Vergehen ist, und daß beide Arten des Vergehens, jenes grobe und dieses sublime, in nichts unterschieden sind, als in der Zeitdauer. Jenes grobe, mit dem Tode abschließende Werden fällt vermöge seiner Schwingungsdauer in den Bereich unserer Sinne. Jenes andere, feinere Werden steht jenseits unserer Empfindungsschwelle. 31 In derselben Weise wie das Karma diese Existenz mit der nächsten verbindet, so schweißt es auch innerhalb dieser Existenz die zahllos sprühenden, einzelnen Lebensfünkchen zu dieser Persönlichkeit zusammen, welche mir ein Seiendes, ein Ich vorspiegelt. Jedes dieser durch ‚Zusammentreffen‘ rastlos entstehenden Lebensfünkchen ist ja in sich eine völlige Existenz, von dieser sinnlichen nur durch die enorme Verkürzung unterschieden. Und wie das Karma nicht nur die Verbindung zur nächsten Existenz liefert, sondern diese nächste Existenz auch selber bildet, so liefert es auch nicht nur die Verbindung zum nächsten Werdemoment, sondern ist dieses selber. Wo keine Verbindung zum Nächsten ist, da ist auch kein Nächstes. Erst jetzt erkennt sich die volle Bedeutung der Worte: ‚Wir leben durch unser Karma‘. Da nun all Leben Leiden ist, und das Karma diesen Lebensprozeß d. h. das Leiden ad infinitum unterhält, so ist die brennende Frage: Wie befreien wir uns von diesem Karma, oder was gleichbedeutend ist: Wie befreien wir uns von diesem Leiden? Wie gezeigt, ist dieses Ich nur ein Schein-Ich, ein in seiner Totalität Entstandenes resp. Entstehendes und daher aufhebbar mit der Ursache, die zu seiner Entstehung führt. Aus demselben Grunde (weil ein Werdendes, Vergängliches) wird dieses Schein-Ich auch zum Leiden, ist verkörpertes Leiden. Das Leiden haftet nicht an mir, ich produciere nicht das Leiden, sondern ich bin das Leiden, ebenso wie ich nicht die Tat begehe, sondern die Tat bin. Hebung des Leidens kann folglich nur eintreten mit Hebung der Persönlichkeit; beides sind identische Begriffe. Hier stoßen wir auf den tiefsten Grund, weshalb Leiden nicht nur gefühlt, sondern verstanden werden muß: Nur in erkanntem Leiden hebt sich das Ich und damit auch das Leiden. Gefühltes Leiden schafft keine Erlösung. 32 Hebung des Leidens kann nur erfolgen durch Hebung der Persönlichkeit. Persönlichkeit aber lebt immer wieder auf, solange Karma da ist. Karma ist die Ursache für die ständige Neubildung der Persönlichkeit. Karma seinerseits, d. h. die aus der Tat sich ergebende Folge, kann nur aufhören, wenn die Tat selber aufhört. Die Tat aber kann nur aufhören, wenn die Veranlassung zur Tat aufhört: das Sich-ergötzen der Sinne an den Objecten, das Haften an den Objecten. Im Haften der Sinne hätten wir somit den Quell alles Leidens gefunden. Weshalb schafft aber all Haften am Sinnlichen Leiden? Weil es ständig neues Leben schafft. Wo aber neues Leben entsteht, da vergeht es auch; wo aber Entstehen und Vergehen, Wechsel ist, da ist Vergänglichkeit, da ist Leiden. Wie kann aber aus unserer Sinnestätigkeit Leben entstehen? — Die ganze Welt steht als Object mir dem Subject gegenüber. Als Erkanntes mir, dem Erkenner. Wo nichts ist, was erkennt, da kann auch kein Erkanntes sein; wo kein Subject, da auch kein Object. Die Wahrheit als Object ist bedingt durch mich als Subject. Die Wahrheit ist bedingt durch meine fünf Sinne nebst dem Geist als sechsten.*) Auf der Tätigkeit meiner sechs Sinne ruht diese Welt. Die Tätigkeit meiner sechs Sinne läßt in ununterbrochenem Fluß immer wieder diese Welt neu entstehen. Welt, Leben ist nichts als die Summe der Eindrücke, welche entstehen, wenn meine sechs Sinne sich mit den Objecten vereinigen. Tätigkeit unserer Sinne, ihr Haften an den Objecten ist nichts als ein Zeugungsproceß, der entstandene Eindruck ist die Geburt, sein Aufhören ist Sterben. Somit schaffen unsere Sinne Entstehen und Vergehen, Geburt und Tod, d. h. Leben sowohl wie Leiden in ununterbrochenem Strom, und der Buddhist schreitet, das Auge unverrückt auf jene ständig fluctuierende, bei jedem Schritt sich neubildende Grenzlinie gerichtet, in welcher wie in einem Horizont Individualität immer wieder neu ansetzt. *) Indischer Anschauung nach hat der Mensch sechs Sinne. 33 Man kann sagen, die Lehre des Buddha ist der reine Kant'sche Transzendental-Idealismus, für religiöse Zwecke verarbeitet. Dieser Gedanke, vielleicht der tiefsinnigste, der je gedacht worden ist, und dessen Menschen überhaupt fähig sind, ist von ihm aufs klarste erkannt, bis aufs äußerste durcharbeitet und bis aufs äußerste für seine Zwecke dienstbar gemacht worden. Ist dieser Gedanke auch nicht im Jargon der Philosophie entwickelt, so steht er doch, oder vielleicht gerade deshalb in kristalliner Klarheit da, ein Beweis dafür, daß menschliches Denken bereits vor mehr als zwei Jahrtausenden zum naturgemäßen Abschluß gelangt ist. Doch weiter: Läßt die Tätigkeit dieser sechs Sinne die Welt aus sich hervorgehen, anders ausgedrückt: Besteht für das Individuum keine andere Welt als die individuelle, die es sich durch seine Sinnesorgane selber geschaffen hat, so folgt, daß diese Welt auch mit der Sinnestätigkeit aufhören muß. Wo keine Welt mehr ist, da ist aber auch kein Leiden. Leiden sowohl wie Erlösung liegen in mir selber, und der Weg zur Erlösung, ja die Erlösung selber ist damit gegeben, daß meine Sinne aufhören, ständig neues Leben d. h. neues Leiden zu producieren. Das geschieht mit dem Moment, wo der Contact mit den Objecten abgebrochen wird. Wie kann aber der Contact zwischen Sinnen und Objecten abgebrochen werden? — Nicht gewaltsam, nicht durch Abschneiden; das würde die Wurzel in der Tiefe zurücklassen. Der Contact kann sich naturgemäßer weise nur auflösen dadurch, daß mein Verlangen, mein Wollen sich auflöst. Dieses aber löst sich auf, sobald ich die leidvolle Vergänglichkeit des Lebens erkenne. Diese Erkenntnis culminiert in der Tatsache, daß auch dieses mein eigenes Ich sich in nichts von der Vergänglichkeit der übrigen Welt unterscheidet, daß dieses Ich ein Schein-Ich ist. Dadurch wird dem Wollen naturgemäß der Boden entzogen. Jedes neu aufkeimende Wollen löst sich in der neu gewonnenen Erkenntnis auf. Dem Wollen wird nicht nur das Object, sondern auch das Subject entzogen; denn wahrhaft nichtwollen 34 kann ich erst dann, wenn ich weiß, daß kein Ich da ist, das da wollen kann. Somit kann Wollen nur da sein, wo Ich-Bewußtsein ist, d. h. Wollen beruht auf einer Unkenntnis von der wahren Natur der Dinge, auf einer Unwissenheit. Mit ihr, der Unwissenheit (avijja), setzt alles ein. Aus ihr läßt der Buddha als aus einer Art Gegenstück der Urzelle in 12 Stufen (den sog. 12 Nidanas) seine Buddha-Welt entstehen, deren letzte Entwicklungsphase, deren Blüte das Leiden ist in der Form von Alter, Krankheit, Sterben, Not und Jammer, Gram und Verzweiflung. Geht diese Unwissenheit in das wahre Wissen, in das Wissen vom Ich als Nicht-Ich (anatta)*) über, so geht damit notwendig Wollen in Nichtwollen über. Ist kein Wollen mehr da, so ist auch keine Tat mehr da. Fällt die Tat, so fällt die Folge der Tat, d. h. das Karma. Wo kein Karma, da keine neue Existenz: der Kreislauf der Wiedergeburten hat ein Ende. Oder anders ausgedrückt: Wo Unwissenheit in Wissen, da geht notwendig Wollen in Nichtwollen über. Wo kein Wollen, da kein Haften der Sinne an den Objecten. Wo kein Haften, da kein Entstehen und Vergehen. Wo kein Wechsel, da kein Leiden. Wo kein Leiden, da kein Ich. Wo kein Ich, da keine Welt, Leiden, Ich, Welt, alle stehen sie da als ein Product der Unwissenheit und mit dem Übergang in Wissen wird erkannt: ‚Nicht mehr ist diese Welt‘. Mit dieser Erkenntnis ist „alles getan was zu tun war―. Das Wissen hat sich an sich selber betätigt, hat an sich selber den Beweis seiner Echtheit geliefert, indem es im Nichtwollen seinen Träger selber auflöst. *) An-atta bedeutet Nicht-Selbst, seelenlos und ist der präciseste Ausdruck für des Buddha Lehre von der Vergänglichkeit. Alles ohne Ausnahme, auch dieses mein Ich ist anatta, weil alles ohne Ausnahme, auch dieses mein Ich vergänglich, seelenlos ist. 35 Wie denn aber? Der Träger des Wissens ist doch da, und muß da sein, um die Freiheit vom Leiden constatieren zu können. Wie kann er sich denn im Wissen aufheben? Freilich kann das Wissen nicht diesen Leib aufheben; denn derselbe hat sich aus früherem Karma herausgebildet und kann erst zerfallen mit der Erschöpfung dieses Karma. Aber es beugt der Bildung neuer Existenzen vor. In diesem Sinne hebt es seinen Träger auf. Würde Wissen diese Scheinform, in der und durch die es erworben ist, aufheben, so könnte ja die Erlösung nicht constatiert, Nirvana nicht erblickt werden und das ganze System wäre halt- und zwecklos, ein leeres Spiel ohne Möglichkeit der Realisation. Wie kann ich aber wissen, daß dieses meine letzte Geburt ist, daß mit dieser Form das Leiden ein Ende haben wird? Wie das System des Buddha mit dem Begriff ‚Leiden‘ einsetzt, so läuft es naturgemäß in den Begriff ‚Leidenslosigkeit‘ aus. Wie das Leiden, um nutzbringend zu werden, nicht nur gefühlt, sondern erkannt werden muß, so muß auch Leidenslosigkeit, um nutzbringend zu werden, nicht nur gefühlt, sondern auch erkannt werden. Wie gefühltes Leiden Schmerz ist, erkanntes Leiden aber Wechsel, Vergänglichkeit, so ist gefühlte Leidenslosigkeit gleich Seligkeit, erkannte Leidenslosigkeit aber ist jene unerschütterliche Gemütserlösung, jene wechsellose Gleichmütigkeit, die den Beweis dafür, daß kein Ich mehr da ist, in sich selber trägt. Wo diese Gleichmütigkeit da ist, solange sie da ist, da ist keine Möglichkeit für den IchGedanken mehr, wie da, wo Nichtwollen herrscht, keine Möglichkeit für das Wollen ist. Damit wäre freilich nichts als die Tatsache temporärer Leidenslosigkeit geliefert und nicht die Tatsache des Endes der Wiedergeburten. Aber wie der eigentliche Nutzen des erkannten Leidens darin besteht, daß es mir die Gewißheit gibt: In dieser Existenz ist schon die nächste enthalten, das Leiden der nächsten Existenz ist mein Leiden — so besteht der 36 eigentliche Nutzen der erkannten Leidenslosigkeit darin, daß sie mir die Gewißheit gibt: Das Nirvana, das Aufhören all Werdens, all Lebens, es ist schon in dieser meiner jetzigen Existenz. Diese Gleichmütigkeit, diese realisierte Leidenslosigkeit, sie ist das Nächste, sie ist das nach der letzten Existenz, und insofern als ich das erkenne, weiß ich: Dieses ist meine letzte Geburt. Und was ist nun das Ende, der Abschluß? — Das Ende ist nichts als eben diese unerschütterliche Gewißheit vom Ende, unerschütterlich weil nicht auf dem Glauben, sondern auf dem Wissen beruhend. Wie der Anfang des Ganzen die Gewißheit des Leidens ist, so ist das Ende des Ganzen die Gewißheit der Leidenslosigkeit. Wie das Weltentstehen in mir liegt, subjectiv ist, so liegt auch das Weltvergehen in mir, ist subjectiv. Erlösung ist nichts als Gewißheit des Erlöstseins. Diese Gewißheit ist die letzte Schwingung, in welche jener Prozeß der Umwandlung von Nichtwissen in Wissen ausklingt. Darum spricht der Buddha: „Und so ist der Gewinn des Asketentums, ihr Mönche, nicht Almosen, Ehre und Ruhm, nicht Ordenstugend, nicht Glück der Selbstvertiefung, nicht Wissensklarheit. Jene unerschütterliche Gemüterlösung aber, wahrlich, ihr Mönche, das ist der Zweck, dies ihr Mönche, ist das Asketentum, das ist der Kern, das ist das Ziel.― Wer sich selber erlöst weiß, er ist erlöst. So bleibt nur noch die Frage: Wie kommt diese Umwandlung von Nichtwissen in Wissen zustande? — Durch Belehrung von Seiten des Buddha oder solcher, die seine Worte erfaßt haben und durch tiefes Nachdenken. Das ist in ihren Hauptzügen die Lehre des Buddha, wie sie sich in den Palischriften darstellt. Sie beginnt mit der Moral des Achtpfades und dem Nachdenken als unterster, jedem erreichbarer Stufe und endet in den schwindelnden Höhen des Wissens. In höchster Kunst und höchster Natürlichkeit sind Moral und Wissen in Abhängigkeit voneinander gebracht. Eines ist durch das andere bedingt, eines steigt durch das 37 andere, bis beide auf der Höhe den natürlichen Abschluß in der Auflösung ihres Trägers erreichen. Auf diesem langen Wege aufwärts fehlt aber nicht eine Stufe, nicht ein Glied. In der Solidität ihrer Basis, in der ehernen Logik ihres Aufbaues muß diese Religion auch dem Nichtanhänger stets als eines der kolossalsten und bewunderungswürdigsten Werke erscheinen, die je aus dem Geist hervorgegangen sind. Sie ist der denkbar völligste Sieg des Menschen über den Menschen. 38 Einige Charakteristika des Buddhismus Der Buddhismus ist Philosophie zu einer Hälfte, Morallehre zur anderen Hälfte. Religion wird er in der untrennbaren Vereinigung beider einerseits und durch den Erfolg, der ihn zum geistigen Herrscher Asiens machte, anderseits. Er ist aber nicht Religion in dem Sinne, den wir dem Worte beizulegen gewöhnt sind. Das Gefühl für das Unendliche, für etwas jenseits der Sinne und des Verstandes Liegendes, ein auf dem Unbekannten basierendes Sehnen und Fürchten, die Gottesfurcht gilt als Beginn aller Religionen. Ist diese Definition erschöpfend, so ist der Buddhismus überhaupt keine Religion, ja noch mehr: so hat noch nie eine Philosophie sich von aller religiösen Beimischung so frei gehalten wie der Buddhismus. Denn er als das einzige aller existierenden philosophischen und religiösen Systeme setzt, mit resoluter Überspringung des Unbekannten in jeder Form, mit der in der Gegenwart gegebenen Tatsache des Leidens ein. Das ist das geniale Moment des Buddhismus. Der ungeheure Vorzug springt sofort in die Augen. Wir brauchen hier nicht eine mystische Urmacht, wir brauchen nicht einen ebenso mystischen Gott, der in dreifach mystischer Action aus dieser Urmacht das erste Leben hervorgehen läßt. Diese ganze hirnverwirrende Frage nach dem Anfang des Anfangs fällt. — Weshalb? Weil sie vom Buddha gelöst ist? — Nein! Auch der Buddha kann sie nicht lösen; aber er hat uns gelehrt, ihre Lösung zu verachten. Als Christ kann ich nicht über die Weltschöpfung hinwegspringen; sie gliedert sich in den Gottbegriff und damit in das Ende, das ewige Leben in Gott ein. Als Buddhist hat die Frage nach der Weltschöpfung keinerlei Bedeutung für mich. Der Buddhismus ist daher die einzigste aller Religionen, die sich frei vom Gift der Hypothesen halten konnte. Forscht der müßige Frager hier nach dem Anfang des Anfangs, so erhält er mit stolzer 39 Consequenz die Antwort: Im Anfang war das Leiden. Mag der geistige Horizont auch bis ins endlose sich erweitern, so erblickt doch das geistige Auge nichts als dieses Leiden. Wie für einen Mann, der mitten im Weltmeer schwimmt, nichts existiert als dieses Weltmeer, so existiert für den Buddhisten nichts als das Leiden. Was nicht aus dem Samenkorn ‚All Leben ist Leiden‘ herauswächst, das gehört nicht zum wahren Baum buddhistischen Denkens. Wie der nächtige Wanderer im Flammen des Blitzschlages die Landschaft rings um sich erkennt, und vor dem geblendeten Auge das so gewonnene Bild noch lange nachschwingt, so hatte der Buddha im Aufleuchten seines Genies Leben als Leiden erkannt mit so ungeheurer Grellheit, daß das Nachbild auf seiner geistigen Netzhaut nie mehr verblaßt ist. Vor diesem blendenden Glanz verschwanden alle dunklen Hypothesen vom Anfang des Anfangs: Nichts schaute er an als das Leiden, nichts erstrebte er als Leidenslosigkeit. Das war sein ‚heiliges Ziel‘. Eines ist und dieses eine ist Alles: Das Leiden ist. Das ist der sichere, unbewegliche Punkt, von dem buddhistisches Denken ausgeht. „Und was, ihr Jünger, erklären die Weisen und ich als in der Welt vorhanden? — Einen Körper, ein Gefühl, eine Wahrnehmung, eine Unterscheidung, ein Bewußtsein, die vergänglich, leidvoll, dem Wechsel unterworfen sind, erklären die Weisen als in der Welt vorhanden und auch ich sage: Sie sind vorhanden.― (Samyutta-Nikayo.) So setzt der Buddhismus mit dieser Gegenwart, mit der unbestreitbaren Tatsache des Leidens ein und endet mit dem Wissen, dem Bewußtsein von der Auflösung des Leidens. Der Buddha schuf gleichsam eine neue Gedankenwelt, die von der Sonne des Leidens erleuchtet wurde. So weit die Strahlen dieser Sonne reichen, soweit reicht diese Welt. Nach einer neuen Ordnung teilte der Buddha die Dinge. Er teilte nicht in: Denken und Sein, oder: Geist und Materie, oder: Kraft und Stoff, oder: gutes und böses Princip, oder ähnliche Abstracta, sondern aus seinem Munde zuerst vernahm die überraschte 40 Welt die neue Ordnung nach Leiden und Leidenslosigkeit. Wie unser Sonnensystem die fünf Sinnesorgane in ihren specifischen Funktionen erfordert, so erfordert das Sonnensystem des Buddha das Organ, die Empfindungsfähigkeit für das Leiden. Das ist das einzige Erfordernis; nichts ist nötig als Gefühl, Verständnis für das Leiden dieses Lebens. Wie klar, wie positiv, wie rein menschlich. Der Gedankengang vom Leben als Leiden zieht sich wie ein roter Faden durch alle indische Philosophie. Nicht wie wir: vor dem Tode, dem wahren, ruhebringenden, köstlichen Tode, fürchtet sich der Hindu, sondern vor dem Leben, diesem in endlosen Wiedergeburten sich erneuernden Leben. Der Samsara, der in den Wiedergeburten sich abspielende Kreislauf ist das Schreckgespenst indischen Geistes. Und nicht nur Product philosophischen Denkens ist diese Ansicht, sondern in ungewöhnlichem Grade ist sie Gemeingut des ganzen indischen Volkes. Auf solche Grundanschauungen eines Volkes muß man zurückgehen, um seine Religion verstehen zu können. Religion ist nichts neben oder über dem Volk, sondern aus dem Volk heraus Entstandenes, ein Product seiner .Charakteranlage. Auch diese Charakteranlage mag sich, ja zum Teil erklären lassen, aber schließlich kommt man doch auf einen Punkt, wo ein weiteres Ableiten aus Gründen aufhört und man sich mit der Tatsache begnügen muß. Eine Tatsache in diesem Sinn ist es, das ein Volk intensiver am Leben hängt als das andere. Die Indifferenz der amerikanischen Rasse diesem sogenannten höchsten Gut gegenüber ist bekannt. Auch der Ostasiate greift mit uns unverständlicher Leichtigkeit zum Selbstmord, und der Malaye bringt es fertig, die Rache an seinem Feind, wenn alle anderen Wege verschlossen sind, dadurch auszulassen, daß er sich vor dessen Tür erhängt. In hervorragendem Maße hat das indische Volk an dieser Charaktereigenschaft Anteil und steht so in auffallendem Gegensatz zur semitischen Rasse mit ihrem derben, unverwüstlichen Lebenstrieb, welcher sich religiös in 41 der Lehre von diesem mit Bewußtsein begabten Leben nach dem Tode an einem himmlischen Ort wiederspiegelt. Mag es einem so Veranlagten im Leben auch noch so jammervoll gehen, er sieht die Schuld nicht in der allem Leben anhaftenden Unvollkommenheit, sondern in persönlichem Mißgeschick und gewissen Sonderbedingungen. So hofft er bis zum letzten Moment auf besseres, und bleibt nichts mehr zu erwarten, so springt seine Hoffnung auf das Leben nach dem Tode über. All Heil liegt für ihn im Leben, und nur weil selbst der Kurzsichtigste über das Elend hier nicht wegstolpern kann, wird nach abgekürztem Verfahren mit dieser einen Existenz als einer etwas mißglückten Probe abgeschlossen, und alles andere in ein mit jeglichen Vollkommenheiten begabtes Paradies verlegt. So läßt man sich vom Leben täuschen, wie ein gutwilliges Publikum, dem irgendein Tausendkünstler eine schlechte Schaustellung vorführt und hinterher, seine eigene Mangelhaftigkeit fühlend, sagt: „Dieses war nur so eine Andeutung meines Könnens, dieses ist darum mißglückt und jenes darum, aber nächstes Mal, da sollt ihr sehen!― Der gute Mann hat aber tatsächlich sein Bestes geliefert und immer, wenn er seine Schaustellungen wieder vorführt, macht er dieselben Ausreden. Wer das Leiden des Lebens in Zufälligkeiten sucht, der ist wie einer mit krankem Fuß, der die Ursachen seiner Schmerzen im Stiefel sucht. Ein anderer aber fühlt im individuellen das allgemeine Leiden, wie es allem Leben anhaftet. Im einzelnen Phänomen wittert er das allgemeine Naturgesetz. Und bald ergreift ihn Angst und Übersättigung: er verzichtet. So reagiert aus unerklärlichen Gründen der eine auf das Phänomen des Lebens in dieser, der andere in jener Weise. Die Art dieser Reaction ist, wie der Kristall in der Salzlösung, der Ansatzpunkt, um den herum sich ein Gedankenmolekül nach dem anderen gruppiert bis zur völligen Entwicklung des religiösen Systems. Aber noch einmal: Nichts ist für den Buddhisten nötig als Gefühl, Verständnis für das Leiden dieses Lebens. In den 42 Offenbarungsreligionen ist ein Glauben gewisser übernatürlicher Tatsachen unerläßlich, um sich in Wahrheit einen Angehörigen dieser Religionen nennen zu können. Dieses Glauben-können ist aber eine angeborene Eigenschaft, kann nicht anerzogen, nicht angelernt werden. Darum: hindert mich mein Verstand, die christlichen Dogmen zu glauben, sind die Strafen, mit denen gedroht, die Verheißungen, mit denen gelockt wird, leere Worte für mich, so bin ich trotz höchster Moral kein Christ. Unwiderruflich versperrt mir mein Verstand den Eintritt. Es ist als ob ich mit dem Licht in der Hand der Dunkelheit nachliefe und keine Macht der Erde kann helfen. Dagegen um Buddhist zu sein, ist es nicht notwendig, glauben zu können. Hier ist der Glaube entthront und durch das Wissen, das Verstehen ersetzt worden, also etwas Unlehrbares durch etwas Lehrbares. Darum: Heil euch allen, die ihr nicht glauben könnt! Euch als den ersten gelten die Verheißungen des Buddha. Euch wird der Buddha verstehen lehren, und im Verstehen wird sich euch das Höchste offenbaren. Aber wenn ich auch an nichts Übersinnliches zu glauben brauche, so muß ich doch an. den Buddha und an seine Lehre glauben? — Selbst das ist nicht notwendig. Mehr als einmal wird dieser Punkt in den Suttas besprochen; nie wird verlangt, daß jemand seine Laufbahn mit Glauben an die Lehre beginnt. Es heißt stets nur: „Nachdem er diese Lehre gehört hat, faßt er Vertrauen zum Vollendeten (dem Buddha).― Dieses Vertrauen mag daher entstehen, daß in der Tiefe seines Herzens eine Saite erklingt in sympathetischem Mitschwingen, wie eine Stimmgabel mittönt, wenn eine andere, auf den gleichen Ton abgestimmte, angeschlagen wird. Oder das Vertrauen mag daher entstehen, daß er an anderen den Erfolg der Lehre sieht. Wie ein Kranker ein neues Heilverfahren, so mag der Buddhist seine Laufbahn beginnen. Wie ein Kranker, der andere durch dieses Heilverfahren genesen sieht, den Entschluß faßt, die Vorschriften dieses Verfahrens zu befolgen, wenn auch noch ohne Glauben, so faßt der angehende Buddhist den Entschluß, 43 die Vorschriften des Buddha zu befolgen, den heiligen Achtpfad zu betreten, wenn auch noch ohne Glauben. Mit den Fortschritten in Moral und Wissen stellt sich auch der Glaube ein. Der volle Glaube freilich wird erst erreicht mit dem vollen Wissen, wie jemand erst den höchsten Gipfel eines Berges erklimmen muß, ehe er den vollen Überblick über die Landschaft gewinnt. Der Glaube im Buddhismus ist lediglich ein Product des Wissens, nichts als eine mathematische Gewißheit. Für ihn gilt nicht jene neutestamentliche Definition; denn das hieße aus dem Unsicheren Sicheres, aus dem Fraglichen Fragloses ableiten. Eine derartige geistige Manipulation existiert nicht im Buddhismus. Wie es in einem Hause, welches vom Boden bis zum Keller erleuchtet ist, keine Gespenster gibt, so gibt es in dem vom Wissen bis in die entlegensten Winkel erleuchteten Buddhismus keinen Glauben im christlichen Sinn, kein Etwas, welches, den allgültigen Naturgesetzen widerstreitend, seine Berechtigung lediglich aus seiner Unerklärbarkeit herleitet. Im System des Buddha hat nur das Platz, was sich dem ehernen Gesetz von Grund und Folge einreiht, und es gibt hier keine Lücke, über die der Verstand im Saltomortale hinwegschnellen müßte. Es ist ohne weiteres klar, daß ein System, welches des Glaubens nicht bedarf, auch keines Gottes bedarf. Denn wie das Sehen zum Sichtbaren, das Hören zum Hörbaren sich verhält, so der Glaube zum Gottbegriff. Eines bedingt das andere, eines fällt mit dem anderen. Der Buddhismus ist nicht atheistisch im Sinne von Gott leugnend: nie hat der Buddha die Existenz eines göttlichen Wesens bestritten, es lag aber in der Anlage, in dem Aufbau des Systems, daß er sich dieser Frage gegenüber völlig gleichgültig verhielt, verhalten mußte. Er hatte das Leiden erkannt; das Leiden sollte vernichtet werden. Mit der Exactheit eines Rechenexempels war diese Aufgabe gelöst worden: Das war genug. Die Einführung des Gottbegriffes würde das Aufgehen des Rechenexempels unmöglich gemacht haben. Der Buddha hatte einen Fußweg 44 zum höchsten menschlichen Ziel, der Leidenslosigkeit gefunden, den jeder hochklimmen kann, der natürliche Gliedmaßen hat. Er hat aber nie bestritten, daß man auch auf Flügeln, oder im Luftballon, oder auf andere wunderbare Weise zu diesem Höchsten gelangen könne. Er begnügt sich zu constatieren: Diesen Weg habe ich gefunden; wer sich mir anvertrauen will, dem kann ich Führer sein. „Ich verstehe die Zeitlichkeit und verstehe die Ewigkeit; und die meiner Schwimmkunst vertrauen wollen, denen wird es zu langem Wohle und Heile gereichen.― Wie ein Kaufmann, der von der Güte seiner Waren überzeugt ist, keine Reclame und keine Kunstkniffe nötig hat, so begnügt sich der Buddha einfach, sein Gesetz vom Leiden darzulegen, wie Leiden entsteht und wie es vergeht. Das ist das große Gesetz, das alle Buddhas vor ihm gelehrt haben und alle Buddhas nach ihm lehren werden. Alles andere was außerdem noch gelehrt wird, ist von diesem Grundgesetz umfaßt, „wie von der Elefantenspur jede andere Spur lebender Wesen umfaßt wird.― So geht alles erquicklich offen zu wie bei einem ehrlichen Handel. Der Käufer kennt die Ware und kennt den Preis. Die zu erstehende Ware ist die Leidenslosigkeit, der zu zahlende Preis ist das resolute Verzichten, das Nicht-Wollen. Es ist natürlich, daß nur einer, der Verwendung für diese Ware hat, d. h. nur einer, der Leben als Leiden schwer genug fühlt, geneigt sein wird, einen in unseren Augen so exorbitanten Preis zu zahlen. Man darf nicht vergessen, daß ein Vergleichen des Buddhismus mit anderen Religionen in vielen Beziehungen ein Vergleichen incongruenter Größen ist. Das Höchste ist für den Buddhisten etwas ganz anderes, als für den Anhänger der anderen Religionen. Sein Endziel ist nicht ein Himmel, eine Vereinigung mit dem Göttlichen: Sein Endziel ist die Leidenslosigkeit. Hier allein bleibt der Begriff ‚Leidenslosigkeit‘ in der reinen Negation und ist nicht das, 45 versteckte Positivum (himmlische Seligkeit). Der Buddhismus als einzige unter allen Religionen ruht auf der Negation, läuft in die Negation aus, ja ist Negation. Er hat daher lediglich Wert für solche, die nach der Tür suchen, welche aus dem Leben hinausführt; und tatsächlich ist Buddhismus nichts anderes als Anleitung hierfür. Wir dürfen uns also nicht wundern, daß auch der Apparat, mit dem gearbeitet wird, ein völlig anderer ist als bei den übrigen Religionen, daß Glaube und Gottbegriff fehlen und durch das Verstehen ersetzt sind. Wie in Bezug auf Weltanfang, so steht auch in Bezug auf das Ende der Buddhismus einzig unter allen Religionen da, weil nicht im Himmel, einer mystischen Vereinigung mit dem Göttlichen endend, sondern in dem kahlen, aber klaren Begriff der Leidenslosigkeit. Da Leben in jeder Form für den Buddhisten Leiden ist, so ist für ihn das Höchste, die ungemischte Leidenslosigkeit, logischerweise nur ohne Leben denkbar. Leben und Leidenslosigkeit schließen sich gegenseitig aus. Sehnsucht nach dem Himmel ist nichts als sublimste, aber auch intensivste Form des Lebenstriebes. Durch den Trieb zum Leben lebe ich aber. Ist für mich Leben wahrhaft Leiden, so muß die Sehnsucht auch nach dem Himmel fallen. Die Sehnsucht nach dem Himmel ist aber der Himmel. Wo keine Sehnsucht nach ihm, da auch kein Himmel. Wo kein Himmel, da braucht er auch nicht bewiesen, erklärt, vorgeführt werden, die dankbarste und zugleich mißlichste Aufgabe der Welt. Während alle anderen Religionen stets in der fatalen Lage sind, den Gläubigen ihre Himmel in einer Weise darstellen zu müssen, daß selbst bei vorsichtigster Zurückhaltung immer noch menschliche Farben durchschimmern, wird für den Buddhisten in höchster, farbloser Consequenz der Negation alles durch die drei Worte umfaßt: Ich leide nicht. Freilich hat der Buddhismus seine Himmel und seine Götter, sogar, in Übereinstimmung mit jener Neigung zum Kolossalen, ungeheure Massen von Göttern, aber, um in obigem Bild zu reden, ihre Spur ist auch in der Elefantenspur 46 der Lehre vom Leiden mit inbegriffen. Auch sie sind dem großen Gesetz vom Leiden und der Vergänglichkeit unterworfen. Vergeblich flüchtet sich der getäuschte Geist in den Schoß der Gottheit; den Schützling samt dem Schützer reißt das unerbittliche Karma in das endlose Kreisen der Wiedergeburten zurück, wie das verdunstete Wasser, mag es noch so hoch in den Äther sich erhoben haben, doch immer wieder als Regen in das Meer zurückkehrt. Was sollen also himmlische Seligkeiten! Sie sind ja gleich den irdischen nichts als der Rückschlag vorangegangener Leiden, und unweigerlich wird ihnen neues Leiden als Rückschlag folgen. Mag die ungeheure Langsamkeit des Rhythmus auch ewiges Sein, ewige Ruhe vortäuschen, der Wissende wittert auch hier die Schwingungen, die Unbeständigkeit, das Leiden. Die Götter im Buddhismus sind ähnlich jenen allegorischen Wandgemälden, mit denen man öffentliche Gebäude schmückt, um sie nicht so kahl erscheinen zu lassen. Die Beziehung dieser Götter zum System ist keine nähere, als die der gemalten Allegorie zum Gebäude. Nun schön! Mag der Buddhist nicht an Gott, nicht an den Buddha glauben, so glaubt er doch an sein Nirvana. Was für den Christen die Vereinigung mit Gott, das ist für ihn das Eingehen in Nirvana. Auch das Nirvana kann er nicht sehen und doch zweifelt er nicht daran. So ist Glauben hier wie da, und alles läuft schließlich auf Wortunterschiede hinaus. — Nichts ist falscher als das! Über den Nirvanabegriff ist an anderer Stelle des näheren gesprochen worden, hier sei nur hervorgehoben, daß, sowie kein Sehnen, Streben nach, so auch kein Glauben an Nirvana möglich ist. Nirvana ist nichts, als der aus der absoluten Negation hervorgegangene Begriff der Leidenslosigkeit. Der Buddhist sehnt sich nicht nach Nirvana, sondern nach Befreiung vom Leiden. Hiermit ist Nirvana an sich da, wie die Dunkelheit da ist, wenn das Licht ausgeht. Er glaubt nicht an Nirvana, sondern er weiß: das Leiden ist vernichtet. Damit schaut sein Geist Nirvana in dem Sinne, wie das Auge die Dunkelheit schaut: eben im Nichtsehen. 47 Noch einmal: Der Buddhismus kennt tatsächlich nur das aus dem Wissen entstandene Glauben. Er hat nicht nötig, mit den Glaubensbegriffen der Offenbarungsreligionen zu operieren. Der denkende Geist ist hier nicht gezwungen, sich mit diesen unlösbaren Problemen abzuarbeiten. Ja mehr als das: Er ist nicht einmal gezwungen, die Dogmen der Offenbarungsreligionen zu leugnen. So völlig abseits liegt die Welt des Buddha, daß keiner seiner Gedankenkreise auch nur eine dieser Fragen schneidet oder tangiert. Sie mögen wahr sein, sie mögen falsch sein, und keins von beiden übt die leiseste Einwirkung auf die geschlossene Grundfolgekette des buddhistischen Systems aus. Hieraus ergibt sich ein anderer ungemeiner Vorzug dieser Lehre: Als einzigste unter allen Religionen steht sie a priori nicht im Widerspruch mit der Wissenschaft und ihren Fortschritten. Sie selber ist ja schließlich nichts als eine Übertragung der in den Naturwissenschaften gültigen Gesetze auf das Moralgebiet. Der Buddhismus kennt nicht jenes dünkelhafte, anderen Religionen eigene Ablehnen. Willig nimmt er die Tatsachen der Wissenschaft auf, z. T. sogar als Stütze für sein eigenes Lehrgebäude. Jene Sucht nach Wissen freilich, die in der unerschöpflichen Fülle der Tatsachen ihren Träger zu Grunde gehen läßt, ist streng verpönt. Hang zur Vielwisserei ist eine der vier Arten des Lebenstriebes, die an der Erlösung hindern. Erlösung aber ist das Endziel, und Erlösung ist nur möglich, durch ständiges Denken an die Erlösung. Vergesse ich über dem Studium mich selbst, wie kann ich da zur Erlösung kommen? Auch hier heißt es, den Pfad der richtigen Mitte halten. Die Phrase ‚sein Leben der Wissenschaft widmen‘, wird hier zur Immoralität Die Sucht nach Wissen (Wissen im vulgären Sinn genommen) trägt, weil das Materielle zum Substrat habend, das Unvollkommene, Unbefriedigende in sich, kann also nicht zum Frieden, zur vollkommenen Ruhe führen. Es gibt im Buddhismus keine verbotenen Bücher, kein verbotenes Wissen, aber der Verständige wird in jedem neu 48 erworbenen Wissen die Unvollkommenheit, das Leiden schmecken. Mag der Geist, wie die Biene aus allerhand Blumen, sich hier und da Nahrung suchen, der Verständige wird wie die Biene Süßes und Bitteres zum Honigseim der Erlösung verarbeiten. Wie das ganze Leben, so ist auch die Wissenschaft nichts als ein Spiegel, der das Leiden und die Vergänglichkeit der Welt zurückwirft. Nie darf sie Selbstzweck sein. Nur wer die Wissenschaft in diesem Sinn auffaßt, der faßt sie recht auf. Nicht gelehrter und genialer Menschen benötigt die Welt, sondern nachdenklicher und moralischer. Aber noch einmal: Nie kann hier Wissenschaft sich zu einem solchen Gegenpol der Religion ausbilden wie im Christentum, weil die Sätze des Buddha nichts enthalten, was den Ergebnissen der Wissenschaft an sich widerstritte. Die Wichtigkeit dieses Punktes kann gar nicht überschätzt werden. Die Folgen der Trennung von Wissenschaft und Religion machen sich im christlichen Kulturgebiet in immer stärkerer Weise fühlbar. Bis in die tiefsten Schichten des sozialen Körpers klafft der Riß. Dieser Zwiespalt stammt aus jenen ersten Zeiten, als das Christentum sich über die griechisch-römische Welt legte. Nie waren die sozialen Unterschiede so kolossale, als zur Zeit der römischen Kaiserherrschaft. Nie war die Welt jenem Zustand der Zweitklassigkeit ohne die vermittelnden Zwischenstufen so nahe als zu jener Zeit. Die damalige Gesellschaft unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt, in gemeinsamem Streben zu vereinigen, war eine Aufgabe ähnlich der, allein aus Salz und Zucker einen Kuchen zu backen. Es fehlte das Mehl des Mittelstandes. So war es unausbleiblich, daß diese neue Religion, den Bedürfnissen des einen Standes angepaßt und für diesen ein Ruhelager, für den anderen Stand ein Prokrustesbett wurde. Wie die Kerbe in der Rinde eines jungen Baumes, so ist dieser Riß zwischen Wissenschaft und religiösem Glauben mit dem Wachstum der ersteren immer umfangreicher, tiefer geworden. Die Zeiten, in denen der immer wieder aufklaffende Spalt 49 immer wieder durch Hekatomben von Menschenopfern gestopft werden konnte, sind vorüber, vielleicht nur, weil der Spalt zu groß geworden ist, um einer Füllung auf diese Weise noch hoffen zu lassen. Aber das ist die fürchterliche Folge dieses Zwiespaltes, daß er, gewisse begünstigende Eigenschaften des Volkscharakters vorausgesetzt, den Fanatismus ins Leben ruft. Wie in der Chemie das unschuldige Blutlaugensalz, wenn es in seine beiden Bestandteile zerspalten wird, das giftige Cyankali entstehen läßt, so läßt die Kultur, die in ihrer Vollkommenheit aus der organischen Verbindung von Glauben und Wissen besteht, aus der Trennung dieser beiden das Lebenzerstörende Gift des Fanatismus entstehen. Und wie ein Krebsleiden, trotz scheinbarer lokaler Wucherung, den ganzen Organismus und damit sich selbst zerstört, so zerstört der Fanatismus, trotz scheinbarer lokaler Erfolge, doch schließlich das ganze System und damit seine eigene Basis. Der antiken Welt war religiöser Fanatismus fremd. Wie köstliche Producte wurden im römischen Weltreich die Gottheiten der einzelnen Länder gegenseitig ausgetauscht. Wie Rahei die Hausgötzen ihres Vaters in ihre neue Heimat, so nahmen der Syrer, der Jude, der Ägypter ihre Landesgötter mit nach Rom, und in krystallener Durchlässigkeit nahm der Riesenkörper alle von diesen neuen Lichtcentren ausgehenden Strahlen auf, ohne in Brand zu geraten, ja ohne sich nur zu erwärmen. Auch die anderen Weltherrschaften, die macedonische, die persische sind nie religiöse Gewaltherrschaften gewesen. Politik und Religion, irdisches und himmlisches Reich liefen in antiker Weltanschauung stets getrennt neben einander. Nur im jüdischen Volk hatte sich durch ein Zusammentreffen eigenartiger Anlagen und besonderer Umstände die Verquickung beider vollzogen. Deswegen war es stets dieses kleine Volk, welches im Organismus der sich folgenden Riesenreiche saß, wie der Dorn in der Klaue des Löwen. Deshalb, weil es sich diesen Organismen nicht eingliedern lassen wollte, weil es, in seinen 50 Glauben eingekapselt, allem Außenstehenden fanatischen Widerstand entgegensetzte, nahmen auch die an ihm vollzogenen Strafen den Charakter des Fanatismus an. Jede Beschränkung ihres politischen Lebens wurde gleichbedeutend mit einem Gewaltakt gegen ihre Religion. Tatsächlich ist der Religionskrieg, der schrecklichste, weil unmotivierteste aller Kriege, den alten Weltreichen unbekannt geblieben. Man darf behaupten, daß in der Charaktermischung keiner Rasse der Prozentgehalt an Fanatismus ein so bedeutender ist, als beim semitischen Stamm, und wenn der Jehovah-Kult von irgendeinem anderen an Fanatismus übertroffen wird, so ist es vom Islam. Das Christentum als Sprößling jüdischen Wesens hatte die Anlage zum Fanatismus geerbt, wie das Kind vom Vater eine Krankheitsanlage erbt. Die ständige Reibung, die bald mit dem hochentwickelten exacten Wissen des römischgriechischen Kulturkreises eintrat, brachte leicht den zur Entwicklung des Keimes nötigen Wärmegrad hervor. Weil das Raisonnement hier nicht ausreichte, mußten Feuer und Schwert mithelfen. So überzog mit dem Christentum religiöser Fanatismus die Länder Europas. Und jenes furchtbarste Schauspiel der Weltgeschichte, daß ein Volk das andere mit Krieg überzieht, um ihm seinen Glauben zu bringen, jene entsetzlichste Komödie des Göttlichen spielte sich erst unter der Herrschaft der dem semitischen Stamme entsprossenen Religionen ab. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man den Buddhismus die einzige aller Religionen nennt, die völlig frei von Fanatismus in jeder Form ist. Der Grund hierfür liegt in dem Mangel jeglicher Glaubenssätze. Ebenso wenig wie bei der Lösung einer mathematischen Aufgabe gestritten werden kann ob Recht oder nicht — denn die rechte Lösung zeigt sich durch sich selber, — ebenso wenig kann im Verfolg des buddhistischen Gedankenganges gestritten werden. Von jedem Punkt aus kann mit mathematischer Exactheit das Ganze entwickelt werden, und nirgends bleibt jener Rest, jenes Unauflösbare, Unerklärbare, welches, wie nichts anderes in 51 der Welt, die geheimnisvolle Eigenschaft besitzt, die menschlichen Affecte auflodern zu lassen. Wer im Verfolg der Gedanken des Buddha auf irgendetwas stößt, was unerklärbar scheint, sich dem Ganzen nicht einzugliedern scheint, der mag sicher sein, daß er von der Basis: ‚All Leben ist vergänglich‘ schief aufwärts gebaut hat. Im buddhistischen System gibt es nichts Unerklärtes, Mysteriöses, Kosmisches. Das meinte der Buddha, als er zu einem seiner Jünger sprach: „Hinsichtlich der Lehre ist am Tathagata nichts gleich der geschlossenen Hand des Lehrers, welche etwas verbirgt.― Auch äußerlich zeigt sich diese ungeschützte Offenheit, wie sie nur auf voller, innerer Sicherheit beruhen kann. Im ‚buddhistischen Gottesdienst‘ (wenn man so sagen darf) ist nichts Heimliches, Geschlossenes, ja im eigentlichen, südlichen Buddhismus, wie er in Ceylon und Birma herrscht, erstreckt sich diese Offenheit sogar auf das Äußerliche. Es gibt (mit Ausnahme der alten Felsentempel) keine geschlossenen Tempelräume. Die Anbetung findet auf der offenen Plattform der Pagode statt. Jeder hat Zutritt, jederzeit. Es gibt unter allen Ceremonien nicht eine, die der Fremde, Andersgläubige nicht, ohne vorherige Einweihung, mitmachen könnte, falls ihn ein Gefühl der Ehrfurcht treibt. Der buddhistische ‚Gottesdienst‘ ist der liebenswürdigste der Welt, und besonders an Orten, an welchen neben Buddhismus Religionen wie Hinduismus und Mohammedanismus mit ihrer finsteren Exclusivität bestehen, hebt er sich in seiner vollen Lieblichkeit, in seiner naiven Natürlichkeit ab. Wer die Plattform des Shwe-Dagon (der goldenen Pagode in Rangun) oder den heiligen Berg Mihintale in Ceylon besucht hat, der wird gerne zustimmen. Auch die buddhistischen Reiche waren stets ausgezeichnet durch Toleranz und Zugänglichkeit. Ceylon im frühen Mittelalter war in der ganzen damaligen Welt berühmt durch die völlige Gleichberechtigung, die es den verschiedenen Religionen zukommen ließ. Tibet ist nicht durch den 52 Buddhismus, sondern durch seine Hierarchie, die dem Sinne des wahren Buddhismus völlig widerstreitet, das abgeschlossenste Land der Welt geworden. Für den Buddhisten ist Religion jedermanns eigenste Sache, mit der er sich selber abzufinden hat. Der Buddha selber war soweit davon entfernt, auf seine eigene Herde einen Zwang auszuüben, daß er vor seinem Hinscheiden seinen Jüngern sagte: „Der Tathagata denkt nicht, daß er es ist, der die Brüderschaft leiten muß, oder daß der Orden abhängig von ihm ist― (Maha-Parinibbana Suttam). Der Buddhismus ist ja schließlich nichts als eine innere Umwandlung des Menschen, die auf stillem Nachdenken beruht. Mit Gewalt, mit Streit, ja selbst mit Überreden ist nichts gemacht. Nichts kann getan werden, als das Gesetz darlegen. Alles andere muß dem anderen überlassen bleiben. So begnügt die Sonne sich, ihr Licht zu zeigen, ohne jemand zu zwingen davon Gebrauch zu machen. So läßt der Tathagata den Quell der Erlösung fließen; mag trinken wer da Durst hat. Alles gewaltsame Eingreifen fällt hier fort. Welches Gut sollte dem anderen auch mit Gewalt aufgedrungen werden? Das höchste Gut, der Gott, ist ja nicht. Hier ist nichts zu verschenken, besonders nicht dieses ideelle Gut, das sich erfahrungsgemäß sehr viel leichter anbietet, als der Inhalt der Börse. Höchstes Gut ist ja hier nichts Positives, sondern besteht nur in der Fortnahme einer Täuschung. Hebung einer Täuschung kann aber nur durch Richtigstellung erfolgen. Da ich aber diese Täuschung (vom Ich als wahrem Ich) nicht nur habe, sondern selber bin, so kann die Richtigstellung lediglich durch mich selbst erfolgen. Der andere mag mir dadurch, daß er den Quell der Lehre fließen läßt, Gelegenheit zur Richtigstellung geben: Die Richtigstellung selber kann nur durch mich allein stattfinden. So drängt alles auf jene Concentrierung, die über den anderen hinwegsehend, Himmel und Hölle, Vergangenheit und Zukunft vergessend, das geistige Auge nur auf dieses Ich 53 fixiert hält, auf dieses erstaunliche, unerhörte Erleben des Leidens und seines Überganges in Seligkeit. In keiner Religion ist das Ich so sehr ein Nichts und doch so sehr alles wie in dieser. Jedes Hinfallen des geistigen Schwerpunktes nach außerhalb ist nur ein der Täuschung verfallen und kann unmöglich dem anderen nützen, muß aber unweigerlich mir selber schaden. Daher das resolute Abweisen aller Gedankenreihen, die außerhalb dieses Systems der Erlösung liegen. Daher der Kampf gegen, der Spott über jene Hypothesensucht, die im alten Indien ebenso geblüht haben mag und ebensolche Auswüchse getrieben haben mag wie in den Sophistenschulen von Hellas. Diese nutzlose Hypothesensucht meint der Buddha, wenn er zum Brahmanen Janussoni spricht: „Doch gibt es, o Brahmane, manche Asketen und Brahmanen, die halten die Nacht für Tag und den Tag für Nacht. Ich aber, Brahmane, halte die Nacht für Nacht und den Tag für Tag.― Und zu seinen Jüngern spricht er: „Denkt nicht Gedanken wie die Welt sie denkt: ‚Die Welt ist ewig oder die Welt ist nicht ewig. Die Welt ist endlich oder die Welt ist nicht endlich‘. Wenn ihr denkt, ihr Jünger, so mögt ihr also denken: ‚Dies ist das Leiden‘. Ihr mögt denken: ‚Dies ist die Entstehung, des Leidens‘. Ihr mögt denken: ‚Dies ist die Aufhebung des Leidens‘. Ihr mögt denken: ‚Dies ist der Weg zur Aufhebung des Leidens‘.― Und er selber spricht zu einem Brahmanen die stolzen Worte: „Der Tathagata ist frei von aller Theorie.― Man hat den Buddhismus mit dem Christentum verglichen und gesagt: Er war wie diese eine Religion für die Armen, für die Niedrigen, Elenden, Geknechteten. Ich denke, etwas Falscheres kann kaum gesagt werden. Man hat sich dadurch täuschen lassen, daß der Buddha die Ketten sprengte, in welche das indische Leben sich selber geschlagen hatte, daß er weit die Tore seiner Lehre öffnete, so weit, daß die Mitglieder aller Kasten nebeneinander eintreten konnten. Er selber sagte: „Wie im Ocean alle großen Ströme Namen und Existenz verlieren, so in meiner Lehre alle Kasten.― Es ist wahr, der 54 junge Buddhismus nahm alles auf, was die anderen, in Kastenbegriffen befangen, zurückweisen mußten, doch das lag in der Mission Gautamas als Buddha mit einbegriffen. Er war ja der Erlöser der Welt und wie er weit über den Göttern stand, so stand er auch weit über den göttlichen Institutionen. Von den andern Sekten wegen seiner Skrupellosigkeit in dieser Hinsicht getadelt, antwortet er: „Mein Gesetz ist ein Gesetz der Gnade für alle.― In gewissem Sinne kann man sagen: Das Christentum ist nicht für Welt, sondern für die Armen, Enterbten geschaffen worden, für die von allen materiellen und geistigen Genüssen dieser Welt Ausgeschlossenen. Wenn man etwas vom Buddhismus nicht sagen kann, so ist es dieses. Man bedenke, daß das indische Volk, für welches mehr als für jedes andere das Leben Leiden ist, sich den Buddhismus wieder hat nehmen lassen, und daß die heute dem Buddhismus zugehörigen Völker zu den lebenslustigsten der Erde gehören; ich denke hier besonders an die Birmanen. Das schließt nicht aus, daß Arme und Geknechtete sich seine Lehren zu nutzen machten, aber geschaffen wurden sie nicht für sie. Befreiung vom Kastenzwang war das, was die Armen zu der Lehre hinzog, und nur zu oft mag nicht innerer Drang, sondern Rücksicht auf äußerliche Vorteile die Triebfeder gewesen sein. Der Buddha mochte Ursache haben, seinen Mönchen zuzurufen: „0 daß meine Jünger Erben der Wahrheit seien und nicht Erben der Notdurft!― Noch viel weniger gilt im Buddhismus das „Selig sind, die da geistig arm sind.― Es ist bezeichnend für das ganze System, daß Gautamas erster Gedanke nach erlangter Buddhaschaft dieser ist: „Werden mich meine Mitmenschen auch verstehen?― „Mag ich, heißt es an anderer Stelle, in Kürze die Wahrheit verkünden, mag ich ausführlich die Wahrheit verkünden, Versteher sind schwer zu finden.― Ohne, weiteres fühlt man: das kann keine Lehre für die Armen im christlichen Sinne sein. Man hat sich auch hier durch die Redeweise des 55 Buddha täuschen lassen, durch seine in die Breite gehende, in ermüdenden Wiederholungen sich gefallende Lehrart, die zu der der Brahmanen mit ihrer dunklen Tiefe und rätselhaften Kürze in grellstem Widerspruch stand. Aber nicht, weil er in erster Linie für die Niedrigen da war, lehrte er so, sondern weil er der Erste war, der consequenterweise öffentlich predigte. Weil er ferner aus alten Schlagworten neue Gedankenreihen hervorgehen ließ, und weil diese Gedankenreihen im Gedächtnis behalten werden mußten: denn Schreiben war noch nicht Usus zu seiner Zeit. Der Arme, der von den Genüssen dieser Welt noch nichts gekostet hat, wird sich für ein solches ‚Sichlossagen von jeder Lebenslust‘ nicht begeistern; ihm muß ein Ideal vorgestellt werden im Himmel, in dem er doppelt nachholen wird, was er hier versäumt hat. Die Religion der Armen ist eine Religion der Verheißungen, des Buddha Religion ist aber eine Religion des Entsagens. Hier gähnt zwischen Buddhismus und Christentum eine Kluft, wie zwischen dem jüdischen Zimmermannskinde und dem indischen Fürstensohn, den der Ekel am Luxus hinaustreibt, der ringsum nichts als Leiden sieht, weil die natürlichen Freuden längst für ihn verloren gegangen sind. Das ist nicht das Leiden der wirklich Armen, welches Freuden gebiert so zart, so schön, wie die Blumen, die dem Schnee entsprießen. Das Leiden Gautamas ist jenes finstere Leiden, das tot daliegt wie ein ausgebrannter Krater, der auf Erdrevolutionen wartet, um aufs Neue ins Leben hineingerissen zu werden. Solch einer Revolution verdankt der Buddhismus seine Entstehung: es war der Rückschlag gegen die Askese, und die vulkanische Fruchtbarkeit des neu belebten Bodens hat eine Blume von unsäglicher Reinheit sprießen lassen: die Erlösungslehre des Buddha. Nach einer Art sprechen alle Buddhas, wenn sie Laien lehren. Erst predigen sie über die Verdienstlichkeit des Almosengebens, über die Pflichten der Moralität, über die 56 Sündlichkeit der Lust, über den Segen des Sichlossagens von der Lust. Erst dann, wenn sie sehen, daß ihre Zuhörer genügend präpariert, genügend empfänglich sind, erst dann predigen sie die große Lehre aller Buddhas, d. h. das Leiden, die Ursache des Leidens, die Vernichtung des Leidens und den Pfad, der zur Vernichtung des Leidens führt. Das ist die Art wie die Buddhas lehren. Schon aus dieser Äußerlichkeit geht hervor, wie der Buddha selber nie vergessen hat, daß seine Lehre nicht für jedermann geeignet ist. Trotzdem er als Erlöser der Welt kam, stets ist ein Zug von Noblesse und Exklusivität seiner Lehre eigen gewesen. „Die andern werden nur für das vor Augen Liegende Interesse haben, mit beiden Händen zugreifen, sich schwer abweisen lassen; wir aber werden nicht nur für das vor Augen Liegende Interesse haben, nicht mit beiden Händen zugreifen, uns leicht abweisen lassen,― heißt es in einem Sutta. Man darf wohl behaupten, daß dieses gutgemeinte, aber oft sehr lästige Aufdrängen der religiösen Überzeugungen, diese banalste Äußerung menschlichen Wohltätigkeitssinnes dem Buddhismus fremder geblieben ist als allen anderen Weltreligionen. Das lag vielleicht mit an der Person und Herkunft des Stifters. Er war aus fürstlicher Familie und in mehr als einer Beziehung mag Gautama der König unter den Asketen gewesen sein. Könige sympathisieren mit ihm als einem der ihrigen, Könige sehen wir unter den ersten seiner Anhänger. Das Leiden, welches er predigte, ist jenes Leiden, welches die Könige mehr fühlen, als die Bettler. Nicht daß es nur bei den ersteren existierte. O nein! Es wohnt bei Hoch so gut wie bei Niedrig, nur liefert der eine einen besseren Resonanzboden als der andere. Und ‚die Söhne edler Geschlechter‘ waren williger, diesen Entsagungsweg aus dem Heim in die Heimatlosigkeit zu gehen. Sie waren fähiger, in der Vergänglichkeit das Leiden zu wittern, und in ihren Mund paßt besser jener berühmte Vers, den der Götterkönig Sakka beim Hinscheiden des Buddha äußert und der die aparten Farben des. Buddhismus besonders klar zeigt: 57 „Wie so vergänglich ist doch all Gewordenes! Wachstum und dann Zerfall: das ist sein Wesen. Jedwedes Ding vergeht und wird aufs neu, Bestes ist Ruh des Niemehr-Auferstehens.“ — 58 Der Pessimismus und das Leiden „Durch lange Zeit, ihr Jünger, habt ihr Leid erfahren, Qual erfahren, Unglück erfahren und das Leichenfeld vergrößert; — lange genug wahrlich, ihr Jünger, um von jeder Existenz unbefriedigt zu sein, lange genug, um sich von allem Sein abzuwenden, lange genug, um sich von ihm zu erlösen.“ (Samyutta-Nikayo). Zum guten Teil infolge Schopenhauers schiefer Auffassung der beiden indischen Hauptreligionen, des Vedanta*) und des Buddhismus, sind beide, besonders aber der letztere, in den Ruf gekommen, dem Pessimismus zu huldigen, in gleicher Weise wie das Schopenhauersche System selbst. Nichts kann falscher sein als diese Ansicht. Vor allem aber den Buddhismus als die Religion des allgemeinen Weltschmerzes hinzustellen, ist der Gipfelpunkt des Mißverständnisses. Pessimismus kann nur da sein, wo Egoismus ist. Er ist nichts als verletzter und trotz aller Verletzungen und Stöße ungebrochener Egoismus. Pessimismus ist, trotz all scheinbaren Verneinens doch im Grunde nichts als eine Form der Lebensbejahung, und ohne Frage ihre unglücklichste widersinnigste Form. Lebensbejahung kann natürlichen Abschluß nur im Gottbegriff haben. Nun hat im specifischen Gedankengang des Vedanta der Egoismus solche Form angenommen, daß in seinem vollen *) Vedanta bedeutet „Ende des Veda". Es bezeichnet diejenige religiöse Richtung des Brahmanismus, deren Denken in den Upanishads niedergelegt ist. 59 Verständnis höchste göttliche ‚Wonne‘ liegt. Die volle Erkenntnis ist aber dieses: „Alles ist ‚Ich‘; diese ganze Welt, der Gott, jenes höchste Brahman, alles ist ‚Ich‘.― Im Erkennen dieses meines Ich werde ich zu Gott. ‚Brahman wissend, wird er Brahman‘. So ist der Vedanta ungetrübter Optimismus. All Leiden, als vor der Erkenntnis liegend, ist ja nur Täuschung, beruht auf Unwissenheit. Kann es größere Wonne geben, als Gott zu sein? Für Pessimismus ist kein Platz im System. Noch ferner liegt jeder Pessimismus der Lehre des Buddha, weil hier in der wahren Erkenntnis das ‚Ich‘ überhaupt sich auflöst. Der Wissende sieht durch die Scheinform dieses Leibes hindurch und sieht kein Ich. Wo aber kein Ich ist, kann naturgemäß auch kein Egoismus, keine Ich-Sucht sein. Im System des Buddha fällt nicht nur der Pessimismus, sondern es fällt die Möglichkeit zu Pessimismus sowohl als Optimismus. Es bleibt nur jene unbewegte Ruhe, jene bewußte Indifferenz, die ihre Basis in der alles ausgleichenden Erkenntnis hat. Man geht wohl kaum fehl, wenn man behauptet, daß der Pessimismus erst mit dem Christentum sich ausgebildet hat. Die griechisch-römische Kultur war optimistisch in der Form des, man könnte sagen, diesseitigen, immanenten Optimismus. Das Leben war etwas Schönes, zum Genießen Geschaffenes und es wurde genossen ohne Skrupel. In Goethe'schem Sinne war Persönlichkeit höchstes Glück dieser Erdenkinder. Das ‚Nachher‘ trat in seiner Bedeutung völlig gegen das ‚Jetzt‘ zurück. Jene antiken Lebenskünstler standen von der Tafel dieses Lebens auf mit dem satten Wohlbehagen, mit welchem der Reiche sein üppiges Mahl verläßt. Die indischen Religionen sind optimistisch in jener Form des jenseitigen, transcendenten Optimismus, wie überhaupt vielleicht in keinem Volk der Erde so sehr die Neigung zum Transcendenten liegt wie im Indischen. Wie schon gesagt, beruht der Optimismus hier darauf, daß all das unendliche Leiden dieses Lebens ja nur Täuschung ist, die in der wahren 60 Erkenntnis verschwindet wie Schreckgespenster im Tageslicht. Wie hinter düsterem Traum ein lichter Tag steht, so steht hinter diesem Lebensleiden jenes Große, Göttliche, ganz aus Wonne Bestehende, jenes Brahman. Dadurch, daß das Christentum das Leben als Leiden, das Diesseits als ein Jammertal erklärte, stellte es sich in, ungeheuersten Gegensatz zur Antike. Der Schwerpunkt, der bisher im Diesseits gelegen, wurde plötzlich ins Jenseits verlegt, und so gewissermaßen oben und unten vertauscht. Die antiken Philosophien lehrten glückliches Leben, das Christentum: glückliches Sterben. Der Gedanke, daß Leben nur Vorbereitung zum Sterben ist, wäre dem Hellenen ungeheuerlich erschienen. Wie die Lebenslust des Griechen, eine wirkliche Lebenslust war, so ist das Lebensleid des Christen ein wirkliches. Hier entpuppt sich der Gegensatz zwischen Christentum und indischen Religionen. In ersterem ist, wie gesagt, Lebensleid ein wirkliches. Hier gibt es nicht, wie im Indischen, Täuschung. Jehovah liebt keine Spiegelfechtereien, keine Überraschungen. Von ihm gilt nicht das Wort der Upanishads: ‚Die Götter lieben gleichsam das Geheimnisvolle‘. Leben ist Schuld im Christentum, Unwissenheit in den indischen Religionen. Hier spaltet sich Osten und Westen, Indisches und Christlich-Jüdisches dicht über der Wurzel. Hier liegt auch das Verständnis für die völlig verschiedenartige Auffassung des Leidens hüben und drüben. Leiden im Christentum ist etwas Wirkliches, weil etwas von Gott Kommendes. Es ist die Rute, mit der ein Gott seine Kinder straft. Rute ist aber Erziehungsmittel. Die Rute empfängt derjenige, der gebessert werden soll. Bessern ist aber gleichbedeutend mit Gott-Nähern. So ist das Leiden ein Mittel, durch welches ein Gott seine Kinder zu sich zieht. Er zeigt ihnen ein Interesse, eine Güte, ein Liebes dadurch, daß er sie straft, ihnen Leiden auferlegt, und Leiden wird gleichbedeutend mit göttlicher Bevorzugung. Zum erstenmal 61 aus dem Munde des Christentums hörte die staunende Welt die unerhörte Phrase: ‚Selig sind, die da Leid tragen‘. Ganz anders stellt sich uns das Leiden im System des Buddha dar. Leiden, als identisch mit Leben, ist hier eine Unwissenheit, ein Mangel an Wissen, der gehoben werden muß. Stets galt im Buddhismus Leiden als etwas, das gemieden werden, dem entflohen werden muß, eine Auffassung, die jeder für die menschlichste, natürlichste erklären wird. Das ganze System verdankt seine Entstehung lediglich diesem intensiven Horror vor dem Leiden, diesem intensiven Streben nach Leidenslosigkeit. Keinen anderen Punkt hat der Buddha so stark betont als diesen, daß er nur in der Welt erschienen ist, um das Leiden zu zerstören. „Nur Eines, ihr Mönche, verkündige ich heute wie immerdar: Das Leiden und des Leidens Ausrodung.― Nichts in dieser Welt der Täuschung erkennt der Buddhist, als das Leiden. Auf nichts anderes denkt er, als auf die Aufhebung dieses Leidens. Wie der Adler in die nackte Sonne, so blickt er unentwegt in diese Leidensglut, welche die ganze Welt durchdringt. Mit den vier heiligen Wahrheiten vom Leiden setzt wie mit einem vollen Accord der Buddha ein. Die vier heiligen Wahrheiten vom Leiden sind Anfang, Mitte und Ende. „Wie alles Fußbegabte in der Elefantenspur mit fortkommt, so begreifen die vier heiligen Wahrheiten vom Leiden alles Gute in sich.― Ich möchte sagen, die Pointe des ganzen Buddhismus liegt in der eigenartigen Definition, die hier dem Leiden gegeben ist. Was ist Leiden im System des Buddha? — „Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Sterben ist Leiden, Wehe, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind Leiden; was man begehrt nicht erlangen, das ist Leiden, kurz gesagt: Die fünf Elemente des Lebenstriebes sind Leiden.― Das Leiden, welches der Buddha meint, kann demnach unmöglich Leiden im vulgären Sinn sein: Das Buddhaleiden ist nichts als das Gefühl für die Vergänglichkeit alles 62 Entstandenen. Leiden ist nichts als Vergänglichkeit von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen. „Sieh hin, o Weiser, auf dieses Sein: Entstehen-Vergehen ist seine Pein.“ Überall, soweit meine Sinne, mein Denken reicht, da herrscht Entstehen und Vergehen, da erkenne ich Anfang und Ende. Anders ausgedrückt: Ein Denken ist nur möglich in der Zeit und kann daher unmöglich das erfassen, was außerhalb der Zeit steht, das Ewige, Seiende. Daher kann ich sagen: Überall, wo meine Sinne hindringen, da schleppen sie wie eine Seuche die Vergänglichkeit mit ein. So wird selbst das Göttliche entthront und mir in Bezug auf Vergänglichkeit gleich gemacht, wenn ich ihm nicht mit dem Glauben entgegentrete, sondern es mit dem Verstand zu umfassen suche. So wird unsere eigene Körperlichkeit, weil als in toto entstanden, auch in toto wieder vergehend, zum Inbegriff der Vergänglichkeit. Leben und Vergänglichkeit werden gleichbedeutende Begriffe; ob Leben ein irdisches, ob ein himmlisches ist, das macht keinen Unterschied: Leben und Vergänglichkeit sind gleich. Dem denkenden Auge löst das ganze Weltall sich in eine gärende, werdende, ewig entstehende, ewig vergehende Masse auf, an der das einzig Wirkliche eben dieses ewige Werden ist. Das ist dieselbe Realität, wie sie der Strudel im Wasser, der Regenbogen in der Luft hat. Nun argumentiert der Buddha in folgendem, sich oft wiederholendem Schema: „Was meint ihr wohl, ihr Mönche, ist der Körper ewig oder vergänglich?― „Vergänglich, o Herr!― „Und das was vergänglich ist, ist das leidvoll oder freudvoll?" „Leidvoll, o Herr!― „Und das was vergänglich, leidvoll, dem Wechsel unterworfen ist, kann man wohl davon denken: das gehört mir an, das bin Ich, das ist mein Selbst?― „Das ist unmöglich, o Herr!― 63 Ein anderer Beweis dafür, daß Leiden gleich Vergänglichkeit ist, ist nirgends gegeben worden. Beide werden ohne weiteres als gleich gesetzt. Wir stoßen hiermit auf die natürlichen Grenzen des Systems. Es gehört ohne Frage eine gewisse Anlage des Denkvermögens dazu, die Gleichheit von Leiden und Vergänglichkeit als selbstverständlich anzunehmen. Diese Anlage meint vielleicht der Buddha, wenn er zu seinen Jüngern spricht: „Nur wenig Wesen werden von den wahrhaft ergreifenden Dingen ergriffen, im Vergleich zu jenen zahlreicheren Wesen, welche von den wahrhaft ergreifenden Dingen nicht ergriffen werden.― Nur wen die Vergänglichkeit als Leiden ergreift, der ist der Resonanzboden für die Worte des Buddha. Denn der Grundsatz des ganzen Systems ‚Leben ist Leiden‘ ist nur beweisbar, ist nur fruchttragend, da wo Leiden und Vergänglichkeit als gleich verstanden werden. Nun liegt der tiefste Grund für die Gleichheit beider im Anatta-Gedanken versteckt, in der Erkenntnis, daß dieses Ich kein wahres Ich ist. Da aber der Anatta-Gedanke das Nichtglaubenkönnen schon wieder voraussetzt, so stoßen wir auch von dieser Seite her auf etwas Unerklärliches, auf eine natürliche Anlage des Denk- und Empfindungsvermögens. Fehlt die Fähigkeit zu glauben, das heißt die Fähigkeit, das als bewiesen vorauszusetzen, was erst bewiesen werden soll, nämlich die Existenz einer Seele, eines Ewigen, so wird der Körper zu einem in toto Entstandenen, daher in toto Vergänglichen, Seelenlosen, d. h. er wird zum Nichtselbst, zum Anatta. Denn das wahre Selbst, das Ich müßte, um wahres Ich zu sein, ein ewiges Princip, eine Seele in sich bergen. Gerade in diesem Übergangsproceß vom Ich zum Nicht-Ich ist aber Vergänglichkeit notgedrungen etwas Leidvolles. „Da hat z. B. einer den Glauben ‚Das ist die Welt, das ist die Seele, das werde ich nach meinem Tode werden, unvergänglich, beharrend, ewig, unwandelbar, ewig gleich, ja. werde ich so verbleiben‘. Der hört vom Vollendeten die Verkündung der Wahrheit, die zum Aufhören alles Daseins führt. Da wird ihm also zu Mute: ‚Vernichtet werde ich sein, o, zu Grunde 64 gegangen, ach! nicht mehr werde ich sein‘. Er ist traurig, gebrochen, er jammert, schlägt sich stöhnend die Brust und gerät in Verzweiflung.― Vergänglichkeit aber, soweit sie mich selbst, mein Edelstes betrifft, ist gewissermaßen die maßgebende, entscheidende, unter all den unzähligen Formen, in denen Vergänglichkeit auftreten kann. Und weil sie in dieser ausschlaggebenden Form leidvoll ist, so ist sie es überhaupt. Ist aber die Tatsache ‚Vergänglichkeit ist gleich Leiden‘ anerkannt, so ist damit auch Leben gleich Leiden geworden; denn beide sind gleich Vergänglichkeit. Ist aber Leben an sich gleich Leiden, so werden auch alle Lebensäußerungen zum Leiden und damit alle jene naturgemäßen Vorgänge, Geburt, Alter, Tod mit in den Rahmen des Leidensbegriffes hineinversetzt. Sie sind ja die Zeiger am Uhrwerk der Vergänglichkeit. Geburt, Alter, Krankheit und Sterben, sie sind die vier großen Weltübel, denen der Buddha entfliehen wollte, als er das Haus seiner Väter verließ und in die Askese ging. Körperlichkeit und Leiden werden identisch. „Wer, ihr Jünger, sich des Körpers erfreut, der erfreut sich des Leidens; wer sich des Leidens erfreut, unerlöst ist der vom Leiden, das sage ich.― Oder:„Das Vergängliche, das Vergängliche, sagt man, o Herr, was ist nun aber, o Herr, das Vergängliche?― so fragt ein Mönch den Buddha. „Der Körper, wahrlich, ist vergänglich, das Gefühl, die Wahrnehmung, die Unterscheidungen, das Bewußtsein ist vergänglich.― „Das Leiden, das Leiden, sagt man, o Herr! Was aber ist das Leiden, o, Herr?― „Der Körper, wahrlich, ist Leiden, das Gefühl, die Wahrnehmungen, die Unterscheidungen, das Bewußtsein ist Leiden.― „Das Nichtselbst, das Nichtselbst, so sagt man, o, Herr "Was ist nun aber, o Herr, das Nichtselbst?― 65 „Der Körper, wahrlich, ist das Nichtselbst, das Gefühl, die Wahrnehmungen, die Unterscheidungen, das Bewußtsein, ist Nichtselbst.― (Samyutta-Nikayo) Vergänglichkeit, Leiden, Nichtselbst, Körperlichkeit sind gleichbedeutende Begriffe, aber nicht so, daß eines das andere ersetzen könnte, sondern so, daß mit jedem einzelnen die drei anderen an sich gegeben sind. Es mag jemand das Leiden des Lebens fühlen, aber er erkennt nicht die Vergänglichkeit, das Nicht-Ich, so hat er nichts als die Pein; sein Leiden trägt keine Frucht. Anderseits: Er mag die Vergänglichkeit, das Nicht-Ich des Körpers verstehen, aber dieses Verständnis ‚ergreift‘ ihn nicht, ruft keine Reaction in ihm hervor, geht nicht als Leiden wieder von ihm ab, so ist nichts getan. Denn erst wo Vergänglichkeit als Leiden gefühlt wird, da tritt das Bedürfnis ein, sich von der Vergänglichkeit zu erlösen. Des Buddha Lehre ist aber nichts als die Anleitung zu dieser Erlösung. Erst da, wo Körperlichkeit als der Zusammenklang von Vergänglichkeit, Leiden und Nicht-Ich dasteht, erst da ist Buddhismus. Vergänglichkeit und Nicht-Ich muß als Leiden gefühlt, Leiden als Vergänglichkeit und Nicht-Ich verstanden werden. Der Ausdruck ‚Vergänglichkeit fühlen‘ und der Ausdruck ‚Leiden verstehen‘ sind gleichbedeutend: einer wie der andere umgreift das Ganze. ‚Leiden verstehen‘ heißt ihm seinen Platz zwischen Vergänglichkeit und Nicht-Ich anweisen, und das heißt: alles verstehen. Das gefühlte Leiden an sich ist im System des Buddha nutzlos, höchstens kann es den Weg ebenen zum Verstehen des Leidens. Aber das gefühlte Leiden ist nicht die notwendige Vorstufe zum verstandenen Leiden. Man kann zum vollen Verständnis des Leidens d. h. zur Erlösung kommen, ohne je Leiden gefühlt zu haben. Der Weise Nagasena*) sagt von sich selber: „Ich wurde in den Orden aufgenommen als bloßer Knabe, ohne jenes höchste Ziel auch nur zu kennen. Aber ich *) Aus dem in buddhistischen Ländern hochgeschätzten Buch: ‚Fragen des Königs Milinda‘ an den Weisen Nagasena. 66 dachte, diese Buddhajünger sind weise, sie werden mich belehren. Und sie belehrten mich. Und nun weiß ich und verstehe ich beides: Grund sowohl wie Lohn des Entsagens.― Das ist das Charakteristikum des Leidens im Buddhismus: Es liegt nicht im Gefühl, sondern im Verstand. Es ist nicht der vulgäre, sondern ein philosophischer Begriff, und nur diese eigenartige Verschiebung macht es möglich, unser geistiges Sehfeld in seiner ganzen Ausdehnung durch den Begriff des Leidens auszufüllen. Erst da, wo Vergänglichkeit als Leiden anerkannt wird, kann Leben in toto zu Leiden werden, kann Leiden verstanden, erkannt werden. Nur so ist es möglich, überall da, wo Leben als Leiden nicht anerkannt wird, einem Mangel an wahrer Erkenntnis, einer Unwissenheit die Schuld zu geben. Nur so ist es möglich, das Gesetz des Buddha als ein für alle mit Ich-Bewusstsein begabten Wesen gültiges hinzustellen. Alle, die es nicht anerkennen, die Leben als Leiden nicht anerkennen, tun das nicht, weil Leben in Wirklichkeit nicht Leiden wäre, sondern nur weil ihre Unwissenheit sie hindert, Leben, in seiner wahren Natur zu erkennen. So wäre das Leiden des Buddhisten ein wirkliches ebenso, wie das des Christen? — Nein! Leiden ist ein Wirkliches, nur so lange Leben ein Wirkliches ist d. h. so lange diese Körperlichkeit als wahres, seelebegabtes Ich angesehen wird. Mit der Wirklichkeit des Ich fällt die Wirklichkeit des Leidens. Wird das Ich als Täuschung erkannt, so wird auch das Leiden als Täuschung erkannt. Ebenso wie die Vorstellung ‚hier ist ein Ich‘, ist auch das Leiden nichts als Folge einer Unwissenheit. Somit hätten wir die wunderliche Doppeltatsache: Leben nicht als Leiden erkennen, ist Folge einer Unwissenheit, und: Leiden selber ist Folge einer Unwissenheit. Jemandem die Augen öffnen für das Leben als Leiden, scheint hiernach nichts zu sein, als ihn aus einer Unwissenheit in die andere bringen. — In Wirklichkeit liegt die Sache anders: Leiden ist Folge einer Unwissenheit, bedeutet nichts als: Leiden ist 67 versteckte Erlösung; Erlösung ist nichts als Leiden, von besonderem Standpunkt aus angesehen. Also jemandem das Leiden des Lebens zeigen, heißt ihm die Erlösung anbieten ihn das Leiden des Lebens verstehen lehren, heißt ihm die Erlösung geben. Leben als Leiden erkennen, erkennen, daß Leben nicht Leiden hat, sondern Leiden ist, heißt beide als Täuschung erkennen. Ist Leiden Folge einer Täuschung, einer Unwissenheit, so muß es gehoben werden können mit dieser Unwissenheit, durch ihren Übergang in Wissen. Ist aber Leiden nicht Product des Ich (gefühltes Leiden) sondern selber das Ich (verstandenes Leiden), so muß Hebung des Leidens gleichbedeutend sein mit Hebung dieser Körperlichkeit, dieses Ich. Dieses Ich ist aufhebbar aber nur, wenn es kein wahres Ich mit ewigem Kern, sondern ein Schein-Ich ohne ewigen Kern ist. Das Wissen vom Ich als Nicht-Ich, der Anatta-Gedanke ist daher das große, das einzige Wissen, das Wissen par excellence, das Buddhawissen, weil in einem Zug Leiden und Leben aufhebend. Leidenslosigkeit, weil höchst Ersehntes, steht hier hoch im Preis: Mein eigenes Ich ist die Anzahlung bei diesem Handel. Nun gibt es noch eine, ich möchte sagen menschlichere Gedankenreihe, die ebenfalls die Gleichheit von Unbeständigkeit und Leiden erklärt: Überall, wo die sechs Sinne in Tätigkeit sind, da ist Entstehen und Vergehen. Aber nicht nur Welten entstehen, vergehen; was würden mich Welten kümmern, wenn ich nur wohl bin: sondern Wichtigeres: Wünschen entsteht, das Wollen wird wach; die Sinne haften am Erkannten, wie die Wärme am besonnten Gegenstand, nachdem das Licht schon gegangen ist. Im tiefsten Herzensgrunde beruht alle Wonne in der Ruhe, in der Wechsellosigkeit; darum wünschen die Sinne auf den Objecten zu ruhen. Das aber ist unmöglich; denn Vereinigung der Sinne mit den Objecten als ein ständiges Wechseln. Die Neigung der Sinne zum Haften ist das Verlangen nach Ruhe in der Ruhelosigkeit, somit etwas Unbefriedigendes, Leidvolles. 68 Sinnestätigkeit ist nichts als ein Geboren- und Begrabenwerden von Wünschen, ein schmerzvoller Proceß, solange Behagen an den Dingen da ist, solange Aufhören der Vereinigung von Sinn und Object eine Trennung, ein Auseinanderreißen ist. „Behagen ist des Leidens Wurzel― heißt es, und weiter: „der Wille, das Vergnügen, die Bejahung, das Behagen in diesen fünf Elementen des Lebenstriebes: Das ist die Leidensentstehung.― Derselbe Gedanke wird an anderer Stelle in einem anderen Bilde vorgeführt. Im Milindapandho, dem oben erwähnten Buch der Fragen des Griechenkönigs Milinda (Menander) an den Weisen Nagasena heißt es: „Der Kontakt der Sinnesorgane mit den Objecten ist so, als wenn zwei Widder miteinander kämpfen; das Auge ist mit dem einen zu vergleichen, die Form mit dem anderen.― Wie in jedem Kampf die Affecte auflodern, wie die Flamme aufsprüht, wenn Kiesel und Stahl sich aneinander reiben, so das Feuer von Lust, Haß und Irre, wenn die Sinne sich an den Objecten reiben. Wir haben somit zwei Erklärungen für die Gleichheit von Leiden und Vergänglichkeit: eine philosophische, bei welcher der Satz vom Nicht-Ich, und eine rein menschliche, bei welcher der Wille die Vermittelung bildet. Überall da, wo Wille ist, da ist Schmerz, Leiden. Beide sind untrennbar, wie in der Flamme Licht und Wärme. Neben der Unwissenheit haben wir also ein zweites Entstehungsmoment des Leidens: Das Wollen, und damit einen zweiten Weg zur Hebung des Leidens: Aufhebung des Wollens, Nicht-wollen. Wo kein Wollen, kein Verlangen, kein Behagen ist, da ist kein Haften an den Objecten; wo kein Haften, da keine Trennung, kein Vergehen, kein Leiden. Wollen aber kann sich nur im Wissen aufheben, und Unwissenheit wird so zur Quelle des gefühlten Leidens sowohl, als des verstandenen Leidens. Mit dem Wissen fällt das eine, wie das andere. Es wäre nutzlos, jene Erkenntnis, die der Buddha uns lehren will, die auf jener Umwandlung der ganzen Welt in etwas Vergängliches und daher Leidvolles beruht, von sich fern zu halten unter dem 69 Vorwand: „Erst mit dieser Erkenntnis kommt das Leiden. Wo keine Erkenntnis der Vergänglichkeit ist, da kann auch kein Leiden sein.― — Das Leiden ist doch da, weil am Wollen haftend. Solch ein Widerstrebender versperrt sich nur den Weg zur Erlösung. Er hat die Last, aber nicht den Lohn des Leidens; denn gefühltes Leiden ist nutzlos. Nur erkanntes Leiden kann jenen Umwandlungsproceß in die Erlösung durchmachen. Wie der Lichtstrahl, nachdem er gewisse Medien passiert hat, specifische Eigenschaften annimmt, so nimmt Leiden die specifische Fähigkeit, sich in Erlösung umzuwandeln, erst an, nachdem es aus dem gefühlten in das begriffene Leiden übergegangen, d. h. nachdem es mit Vergänglichkeit gleichbedeutend geworden ist. Nun ist Vergänglichkeit auch ohne den Menschen in der Natur. Würde die Natur, das Weltall leidvoll sein, auch wenn der Mensch nicht darinnen wäre? — Nein! Vergänglichkeit, Unbeständigkeit an sich würden noch kein Leiden sein [ebenso wie Ruhe, Wechsellosigkeit noch keine Seligkeit], wenn es keinen Schauer, keinen Erkenner der Unbeständigkeit gäbe. Meeresspiegel und Sonnenstrahl vereinigen sich, trennen sich ohne Lust und Leid. Erst das Ich schafft das Leiden; nur soweit Erkennen reicht, soweit werden Leiden und Unbeständigkeit gleichbedeutend. Es ist die specifische Function all und jeder Individualität, Unbeständigkeit in Leiden umzuwandeln, wie der Gährungspilz den Traubensaft in Alkohol umsetzt. Das Individuum schafft Leiden nicht aus dieser oder jener Charakteranlage heraus, wie wir vom Standpunkt unserer Unwissenheit aus annehmen möchten, sondern ist selber Form des Leidens und jede Betätigung der Körperlichkeit ist ein sich betätigendes Leiden. Wären Leiden und Unbeständigkeit nicht nur gleichbedeutend, sondern identisch, würde Leiden, ebenso wie die Unbeständigkeit, existieren, wenn auch kein Erkenner da ist, so würde Leiden zu etwas an sich Bestehendem werden, zu einer Art kosmischer Potenz, und ihr müßte ein entsprechender Seligkeitsbegriff gegenüberstehen. Leiden an sich existiert 70 nicht. Als die im Individuum sich spiegelnde Vergänglichkeit ist es und ist nicht, wie das Bild im Spiegel ist und nicht ist zu gleicher Zeit, wie diese Körperlichkeit ist und nicht ist zu gleicher Zeit. Leiden ist, wie alles, ein relativer Begriff, der mit mir entsteht, mit mir vergeht; der ebenso durch mich bedingt ist, auf mir beruht, wie diese Welt, wie alles Erkannte auf mir beruht. Wie die Welt auf mir beruht und ich doch selber ‚Welt‘ bin, so beruht das Leiden auf mir und ich bin selber Leiden. Der Gedanke ‚all Leben ist Leiden‘ ist nur insofern etwas Specifisches im Heer des Erkannten, weil er als der im Organismus der Individualität umgewandelte Unbeständigkeitsgedanke gerade derjenige ist, der zur Erlösung führt, Erlösung ist. Daß ich erkenne: die Welt beruht auf mir, wie ich auf ihr, der Gott beruht auf mir, wie ich auf ihm, — das erkennt der Vedantist (Anhänger des Vedanta) auch und fällt doch in die Schlingen einer ewigen Seligkeit; das schafft noch keine Erlösung. Daß ich aber diesen Unbeständigkeitsgedanken ganz auffange, wie das Auge die ganze Welt auffängt; daß ich ihn ganz durch mich hindurchgehen lasse, wie einen Lichtstrahl, ihn im Hindurchgehen ganz in Leiden umsetze, umpräge, wie der unhandliche Goldbarren in Goldstücke, in Courant umgeprägt wird, das schafft Erlösung. Denn wenn Erlösung erreicht werden soll, muß sie gesucht werden. Gesucht wird sie aber erst wahrhaft, wenn alles restlos, ohne Ausnahme als Leiden erkannt wird, als etwas von dem sich zu erlösen Notwendigkeit ist. So grausam diese Umwandlung in Leiden auch erscheinen mag, notwendig und zum Besten eines jeden einzelnen ist sie, weil das auf dem Willen beruhende, gefühlte Leiden in dem auf der Unwissenheit ruhenden, erkannten Leiden enthalten ist, durch dasselbe gedeckt wird, wie die Welt bei Nacht durch die Welt bei Tage. Das gefühlte Leiden ist nur aufhebbar durch Umsetzung in erkanntes Leiden. Wie die Umwandlung der Nachtwelt in die Tagwelt nur durch die Sonne geschehen, kann, so die Umwandlung einer Leidensart 71 in die andere nur durch das Wissen. Und wie beim Aufgehen der Sonne alles Tag wird, so weit das Auge reicht, so wird beim Aufgehen des wahren Wissens alles Leiden, soweit das Denken reicht. Und wie keiner sagen kann: „Hier soll Tag sein, da Nacht―, so kann keiner sagen: „Hier in diesen Himmel, bis an diesen Gott soll die Vergänglichkeit, das Leiden nicht hindringen.― Die Umwandlung ist nur möglich, ist nur fruchttragend als völlige. Auf der Völligkeit der Umwandlung von Unbeständigkeit in Leiden beruht die Umwandlung von Leiden in Erlösung. Leiden als erkannte Vergänglichkeit ist an die Spitze des Systems gestellt, weil von ihm, wie von dem rechten Ende der Schleife aus, alles sich leicht, gleichsam von selbst löst. Nur in dem Sinn ist der Buddhismus die Religion des Leidens, als Leiden gleichbedeutend ist mit Erkenntnis des Leidens. ‚All Leben ist Leiden‘ bedeutet nicht den Gipfelpunkt eines Gefühls, sondern den Gipfelpunkt eines klaren, affectlosen Durchschauens, Erkennens. In diesem Sinn ist auch das einleitende Citat zu verstehen. Mit Trübsal und Pessimismus hat das Leiden, welches der Buddha predigt, nichts zu tun. Man darf sich nicht an Stellen stoßen wie diese: „Und die Vollkommenheit, hat die der Lebenslustige oder der Lebensleidige? — Und die rechte Antwort wäre:. Der Lebensleidige, nicht der Lebenslustige.― An anderer Stelle heißt es vom Buddha: „Dem lebensfrohen Geschlecht, o Wunder, dem lebensfreudigen, lebenslustigen hat er das Leben mit der Wurzel ausgesogen.― Wieder an. anderer Stelle spricht der Buddha zu seinen Mönchen: „Geht, ihr Mönche, betrachtet die Erbärmlichkeit des Körpers, gedenket des Ekels der Nahrung, gedenket der Freudlosigkeit an der ganzen Welt, gedenket der Flüchtigkeit aller Erscheinungen.― Freudlosigkeit ist nichts als der Kaufpreis, der für die Leidlosigkeit gezahlt werden muß. Aber nicht Freude an sich ist verpönt, sondern nur Freude, soweit sie Äußerung des Willens ist. Willenlose, unschuldige Freude ist wohl erlaubt, und Beweis dafür ist jenes ruhige 72 Genießen der Natur, wie es uns gerade in buddhistischen Schriften so oft entgegentritt. Der ruhespendende Schatten des Waldes, der weite, schöne Wald, den der Buddha preist, der kühle, klare Lotusweiher, das Spiel der Wellen, die Majestät der Sonne, die Reize der Mondnacht, sie mögen das Herz des Jüngers mit süßer Freude, mit heiterer Ruhe erfüllen. „Entzückend, Bruder, ist der Gosingam Wald, herrlich die klare Mondnacht, die Bäume stehen in voller Blüte, himmlische Düfte, meint man, wehen umher―, spricht in einem Sutta ein Mönch zum andern. Ausdrücklich wird constatiert: „Alle die lieben Asketen und Brahmanen, die gehässig, verbitterten Sinnes tief im Walde abgelegene Orte aufsuchen, die erfahren, eben weil sie gehässig, verbitterten Sinnes sind, schuldige Furcht und Angst.― Verbitterung, Pessimismus ist unverträglich mit dem Gedanken des Buddha, und ausdrücklich wird hervorgehoben, daß die rechte Erkenntnis, um die Frucht der Gemütserlösung zu bringen, die Eigenschaft der Ruhe und die Eigenschaft der Heiterkeit besitzen muß. Mit Recht konnte der Buddha von sich rühmen: „Von denen, die in der Welt glücklich leben, bin ich auch einer.― Und mit Recht heißt es im Dhammapadam: „Wir die wir nichts unser eigen nennen, von Heiterkeit durchsättigt strahlen wir wie lichte Götter.― Nur als den versteckten Unbeständigkeitsgedanken gibt uns der Buddha den Leidensgedanken, ein Ding zum Nachdenken, zum Durchschauen, nicht zum Jammern und zum Verwirren. Er gibt uns im Leiden die Unbeständigkeit wie das Gold im Beutel. Und wie einer dem anderen sagt: „Hier gebe ich dir tausend Goldstücke― und ihm einen Beutel überreicht, so spricht der Buddha: „Hier gebe ich euch das Leiden― und gibt uns den Vergänglichkeitsgedanken. Daß er aber hiermit uns Besseres als Gold, ja den allerköstlichsten Schatz gibt, das beruht darauf, daß wie durch einen Kniff des Genies auf seiner Höhe Leiden plötzlich in Erlösung überschlägt, durch Erkenntnis zur Erlösung wird, nicht Weg und Steg zwischen 73 sich und dem anderen lassend. „Dies erkennend, ihr Mönche, ist der verstehende, heilige Jünger des Körpers satt und überdrüssig, satt empfindet der Ekel gegen alles Sein, durch seinen heiligen Wandel erlöst er sich. ‚In dem Erlösten ist die Erlösung‘, diese Erkenntnis geht auf. ‚Vernichtet ist die Geburt, vollendet das Asketen-Leben, getan was zu tun war, nicht mehr ist ferner diese Welt‘: so erkennt er.― Ja, so erkennt er, und das heißt Leiden erkennen. 74 Nirvana*) Im Nirvana-Begriff mehr als anderswo müssen wir die eherne Consequenz dieses Systems bewundern, das unverrückbare Feststehen auf der Basis des Leidens und der Vergänglichkeit. Im Brahmanismus war das höchste Wissen das Wissen von dem Identischsein meines Selbst mit der Gottheit, dem höchsten Brahman. Dieses Bewußtsein, als Product höchster Erkenntnis, war gleichzeitig höchste Seligkeit. Es war der natürliche Abschluß des Systems, ein Abschluß, welcher trotz aller Grandiosität doch die allerhöchsten und allerletzten Fragen an den Glauben verwies. Überdies konnte dieses mich zum Gott machende Identitätsbewußtsein nicht durch Moralität errungen, nicht durch Meditation erfaßt werden: beide mußten in äußerstem Maße geübt werden, aber die Frucht wurde doch erst durch eine Art Gnadenact erlangt. Der höchste Atman mußte sich dem Beglückten selber geben. „Wo, ihr Freunde, ist denn jener große Brahma", fragt ein Bhikkhu, und erhält zur Antwort: „Wir, o Mönch, wissen nicht, wo Brahma ist oder wodurch man zu Brahma gelangt oder wohin es zu Brahma führt. Wenn aber, o Mönch, die Anzeichen der Nähe Brahmas sichtbar werden, wenn es licht wird, wenn strahlende Helligkeit eintritt, dann wird Brahma erscheinen. Es ist nämlich das einzige Kennzeichen der Sichtbarwerdung Brahmas, daß es licht wird, daß strahlende Helligkeit eintritt.― (Digha-Nikayo). Zu Gautamas Zeiten war die Spekulation der Upanishads wohl noch nicht zur vollen Blüte entwickelt, aber sicherlich keimten schon die Anfänge dieses erhabenen Systems. Und mit *) Pali: Nibbanam. Wörtlich: ‚Frei von Verlangen‘ oder: Das Aufhören, oder: Das Ausgelöschtwerden. 75 Staunen sehen wir, daß der Buddha wagte, über diesen, auf dem Wissen ruhenden höchsten Seligkeitsbegriff hinweg auf ein neues unerhörtes Ziel loszugehen. Sollte die Basis des Leidens nicht verlassen werden, so durfte logischerweise das höchste Wissen für den Buddhisten nichts sein als die höchste, durchdringendste Erkenntnis dieses Leidens, höchste Seligkeit nichts als die Befreiung von diesem Leiden. Damit wurde diese höchste Seligkeit etwas ohne Gnadenact Erreichbares, etwas Lehrbares. Überdies blieb im Brahmanismus trotz völligsten Entsagens immer noch die Sehnsucht nach dieser Vereinigung mit Brahman. Nach ihm sehnte sich der Muni ‚wie die Pilger nach der Heimat sich sehnen‘ und ‚wie der müde Adler nach seinem Nest‘. Das Höchste aber, zu dem buddhistisches Denken sich aufschwingen konnte, war gegeben in dem Begriff absoluter Freiheit von jedem Verlangen. Denn Verlangen, mag es auch auf das Höchste gerichtet sein, schafft Leiden. Das höchste Gut aber des Buddhisten ist Leidenslosigkeit. Folglich mußte dieser Seligkeitsbegriff des Vedanta fallen. Für ihn war kein Platz im System. Dem Buddha bedeutete das Vereintsein mit dem höchsten Brahman nichts als ‚den Ort der Leiden wechseln‘, nichts als ein Leben unter besonderen Modificationen. Im Volksmund hieß es freilich: ‚Ach, das glänzt wie bei den 32 Göttern‘, aber kalt streifte das Auge des Buddha über diesen Schein. „Und sollte ich auch, spricht er zu Sariputta, nur unter reinen Göttern kreisen, ich mag in diese Welt nicht wiederkehren.― So schritt er denn mit einem letzten Schritt auch über dieses brahmanische Ideal hinaus und stellte als höchstes Ziel auf: Die Loslösung nicht nur von allem Sinnlichen, sondern ungeheuerlicherweise auch von allem Übersinnlichen. Damit verlangte er das Größte, was je von Menschen verlangt worden ist: Das Verzichten nicht nur auf die irdischen, sondern auch auf die himmlischen Genüsse. Erst wenn jemand dahin gelangt ist, daß er selbst aus den Freuden des Jenseits 76 Leiden und Vergänglichkeit herausschmeckt und sich selbst hier verneinend abwendet, erst dann erblickt er Nirvana. Nirvana bedeutet nichts als einen Zustand völliger Wunschesfreiheit. Das Herz, welches auf Grund der Erkenntnis der wahren Natur der Dinge, durch das Wissen vom Nicht-Ich sich so völlig von allem losgelöst hat, daß es nichts mehr verlangt, ist am wahren Endpunkt angelangt. Wo kein Verlangen im Herzen ist, da ist auch kein Haften; wo kein Haften ist, da ist auch kein Trennen, kein Leiden; wo kein Leiden, da ist auch keine Vergänglichkeit, kein Wechsel. Und so ist mit Nirvana der wahre Zustand ewiger Ruhe und wechselloser, geburtsloser Sicherheit erreicht. ,,Nibbanam, Nibbanam, so sagt man, Freund Sariputto, was aber ist das Nibbanam, Freund?― — „Der Untergang der Gier, der Untergang des Hasses, der Untergang der Verblendung: Das, o Freund, wird Nibbanam genannt.― Weil der Buddha mit der Tatsache des Leidens (in der Form von Gier, Haß, Verblendung) einsetzt, von ihr ausgeht, so läuft sein System naturgemäß in der Leidenslosigkeit, der Negation dieser drei aus. Nicht-Leiden ist der Abschluß, ist das Höchste. Bei dieser Umwandlung von Leiden in Leidenslosigkeit ist nichts Altes zerstört, nichts Neues aufgebaut worden. Es ist alles das Alte geblieben, nur von verändertem Standpunkt aus gesehen. In unserem Erkennen hat sich jener Übergang von der irrigen Anschauung in die nichtirrige vollzogen und damit ist, ebenso wie Vergänglichkeit in Leiden, so Leiden in Leidenslosigkeit übergegangen. Unser ganzes Dasein erscheint somit unter dem Bilde eines arithmetischen Exempels, das, schon im Ansatz fehlerhaft, mit einem + statt eines aufgesetzt, unlösbar geworden ist, aber emsig ad infinitum weiter gerechnet wird und dieses ganze ungeheure Weltall als Fehler auswirft. Der Tathagatha aber, gleich einem geübten Rechenmeister, legt den Finger an diese irrige Stelle und zeigt dir: „O Mensch! setz' hier in der Anlage des Lebensexempels - statt +, setz' Nichtwollen statt Wollen, und glatt löst sich alles bis auf den letzten Rest. Das ungeheuerliche Produkt 77 deines Grundfehlers, dieses Weltall samt Gott und Ich, es schwindet in der Richtigstellung der Zeichen gleich einem Rechenfehler.― Das Problem des Lebens, welches, mit der Größe ‚Wollen‘ infinitesimal wird, löst sich mit der Größe ‚Nicht-wollen‘ restlos auf. Nirvana ist nichts als zerstörtes Leiden. Diese Zerstörung ist aber keine reale, sondern nichts als Leiden von verändertem Standpunkt aus angesehen, nichts als Zerstörung einer in mir ruhenden, mit meiner Entstehung gleichzeitig entstandenen Täuschung. In der Tiefe unseres Inneren, gleichsam durch ein Zwinkern unseres geistigen Auges vollzieht sich dieser ungeheure Umschwung. In uns liegt ja alles: diese ganze Welt, ihr Entstehen, ihr Vergehen. Somit schafft sich jeder sein eigenes Nirvana. Wie der Beginn der Welt, so ist auch ihr Ende individuell; Nirvana ist nichts als ein relativer Begriff: Wo bisher Leiden erkannt wurde, da wird es jetzt nicht mehr erkannt. Das ist eben der geniale Coup dieses Systems, daß alles in der Relation bleibt, daß alles auf meiner Individualität fußt. Leiden und Nirvana sind nichts als nach außen in die Ferne projicierte Formen meines Erkennens. Wie ein Mann, der Lichtbilder auf eine ferne, ferne Wand wirft, durch eine kleinste Drehung seines Apparates das Bild in den Luftraum werfen d. h. verschwinden lassen kann, so läßt der Erkenner, welcher im Nichtwissen das Bild dieser Welt, d. h. das Leiden schafft, durch jene Drehung zum Wissen das Bild dieser Welt, d. h. das Leiden verschwinden. ‚Die Welt, das Leiden ist da‘ und: ‚Die Welt, das Leiden ist nicht mehr da‘' ist nichts als diese Schwenkung in unserem Inneren auf das Universum projiciert. Also noch einmal: Nirvana ist ein relativer Begriff und besagt nichts als: da wo bisher Leiden gefühlt resp. erkannt wurde, wird es jetzt nicht mehr erkannt. Die Vorstellung eines Zustandes der Seligkeit, einer realen Seligkeit ist verkehrt, weil auf das Absolute hinauslaufend. Die Vorstellung eines Ortes der Seligkeit ist noch viel verkehrter; denn wie schon gesagt: Nirvana ist individuell. Wie jeder sich seine eigene 78 Welt, sein eigenes Leiden schafft im Nichtwissen, so schafft auch jeder sich seine eigene Welt-, seine eigene LeidensAufhebung, sein eigenes Nirvana im Wissen. Nirvana begreift nichts als den klaren, kahlen Zustand der Leidenslosigkeit, basierend auf der Wunschesfreiheit, diese basierend auf der höchsten Erkenntnis vom Wesen der Dinge, vom Nicht-Ich. Wie die Lampe verlöscht, der kein Öl zugeführt wird, so verlöscht ein Lebewesen, dem der Lebenstrieb von keiner Seite mehr Nahrung zuführt. In diesem Sinn sagt Nagasena zum König Milinda: „Aufhören ist Nirvana.― Es ist ein Zustand aus sich heraus ganz unerklärbar, undefinierbar. Wie die Dunkelheit nur aus dem Licht heraus, als Gegensatz des Lichtes zu erklären ist, die Ruhe nur aus der Bewegung heraus, als Gegensatz der Bewegung, so auch Nirvana nur aus dem Leiden heraus, als Gegensatz des Leidens. Wie überall da, wo kein Licht ist, Dunkelheit herrscht, überall da, wo keine Bewegung ist, Ruhe herrscht, so ist überall Nirvana, wo kein Leiden, kein Wechsel herrscht. Nirvana ist das einzige, was nicht als Folge eines Grundes entstanden, auch keine Folge aus sich hervorgehen läßt. Es steht über oder vielmehr außerhalb des Grundfolgegesetzes, hier aber nicht das Absolute, den Gott, sondern nur das Ende aller Relationen darstellend. Weil nicht entstanden, ist es auch nicht der Vergänglichkeit unterworfen. Es ist das einzige, was nicht aus einer in ständigem Werden begriffenen Vereinigung verschiedener Componenten besteht, nicht Sankharo*) ist, daher das einzige Unveränderliche, Ewige, nicht mit Schmerz Gemischte. Von Nirvana, sagt der ehrwürdige Nagasena, kann man nicht sagen, daß es entstanden oder nicht entstanden ist oder entstehen kann, daß es vergangen oder zukünftig oder gegenwärtig ist. *) Sankharo – siehe Seite 80 unten 79 „Gibt es einen Ort für Nibbanam?― fragt der König Milinda. — „Einen Ort für Nibbanam, o König, gibt es nicht, und doch existiert Nibbanam. Gerade so, wie Feuer existiert und doch kein Platz, wo es aufgehäuft ist. Wenn aber ein Mann zwei Hölzer aneinander reibt, so kommt es.― „Gibt es keinen Standpunkt, von dem aus man Nibbanam erreichen kann?― — „Ja, o König, den gibt es. Es ist die Tugend.― Wie jemand, der eine mächtige Fernsicht verlangt, den Gipfel des Berges erklimmen muß, so muß der Bhikshu, der Nirvana erblicken will, den Gipfel der Tugend erklimmen, erarbeiten, erkämpfen. „Kämpfer, Kämpfer, o Herr, so nennen wir uns; inwiefern denn sind wir Kämpfer?― so fragt ein Mönch den Buddha. „Wir kämpfen, o Bhikkhu! Deshalb heißen wir Kämpfer.― — „Um was kämpfen wir, Herr?― „Um hohe Tugend, um hohes Streben, um hohe Weisheit. Deshalb, o Bhikkhu, heißen wir Kämpfer.― Nun muß man dieses Streben und Ringen richtig deuten. Nirvana selbst, weil völlig Negation, kann nicht erstrebt werden. Es ist gewissermaßen nichts als die unvermeidliche *) Sankharo (sanskara) bedeutet sowohl etwas was zusammenfügt, als etwas Zusammengefügtes. Es ist eins der 12 Nidanas sowohl als der 5 Khandhas. Seine Übersetzung mit „Unterscheidungen" entspricht hier der allgemeinsten Teilung der Welt in Subject und Object, dem ‚Unterscheider‘ und ‚Unterschiedenem‘ par excellence. Practisch bezeichnet es diese ganze Welt, als das aus der Einwirkung von Object auf Subject ‚Zusammengefügte‘. Nur wo Zusammengesetztes ist, kann Unterscheidung sein. Dem Sinn nach ist es somit gleichbedeutend mit anatta. Alles ist anatta, alles ist sankhara außer Nirvana. Ebenso ist es dem Sinn nach gleichbedeutend mit Samsara, der Welt des Geborenwerdens und Sterbens. 80 Consequenz des Strebens. Wenn man den Mönchen in Ceylon vorhält: „Ihr sagt, daß jedes Streben, jedes Verlangen ein Hindernis auf dem Wege zu Nirvana ist; so muß doch das Streben nach Nirvana selbst auch ein solches Hindernis sein, und je mehr ihr strebt, desto weiter entflieht es―, so lachen sie über den superklugen Europäer. Verlangen kann ja nur da sein, wo es etwas zu ‚haften‘ gibt. An Nirvana, als völlig jenseits aller Wahrnehmung und Erkenntnis, gibt es aber nichts zu haften. „Wo es kein Etwas gibt, wo es kein Festhalten gibt, die Insel, die einzige: Das Nibbanam nenne ich sie, das Ende von Alter und Tod.― Daher kann es auch kein Streben nach Nirvana geben. Gestrebt wird nur nach der Vernichtung des Leidens. Auf diese folgt aber Nirvana so naturgemäß, wie die Dunkelheit folgt, wenn das Licht ausgeht. „Ein reines Herz, das frei von Hindernissen, frei von Verlangen ist, das schaut Nibbanam.― Und an anderer Stelle: „Und wie ist Nibbanam zu erkennen? — „Durch Freiheit von Not und Elend, durch Friede, Ruhe, Reinheit.― (Milinda-Pando.) Das ist ‚Nirvana in diesem Leben‘. Auch dieser Ausdruck bedarf, wie das ‚Streben nach Nirvana‘, der Erklärung. Nur geschaut kann Nirvana werden, nicht begriffen. Nirvana, Erlösung können wir ebensowenig begreifen, wie das Licht die Finsternis begreifen kann. Begreifen kann ich nur meine Individualität, mein Ich insofern als es Nicht-Ich ist; die Täuschung kann ich begreifen. Eben weil kein Ich-Selbst da ist, eben deswegen kann ich meine Individualität in toto begreifen und daher in toto verneinen. Diese völlige Verneinung der Individualität, dieses völlige Fahrenlassen der Lebenstäuschung, das ist Aufgeben des Leidens; denn Individualität ist Leiden. Was aber der Aufhebung der Individualität folgt, darüber kann kein Buddha etwas sagen, braucht kein Buddha etwas zu sagen; denn seine Aufgabe ist vollendet mit Aufhebung der Individualität, d. h. des Leidens. Begreifen ist nur möglich mit Kräften, die in 81 dieser Individualität liegen. Nirvana aber ist nur da, wo Individualität nicht mehr ist. So ist auch ‚Schauen Nirvanas‘ kein geistiges Schauen in unserem Sinn; das wäre für den Buddha nichts als ein sinnliches Schauen und würde das ganze Nirvana in die Vergänglichkeit reißen, wie den Gott: Das ‚Schauen Nirvanas‘ beruht wie Nirvana selber auf der Negation. ‚Schauen Nirvanas‘ ist nichts als ‚Nicht-Schauen des Leidens‘, wie ich die Dunkelheit nur sehe im Nicht-Sehen. Nur aus den Folgen, die diese Freiheit vom Leiden hervorruft, kann ich mir klar machen: ‚Ich habe Nirvana‘, wie ein Mann sein Auge nicht sieht und doch weiß ‚Ich habe Augen‘, weil er die Folgen dieses Habens erkennt. So ist Nirvana nicht zu begreifen, und doch gibt es ein Nirvana in diesem Leben, und in vier Stufen, den vier Jhanas (Pali: Jhanam = Meditation) aufwärts steigend kann ich mich immer wieder dieser Tatsache vergewissern. Denn von dem letzten, höchsten dieser Jhanas habe ich den vollen Ausblick auf Nirvana. Man liebt die Jhanas, die ‚schon im Leben beseligenden‘, mystische Schauungen zu nennen. Nach der Häufigkeit, mit der dieselben im Sutta-Pitakam erwähnt werden, zu urteilen, müßte dann keine Religion so viel Wert auf ekstatische Zustände legen, wie der Buddhismus. Nichts ist aber falscher als diese Ansicht. Ganz ordnungsgemäß, in voller geistiger Toilette geht alles vor sich. Die Jhanas sind nichts als eine immer wieder aufs Neue vorgenommene Selbstprüfung des einzelnen, ein künstliches Hervorrufen jener süßesten aller Erkenntnisse: Im Erlösten ist die Erlösung. Sie sind „die selig heitere Übung im Guten, die der Mönch Tag und Nacht zu pflegen hat.― Wie ein befreiter Galeerensklave immer wieder nach seinen Knöcheln faßt, um sich vom Fehlen des Eisenringes zu überzeugen, so prüft sieh der Erlöste immer wieder: „Habe ich erkannt? Bin ich frei?― Und wie der frühere Galeerensklave mit immer neuem Entzücken die Freiheit seiner Glieder constatiert, so constatiert der früher von Lust, Haß und Irre 82 Gefesselte mit immer neuem Entzücken: „Ich habe erkannt. Ich bin frei.― In den Suttas sehen wir den Buddha immer wieder, oft fast unvermittelt auf diese Jhanas übergehen. Wie das volle Schiff, ins Wasser gleitend, plötzlich keine Schwere mehr merken läßt, so gleitet des Buddha Rede aus der Schwere der Beweisführung plötzlich erleichtert in die glatte Bahn der Jhana-Schilderung. Mit geringen Modifikationen wiederholt sich folgendes Schema immer wieder: „Er hat nun die fünf Hemmungen aufgehoben, die Schlacken des Gemüts kennen gelernt, die lähmenden; den Wünschen erstorben, dem Schlechten entronnen, lebt er in sinnend gedenkender, ruhegeborener, seliger Heiterkeit in der Weise der ersten Schauung.― Und ferner noch: „Nach Vollendung des Sinnens und Gedenkens erwirkt der Mönch die innere Meeresstille, die Einheit des Gemütes, die von Sinnen und Gedenken freie, in der Selbstvertiefung geborene selige Heiterkeit, die Weihe der zweiten Schauung.― Und ferner noch: „In heiterer Ruhe verweilt der Mönch, gleichmütig, einsichtig, klar bewußt, jenes Glück empfindet er in seinem Körper, von dem die Heiligen sagen: Der gleichmütig Einsichtige lebt beglückt. So gewinnt er die Weihe der dritten Schauung.― Wie aber das Schiff aus den Wogen der offenen See in den stillen Hafen einläuft, so geht der Geist aus der immer noch lustgestörten dritten Schauung in die völlig unbewegte Ruhe der höchsten und letzten Schauung über: Und ferner noch: „Nach Ankerwerfung der Freuden und Leiden, nach Vernichtung des einstigen Frohsinns und Trübsinns, erreicht der Mönch die Weihe der leidlosen, freudlosen , gleichmütig einsichtigen, vollkommen reinen vierten Schauung.― 83 Hier erkennt er nun das Höchste, was zu erkennen ist. Er erkennt: „Dies ist das Leiden. Dies ist die Leidensentstehung. Dies ist die Leidensvernichtung. Dies ist der zur Leidensvernichtung führende Pfad.― Und das heißt Nirvana erblicken. Wie ich mir meines Wollens bewußt bin und als Leiden fühle, so bin ich mir meines Nichtwollens bewußt und fühle es als Freiheit vom Leiden, als Friede, Ruhe, Reinheit. Um Nirvana zu erblicken, muß ich mir des Nichtwollens bewußt werden; um das zu können, muß ich in der Körperlichkeit sein. So ist dieser Leib nicht nur Gefäß und Trank des Leidens, sondern auch Gefäß und Trank der Seligkeit. Nur von ihm aus kann ich die Seligkeit kosten, Nirvana erblicken, wie ich nur vom Gefängnis aus in die Freiheit blicken kann. Führt denn aber Nichtwollen notwendig zu Nirvana? — Nichtwollen, aufgehobenes Wollen führt so notwendig zu Nirvana, wie der von seinen Fesseln befreite Ballon notwendig aufwärts steigt. Wie ein von seinen Fesseln befreiter Ballon keinen andern Weg gehen kann als den aufwärts, so kann der von den Fesseln des Egoismus befreite Geist keinen anderen Weg gehen als den zum Nirvana. Hier gibt es keine Sackgasse, keine Irrwege. Erlösung ist ja im tiefsten Grunde nichts als Leiden von anderem Standpunkt aus angesehen. Für den Wissenden fallen beide zusammen im Nicht-Ich. Nicht-Ich ist Leiden, Nicht-Ich ist Erlösung. Nichts ist ja nötig als die Hebung einer Täuschung, wie nichts als der richtige Unterricht nötig ist, um Abend- und Morgenstern eins werden zu lassen. Es bedarf keines Übergangs vom Nichtwollen zu Nirvana. Beides sind Ausdrücke für dasselbe Ding. Nirvana ist da, sobald unser Wollen auf der Unterlage ‚Wissen‘ ‚Nicht-Ich‘ functioniert, d. h. sobald unser Wollen keine Möglichkeit mehr hat, sich zu betätigen, gehobenes Wollen, Nichtwollen geworden ist. Nichts, durchaus nichts geht hier vor sich, als daß unser Erkennen statt der Form des Nichtwissens durch Belehrung und Nachdenken die Form des Wissens annimmt. Damit wird notgedrungen Wollen zum Nichtwollen. Was aber 84 durch das Brennglas des Wollens angesehen Leiden war, das ist durch das Medium ‚Nichtwollen‘ angesehen Leidenslosigkeit. Mehr aber kann von Nirvana nicht gesagt werden, als daß es Ledigsein vom Leiden ist. Wie unsere Körperlichkeit in einem beständigen Kampf mit dem Gesetz der Schwere steht, so gibt es auch auf moralischem Gebiet ein solches Gesetz der Schwere, zu dem unser Egoismus als Wille, als Lebensbetrieb in ständigem Contrast steht. Und wie da, wo ständiger Kampf ist, keine Ruhe sein kann, und wo keine Ruhe ist, Elend und Leiden herrscht, so ist im tiefsten Grunde dieses auf meiner Unwissenheit beruhende Ich-Bewußtsein, dieser mich vom Universum trennende Egoismus die Quelle aller Leiden. Wer erkannt hat: Dieser Körper ist nicht mein Ich, der hat die Quelle endlosen Friedens entdeckt. Wer jede Regung der Ichheit vertilgt hat, wer jedem Wunscheswahn, jedem Daseinswahn ein Ende gemacht hat, für wen das ‚Ich‘ sich gewissermaßen verflüchtigt hat und nur da ist, um ihm sein Nichtwollen klar zu machen, die Wonne des Nichtwollens wiedertönen zu lassen, der hat „alles .getan, was zu tun war―, der erblickt Nirvana. Mit dem Ich-Bewußtsein fällt der Wille zum Leben, mit diesem jede Differenz und damit jeder Grund zum Leiden. „Und wie, ihr Mönche, wird der Mönch zum Heiligen? — Da wird, ihr Mönche, von dem Mönch der Ichheit-Dünkel verneint, an der Wurzel abgeschnitten, einem Palmstumpf gleich gemacht, so daß er nicht mehr keimen, nicht mehr sich entwickeln kann.― „Segen aller Segen ist: Den Wahn zu lassen, der da spricht: 'Ich bin'.“ Hinfort durchkreuze ich nicht mehr als ein mit den Wogen ringender Schwimmer in Todesangst das Meer des Lebens, ein fruchtloses Bemühen, sondern wie die Möwe auf der Welle lasse ich mich im ungeheuren Rhythmus des Gesetzes von Grund und Folge auf- und abwiegen, ohne Furcht, ohne Widerstreben. Das ist jener ersehnte höchste Zustand der 85 absoluten Gleichmütigkeit, des Erhabenseins über Leid und Freud, irdisches wie überirdisches, über Jugend und Alter, Gesundheit und Krankheit, Leben und Sterben. Das ist das volle Schauen Nirvanas in diesem Leben. Ein solcher wünscht weder Dasein, noch Nichtsein. Ein solcher hat sich jenes ‚Erdball gleiche‘ Gemüt zu eigen gemacht, von dem der Buddha spricht. Ein solcher hat den höchsten Gewinn des Asketentums eingeheimst. „Jene unerschütterliche Gemütserlösung, aber wahrlich, ihr Mönche, das ist der Zweck, das ist der Kern, das ist das Ziel.― Einer der den Duft Nirvanas gewittert hat, dem schmeckt nichts mehr, nichts Irdisches, nichts Himmlisches. Er haftet an nichts, nichts haftet an ihm. In tiefer, seliger Ruh zieht er seine Bahn wie die Wolke im Blau. Nur in einem Gedanken lebt er: „Ich bin frei, ich bin restlos erlöst von diesem Wunscheswahn, von diesem Daseinswahn. Für mich hat der Kreislauf der Wiedergeburten ein Ende.― Denn so hat der Erhabene gelehrt: „Für die in vollkommener Weisheit Erlösten, ein Wandeln gibt es für diese nimmer.― Und kommt für einen solchen der Augenblick, wo dieser ‚Haufe Sankhara‘, diese fünf Khandhas, die, durch die Macht des Karma vereinigt, den Schein eines ‚Ego‘ hervorgerufen hatten, den Naturgesetzen gehorchend sich auflösen, tritt das ein, was wir Tod zu nennen gewöhnt sind, so bleibt nichts zurück, was als Wurzel oder Same zu irgend einem neuen Entstehen dienen könnte. Ein solcher verlöscht wie die Flamme, nachdem auch das letzte, im Docht aufgespeicherte Öl verbrannt ist. Er schwindet wie die Wolke, nachdem sie all ihre Feuchtigkeit zur Erde gesandt hat. Von dem Tage seines Erkennens ab hat er auf das Leben geschaut wie der Erwachsene auf ein Puppenspiel, nicht nur auf das Leben ringsum, sondern vor allem auf das Leben, wie es sich in dieser seiner Körperlichkeit abspielt, die er zuvor fälschlich für ein gesondertes, reales Ich angesehen hatte. Durch die Erkenntnis hat sich ihm dieses sein Schein-Ich in Spiel und Zuschauer aufgelöst. So sprach der bekehrte Yitasoka 86 doppelsinnig: „Für den, welcher sein Herz von allem frei gemacht hat, gleicht diese Menschenwelt einem ständigen Fest.― Wie bei einer Zaubervorstellung oder bei einer Schlangenbeschwörung auf offener Straße die Zuschauer sich zu einem Zuschauerkörper anhäufen, angezogen durch den Reiz der Schaustellung, so haben durch die Macht des Karma diese Khandhas sich zur Illusion eines Körpers vereinigt: So erkennt er. Und wie bei diesem Zuschauerkörper hier einige gehen, dort einige dazu kommen, und doch die Masse als Ganzes unverändert bleibt, so ist dieses sein Schein-Ich auch in ständigem Zu- und Abfluß, Werden und Vergehen befindlich: So erkennt er. Und wie nach Beendigung der Vorstellung die Zuschauer sich zerstreuen, und auch der Gaukler seinen Korb nimmt und von dannen geht und nichts zurückbleibt, so löst sich auch der Körper eines solchen auf, der erkannt hat, d. h. er geht ein in das Parinirvana: So weiß er. Parinirvana (Pali: Parinibbanam) ist nichts als Nirvana ohne diese Körperlichkeit, Nirvana aus dem dieser Leib herausgewelkt ist, Leidenslosigkeit ohne ein Organ sich ihrer bewußt zu werden, d. h. Übergang der Leidenslosigkeit in Vergängnislosigkeit, Wechsellosigkeit, reine Ruhe. Wie Welt überall da entsteht, wo Vergänglichkeit zum Leiden wird, so vergeht Welt überall da, wo Leiden zu Leidenslosigkeit wird. Wie Leiden nichts ist als der im Individuum gefärbte Vergänglichkeitsbegriff, so ist Leidenslosigkeit nichts als der Begriff der Vergängnislosigkeit, so lange er noch durch die letzten Reste dieser Individualität gefärbt ist. Nirvana ist das Vergängnislose, so lange es seine Resonanz im Individuum findet. Parinirvana ist das reine, ungefärbte, von Individualität unbeschmutzte Vergängnislose. Aber wohl gemerkt: Es steht dem Entstehen und Vergehen, dem Werden nicht als das ‚Sein‘, als Brahman, als Gott gegenüber, sondern lediglich als ‚Nichtmehr-Werden‘. Dieses System tut nichts als aufheben, negieren. Es setzt keine neuen Götter an Stelle der Gestürzten. Ob ‚Nicht-Werden‘ gleich ‚Sein‘ ist, ob es nicht gleich ist, wer kann das wissen, wer braucht das zu wissen? Nur das Werden 87 kann begriffen werden, nur Werden ist Leben, nur Werden ist Leiden. Darum ist das Problem gelöst mit der Überführung von Werden in Nichtmehr-Werden. Von diesem Parinirvana zu reden ist ein Widerspruch in sich, denn von etwas reden, heißt es ins Leben rufen, zu einem ‚Werdenden‘ machen, und über etwas denken, heißt das gleiche. — Wie komme ich dann überhaupt zum Begriff Parinirvana? — Aus dem Begriff des Nirvana heraus, durch den Umweg über Nirvana. Wie ich mir den Begriff ‚Selbstlosigkeit‘ nur auf dem Körper einer arithmetischen Aufgabe klar machen kann, so den Begriff Parinirvana nur von der Basis dieser Körperlichkeit aus. Wie die mit Körperlichkeit gemischte Selbstlosigkeit, die im Rechnen ihrer Auflösung zueilende Aufgabe das Nirvana in diesem Leben ist, so ist die eingetretene Auflösung, die Restlosigkeit ohne körperhafte Basis: Nirvana nach diesem Leben, Parinirvana. Wie aber der Rechnende schon vorher sieht: Das Exempel wird sich restlos auflösen, so weiß der Erkennende schon in diesem Leben: Nirvana ist da. Da er nun eben so sicher weiß: über kurz oder lang zerfällt diese Form, so weiß er schon in diesem Leben, daß auf das Nirvana das Parinirvana folgen wird. So ist die höchste Function dieses Schein-Ich, dieser geformten Vergänglichkeit, daß sie uns das Vergängnislose beweist. „Es gibt, ihr Jünger, spricht der Buddha, eine Stätte, wo nicht Erde noch Wasser ist, nicht Luft noch Licht, nicht Raumunendlichkeit noch Zeitunendlichkeit, nicht irgend ein Dasein, nicht. Vorstellen noch Nichtvorstellen, nicht diese Welt noch jene Welt. Dort ist nicht Entstehen noch Vergehen, nicht Sterben, nicht Ursache noch Wirkung, nicht Veränderung noch Stillstand.― Das ist das Parinirvana. Selbst dem Wissenden geht es hier wie dem Wanderer im tiefen Hohlweg, der die Wipfel der Bäume ahnend über sich rauschen hört, aber sie nicht sieht. Selbst dem Wissenden hat sich der Vorhang, der dieses ‚Andere‘ verhüllt, noch nie gelüftet. Mit keinem Gedanken ist es zu erreichen, weil jenseits aller Erkenntnis; mit keinem Vergleich zu treffen, weil 88 jenseits aller Bilder. Hier zeigt kein Gaukler seine Produktionen. Weshalb sollte er auch? Es ist ja niemand, der da zuschaut. 89 90 Gott Götter sind im System des Buddha scharenweise, aber es fehlt der Gottbegriff. Der Buddhismus ist das einzige, völlig atheistische System der Welt. Jene Systeme, die ausdrücklich alles Göttliche ableugnen, stehen insofern noch zum Gottbegriff in Beziehung, sind ihm Untertan, als sie sich gegen ihn wehren, sich in Opposition zu ihm stellen. Der Gottesleugner erkennt die Existenz eines Gottes durch sein Leugnen an. Der Buddhismus aber steht dem Gottbegriff so völlig fern, daß er nicht in die Notlage des Leugnens versetzt wird. Wie der Adler hoch im Äther seine Kreise zieht, ohne durch anderes behindert zu sein, so zieht der Buddha seine mächtigen Gedankenkreise hoch über allen Himmeln. In allen anderen Religionen versteht man unter ‚Gott‘ den bei der Unendlichkeitsrechnung nicht aufgehenden Rest. Weil im Buddhismus, als der einzigen Religion, die mit der Gegenwart und der Tatsache des Leidens einsetzt, die Rechnung restlos aufgeht, so liegt keine Notwendigkeit vor, mit dem Gottbegriff zu operieren. Nie hat der Buddha die Existenz eines Göttlichen geleugnet; das lag nicht innerhalb der Grenzen des Systems, weil nicht zur Erlösung gehörend. Kein System der Welt hält sich so streng an das ‚quod erat demonstrandum‘ als das des Buddha. Als einzigster aller Religionsstifter der Welt spricht der Buddha nur von Dingen, die er beweisen kann. Die NichtExistenz eines Gottes ist nicht beweisbar, weil der Beginn der Welt unerkennbar ist. Daher hat der Buddha sich begnügt zu behaupten, daß in allem Göttlichen, soweit es irgend menschlichem Denken zugänglich ist, Lebensbejahung, Leben, Vergänglichkeit versteckt liegt und daher von dem fahren gelassen werden muß, der nach wahrer Erlösung strebt. Ausdrücklich lehrt der Buddha: „Wenn ein Mönch dieser Welt nachhängt, so ist sein Herz eben umsponnen. Wenn ein Mönch 91 jener Welt nachhängt, so ist sein Herz eben umsponnen.― Über das aber, was jenseits unseres Erkenntnisvermögens liegt, kann niemand in der Welt, kein Weiser, kein Büßer, kein Buddha etwas sagen. Weshalb also nachgrübeln und nutzlose Hypothesen aufstellen über etwas, das nicht zur Erlösung gehört? Nur kostbare Zeit wird verloren und das Denken vom geraden Weg abgelenkt, wie ein Messer seine Schneide einbüßt, wenn man ungeeignete Sachen damit bearbeitet. Dem entsprechend war auch die Stellung, die der Buddha dem Göttlichen notgedrungen anweisen mußte. Alle die Götter wie Indra, Brahma, Javara u. s. w. sind nur mythologische Gestalten, aus Connivenz mit aus dem Hinduismus herüber genommen, um die schwachen Pflänzchen unter den Neubekehrten in ihrem gewohnten Erdreich belassen zu können. Alle diese Götter stehen unendlich tief unter dem Buddha. Sie beten den Buddha an und werden von ihm belehrt. Die Legende erzählt: Als der junge Siddhartha (der spätere Buddha) zum Tempel in Kapilavastu gebracht wird, da heben sich die Statuen Sivas, Narayanas, Indras und aller anderen von ihren Piedestalen und verneigen sich vor ihm. Die Götter rangieren im System des Buddha als Laien. Ein wie erhabener Standpunkt, aber wie teuer erkauft! Es fehlt dem Buddhismus jenes höchste, unter unzähligen Namen erscheinende Wesen, welchem die Anhänger sämtlicher anderer Religionen in höchster Not sich in die Arme zu werfen berechtigt sind. — Weshalb berechtigt? — Weil sie an ein solches Wesen glauben. Der Glaube ist das unfreiwillige Opfer meines Verstandes, und ihm steht, als höchstem Opfer, welches der Mensch bringen kann, auch höchster Lohn zu. Freilich fehlt ein solches Wesen. Der Buddhist hat überhaupt kein Bittgebet, sondern nur ein Dankgebet an den Buddha dafür, daß er den Wesen den zur Erlösung führenden Pfad gezeigt hat. Der Buddhist ist in der Tat der einzig Erwachsene. Alle anderen sind Kinder ihrem Gott gegenüber und bitten wie die Kinder. Der Buddhist ist der einzige, der Wahrheit sucht, rücksichtslos. 92 Der Gedankengang, den der Buddha ging, ist vielleicht der erstaunlichste, den je ein Mensch gegangen ist. Man denke sich die ganze Welt als ein Wettrennen. Alles drängt, rennt, stürmt vorwärts nach einem Ziel: Seligkeit. Und einer, ein einziger sagt: Was alle durch Wollen, durch Vorwärtsdrängen zu erreichen suchen, das will ich durch Nicht-Wollen, durch Zurücktreten zu erreichen suchen. Unter diesem Bild stellt sich uns der Buddha dar. Der Mut, in diesem ungeheuren, vorwärts sich wälzenden Strom als der einzige unbeirrt nach rückwärts zu schreiten, das ist das am höchsten zu Bewundernde. Manch einer hatte schon gefühlt, daß alles Täuschung ist und das Beste: Fahrenlassen. Aber sie alle waren wie Leute, die nur einen Fetzen vom Gewände des Ewigen abgeschnitten hatten und sich mit diesem Fetzen brüsteten, wie der Dieb, der froh ist, wenn er nur eine Handvoll Gold aus der vollen Truhe heraus geholt hat, oder wie David dem Saul einen Fetzen seines Kleides abschnitt, um zu zeigen: Ich hätte dich ganz nehmen können, wenn ich nur gewollt hätte. — Ei! weshalb hat er nicht gewollt? — Weil ihm der Mut fehlte: Zaghaftigkeit. Der Buddha aber trat ohne Zagen auf jenes Göttliche, Ewige, Geheimnisvolle, Verhüllte, Bemäntelte zu und nahm in göttlicher Frechheit den ganzen Mantel samt dem was darinnen war. Und als er seinen Fang enthüllte — was war darin? Etwas, von dem er, wie von allem anderen, mit lächeln der Verachtung sprechen konnte: „Ich mag nicht.― Warnend fragt er seine Mönche: „Kennt ihr wohl einen Glauben an Unsterblichkeit, der dem Gläubigen Erlösung brächte von Wehe, Jammer, Leiden, Gram und Verzweiflung?― Ihm, dem Glaubenslosen, wurde alles Göttliche zu nichts als einer vom Menschen für sich selbst construierten Welt. Nicht nur Träger dieser Welt sind wir, sondern auch Träger von Himmel und Hölle. In diesem Leib, ein Paar Spannen hoch, durchmessen wir die Höhen des Himmels und die Tiefen der Hölle. Im Denken des Buddha werden, wie diese Welt, so auch Himmel und Hölle zu nichts als zu Formen unserer Anschauung, Formen der Täuschung. In 93 einem Sutta des Digha-Nikaya findet sich ein wundervoller Passus, voll Geist, voll feinen Humors, aber jedes Wort ein zermalmender Keulenschlag für den Gott im Himmel: Ein Mönch, über das relative Ende der Welt, über das Ende der Buddha-Welt hinaus verlangend, sucht nach dem absoluten Welt-Ende. „Wo tritt wohl die restlose, totale Vernichtung der vier Elemente ein?― Den Buddha verlassend, tritt er mit seiner Frage vor die Götter; aber hier kann niemand seine Zweifel lösen. Aus einem Himmel immer zum nächst höheren geschickt, gelangt er schließlich zu jenem höchsten Brahma und stellt standhaft auch vor ihm seine Frage. Der aber antwortet: „Ich bin, o Mönch, Brahma, der große Brahma, der Höchste, der Unbesiegte, der Alles-Sehende, der Gebieter, der Herr, der Schöpfer, der Erschaffer, der Vollkommenste, der Lenker, der Richter, der Vater von allem was da war und sein wird.― Der Mönch aber erwidert: „Ich frage dich ja nicht darum, Freund, sondern das wahrlich frage ich dich: Wo tritt wohl die restlose, totale Vernichtung dieser vier Hauptmaterien ein, der Erde, des Wassers, des Feuers, des Windes?― Der aber antwortet wiederum: „Ich bin Brahma, der große Brahma u. s. w.― und wieder gibt der Mönch seine Gegenantwort, und so zum dritten Male. Da nun nahm dieser große Brahma den Mönch beim Arm, führte ihn beiseite und sprach also zu ihm: „Die Götter der Brahmawelt freilich denken von mir: Nichts ist vor Brahma verborgen nichts bleibt von Brahma unerkannt, alles ist Brahma offenbar. — Aus diesem Grunde habe ich mich ihnen niemals gezeigt. Auch ich, o Mönch, weiß nicht, wo diese vier Hauptmaterien restlos zu Grunde gehen. Daher, o Mönch, hast du hierin gefehlt, daß du, von dem Erhabenen dich entfernend, außerhalb seiner Erkenntnis eine Lösung dieser Frage gesucht hast. Gehe, o Mönch, richte nur an den Erhabenen diese Frage, und wie sie der Erhabene erklärt, so bewahre sie.― In einem anderen Sutta wird der Buddha als im Wettkampf mit jenem höchsten Brahma dargestellt, und warnend ruft ihm einer aus dem göttlichen Gefolge zu: „Mönchlein, Mönchlein! 94 hüte dich vor diesem. Das ist ja Brahma, der große Brahma u. s. w.― Aber der Buddha kannte keine Furcht. Als der Einzige trat er furchtlos und unverzagt dem gegenüber, vor dem alles andere in blindem Bangen auf den Knien liegt. Mit Recht heißt er daher der ‚Löwe der Sakya‘. Er allein wagte es, in die Behausung jenes Geheimnisvollen zu dringen, vor welcher, wie in der Fabel, zwei Ritter mit ständig geschwungenen Schwertern postiert sind. In dem Moment aber, als er es wagte und hindurchtrat, da erstarrten die wirbelnden Arme, und die blitzenden Schwerter hingen regungslos. Was gab dem Buddha jenen übermenschlichen Mut? — Eben das resolute Entsagen. „Durch Entsagen habe ich das Höchste erreicht― belehrt er seine Jünger. Nicht nur dieser Welt entsagte er, sondern auch jener Welt und seinem eigenen Ich in beiden. So wurde er der einzig Unparteiische, Unbestochene, der Einzige, der unbelastet durch Gedanken an himmlische Wonnen, der Einzige, der nackt in die Arena trat, um hier den Kampf um die Wahrheit auszuringen. Wer nackt ist auch an Wünschen, dem kann kein Mensch, kein Gott mehr etwas nehmen; der ist unüberwindlich geworden. Weil er aber unüberwindlich geworden ist, darum hat er keine Furcht. Durch die Furcht aber werden Götter und mit der Furcht verschwinden sie, wie die Gespenster mit der Dunkelheit. Denn aus Besitzen und Wünschen einerseits und aus dem Gefühl des Unbekannten anderseits entsteht jede Furcht, auch jene Gottesfurcht. So war der höchste Mut im Buddha der Mut des Entsagens. Dieses gab ihm den Mut des Zugreifens. Mit dem Zugreifen schwand das Unbekannte, mit dem Unbekannten die Furcht und mit der Furcht der Gott. Darum heißt es: „Jedes Fürchten, das entsteht, erhebt sich nur im Toren, nicht im Weisen―, d. h. nur in dem, der nicht erkennt. Und an. anderer Stelle: „Da hat ein Mönch gehört: Kein Ding ist der Mühe wert. Wenn der Mönch so gehört hat, so betrachtet er jedes Ding; wenn er 95 jedes Ding betrachtet hat, so durchschaut er jedes Ding, und wenn er jedes Ding durchschaut hat und nun irgend ein Gefühl empfindet, so beobachtet er bei diesen Gefühlen die Gesetze der Vergänglichkeit, der Aufhebung, der Auflösung, der Entäußerung und indem er so beobachtet, haftet er nirgends an der Welt; nirgends haftend erzittert er nicht; nicht erzitternd erlangt er eben die eigene Wahnerlöschung. Insofern ist ein Mönch, kurz gesagt, durch Vernichtung der Lebenslust erlöst, durchaus gefeit, durchaus gesichert, durchaus geheiligt, durchaus vollendet, Höchster der Götter und Menschen.― Wer sich von jeder Herrschaft, auch der göttlichen freimachen will, für den ist nichts gewonnen, wenn er breiten Mundes den Gott leugnet. Nur im völligen Entsagen ist völlige Freiheit. Der ist ein ausgemachter Tor und wird ein böses Sterben haben, der Leben bejaht und Gott leugnet. Leben ist Gott. Weil der Buddha, das Leben fahren lassend, sich an das Leiden klammerte, darum entschwand ihm der Gottbegriff. Und wie ein Mann aus der Tenne Spreu und Korn in ein Sieb tut und rüttelnd und schüttelnd die Spreu entfernt und das Korn behält, so tat der Buddha in ungeheurem Wurf die ganze Welt in das Sieb seines Denkens, und rüttelnd und wieder rüttelnd, und schüttelnd und wieder schüttelnd, entfernte er sorgsam die Spreu des Ungeformten, Unsinnlichen, jenseits der Erkenntnis Liegenden. Und als er dann klar prüfenden Auges in das Sieb schaute, da war nichts darin als Vergängliches und Leidvolles. Nicht aber war darin ein Ewiges, eine Seele, ein wahres Ich, Gott. Und wie ein nahrungsuchender Mensch, wenn ihm ein ekelhaftes Mahl vorgesetzt wird, trotz seines Hungers sich widernd abwendet, so sprach der Buddha über dieses ganze Sieb sein „Ich mag nicht―. Es war ja nicht das darin, was er suchte. Für den Buddha gibt es nur jene eine Welt, die er mit dem Ich als Centrum und mit dem Erkennen als Radius construierte; nur jene eine Welt, die soweit reicht, soweit die Sonne des IchBewußtseins, des Leidens reicht. Fällt der Radius, so fällt der Lebenskreis; verlischt die Sonne, so verlischt die Leidenswelt, 96 der sie geleuchtet hat. „Nicht mehr ist diese Welt―, erkennt der Wissende. Zur Welt gehört aber auch der Gott. Nur das was in uns liegt, durch uns bedingt ist, kann mit uns aufhören. Nur wenn alles in uns liegt, durch uns bedingt ist, kann alles mit uns aufhören; nur dann hat Verneinen Sinn und Zweck. Erkennen wir aber etwas an, was als Unbedingtes, Unerkennbares, Ewiges hinter der Natur steht, etwas dem ein ewiges Princip, eine Seele in uns adäquat ist, so wäre ein Lebensverneinen unmöglich, undenkbar, widersinnig. Den Gott leugnen wäre zwecklos. Gott aber ist nicht nur das was die Religionen so nennen, sondern auch das was die Upanishads Brahman (als Neutrum), die Philosophien das Absolutum nennen. Nur der einzige Gautama hielt sich mit unerhörter Consequenz von allem fern, was jenseits der Erkenntnis liegt. Nur so konnte er der große Verneiner werden. Er verneinte nicht um zu verneinen, wie der Pessimist, sondern sein Suchen wurde. ihm unter den Händen zum Verneinen; weil er den Gott nicht fand, den er suchte, darum verneinte er. Oder besser: Nur das verneinte er, worin der Gott nicht zu finden war. Er war aber nirgends zu finden, und so ist selbst dieses Verneinen kein absolutes, sondern ein relatives, mit einer Art Reserve ausgesprochenes. Der Buddha sagt nichts als: Trotz allen Suchens habe ich keinen Gott gefunden, aber auf dieser Gott-Suche habe ich den Weg zur Erlösung gefunden. Ob Gott ist, darüber kann und brauch ich nichts zu sagen; aber in der Erkenntnis der wahren Natur des Lebens habe ich gefunden, daß Erlösung ohne Gott, neben, außerhalb Gott möglich ist. Die Erlösung vom Leiden kann ich euch geben. Seid ihr damit zufrieden, so kommt, „der stille Friedensort steht offen―. „Wer meiner Schwimmkunst vertraut, dem wird es für immer zum Wohle, zum Heile gereichen.― Wer freilich über jene Grenze hinaus auf jenes Unbekannte los will, für den spricht der Buddha nicht. Nichts lehrt der Tathagata als das Leiden und des Leidens Ausrodung. Und daß er selber allen Versuchungen, seine Grenzen zu überschreiten und mit dem Unbekannten zu liebäugeln, stets 97 widerstanden hat, das gibt seiner Lehre jenes einzigartige, einförmige Gepräge, wie es nur der Wahrheit eigen ist. Dieser Lehre behagt keine Sonderheit, genügt keine Sonderheit. Unbarmherzig macht sie alles gleich im Nicht-Ich, auch den Gott. Wie denn nun aber: Hebung des Gottbegriffes ist selbst dem Buddha unmöglich; Grund: Die Unerklärbarkeit des Daseins der Welt. Weshalb nun lehrt uns der Buddha den Gottbegriff zu umgehen, zu übergehen? Weshalb lehrt er uns den Himmel verachten? Dasein der Welt ist mehr als ihre Aufhebung, und der Buddha-Gedanke wird zum Spiel oder zur Frivolität, wenn keine Notwendigkeit zu demselben vorliegt. — Eben in der Unerklärbarkeit des ‚Weltdaseins‘ d. h. in der Möglichkeit des Gottbegriffes liegt die Notwendigkeit des Buddha-Gedankens. Unerklärbarkeit des Weltdaseins beruht auf der Ewigkeit, Anfangslosigkeit der Welt; diese Anfangslosigkeit wieder darauf, daß alles nur Folge früheren Grundes ist. Wo das Grundfolgegesetz ausnahmslos herrscht, da ist kein Anfang. Weiter: weil in toto Grundfolge, darum ist diese Welt ein Werden, darum ein Entstehen-Vergehen, darum ein Leiden. Weil Leiden, darum liegt in ihrem Dasein an sich der Anreiz, der Zwang zur Aufhebung dieses Daseins. In der Unerklärbarkeit dieses Weltdaseins, d. h. in der Möglichkeit des Gottbegriffes liegt die Notwendigkeit des BuddhaGedankens. Denn der Buddha-Gedanke ist die Wahrheit in der Form der Religion. Wahrheit aber duldet nicht ‚Möglichkeit‘ in sich. Wo Religion reine, ungemischte Wahrheit ist, da kann sie nicht die ‚Möglichkeit‘, d. h. den Gottbegriff enthalten. 98 Karma*) der Weltrichter Wenn kein Gott die Oberaufsicht hat, wer straft und lohnt dann? Wer ist Richter? — Das Karma. — Aber wie, wenn sich hinter diesem Ausdruck auch der Gottbegriff versteckte? Im Buddhismus ist alles individuell: Das Leiden, die Erlösung, Samsara, Nirvana, alle beruhen sie auf dem Individuum, sind bedingt durch das Individuum. Nur dieses einzige Karma scheint über dem Individuum zu stehen, mit dunkler Gewalt das Individuum zu beherrschen. Alle seufzen wir unter dem Druck dieses Gewaltigen, nur der Arahat, der in Heiligkeit Vollendete ist Karma-frei. So muß eine Möglichkeit sein, dieser Macht, die sich im Karma repräsentiert, Herr zu werden. — Ja, dadurch, daß wir es begreifen; denn nur was wir begreifen, können wir aufheben. Karma ist Herr nur, solange es unbegriffen ist. Buddhistischer Anschauung zufolge ist dieser Körper zusammengesetzt aus den fünf Skandhas (Körper, Gefühl, Wahrnehmung, Unterscheidungen, Bewußtsein). Diese fünf sind das für unsere Sinne unfaßbare Substrat des Körpers; sie sind das Wirkliche, das Existierende. In den Bereich unserer Sinne fallen sie erst, wenn sie sich zum Bhava, zur Erscheinungsform dieses Körpers vereinigt haben. Diese letztere ist Illusion, wie am Regenbogen der Körper Illusion ist, Regentropfen und Lichtstrahl, die Wirklichkeit. Oder: Diese Körperform entsteht wie der Wind: In Wirklichkeit ist nicht Wind; es gibt kein Ding, welches als Wind existierte, sondern Wirklichkeit sind die athmosphärische Luft und die Sonne. Der Wind entsteht mit der barometrischen Differenz, er verschwindet mit dem Ausgleich dieser Differenz. Nur wer in *) Pali: Kammam, übersetzt: Tat, Action 99 in diesem Sinn Körperlichkeit sich vorzustellen vermag, denkt buddhistisch. So besteht diese Scheinform aus den fünf Skandhas und ist doch nicht identisch mit ihnen; denn die Fünf sind real, die Form ideal, eine Illusion. Erst jene in spezifischer Weise zusammengefügten, angeordneten, in Wirksamkeit getretenen Skandhas stellen die Körperform dar. Diese Zusammenfügung ist eben das Werk des Karma; es ballt die Fünf zu Name und Form zusammen, macht sie sinnlich. Was ist nun Karma? — Es ist die Kraft, welche aus der Action die Reaction entstehen läßt, welche aus dem schon bestehenden Leben immer wieder in nie versiegendem Strom neues Leben hervorgehen läßt. An anderer Stelle haben wir gesehen, daß das scheinbare Sein dieses Körpers in Wahrheit ein ewig wechselndes Werden ist, in dem in endloser, zahlloser, übersinnlicher Aufeinanderfolge ein Werdemoment an das andere sich reiht. So wird die scheinbare Continuität des Körpers im Wissen aufgehoben und in ein zuckendes, ruckweises Entstehen und Vergehen aufgelöst, wie der Blitz für den Unterrichteten in unfassbar schnell aufeinanderfolgende Fünkchen sich auflöst. Das, was die Verbindung von einem Werdemoment zum andern schafft, die Kraft, welche ein Werdemoment als Reaction aus dem andern hervorgehen läßt, ist das Karma. So bedingt das Karma die scheinbare Continuität der Körperform. Aber ebenso wie ein Werdemoment das andere gebiert, so gebiert eine Körperlichkeit die nächste. Und in demselben Sinne wie das Karma ein Werdemoment mit dem andern verbindet, in dem Sinne verbindet es auch eine Existenz mit der andern, läßt aus dieser die nächste hervorgehen, wie aus der Action die Reaction hervorgeht. Diese Kraft, die sich als Karma repräsentiert, ist nichts neben den Skandhas Existierendes, über ihnen Stehendes. Es ist in den Skandhas enthalten, wie der Abhidamma lehrt, in der 100 Form von Wollen (cetana). Es ruht in ihnen, wie die Kraft, welche den Schlag mit dem Rückschlag verbindet, nicht neben beiden steht, sondern in beiden, ein Teil beider ist, ja eins so gut wie das andere ist. Nun muß es etwas geben, was dieses endlose Spiel von Action und Reaction in ständigem Gang erhält. Es muß einen elektrischen Strom geben, der diesen Wagnerschen Hammer, das beste Bild unseres Lebens, in ständiger Tätigkeit erhält: Dieser Strom ist das Verlangen, welches an den Dingen haftend, sich an ihnen ergötzend, immer wieder neue Nahrung aus ihnen saugt, wie die Pflanze Wasser aus der Erde, wie der Docht Öl aus dem Bassin. Trishna (Pali: Tanha), der Lebensdurst, und Upadana, das Haften am Leben, sie sind die nie versiegenden Quellen für den Strom des Leidens, sie sind die Spannkraft, die als Reaction neues Leben und damit neues Wollen hervorgehen läßt. Dieser Leidensmechanismus kann nimmer zur Ruhe kommen, solange Verlangen da ist; denn dieses führt immer wieder neue Nahrung zu, wie die Flamme nicht auslöschen kann, solange immer wieder frisches Öl aufgegossen wird. Verlangen schafft die Tat, die Tat schafft die Folge, diese Folge stellt sich dar als neue Körperlichkeit mit neuem Verlangen. Tat zieht ihre Folgen so unweigerlich nach sich, wie der Körper den Schatten. Das ist das allgemeinste Naturgesetz von der Erhaltung der Kraft auf das Moralgebiet übertragen. Wie im Weltall keine Kraft verloren gehen kann, so auch im Individuum nichts von der durch Verlangen angehäuften Spannkraft. Ewig wandelt sich diese Spannkraft zu neuem Leben um, und ewig leben wir so durch unsere Lust am Leben. Der Existenzen-Vermittler aber ist das Karma. Wie dieses Gesetz von der Erhaltung der Kraft in der Leidenswelt des Buddha zur Tat mit ihrer Strafe, ihrem Lohn wird, wie das Grundfolgegesetz, sobald es in die Sphäre der mit Bewußtsein begabten Wesen, der Individualität tritt, zum Karma, zum obersten Weltenrichter wird, ist an anderer Stelle gezeigt. Ja, Karma nimmt die Stelle des Gottes in den 101 monotheistischen Religionen ein insofern, als das von ihm gerichtete Individuum auch gleichzeitig seine Kreatur ist; durch seine Kraft haben sich ja die fünf Khandhas zu Name und Form vereinigt, sind zum Individuum geworden, zu etwas, was fähig ist, Leiden zu fühlen, Strafe und Lohn zu empfangen. Der Unterschied zwischen ihm und dem Gott liegt dem Anschein nach nur darin, daß Karma unbarmherzig, unbestechlich arbeitet. Wie ein blankgeschliffener Spiegel uns bis ins Kleinste das Bild zurückwirft, welches wir haben hineinfallen lassen, so wirft das Karma die Folge der Tat dem Täter zu. Kein Zucken der Wimper bleibt ohne Folge, d. h. unbestraft oder unbelohnt. Kein Gedanke kann je ‚verloren gehen in Zeit und Raum‘. „Nicht im Luftreich, nicht in des Meeres Mitte, nicht wenn du in Bergeshöhlen hinabdringst, findest du auf Erden eine Stätte, wo du der Frucht deiner Taten entrinnen magst.― In den Religionen freilich meinen die Gläubigen, den Gott durch Gebete bestechen zu können, das Karma aber ist so wenig zu bestechen, wie der zur Erde fallende Stein durch Wünschen aus seiner Bahn zu lenken ist. Da das buddhistische Universum eine selbsttätige Maschinerie ist, da ein gütiger Gott fehlt, so fehlt auch die Möglichkeit einer Vergebung der Sünden. Der ganze Proceß des Sündenbegehens und Sündentilgens hat etwas von der kahlen Accuratesse kaufmännischer Buchführung an sich. Jede begangene Tat ist wie eine Anleihe an die Ewigkeit. Auf Heller und Pfennig wird die entliehene Summe gebucht und auf Heller und Pfennig muß sie zurückgezahlt werden. Gültig ist aber nur eine Münze: Leben! Die Folge unserer Taten muß erlebt, abgelebt werden. Ehe aber noch ein Posten, gestrichen ist, sind schon wieder unzählige neue Anleihen gemacht worden, und endlos zieht sich die qualvolle Kette der Wiedergeburten. Nirgends sieht der verzweifelnde Blick eine Möglichkeit des Entrinnens. So wären wir auf ewig an das Leben geschmiedet? — Nicht auf ewig, sondern solange Unwissenheit bestehen bleibt, 102 solange wir die wahre Natur dieses Karma nicht erkennen. Freilich sind wir Geschöpfe dieses Karma und stehen unter seiner Schreckensherrschaft, aber im tiefsten Grund ist dieses Karma, welches uns von Geburt zu Geburt reißt, ja nichts, als ein Product von uns selbst. Jeden Augenblick haben wir die Macht, jene endlose Kette zu unterbrechen: Wenn die Tat aufhört, hört die Folge der Tat auf, und wo keine Brücke zum Nächsten ist, da ist auch kein Nächstes, wie da kein Herzschlag, wo keine Verbindung zwischen Systole und Diastole ist. Systole für sich ist ebenso undenkbar, wie Diastole für sich. Erst das Übergehen von einem zum andern macht beide, macht Leben. Nur solange ich Taten tue, habe ich unter den Leben-, d. h. Leidengebärenden Folgen zu seufzen. Taten geschehen aber, solange der Wille zu Taten da ist. Der Wille aber kann sich nur heben im wahren Wissen, im Wissen von der Vergänglichkeit, vom Nicht-Ich. In ihm geht nicht nur der Lebensmut, das Wollen, sondern die Möglichkeit des Wollens unter, mit ihr die Möglichkeit der Tat, mit ihr die Möglichkeit der Folge. So bin ich Herr des Karma sobald mein Wollen in Nichtwollen verkehrt ist. Dieser im Wissen erzeugte Entschluß zum Nichtwollen, zum Lebens-Verneinen das ist die größte aller Taten, ‚die Tat, die zur Aufhebung der Tat führt‘. Und weil dieser Entschluß in meiner Gewalt steht, darum bin ich selber meines Schicksals Schmied. Ich selber schmiede meine Ketten, ich selber feile sie durch und achte keines Gottes. In keiner Religion steht Menschlichkeit in so erhabener, freier Größe da, wie im System des Buddha. Auch in diesem Sinn ist der Buddhismus die menschlichste aller Religionen; hier liegt alles in uns. Sind wir verständig, so gebührt uns allein das Verdienst; sind wir Toren, so trifft uns allein die Schuld, denn: „Hat wohl das Feuer je gedacht: Versengen will den Toren ich?" Das Wissen macht uns aber zu Herren des Karma nicht nur dadurch, daß es dasselbe im Nichtwollen zum Versiegen 103 bringt, sondern auch dadurch, daß es uns erkennen lehrt: Ebenso wie das Ich, ist auch das Karma Täuschung. Wie das Leiden sich im Nichtwollen und im Erkennen hebt, so hebt sich auch das Karma im Nichtwollen sowohl, als im Erkennen. Die Kraft, welche die Action mit der Reaction verbindet, ist ganz Action einerseits, weil in ihr wurzelnd, ganz Reaction anderseits, weil in sie sich umwandelnd, in sie aufblühend. Einerseits ganz Tat, anderseits ganz Folge der Tat ist aber auch das Ich. Karma ist nichts als der Ausdruck für das Ich, soweit es Moral übt und selber Moral ist, ebenso wie Individualität der Ausdruck für das Ich ist, soweit es Vergänglichkeit erkennt und selber Vergänglichkeit ist. Schwindet der Begriff Ich, so schwindet auch damit der Begriff' Karma. Wie das Ich nur schwinden kann, wenn es als auf Täuschung beruhend erkannt wird, so auch das Karma. Etwas Reales, Seiendes kann nie und auf keine Weise schwinden. Aufhören kann nur das Werden, und Karma, als ganz Tat, ganz Folge, d. h. weder Tat noch Folge, ist nichts als der ständige Übergangsprozeß von einem zum andern, ist nichts als ein Werden. Gäbe es etwas, was Tat für sich, wäre, so gäbe es auch etwas, was Folge der Tat für sich wäre. Tat für sich, das wäre die Weltschöpfung, der absolute Beginn; Folge der Tat für sich, das wäre das ewige Leben in Himmel oder Hölle, das absolute Leben. Gott und Seele wären damit gleichzeitig statuiert. Der Karma-Begriff frißt beide. Karma ist das glanzlose Ende, welches jener glänzende Atmangedanke der Upanishads im Hirn des Buddha fand. Der Atman (das Selbst, die Seele), der gleich einem Blitz Himmel und Erde, Gott und Menschen verbindet, er wurde im anatomisierenden Denken des Buddha zum zuckenden Fünkchen, das, immer wieder sich aus sich selbst regenerierend, den Schein der geschlossenen Kurve vortäuscht. Die Seele kann erkannt, das Unbegreifliche begriffen werden nur in ihrer Aufhebung. Aufhebung aber ist nur möglich, wo Werden ist. Die Seele, das Ich erkennen, heißt sie als Täuschung erkennen, das Sein als Werden erkennen. 104 Fragen wir jetzt noch einmal: Wer herrscht, wenn kein Gott ist? — Das Ich herrscht, aber so, daß es auch gleichzeitig das Beherrschte ist. Ich ist das, in dem Tat und Folge zusammenfallen, ist das, was nicht die Tat tut, sondern die Tat ist. Sein Herrschen ist Täuschung, aber damit auch sein Beherrschtwerden. Frei von der Täuschung des Beherrschtwerdens kann ich nur werden, wenn ich frei von der Täuschung des Herrschens werde. Erst wenn ich sehe: „Hier ist kein Täter,― erst dann kann ich sehen: „Hier ist keine Folge der Tat.― Ich löse das Karma auf, heißt: Ich löse das Ich auf. Erst dadurch, daß ich mich völlig als Product des Karma, völlig als Folge früheren Grundes erkenne, völlig, restlos, erst dadurch werde ich zum Herrn des Karma, zum Herrn der Welt. Denn bin ich nichts als Folge eines Grundes, so ist auch das All nichts als Folge eines Grundes. Ich verstehe den Satz: ‚Die Welt ist die Frucht der Werke‘ und ich verstehe: Hebung der Welt muß eintreten mit Hebung der Werke, mit Hebung der Tat. Die Tat bin ich. Mit dem Ich fällt die Welt. Die Möglichkeit zur Hebung der Welt liegt in mir, ja in mir. Diese Möglichkeit aber ist nichts als ein anderer Ausdruck für: ‚All Leben, ist Leiden‘. Denn wo aufgehoben werden kann, da ist Werden, Vergänglichkeit, kein Sein, kein Ewiges, kein Göttliches, keine Ruhe, keine Wonne. Daher: Möglichkeit der Weltaufhebung ist Notwendigkeit der Aufhebung; denn wie das Wasser von Berg zu Tal, so drängt das Menschenherz vom Leiden zur Leidensfreiheit. Verstehen des Karma ist Zwang zu seiner Aufhebung. Wie in einem Gedanken das Ich zum tragenden Centrum der Welt, zum Weltzeuger und Weltgebärer wird und zum ScheinIch, so wird in einem Gedanken das Karma zum Herrscher der Welt und zum Product der Täuschung, und es verstehen heißt, seiner Herr werden. Der Kampf gegen die Täuschung, die Unwahrheit ist der einzig naturgemäße, notwendige Kampf. Im Satz: ‚Karma ist Täuschung‘ liegt der Zwang, seiner Herr zu werden und im Satz ‚Aufhebung des Karma ist ein Zwang‘ liegt die Notwendigkeit des Karmas als Täuschung. 105 Karma ist wie die Stimme in meiner Brust. Solange ich sie als Gedanke in mir halte, bin ich ihrer Herr; sobald ich sie mir aber als Wort habe entfahren lassen, wird sie zum Herrn über mich, zu etwas außer mir Stehendem, dessen Folgen ich nicht mehr entweichen kann. Wie ich durch Schweigen die Herrschaft über mein Gedachtes und damit über mich behalte, so behalte ich durch geistiges Schweigen die Herrschaft über das Karma d. h. über das Ich, soweit es den endlosen, anfangslosen Werdeproceß der Welt darstellt. Durch geistiges Schweigen werde ich Herr der Welt. Das Karma ist ferner wie das Herz in meiner Brust, das auch rastlos von Systole zu Diastole eilt, unbeeinflußbar durch meinen Willen. Unterbreche ich aber die Atmung, so kommt schließlich dieser rastlose Arbeiter, der von Moment zu Moment neues Leben gebiert, zur Ruhe. Wie dem Herzen nur von der Atmung aus beizukommen ist und nicht direct, so dem Karma nur vom Willen, von Trishna-Upadana aus. Und wie ich von der Atmung aus das Herz nicht regulieren, sondern nur zum Stillstehen bringen kann, so kann ich vom Willen aus das alte Karma nicht ändern, aber ich kann jenes Spiel von Action und Reaction, jene ständige Neubildung von Karma zum Aufhören bringen. Ich bin nicht Herr über die Vergangenheit, aber über die Zukunft, nicht über den Anfang, aber über das Ende der Welt. Wie jeder Herzschlag das Endproduct der endlosen Zahl der vergangenen Herzschläge und der Träger, der Producent der endlosen Zahl der folgenden ist; wie das Jetzt das Product, der Abschluß endloser Vergangenheit und der Producent, der Träger endloser Zukunft, so ist das Karma das Product, der Auswurf, die Folge aller vergangenen Taten und ist der Träger, der Zeuger, der Mutterschoß aller zukünftigen. Körperlichkeit; Jetzt, Karma sind dasselbe von verschiedenen Standpunkten aus angesehen. Wie das Ich erst ganz zum Träger der Welt wird, wenn es ganz als Täuschung erkannt wird, wie das Jetzt erst ganz zum Träger der Zukunft wird, wenn es ganz als Täuschung erkannt wird, so auch wird das 106 Karma erst ganz zum Weltenrichter, wenn es ganz als Täuschung erkannt wird. Karma als Täuschung erkennen heißt nicht: es verachten, sondern es in seiner vollen Fürchterlichkeit, in seiner Ewigkeit erkennen. Wo nichts ist als Grundfolge, als Werden, da ist auch die Endlosigkeit des Werdens. Ein Beginnen des Werdens statuieren, heißt das Sein, den Gott statuieren. Ist kein Beginnen des Werdens, so ist auch kein Enden und jedes Moment, jedes Jetzt ist der Beginn einer Unendlichkeitsreihe. Jedes Jetzt, jede Tat, jeder Gedanke ist der Bildner der Zukunft in ihrer Totalität. Nichts steht vor uns als fixer Punkt, nichts wartet am andern Ende; kein Gott mit offenen Armen, kein Höllenrachen; Leben ist kein Wettrennen zum Ziel. Den Weg, den der Wanderer geht, schafft er sich erst aus sich selbst, wie die arbeitende Spinne aus sich selber die Straße zieht, auf der sie geht. Nichts ist da als das Jetzt, welches, weil Täuschung, ewig neu das Jetzt aus sich heraus gebiert. Leben ist nicht einer Zukunft entgegengehen. Eine Zukunft hat nur, wer einen Gott hat. Wo nichts ist als Grundfolge, wo Karma herrscht, da ist nur das Jetzt und Leben ist nichts als das Heraustreten aus dem Jetzt in das Jetzt. Leben ist das zur Ewigkeit gewordene Jetzt. Das Jetzt ist unser Halt, unsere Zukunft. Und wie der Mann, der auf gespanntem Seil dahinschreitet, nur von Tritt zu Tritt denkt, so denkt der Wissende nur von Jetzt zu Jetzt. Mit jedem Jetzt weiß er: „Ich schaffe die Welt aufs neu―, weiß er: „Ich schaffe den neuen Ansatz, die neue Richtungslinie für die endlose Zukunft.― Daher schreitet er behutsam wie der Mann auf dem Seil. Er wagt es nicht, sein geistiges Auge über das Jetzt hinausgleiten zu lassen. Jenseits des Jetzt ist nichts. Das Jetzt hinter dem Jetzt muß erst geschaffen werden. Sein Auge vom Jetzt auf die Zukunft, von der Erde auf den Himmel richten, heißt in das Nichts, den Abgrund treten. Auch das Plänemachen ist ein Treten ins Leere. Sicher geht nur der, welcher das Auge starr auf das Jetzt gesenkt, nicht nach Himmel, nicht nach Hölle schielend, von jedem Schritt weiß: „Er trägt meine Zukunft.― Sicher geht nur der, welcher nicht 107 rechts nicht links, nicht vorwärts nicht rückwärts gafft, sondern fest nach innen spähend, bei jeder Tat, jedem Wort, jedem Gedanken weiß: „Jetzt streue ich den Samen der Zukunft. Eben jetzt schaffe ich die Himmel, die Höllen, die mich später einnehmen werden.― Dieser Gedanke, wenn er im Ich Wurzel gefaßt hat, der macht die Hand langsam, die Zunge vorsichtig, das Hirn nachdenklich. Einen solchen lockt nicht Ruhm, nicht Gold, nicht Liebe. Und Heimat, und Himmel sind ihm leere Worte. Das macht: er denkt alles dieses und im Denken verrinnt es ihm. Wo Denken ist, da kann kein Wollen sein, wie keine Finsternis sein kann, wo Licht ist. Wo Liebe gedacht wird, da kann sie nicht gefühlt werden; wo Reichtum gedacht wird, da .kann er nicht erworben werden; wo Himmel gedacht wird, da kann er nicht ersehnt werden. — Ja, selbst nach dem Nirvana schaut er nicht. Völlig im Jetzt stehend, nur das Leiden, das Entstehen, das Vergehen anschauend, schreitet er von Jetzt zu Jetzt, jeder Schritt Weg zum Ziel und das Ziel selber. So wandert er groß, einzig, still seine Straße, gleich der Sonne sich den Weg schaffend und erleuchtend, den er geht. Aber wozu das alles? — „Wer die Entstehung aus Ursachen merkt, der merkt die Wahrheit; wer die Wahrheit merkt, der merkt die Entstehung aus Ursachen― spricht der Buddha. Nachdenklichkeit und Achtsamkeit tragen ihren Lohn in sich selbst, schaffen ihren Lohn von Moment zu Moment. Das Gesetz von Grund und Folge, von der Vergänglichkeit, vom Werden verstehen, heißt die Wahrheit erkennen. Die Wahrheit erkennen, heißt die Erlösung haben. Grundfolge erkennen, heißt Nichtwollen. Nicht-wollen führt zu Nirvana und ist Nirvana. Jeder Schritt im Nichtwollen ist Weg zum Ziel und Ziel selber. Wer die Wahrheit erkennt, der weiß: Dieses Karma, das mich an das leidvolle Leben schmiedet, es kann mich nicht mehr schrecken. Ich habe mich vor ihm gefürchtet, wie das Kind sich vor seinem eigenen Spiegelbilde fürchtet, weil es sich selbst nicht kennt. Ich bin nicht nur Product, ich bin auch Schöpfer dieses Karma. Von meinem Wollen aus ist 108 es aufhebbar, und nichts ist nötig als die Fortnahme jener Täuschung, welche das Ich als Seiendes vorspiegelt. So habe ich diesen Baumeister, der immer wieder ein neues Lebensgehäuse zimmert, überall gesucht und endlich, o Wunder! in mir selbst, im Herz meines Herzens gefunden. Darum spricht der Buddha: „Erkannt bist Hauserbauer du. Nicht mehr wirst du das Haus erbauen. All deine Balken sind zerstört, Vernichtet ist das ganze Haus, Vernichtungsselig hat das Herz Des Wollens Aufhebung erreicht." (Dhammapadam.) Nun aber ein Zweifel: Ist das im Karma Wiedergeborene dasselbe oder etwas anderes als das Alte? „Was ist's wohl, o Gotamo: Der Selbe, der jetzt lebt, empfindet die Folgen seines Tuns in der Wiedergeburt?― so fragt ein Brahmane den Buddha. „Der Selbe, der jetzt lebt, der Selbe empfindet die Folgen seines Tuns: dies, Brahmane, ist das eine Extrem.― „Was also, o Gotamo: Ein Anderer, als der jetzt Lebende empfindet die Folgen seines Tuns?― „Ein Anderer; als der jetzt Lebende empfindet die Folgen seines Tuns: dies, Brahmane, ist das zweite Extrem. Diese beiden Extreme meidend, zeigt der Vollendete die in der Mitte liegende Wahrheit.― Und nun setzt die Reihe der zwölf Nidanas ein, vom Nichtwissen bis zu Geburt, Tod, Leiden. Das heißt: Es ist weder der Selbe noch der Andere, und es ist sowohl der Selbe als der Andere. Ebenso ist das Ich als Tat (Action) von dem Ich als Folge der Tat (Reaction) verschieden und doch nicht verschieden. Das heißt: Leben ist kein Sein, weder in der Form des ‚Selben‘, noch in der Form des ‚Andern‘, sondern es ist überhaupt kein Ich da; nichts ist da; 109 als der Proceß, das endlose, sich selbst regenerierende Spiel von Action und Reaction. Von diesem aber kann man nicht sagen: Auf diese Seite gehört der Teil, auf jene Seite jener — mit seinem Dasein an sich ist seine endlose Vergangenheit, seine endlose Zukunft gegeben. Wie eine Flamme, welche die Nacht durch brennt, am Ende der Nacht dieselbe ist wie am Anfang und doch nicht dieselbe, so ist das neue Wesen dasselbe und doch nicht dasselbe wie das alte. Wie die Reaction nicht das Gleiche ist wie Action, und doch nichts Verschiedenes, so ist auch diese Existenz nicht die gleiche wie die nächste, und auch nicht eine andere. Es ist das ‚Jetzt‘ hier wie da und in alle Ewigkeit. Nun noch ein anderer Zweifel: Wenn das Karma nur durch Aufhebung der Tat aufgehoben werden kann, so muß ja auch die gute Tat unterbleiben; denn auch sie zieht ihre Folgen nach sich, gebiert Leben? — Allerdings muß auch die gute Tat unterbleiben, aber nicht so, daß ein solcher sich sagt: „Ich darf die gute Tat nicht tun, um mir kein neues Karma, kein neues Leben zu bilden.― Dieses Abweisen der guten Tat würde auch wieder Tat sein, Tat mit der ihr entsprechenden Folge. Daß also solche Ausdrücke des Buddha wie: „Sie sind vom Bösen und Guten erlöst― oder: „Ihr habt das Rechte zu lassen, geschweige das Unrecht― besonders gedeutet werden müssen, ist klar. Gut und böse hängen am Individuum, am Ich-Gedanken. Sobald der Ich-Gedanke im wahren Wissen sich aufgelöst hat, haben ‚gut‘ und ‚böse‘ keine Bedeutung, keinen Sinn mehr. Ein solch Erwachter, der sich schon in diesem Leben Nirvana sichtbar gemacht hat, steht jenseits, oberhalb beider; er wirkt die Spanne Zeit, die er noch in dieser Scheinform zu verbringen hat, wie die Sonne. Wie die Sonne gleichmäßig über Berg und Tal, über Schönes und Häßliches geht, so geht sein Tun und Denken gleichmäßig über Gutes und Böses hin, ohne mit dem Wollen an ihm zu haften, ohne eine Empfindung zu erregen. Denn wo kein Nichtwissen mehr ist, da sind keine Unterscheidungen mehr. Er tut was zu tun ist, aber er haftet an 110 nichts; denn nur mit dem Ich kann er haften. Und erst im Ich, in der Individualität wandelt sich die Folge des Grundes wie in Lohn und Strafe, so in die Begriffe ‚gut‘ und ‚böse‘ um. Mit dem Fallen des Ich-Gedankens fallen beide Begriffe in die Indifferenz zusammen; Ebenso wie die Begriffe ‚Object und Subject‘, ‚Tat und Folge‘, ‚Vergangenheit und Zukunft‘, so sind auch die Begriffe ‚gut‘ und ‚böse‘ nichts als Differenzierungen, die auf der Täuschung des Ich beruhen. Der im Wissen Vollendete tut freilich Taten; denn dieser Leib ist noch da. Aber nicht die Tat an sich schafft Karma-Leben, Leiden, sondern die aus dem Willen entsprungene Tat. Nicht das Aneinanderlegen von Kiesel und Stahl schafft Feuer, sondern die Reibung. Wille aber kann nur da sein, wo ein Ich ist, welches will. Das was der Buddha Karma nennt, ist nicht allgemein die Kraft, welche aus der Tat zur Folge führt, die Folge verwirklicht, sondern Karma heißt dieser Proceß, soweit, er sich im Bewußtsein-begabten d. h. Leidens-fähigen Wesen abspielt. Und notwendigerweise; denn nur hier ist Folge der Tat d. h. Leben gleichbedeutend mit Leiden. Das Wort des Buddha gilt aber nur für die Welt, in der Leiden herrscht, Leiden gefühlt und verstanden wird. Wie Leiden nichts ist, als der in die Individualität hineingetragene, von der Individualität verarbeitete Satz von der Unbeständigkeit, so ist Karma nichts als der in die Individualität hineingetragene, in ihr verarbeitete Satz von der Erhaltung der Kraft. Als etwas in der Individualität Ruhendes, geht es mit der Individualität zu Grunde. Frei kann der Wissende gehen. — Nicht auch jeder Andere, der da hört: „Es ist kein Karma, und das Gerede von Lohn und Strafe ein Ammenmärchen? Was soll die Zucht, die der Mensch sich selbst auferlegt! Frei will ich leben, über das Genick der Menschheit hinschreitend!― — Nein! Frei geht nur der Wissende, kein Anderer. So lange Wollen da ist, so lange sind Taten da. So lange Taten da sind, so lange ist Karma grimme Wirklichkeit und Lohn und Strafe keine leeren Worte. Freiheit von Karma kann nicht gelehrt, sondern nur gelebt, 111 nicht erlernt, sondern nur erlebt werden. Karma ist ja nicht nur mein Geschöpf, sondern auch mein Schöpfer. Es ist mein Ich. Nur für wen Karma völlig Schöpfer ist, für den ist es völlig Geschöpf. Frei von Karma kann nur sein, wer sich frei vom Ich gemacht hat, dem Ich entsagt hat. Schrankenlose Freiheit kann nur da sein, wo keine Möglichkeit mehr besteht, diese Schrankenlosigkeit zu benutzen. — Weshalb unmöglich? — Auf diesem Ich ruht die Welt. Mit dem Ich vergeht die Welt. Wo keine Welt, kein Ich mehr ist, da kann auch keine Welt mehr geachtet, mißachtet werden. Anderseits: Wo keine Welt, kein Ich mehr ist, da kann auch kein Ich mehr von der Welt beachtet werden, durch die Welt von Leben zu Leben, von Leiden zu Leiden gelockt werden. Ein solcher, der sein eigen Ich aufgehoben hat, der ist der Welt durch Weichen Herr geworden. Das meint der Buddha, wenn er vom wahren Mönch spricht: „Geblendet hat er die Natur, spurlos vertilgt ihr Auge, entschwunden ist er der bösen.― Er sieht keine Welt, keine Welt sieht ihn. 112 Moral im Buddhismus Der Buddhismus, wenn auch die mitleidvollste aller Religionen, ist nicht die Religion der Liebe, sondern des Wissens. Christus lehrt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.― Die indischen Religionen, Buddhismus und Vedanta, lehren dasselbe, gleichzeitig aber den Grund hierfür. Hier verstehen wir, weshalb wir unseren Nächsten wie uns selbst lieben müssen. Mit naturwissenschaftlicher Exactheit werden hier die Gesetze entwickelt, nach welchen sich dieses höchste Phänomen des Moralgebietes abspielt. Dem Prinzen Siddhartha, genannt Gautama, geht das Verständnis dafür auf, daß all Leben Leiden ist, und in mächtiger Concentrierung alles Denkens auf einen Punkt sucht er sich aus diesem Leiden zu erretten. Das ist, kurz gesagt, der Ursprung des ganzen Buddhismus. Gautama, der spätere Buddha, beginnt seine Laufbahn nicht als Erretter der Welt, nicht als einer, dem zu diesem Zweck von oben herab übernatürliche Fähigkeiten verliehen sind. Nichts liegt ihm ferner als das Heil der anderen. Er sucht lediglich seine eigene Rettung; es ist ein rein egoistischer Trieb, aber was ist natürlicher, als daß jemand, der sich in einem brennenden Hause sieht, vor allem sucht, sich selbst zu retten. Nachdem ihm aber diese Rettung gelungen ist, nachdem er sich selbst aus dem Meer des Leidens, an das Ufer in Sicherheit gebracht hat, nachdem ihm die selige Erkenntnis aufgegangen ist: „Ich bin erlöst―, da wendet sich sein Geist auch auf die leidende Menschheit zurück, und erst in dieser rückläufigen Bewegung sehen wir die Liebe in der Form verstehenden Mitleids auftreten. Charakteristisch sagt er selber: „Zwei Gründe sind es, die mich zu dieser Lebensführung bestimmen: Mein eigenes Wohlbefinden in dieser Zeitlichkeit und das Mitleid mit denen, die mir 113 nachfolgen.― Daß der Buddha der leidenden Welt gezeigt hat: „Diesen Weg bin ich gegangen, auf diesem Weg bin ich zum Ziel gelangt, dieses ist der Weg zur Erlösung―, das ist seine große Liebesgabe, darum heißt er der ‚große Mitleidsvolle‘. Nicht das Erwachen zu wahrer Erkenntnis macht schon den Buddha, sondern die Combination von Erwachen und Mitleid zur Menschheit, sie macht den Buddha. Stets ist im Buddhismus das Zeigen des wahren Pfades höchste Liebesgabe gewesen, dem Spender höchsten Lohn sichernd. ‚Weit über der höchsten Gabenspendung steht das Verdienst desjenigen, der von diesem Lehrbegriff nur einen viergliedrigen Sloka (Vers) auffaßt und ihn andern erklärend in wahrhafter Reinheit offenbart‘ heißt es in einem Sutra des Mahayana. Und tadelnd spricht der Buddha zu seinen Mönchen: „Wie, ihr Mönche, macht ein Mönch kein Feuer an? — Da zeigt ein Mönch nicht den andern die Lehre, weithin sichtbar, wie er sie gehört und gelernt hat. So, ihr Mönche, macht ein Mönch kein Feuer an.― Wir müssen hier gleich hervorheben: Diese höchste Liebesgabe wird nicht im Interesse des Geschenkten verabfolgt, sondern der Geber verabfolgt sie im eigensten Interesse. Daß der Beschenkte gleichzeitig unendlichen Lohn einheimst, kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Das ist die in unsern Augen entartete Form, welche Liebe in diesem System angenommen hat; es ist nichts geblieben als das knöcherne Gerüst der Taten. Jene Herzlichkeit, die sich selbst über dem andern vergißt, jene Herzlichkeit, die erst Weichheit und Farbe schafft, ist völlig verlorengegangen. Die ganze Moral im Buddhismus ist nichts als ein Rechenexempel, das der klare, kalte Egoismus anstellt: Soviel gebe ich dem andern, soviel wird mir dafür zu gut kommen. Das Karma ist der exacteste Rechenmeister der Welt. Haben wir aber das erste Gefühl des Unmuts über diesen scheinbaren Mißbrauch mit der Liebe, unserem Höchsten, überwunden, so müssen wir zugestehen, daß im System des Buddha Liebe keinen andern Klang haben kann. Hier fehlt ja 114 jenes große Liebecentrum, jener Gott-Vater, mit dem ich in der Liebe eins werde, der mich liebt, den ich wieder liebe, dessen Kinder alle Menschen sind, und der so durch seine Allvaterschaft die ganze Welt in eine Gemeinde von Brüdern und Schwestern verwandelt, deren naturgemäße Pflicht es ist, sich gegenseitig zu lieben. Im Buddhismus herrscht nur jenes Karma, jenes Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Tat und Folge, welches mit der Exactheit einer Maschine Lohn und Strafe reguliert. Freilich der Gott fehlt, aber vielleicht hätte der Buddha als Liebecentrum substituiert werden können? — Der Buddha ist in Nirvana. Dieser Vaterschaftsgedanke ist so völlig unvereinbar mit dem Gedankengang des Systems, daß vielmehr selbst die tatsächlichen Bande der Verwandtschaft in der neugewonnenen Erkenntnis sich auflösen. Das Individuum wird aus seiner Verbindung mit Eltern, Kindern, Geschwistern herausgeschält. Das sind nur menschliche Scheinverbindungen. Wie die Vögel abends sich auf einem einzelstehenden Baum sammeln und morgens wieder auseinander fliegen, so sammeln sich durch die Macht des Karma die Glieder einer Familie und gehen wieder auseinander, wenn ihr Karma, das ihnen diese Form, bestimmt hatte, abgelaufen ist. Hier gibt es nur eine Vaterschaft: Meine Tat! nur eine Sohnschaft: Die Folge der Tat! „Meine Tat ist mein Besitz, meine Tat mein Erbe, meine Tat der Mutterschoß, der mich gebar. Meine Tat ist das Geschlecht, dem ich verwandt bin. Meine Tat ist meine Zuflucht.― So lehrt der Buddha. Nicht ein Gott ist meine Zuflucht, sondern meine Tat ist meine Zuflucht. Da ich mit nichts in der Welt zusammenhänge als mit dieser meiner Tat, so müssen alle andern Verbindungen, mögen sie Gott, mögen sie Menschen betreffen, als Täuschungen erkannt und aufgegeben werden. Durch die Kraft meines Denkens von allen Verbindungen losgelöst, stehe ich allein im Universum, in ungeheurer Einsamkeit die Pfade des 115 Samsara wandelnd. Nur meine Tat geht mit mir, aber nicht wie ein Begleiter, sondern wie mein Schatten. So wandere ich wie ein Mann, der auf unabsehbarer Schneefläche oder in endloser Sandwüste abends ostwärts zieht und nichts hinter sich hat, als die lange Spur seiner Schritte, nichts vor sich als den riesigen Schatten; neben sich aber hat er nichts. Also lehrt der Buddha: „Zweierlei Freuden gibt es, ihr Jünger. — Welche zwei? Die Freude des Familienlebens und die Freude des heimatlosen Lebens. Das, ihr Jünger, sind zweierlei Freuden. Die erhabenere dieser zwei Freuden ist die Freude des heimatlosen Lebens― (Anguttara-Nikayo). Und weiter: „Unabhängigkeit, sag ich, ist höchstes Labsal der Gefühle.― Der Buddha selber hatte seine Laufbahn mit jener großen Entsagung eröffnet, mit jenem Heraustreten aus dem Kreise aller derer, die er liebte, von denen er geliebt wurde. Das war das fürstliche Handgeld, welches er der Wahrheit gab, um sie für immer an sich zu fesseln. Stets hat in diesem Kampf um die höchsten Güter ein einziger Act hingebender Entsagung mehr gegolten als jahrelanges, qualvolles Forschen und Zweifeln. Wer nicht den Mut hat, die Schiffe hinter sich zu verbrennen, der wird nie die neue Geisteswelt erobern. Wer fest entschlossen ist, den Kreuzzug zur Wahrheit mitzumachen, von dem verlangt der Buddha, daß auch er rücksichtslos sein Haus verläßt samt allem, woran sein Herz bisher gehangen hat. ‚Der Liebe Fesseln wie ein befreiter Elefant abschüttelnd.‘ (Asvagliosha, Buddha-Karita.) Denn Vater und Mutter, so hoch sie zu ehren sind, Weib und Kind, alle sind sie nur Fesseln, die den Geist am Hochsteigen hindern. Als dem Buddha die Geburt eines Sohnes gemeldet wird, spricht er: „Eine neue Fessel ist mir geboren―. Mehrfach findet sich folgender Passus: „Mit Fesseln gebunden ist das Leben im Hause, eine Stätte der Unreinheit, wie der freie Himmelsraum ist das Leben des Asketen.― 116 Das höchste Ziel des Buddhisten besteht in der Befreiung vom Leiden der Welt. Dieser Zustand der Leidenslosigkeit wird erreicht durch ein völliges Sichloslösen von, Sichausschälen aus der uns umgebenden Welt, mit der wir vermittelst unserer sechs Sinne in ständigem Contact stehen. „Wer nichts Liebes hat, der hat auch nichts Leides― spricht der Buddha und: „Geliebtes lassen ist das größte Leid.― Aus dieser Anschauung resultiert ein sich auf sich selbst Beschränken, ein sich in sich selbst Aufrollen, welches dem Verkehr mit dem Nebenmenschen von vornherein sein specifisches Gepräge aufdrückt. Jene active Liebe, jene spontane Sorge für den Nächsten fällt damit fort. Der Christ muß bestrebt sein, Taten der Liebe zu verrichten, muß der Arzt der geistig Kranken sein, muß unter Zöllnern und Sündern sitzen, muß alles andere lassen und dem einen verirrten Schaf nachgehen; die Liebe ist das Endziel seiner Religion, ist die Erfüllung. Gott ist die Liebe. Für den Buddhisten liegt keine Notwendigkeit zu solcher Handlungsweise vor. Für alle Handlungen gibt es bei ihm nur eine Regel und Richtschnur: Dient das zu meiner Erlösung oder nicht oder besser gesagt: Kann das meiner Erlösung hinderlich sein oder nicht? Von diesem Standpunkt aus sich selbst betrachtend, macht er sich selbst zum Centrum des Universums. Mit ängstlicher Sorgfalt hält er darauf, daß sein geistiger Schwerpunkt stets innerhalb des eigenen Ich liegt, und daß selbst bei dieser gesicherten Lage alle Vibrationen nach Kräften vermieden werden. Selbst in den Werken der Liebe darf er nie vergessen, warum er sie tut, darf er nie sein eigenes Ich vergessen; denn jedes Vergessen ist hier ein Zurückgleiten auf der steilen Bahn zum Nirvana. Tugend ist nicht das an sich zu Erstrebende: sie ist nur die Leiter zum Höchsten. Gutes tun ist nichts als Meiden des Schlechten. „Hätte der Erhabene, spricht der Mönch Punno zum Mönch Sariputto, reine Tugend als stofflose, vollkommene Wahnerlöschung bezeichnet, so würde der Erhabene Stoffhaftes als stoßlose, vollkommene 117 Wahnerlöschung bezeichnet haben.― Das Stoffhafte aber ist das Minderwertige. Weshalb genügt aber dieses sich auf sich selbst Beschränken? — Weil sich mit mir zugleich ja auch die ganze Welt ändert. Auf mir ruht die Welt, meine sechs Sinne schaffen von Moment zu Moment diese Welt aufs Neue. Wie das Ich, der Producent beschaffen ist, so wird auch die Welt, das Product, beschaffen sein. Die Welt, weil kein Seiendes, sondern ein Werdendes, ist nichts für ewig Festgelegtes, so oder so Beschaffenes, sondern wie sie sich mir darstellt, so ist sie, und wie ich innerlich beschaffen bin, so stellt sich mir die Welt dar. Meine innerliche Beschaffenheit aber richtet sich nach dem Stande meiner Erkenntnis, meines Wissens. Hier liegt der Stützpunkt, von dem aus die Welt auf- und abgehebelt werden kann, bis sie schließlich im letzten gewaltigen Ruck entschnellt, sie nicht mehr sichtbar für mich, ich nicht mehr sichtbar für sie. Ohne weiteres ist klar, daß in solchem System die Beschaulichkeit über der activen Nächstenliebe steht. Kein. Buddhist wird es für recht halten, seine Jhanas (Schauungen) zu unterbrechen, um Werke zu tun. ‚Das eigne Heil gib nimmer auf ‚Um fremden, noch so großen Heils‘. (Dhammapadam.) Eine Parallele mit dem christlichen Mysticismus ist hier kaum zu umgehen. „Wer sich viel äußerlich herumtreibt, und sei es auch wegen guter Werke, der kommt nie zum wahren Frieden seines Herzens― sagt Tauler. Das ist der Aufstieg zu jenem ungeheuerlichen Wort des Buddha: „Ihr Jünger, die ihr das Höchste versteht, ihr habt das Rechte zu lassen, geschweige das Unrecht.― Nun darf man nicht annehmen, daß mit dieser Sorge um das eigene Ich der Rücksichtslosigkeit gegen den andern Tür und Tor geöffnet ist: ganz im Gegenteil. Zwar wird der Buddhist in 118 kühler Verständigkeit jeden Contact mit dem Nächsten nach Kräften zu meiden suchen. Tritt derselbe aber doch ein, so wird er sich so benehmen, wie es sein eigenes Bestes erheischt, d. h. er wird im Sinne der Liebe handeln, und nicht nur handeln, sondern auch denken. Jeder Gedanke ist so gut meine Tat, wie das Wort meiner Zunge, wie der Schlag meiner Faust. Der Nächste ist nur der Resonanzboden meiner Tat, das, woran meine Tat sich verwirklicht. Wie aber der Ball, an die Wand geworfen, zum Werfer zurückfliegt, so kehrt im Bewußtsein die Tat zum Täter zurück, ihm als Folge Strafe oder Belohnung bringend. Durch die gute Tat nutze ich mir allein, wie ich durch die schlechte mir allein schade. Und selbst diesem scheinbar sterilen Boden des kahlen Egoismus entsprießen duftende Blüten. Wir hörten oben, daß die heiligsten Verwandtschaftsbande in diesem System der Erkenntnis zerbröckeln. Das gilt aber nur für die Vollendeten, für die, denen mit dem Zerfließen des eigenen Ich auch alle Beziehungen zerflossen sind, in welchen dieses Ich bisher gestanden hatte. Für die Nichtvollendeten, noch Strebenden liegt die Sache völlig anders: Ist schon mein Nebenmensch mit höchstem Wohlwollen zu behandeln, so kommt bei den Eltern noch die Pflicht der Dankbarkeit hinzu. Denn sie sind das Mittel, durch welches ich die Wiedergeburt als Mensch erlangt habe. Höher noch als göttliche, ist aber menschliche Wiedergeburt. Denn nur aus ihr heraus führt der Weg zum Höchsten, zur Buddhaschaft. Meine Mutter aber hat dadurch, daß sie mich gesäugt und aufgezogen hat, mich in den Stand gesetzt, an meiner Befreiung zu arbeiten durch Befolgen der wahren Lehre. Darum heißt es: „Wenn jemand die Mutter auf eine, den Vater auf die andere Schulter nimmt und so hundert Jahre lang trägt, so ist das noch immer weniger Beistand, als er selber s. Z. empfangen hat.― Darum spricht der Buddha: „Wer richtig für seine Eltern sorgt, ist größer als ein Qakravartin (weltbeherrschender König).― Darum sagt er an anderer Stelle: „Brahma, o ihr Jünger, ist bei jenen Familien, in deren Hause Vater und Mutter von den Kindern verehrt werden.― Darum 119 steigt der Legende nach jeder Buddha in den Tushita-Himmel, um dort seiner Mutter den Dharma (Pali: Dhammo) zu predigen. Fast noch enger aber als die Bande, welche mich an meine Eltern knüpfen, sind die Bande, welche mich an meinen geistigen Vater, den Lehrer knüpfen, der mir den Weg zur Erlösung zeigt. Geistige Geburt ist ja unendlich viel wichtiger als körperliche. Darum ist dem Lehrer Gehorsam, Demut, Liebe entgegenzubringen, und der Birmane stellt im Gebet den Lehrer vor die Eltern. Freundschaft ist nur insoweit zu pflegen, als sie uns im Hochsteigen, im Verstehen des Gesetzes helfen kann. Ein Freund ist gut, aber rechtes Denken ist der beste Freund. Von jenem körperlichen Freund gilt das Wort des Sutta-Nipata*): „Zwei Armbänder von blankem Gold, wenn noch so glatt gemacht, reiben sich doch aneinander; darum laßt uns allein wandern gleich dem Rhinoceros.― Ist nun einer von denen, die uns nahe stehen, durch den Tod von uns gerissen worden, so ist Klagen und Jammern ein Zeichen des Nichtverstehens der allgültigen Naturgesetze. Hätte Klage irgendeinen Zweck, sicher, der Verständige würde sie nicht verschmähen. So aber nützt sie dem Toten nichts und schadet dem Bekümmerten. „Friede kommt nicht in das Herz von Weinen und Klagen.― Die Weisen stärken sich durch Nachdenken über den Tod. Im Denken überwinden sie den Kummer, nehmen Speise und besorgen ihre Geschäfte. Sie wissen: „Was dem Tode unterworfen ist, ist tot. Was der Auflösung unterworfen ist, ist aufgelöst.― Des Menschen Leben ist ja stets wie die reife Frucht am Baum, von der man jeden Augenblick das Herabfallen erwarten kann. Mit klaren Worten sagt der Buddha: „Beweinen ist nutzlos― und: „Suche den Kummer in dir zu zerstreuen ähnlich dem Wind, welcher die Baumwolle (an der Staude) weit weg führt― (SuttaNipata*). *) Ein Teil des zweiten Buches (Sutta-Pitakam) 120 Im Buddhismus wird, ebenso wie der Glaube, so auch die Liebe zu einem Product des Wissens. Klar, glänzend, aber kalt und farblos wie die Sonne am Wintermorgen, so steigt diese Liebe vor uns auf. Haben wir aber erst das Auge an diesen kalten Glanz gewöhnt, haben wir uns abgefunden mit dem Mangel jener schönen Dämmerungsfarben, die im Christentum Glaube, Hoffnung und vor allem Liebe umspielen, so kann uns nicht verborgen bleiben, wie viel fester, solider alles gefügt ist, als in den Offenbarungsreligionen. Sicherlich ist es ein ungeheures Wagnis, die Liebe, welche doch im Christentum Weg zum Höchsten und Höchstes selber ist, unbestimmten Gefühlen, Instincten zu überlassen. Freilich ist oft und eindringlich vorgeschrieben: „Liebet euren Nächsten wie euch selbst―, „Liebet eure Feinde―, aber diese Vorschrift widerstreitet der menschlichen Natur, solange ich nicht verstehe, warum ich jedem, auch meinem Feinde Gutes tun muß. Das „Auge um Auge, Zahn um Zahn― liegt uns viel besser zur Hand und bedarf keiner Begründung, aber alle die diesen Vorschriften zuwiderhandeln, werden seinerzeit bestraft werden. — Ganz recht, aber es ist ein gütiger Gott da, und wenn wir auch hier und da, gegen die Gebote der Liebe verstoßen, es ist ja doch die Hoffnung, daß alles durch einen göttlichen Gnadenact wieder ausgeglichen wird. Wir sagen freilich „hier und da― und ahnen nicht, wie unendlich oft wir täglich diese Gebote übertreten. Wenn wir auf den Stand unserer Moralität mit demselben Interesse achteten wie auf den Stand unserer Börse, wir würden entsetzt sein über die Höhe der aufgehäuften Schuld. Und wenn wir wüßten, daß alles auf Heller und Pfennig abgezahlt werden muß, wir würden verzweifeln. Wie ganz anders steht der Gott-lose Buddhist da! Von Kindesbeinen an ist ihm der Gedanke eingeprägt worden, daß jeder Tat, der guten wie der bösen die Vergeltung folgt, wie dem Körper der Schatten. Die Lehre vom Karma ist das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, das allgemeinste aller Naturgesetze, auf das Moralgebiet übertragen. Nichts kann je 121 verlorengehen; unabänderlich kommt alles in irgendeiner Form, sei es als Belohnung, sei es als Strafe, und zu irgendeiner Zeit zu Tage. Das ist ehernes, ewiges Naturgesetz. Hier kann kein Gott, kein Buddha helfen. Hier gibt es nur eine Hilfe: Unterlaß die Tat, so wird die Folge von selbst ausbleiben. Das aber, was dich jetzt als Folge früherer Taten trifft, das ertrage, weil unabänderlich, gefaßt wie ein Mann. Auch nicht gleichgültig ertrage es, sondern gesammelten Sinnes, mit Überlegung, damit du klar verstehst: So bitter ist das Leiden; wie süß muß da die Leidenslosigkeit sein, wie höchst erstrebenswert. Was für ein Tor müßte ich sein, wenn ich noch einmal um kurzer Lust willen Dinge beginge, die so langes, schweres Leiden nach sich ziehen, Leiden, bei denen kein Gott mir helfen kann. Der Buddhist stellt auf dem Standpunkt des welterfahrenen, seiner Verantwortlichkeit sich vollbewußten Mannes. Der Anhänger der Offenbarungsreligionen gleicht in mehr als einem Sinn dem Kinde. Der Erwachsene weiß: In der Welt ist nichts umsonst; die Ware, die ich nehme, muß ich bezahlen auf Heller und Pfennig. Das Kind dagegen streckt seine Hand nach diesem oder jenem, ohne zu überlegen: Ich werde bezahlen müssen. Durch Bitten und Schmeicheln sucht es Straflosigkeit oder eine Gunst zu erlangen. Was aber beim Kinde anmutig ist, das würde beim Erwachsenen häßlich sein. Weil der Anhänger der Offenbarungsreligionen seinem Gott gegenüber sich als Kind fühlt, deswegen ist hier das Gebet am Platze mit seiner Bitte um Vergebung, um Gewährung, mit seinem kindlichen Liebreiz, seiner Naivität. Die alten Athener beteten: „Laß es regnen, liebster Jupiter, laß es regnen auf die Felder der Athener― und Mark Aurel fügt hinzu: „Wenn man schon betet, so soll man mit so freier Einfalt wie die Athener beten―, und sicherlich, jedes echte Gebet ist solch ein Athener-Gebet. Im Buddhismus geht dieser Schmelz der Kindlichkeit verloren. Das Bittgebet ist für ihn eine Täuschung, die lächerlich sein würde, wenn sie nicht zu ernsthaft wäre. Mit unbarmherzigem Spott spricht der Buddha zu einem 122 Brahmanen: „Was meinst du wohl, Vasettha, wenn dieser Strom hier bis zum Rande angeschwollen wäre, und ein Mann, den sein Geschäft an die andere Seite ruft, käme heran und sich an das Ufer stellend riefe er: ‚Komm herüber, o du jenseitiges Ufer! Komm herüber zu meiner Seite!‘ — Was meinst du wohl, würde all sein Anrufen und Bitten und Flehen und Hoffen das jenseitige Ufer herüberbringen? — Ebenso sind eure Brahmanen, wenn sie sprechen: Indra! dich rufen wir an, Soma, Varuna, Brahma! dich rufen wir an.― (Tevijja-Sutta, Digha-Nikayo) So sieht der Buddhist auf das Bittgebet. Er ist ja ein Erwachsener; selbst der Säugling an der Mutterbrust, auch er hat schon tausendmal in früheren Geburten all Leid und Weh des Menschenlebens durchgelebt. Der Buddhist steht in der Welt wie ein in Ketten Gelegter, Eingekerkerter, ohne Freund, ohne Verwandten, ohne Helfer. Ein solcher faßt den kühnen Entschluß, sich aus eigenen Kräften zu befreien und mit all ihm zu Gebote stehender Zähigkeit des Geistes und Körpers geht er an die Arbeit. Er weiß: „Mir hilft keiner.― Mit Armen und Beinen, mit Fingern und Zehen, mit Nägeln und Zähnen arbeitet er. Tag und Nacht weilt sein Geist bei nichts anderem, bis er die Kruste der Herzensumhüllungen durchbrochen hat, wie das Küchlein im Ei mit Kralle und Schnabel die Schale aufhackt und heil durchbricht. Mehr als für den Christen ist für den ‚schlaffen‘ Buddhisten Leben ein ständiger Kampf: es fehlt der vergebende Gott. „Ringet ohne Unterlaß!― waren des Buddha letzte Worte. So kämpft der Buddhist den höchsten Kampf, den ein Mensch kämpfen kann: den heißen, innigen Kampf der Entsagung und Selbstbezwingung. In lautlosem Ringen müht er sich ab mit seinem eigenen Ich, wie Jakob in der Nacht mit dem Unbekannten. Hier winkt kein Ruhm, kein Gold, ja nicht einmal die Liebe in jener himmlischen Form, die den Christen zum höchsten begeistert. Nur um die Leidenslosigkeit dreht sich der Kampf, um jene gesicherte, ewige Ruhe, die kein Gott nehmen kann, wie sie auch kein Gott gegeben hat. 123 Ein kalter Ernst geht durch diese ganze Lehre. Wie mit dem Seciermesser wird jede Tat, jedes Wort, jeder Gedanke behandelt. Für so wichtig hält der Buddha diese Zucht, daß er sie den geraden Weg nennt, „der zur Läuterung der Wesen, zur Überwältigung des Schmerzes und Jammers, zur Zerstörung des Leides und Kummers― führt. Diese Zucht, meint er, wenn er seinen Mönchen vorhält: „Durch verständige Betrachtung, durch Festigkeit und Ausdauer habe ich das höchste Ziel erreicht.― Bei allem ist erste und einzige Frage: Wie schlage ich daraus Kapital für mich? Wie kann ich das meiner Erlösung nutzbar machen? Geschieht mir ein Unrecht, so weiß ich: Nicht ich bin der Geschädigte, sondern jener, der Übeltäter. Ich weiß, er ist schon gestraft und bleibe ruhig. Ja, ich bemühe mich sogar, liebreiche Gesinnung gegen ihn zu hegen; denn so erst ist meine Ruhe eine vollkommene. Und somit, bin ich der richtige Egoist, so mache ich mich daran und begegne meinem Beleidiger mit Liebe und Sanftmut. „Denn nicht durch Haß wird Haß überwunden: durch Nichthassen wird Haß überwunden― lehrt der Erhabene. Und: „Wohlwollende Gesinnung ist die beste Art der Wiedervergeltung.― Und weiter: „Wenn auch, ihr Mönche, Räuber und Mörder mit einer Baumsäge Gelenke und Glieder abtrennten, so würde, wer da in Wut geriete, nicht meine Weisung erfüllen.― Jenes ‚erdballgleiche Gemüt‘, das ist höchstes Ziel, ist höchste Zier des wahren Jüngers. Wer sich dieses zu Eigen gemacht hat, von dem kann man sagen: „Er hat viel geleistet.― Nicht weil er weiß, daß das Auge eines allwissenden Gottes auf ihm ruht, tut der Buddhist das alles, sondern weil er ständig an seinen wahren Vorteil denkt. „Wem ist sein Selbst lieb, wem ist es nicht lieb?― fragt König Pasenadi den Erhabenen. Der antwortet: „Die mit dem Körper, mit der Rede, mit dem Gemüt den Weg der Sünde wandeln, denen ist ihr Selbst nicht lieb, und wenn sie auch sprächen: ‚Wir lieben unser Selbst‘, sie lieben es dennoch nicht.― (Samyutta-Nikayo) 124 Wenn wir nur in der richtigen Weise denken gelernt haben, so können wir aus uns zugefügtem Unrecht die größten Vorteile ziehen und unseren Feinden nicht mit gewaltsamer Verleugnung unserer Natur, sondern mit gutem Grund als unsern größten Wohltätern danken. Die Legende erzählt: Dem Königssohn Kunala werden durch die Tücke seiner in ihn verliebten und von ihm abgewiesenen Stiefmutter beide Augen ausgestochen. Als er nach Herausreißung des ersten Auges gefaßten Geistes sich dasselbe vom Henker geben läßt und es, in der Hand haltend, mit dem andern Auge betrachtet, da geht ihm plötzlich das Verständnis für die Vergänglichkeit alles Entstandenen auf. Das wahre Wissen erwacht in ihm, und, jedes Gefühl des Ich abstreifend, bricht er jubelnd in die Worte aus: „Möge sie lange Glück, Leben und Macht behalten, die sich dieses Mittels bedient hat, um mich eines so großen Vorteils teilhaftig werden zu lassen.― Eine andere Legende erzählt: Der Buddha hört von einem Mönch Purna, daß er sich in einem Lande niederlassen will, dessen Bewohner wegen ihrer Gewalttätigkeit verschrien sind. „Wenn sie dich schmähen und beleidigen, was wirst du dann denken?― — „Ich werde dann denken: Diese Leute sind wahrlich gut, daß sie mich nur schmähen, nicht aber schlagen und mit Steinen werfen.― — „Wenn sie dich aber schlagen und mit Steinen werfen?― — „So werde ich denken: Sie sind wahrlich gut, daß sie mich nur schlagen und mit Steinen werfen, nicht aber mit Stock und Schwert mißhandeln.― — „Wenn sie dich aber mit Stock und Schwert mißhandeln?― — „So werde ich denken: Sie sind wahrlich gut, daß sie mich nicht ganz und gar des Lebens berauben.― — „Wenn sie dich aber des Lebens berauben?― — „So werde ich denken: Diese Leute sind wahrlich gut, indem sie mich von der Last dieses Lebens befreien.― — Darauf der Buddha: ,,Wohl gesprochen hast du, Purna! Gehe und befreie, du Selbst-Befreiter! Führe zum andern Ufer, du selbst am Ufer Angelangter! Tröste, du bereits Getrösteter! Leite zu Nirvana, du bereits in Nirvana Eingegangener!― — 125 Ein absichtliches Märtyrertum ist trotzdem undenkbar, denn im Lieben der Feinde liegt an sich keine Verdienstlichkeit, nur im Gegenteil würde für mich der Schaden liegen. Mit der Liebe ist nicht das Gesetz erfüllt, aber mit dem Haß ist es zerstört. Unverrückbar bleibt der Schwerpunkt des All in mir ruhen. Geht das aber nicht ins Unmögliche, daß ich nicht nur Zunge und Hand, sondern sogar den Gedanken zwingen soll? — Das Zwingen der Gedanken ist freilich nur möglich da, wo wahre Erkenntnis errungen ist, wo der Geschädigte weiß: Dieser Leib hier, dem soeben übles getan ist, gehört mir nicht, ist ja gar nicht mein Ich. Was brauche ich mich da zu erzürnen, wenn ihm etwas angetan wird. Dieser Leib an sich ist ja völlig wertlos. Sein einziger, freilich unersetzlicher Wert beruht darin, daß an ihn meine Erlösung geknüpft ist, durch ihn meine Erlösung bedingt ist, wie die Darmsaite, an sich wertlos, dadurch unersetzlich wird, daß sie den Gedanken des Genius zu Tage treten, ausschwingen läßt. So ist in diesem wunderbarsten aller Systeme keine wahre Moral möglich ohne Wissen, kein wahres Wissen möglich ohne Moral und beide, Moral und Wissen, sind aneinander gebunden wie in der Flamme Licht und Wärme oder: Beide ergänzen sich wie in der Voltasäule die Zink- und Kupferplatte; eines stärkt sich durch das andere in steigender Proportion, ohne daß eines das Primäre, das andere das Sekundäre wäre. Zwar auch jenes, ich möchte sagen, vulgäre Raisonnement, welches wir in den Satz einkleiden ,,Was du nicht willst, daß man dir tu', das füg' auch keinem andern zu―, verschmäht der Buddha nicht, wie aus der folgenden kleinen Episode hervorgeht: Der König Pasenadi fragt sein Weib Mallika: „Hast du wohl irgend jemand lieber als dich selbst?― In köstlicher Naivität antwortet die Gefragte: „Wahrlich, großer König nicht habe ich irgend jemand lieber als mich selbst.― Und unverzagt 126 gesteht der große König das gleiche von sich ein. Wahrscheinlich aus Langerweile teilen beide ihr tiefsinniges Gespräch dem Erhabenen mit, der gutmütig genug ist in einem Vers zu antworten: „Ich habe alle Gegenden durchwandert, Doch hab' ich nirgends jemanden gefunden, Der teurer etwas hielte als sich selbst. So ist das eigne Selbst gleich teuer jedem Wesen. Darum verletzte keiner einen andern Aus Liebe zu dem eignen teuren Selbst." (Samyutta-Nikayo.) Aber diese Richtung läuft nur neben her. Im spezifisch buddhistischen Denken ist Moralität aufs engste mit dem Egoismus verknüpft, ist angewandter Egoismus. Damit ist Nächstenliebe auf die zwar kahlste, aber solideste Basis gestellt, welche diese Welt bieten kann. Auch in der andern Hauptreligion Indiens, dem System des Vedanta, ist Liebe auf dem Wissen basiert. Der Wissende erkennt sich selbst als Gott-Brahman, als das Universum. Daher: Bin ich das All, ist alles Ich, so ist mein Nächster identisch mit mir. Ich muß ihn lieben nicht wie mich selbst, sondern als mein eigenes Selbst. Der Unglückliche, der Kranke, der Notleidende, den meine Augen sehen, das bin ich ja selbst; was er leidet, das leide ich. In großen Lettern steht das ‚Tat twam asi‘ (Das bist Du) über der Eingangstür zur indischen Moral. Es ist nur eine Täuschung, die mir die Zweiheit vorspiegelt. Vor dem Wissenden fallen alle Unterschiede zu dem großen Ich, zu der Einheit zusammen. Wer aber liebt wohl nicht sein eigenes Ich? Mag der zu Grunde liegende Gedankengang dem Abendländer noch so fremdartig erscheinen, für den, der ihm folgt und durch ihn zum Verstehen gelangt, ist damit Nächstenliebe ebenfalls zu einer Sache der Notwendigkeit geworden. Hier haben wir einen Salto mortale des Egoismus vor uns. Wenn auch das ganze Phänomen, Schopenhauerisch zu reden, auf 127 dem Durchschauen des principium individuationis, auf dem Aufgeben des Ich-Willens beruht, so gebe ich doch mein Ich nur auf, um es in allen Wesen wiederzufinden. Ich liebe alle Wesen, weil sie mein Ego sind. In Wahrheit ist der Egoismus nicht gehoben, sondern nur der Begriff des Ego hat gewechselt, ist jener Metamorphose unterlegen, welche neben jener andere vom Ich zum Nicht-Ich führenden, das erstaunlichste Phänomen ist, welches diese Welt zu bieten imstande ist. Überhaupt, wenn wir es recht bedenken, so sind nur zwei Gedanken da, welche würdig sind, gedacht zu werden, unser Denken auszufüllen d. h. gelebt zu werden: Der Gedanke: ‚Alles ist Ich‘, Leben erhaltend für ewig, und der Gedanke: ‚Alles ist Nicht-Ich‘, Leben aufhebend für ewig. Der Buddhismus, insofern als er auf dem ‚Alles ist Nicht-Ich‘ beruht, steht dem Vedanta diametral gegenüber. Trotz der zärtlichsten Sorgfalt, welche diesem Schein-Ich gewidmet wird, fällt hier doch jeder wirkliche Egoismus, weil jede Möglichkeit zum Egoismus fällt. Es gibt hier nur einen Schein-Egoismus, wie es nur ein Schein-Ich gibt. Im Vedanta ist in der Erkenntnis: ‚Alles ist Ich‘ der Weg zur Moral und Moral selber gegeben. Im Buddhismus ist die Erkenntnis: ‚Alles ist Nicht-Ich‘ nur der Weg, der zum Gipfel der Moral führt, nicht dieser Gipfel selber. An sich kann das Erkennen meines Selbst resp. meines Nächsten als ‚Nicht-Ich‘, als Täuschung nichts sein, an dem sich Moral betätigen könnte, während mit dem ‚Alles ist Ich‘ des Vedanta die ganze Moral in nuce gegeben ist. Erst die aus dem ‚Alles ist Nicht-Ich‘ gezogenen Schlußfolgerungen bedingen im Buddhismus die Moral. Erst, wenn ich erkenne, daß dieses Ich gerade dadurch, daß es zum Schein-Ich wird, sich in den tragenden Mittelpunkt der Welt verwandelt, erst wenn ich erkenne, daß dieses Ich gerade dadurch, daß es Schein-Ich wird, mich für ewig an den Samsara fesselt, und daß nur eine ganz specifische Behandlung dieses Schein-Ichs mich befreien kann, erst dann kann ich mich zu wahrhafter, d.h. fruchtbringender Moral 128 aufschwingen. Im Licht dieser Moral werden meine Nebenmenschen gleichsam nur Gegenstände, an denen meine Taten abprallen, um zu mir selber zurückzukehren. Wie das Sonnenlicht erst reflectiert angesehen und benutzt werden kann, so wird mir mein Inneres erst, nachdem es sich als Tat und Wort am Nächsten, resp. als Gedanke an mir selber reflectiert hat (im Nicht-Ich schwindet die Differenz zwischen mir und dem Nächsten, und Tat und Gedanke werden gleichwertig), klar, und erst im Rückprall wird mir die Möglichkeit des Mich-selbst-Erkennens und damit des Erlösens gegeben. Alle Moralforderungen bleiben in mir ruhen, haben Anfang und Ende in mir. Der Begriff des sich an anderen Versündigens hat keinen Platz im System. Ich versündige mich nur an mir selbst oder richtig ausgedrückt: Ich schade nur mir selbst. Von einer Versündigung, einer Schuld kann überhaupt nicht geredet werden. Moral ist Wissen, Laster ist Nichtwissen, Dummheit. Auch vom Standpunkt der Moral aus werde ich zum Centrum der Welt, und die absolute, reine Form dieses Schein-Egoismus macht aus dem ganzen Universum nichts als einen gewaltigen Resonanzboden, der die von mir ausgehenden Schwingungen auffängt und als Erlösungsharmonie mir wieder zuführt. Den empfindlichsten Teil dieses Resonanzbodens aber bildet das eigene Schein-Ich. Auf ihm tönt die leiseste Schwingung in endlosem Nachklang wieder, und es ist klar, mit wie ungemeiner Sorgfalt dieses empfindlichste aller Instrumente gehandhabt werden muß, um nicht verwirrendes Getöse, sondern die klaren Rhythmen der Erlösung aus sich hervorgehen zu lassen. Der tiefste, größte Zweck des Universum und dieses Schein-Ich in ihm ist der, seinem Mittelpunkt, d. h. dem Leidenden zur Erlösung zu verhelfen, ihm die Erlösung zu vermitteln. Buddhismus wie Vedanta, beide stehen sie dem Christentum mit seinen gewaltsamen, weil unverständlichen Moralforderungen gleich Apotheosen des Egoismus gegenüber, beide freilich in völlig verschiedenem Sinn. 129 130 Das Geben Geben ist gewissermaßen der Secundenzeiger an der Moraluhr des Buddhismus. Geben ist der augenfälligste Maßstab für den Stand der Moral des einzelnen. Am Geben kann Schritt für Schritt der Gang der Moral verfolgt werden, wie am Springen des Secundenzeigers der Gang der Uhr. Jene feineren und feinsten Moralbewegungen sind unserem Sinn fast unzugänglich, gleich der Bewegung des Stundenzeigers. Daher können sie schwer zum Beurteilen der Moral dienen. Wohl aber kann man sagen: Wer nicht geben kann, der hat selbst das Abc von des Buddha Lehre nicht gefaßt. Denn wie das Wasser auf die Einwirkung des Feuers vor allem dadurch reagiert, daß es die aufgehäufte Luft von sich gibt, so das Individuum auf die Lehre des Buddha vor allem damit, daß es der angehäuften Schätze sich zu entäußern sucht. Das ist das erste und sicherste Zeichen, daß jene Umkehrung aller Begriffe, wie sie bei dem Verstehenden unvermeidlich ist, daß jener unerhörte Umschwung vom Bejahen zum Verneinen eingetreten ist. Zwei Überlegungen zwingen zum Geben: Vor allem das Verlangen, sich frei und leicht zu machen, um auf jenem steilen Weg zum Höchsten nicht durch Unnötiges behindert zu werden. Genug und übergenug, daß ich diese Scheinform meines Leibes mit mir schleppen muß. Wie die Kämpfer in den Olympien, so muß ich nackt in diesen höchsten Kampf, den Kampf um die Wahrheit gehen, will ich mir nicht von vornherein jede Aussicht auf Erfolg versperren. So sprach Jesus zum reichen Jüngling: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe was du hast und gibs den Armen.― Das heißt: Wenn du Kämpfer werden willst, so rüste dich. Das Sichlosmachen von allem ist in diesem Kampf das Schwert, Ausdauer der Helm, wahre Demut der Panzer. 131 Eine geheimnisvolle Kraft muß in diesem scheinbar rein äußerlichen Act verborgen liegen, und stets hat jeder, dem es ernst um die Wahrheit war, mit ihm seine Laufbahn begonnen. Insofern liegt in diesem ‚entsagenden Geben‘ nichts specifisch Buddhistisches. In allen Religionen, zu allen Zeiten hat diese große Entsagung als unerläßlich gegolten für jeden, der nach dem Höchsten strebt, mag dieses Höchste nun im Gottbejahen oder Gottverneinen liegen. Manch einer möchte den Propheten spielen, solange er aber nicht den Mut jener Entsagung gehabt hat, hat er keine Berechtigung zu solchem Amt. Die andere Form des Gebens könnte man das ‚nehmende Geben‘ nennen und sie ist die specifisch indische, ja noch mehr: die specifisch buddhistische Form. Jede Tat zieht die ihr entsprechende Folge nach sich. Der Lohn für das, was ich meinen Mitmenschen gebe, fällt so sicher auf mich zurück, wie der Stein, den ich von der Erde gehoben habe und fallen lasse, zur Erde zurückfällt. So gibt es ja keinen leichteren, bequemeren Weg, Verdienst zu erwerben als durch Geben. Immer wieder, unermüdlich predigt der Buddha Geben. Als ein Brahmane ihn fragt: „Billigt Gautama das Opfer?― antwortet er: „Nicht jedes Opfer billige ich, Brahmane, aber auch nicht jedes Opfer mißbillige ich. Ein blutiges Opfer billige ich nicht, aber ein unschädliches Opfer billige ich, Brahmane, es ist unermüdliches Geben.― Und zu seinen Mönchen spricht er: „Wenn die Wesen, o ihr Mönche, die Frucht des Almosengebens kennten, wie ich es kenne, sicherlich, das Mindeste, den letzten Mundvoll würden sie nicht essen, ohne davon mitgeteilt zu haben.― Almosengeben gehört zu den sechs hohen Vollkommenheiten eines Buddha. Die bei weitem verdienstlichste Form des Gebens ist aber das Geben zur Unterstützung der Religion. ‚Geben‘ und ‚Geben im Dienst der Religion‘ sind fast gleichbedeutend. Für unser Geben zu gemeinnützigen aber weltlichen Zwecken hat der Inder nicht viel Sinn. Schließlich ist ihm ja auch sein ganzes Leben Religion geworden. 132 Der Buddha, der sonst alle brahmanischen Begriffe aus ihrer Clausur befreite und in volle Beweglichkeit setzte, ließ diesen Begriff des Gebens, vielleicht als den einzigen, in den Fesseln, in welchen er ihn aus dem Brahmanismus überkommen hatte; ja, unter seinen Händen verlegte der Schwerpunkt des Gebens vielleicht noch entschiedener als im Brahmanismus sich auf die religiöse Seite. Wenn der Lohn des Gebens oder die Strafe des Nichtgebens demonstriert werden soll, so sind es immer Bettelmönche, die dem Discurs zur Unterlage dienen. Der Buddha versteigt sich hier zu so derben Naivitäten, wie wir sie sonst nie aus seinem Munde zu hören gewöhnt sind. Als die Königin Mallika ihn fragt, woher es kommt, daß es Weiber gibt, die häßlich und arm sind, antwortet er, daß die Häßlichkeit ihre Ursache in früherer Zanksucht habe, daß sie aber arm seien, weil sie in früheren Leben den Mönchen nicht gegeben hätten. Der Buddha war gezwungen, gerade das Geben in diesem so wenig durchgeistigten Begriff zu erhalten; denn der Dharma*) konnte sich rein nur darstellen in der Mönchschaft, und die Mönchschaft war völlig auf Mildtätigkeit angewiesen. Es handelte sich hier um nichts weniger als um die Existenz des Dharma in seiner concreten Form. Daher der ungeheure Nachdruck, der auf das Geben an die Mönche gelegt wird, daher die, ich möchte sagen, Skrupellosigkeit der Mittel, um das Gefühl für die Notwendigkeit dieses Gebens stets lebendig zu erhalten. Legende und jenes Grenzgebiet von Legende und Historik wetteiferten, um Hoch und Niedrig anzustacheln. König Asoka, der größte Herrscher Indiens, sollte deswegen sein Königtum erhalten haben, weil er in einer seiner früheren Geburten als Kind dem Buddha Kassapa in Ermangelung von etwas besserem eine Handvoll Erde offeriert hatte. Derselbe Asoka soll das ganze Jambudvipa (Indien) der buddhistischen Mönchschaft dreimal geschenkt und dreimal wieder zurückgekauft haben. Und als er, dem Tode nahe und von *) Pali: Dhammo; das Gesetz, die Erlösungslehre des Buddha 133 seinem Nachfolger bereits aller Macht beraubt, nichts mehr zu schenken hatte, da sandte er die Hälfte der Amalakafrucht, an der er sich eben laben wollte, der Mönchschaft zum Geschenk. Im historischen Ceylon wurde die Legende zur Wirklichkeit. Niemals vielleicht, so lange die Welt steht, ist ein Herrschergeschlecht so völlig im Dienste der Religion aufgegangen, wie diese lange Reihe der Könige der Sonnendynastie, von denen einer den andern in seinen Schenkungen an die Mönchschaft zu überbieten suchte. Es gab Zeiten, in denen das Land 60000 Mönche ernährte. Ein einziges Kloster in der Hauptstadt Anuradjapura*) zählte 3000 Insassen, die alle von der Mildtätigkeit der Könige lebten. Es war nicht Furcht, welche zu solchen immensen Schenkungen antrieb; denn hier gab es niemanden, der gleich dem brahmanischen Priester, den Himmelsschlüssel in seiner Faust hielt, dem man daher notgedrungen geben mußte. Trotz allem Nachdruck, der auf das Geben gelegt wurde, es blieb doch eine freiwillige Handlung. Aber vielleicht gerade deswegen wurde umso reichlicher gegeben. In wahrhaft königlichem, ja fast maßlosem Eifer machten sich die Herrscher jene günstige Gelegenheit zu Nutz, die ihnen ihr Reichtum an die Hand gab: durch unaufhörliches Geben an die Mönchschaft einen Schatz guter Werke anzuhäufen, von dem sie noch für viele Wiedergeburten zehren konnten. Aber nicht nur der Hohe, sondern auch der gemeine Mann war von den gleichen Anschauungen und daher von dem gleichen Eifer beseelt. Noch heute werden besonders im birmanischen Volk Schenkungen zu religiösen Zwecken gleich Anzahlungen an die Ewigkeit angesehen. Niemand zweifelt daran, daß diese Anzahlungen in späteren Leben mit Zinseszins zurückerstattet werden. Also wie sehr viel vorteilhafter ist es, sein Geld so *)Nördlich von Kandy gelegen; berühmt durch seine Ruinen Residenz der sog. „Großen Dynastie― von etwa 250 v. Chr. bis 750 n. Chr. 134 anzulegen, als in weltlichen Geschäften, aus denen mir nur Sorgen erwachsen. Wie viel sicherer, wie viel klüger handle ich, mich hier mit dem Notwendigen zu begnügen, und mit dem übrigen mir den schweren Weg der künftigen Geburten im Voraus zu ebnen. Wer weiß, ob die nächste Geburt mir die Möglichkeit zum Geben läßt. Wer freilich meint, daß mit einem Leben alles abgetan ist, der kann ja kein richtiges Verständnis für sein wahres Wohl haben. Endlos reiht sich die Zahl der Wiedergeburten, und habe ich mich in Wahrheit lieb, so muß ich nicht nur für diese eine sorgen, die ich mit meinem Bewußtsein umfassen kann, sondern für die ganze Reihe, die der Buddha mich mit meinem Verstand zu umgreifen gelehrt hat. Aus diesem Gedanken heraus, daß in diesem Leben vor allem für das nächste zu sorgen ist, eröffnet sich ja erst die Möglichkeit der Erlösung. Denn wer ist wohl imstande, sich aus einer Existenz heraus zu erlösen? So erweitert sich das geistige Sehfeld eines solchen, und über die engen Schranken der Einzel-Existenz hinweg gleitend, bekommt er Anschauungen, wie sie seinem neuen Überblick entsprechen. Wir Spießbürger freilich lachen über einen solchen Weltenbürger und halten ihn für einen Narren, der seinen wahren Vorteil Hirngespinsten opfert. Das kommt daher, daß niemand uns gelehrt hat, jene engen Schranken, die der Ichgedanke um uns aufgetürmt hat, zu durchbrechen. Daß aber in buddhistischen Ländern dieser Umschwung des Denkens kein bloßes Spiel mit Worten geblieben ist, sondern sich in Wahrheit vollzogen hat und ins Leben getreten ist, dafür sind jene Schenkungen der beste Beweis, deren sich die buddhistische Kirche in so einzig dastehendem Maßstab zu erfreuen gehabt hat. Wie bei dieser Theorie von der Tat und der ihr entsprechenden Folge das Geben in Gefahr kam, zu einem bloßen Rechenexempel auszuarten, ist klar. Umso angenehmer ist es zu sehen, daß neben der quantitativen Seite die qualitative nicht ganz vergessen wurde. Wenn dieselbe auch im Zwang 135 der Verhältnisse lange nicht so kräftig zu Tage treten konnte wie im Christentum, so haben wir doch immerhin Anklänge an das Gleichnis vom Scherflein der Witwe. Der Chinese Fa-Hien erzählt, daß in Purushapura die Almosenschale des Buddha stand, die sich füllte, wenn der Arme nur eine Blume hineintat, während der Reiche Tausende hineinwerfen konnte, ohne sie zu füllen. Sicherlich, hier haben wir die wahre Anschauung des Buddha über das Geben, und hier wie überall sehen wir, daß nichts Menschliches diesem Großen fremd geblieben ist. 136 Das Wissen In den beiden indischen Hauptreligionen, Buddhismus und Vedanta, ist diese Welt, das Leben Leiden einerseits, Täuschung anderseits, daher das Verlangen, diese Täuschung zu heben, naturgemäß; denn jedes Wesen flieht das Leiden. Hebung der Täuschung ist nur im Wissen möglich. Beide indische Hauptreligionen sind, im Gegensatz zu allen andern Religionen, Religionen nicht des Glaubens, sondern des Wissens, der Vedanta freilich eine wunderbare Vereinigung von Glauben und Wissen, der Buddhismus die Religion des reinen Wissens. Im Vedanta führt Wissen zur Erlösung, zu Brahman; im Buddhismus ist Wissen Erlösung. Dieses Wissen ist das specifisch indische Wissen, das große Wissen. Nur wo Leben Täuschung ist, kann dieses große Wissen bestehen, das Erlösung bringt und Erlösung ist. Im Gebiet der monotheistischen Religionen kann sich nichts Analoges entwickeln. Da die Welt hier das Machwerk eines Gottes ist, so kann sie keine Täuschung sein. Wo Leben keine Täuschung ist, kann auch das höchste Heil nicht im Wissen liegen, sondern muß im Glauben ruhen. Denn wo Welt ein Machwerk ist, da muß Weltschöpfung, absoluter Anfang sein. Dieser aber ist nie und nimmer dem Erkennen, sondern nur dem Glauben zugänglich. Erkannt, verstanden werden kann nur das Ende, das Aufhören. Beginn der Welt, Gott, Glauben sind untrennbare Begriffe. Der Leitvers des Wissens in der monotheistischen Welt sind jene Worte des Predigers: „Wo viel Wissen, da ist viel Trübsal, und wer viel lehren muß, der muß viel leiden.― Hier ist Wissen nichts als der Ausdruck für jenes Ungenügende an sich, für jenes Sichnichtselbstgenügen, mit dessen Steigen die Trübsal steigt, mit dieser die Sucht nach Erlösung, mit dieser die Unfähigkeit zur Erlösung. Dieses Wissen führt nur zum halben Ziel; es führt lockend in die Tiefen des Leidens und läßt dort den Suchenden in ratloser 137 Finsternis stehen. Diesem Wissen fehlt die Fähigkeit, aus dem Leiden zur Erlösung herauszuheben, ihm fehlt die fermentative Kraft, Leiden in Erlösung umzuwandeln. Diese Kraft hat jenes dem indischen Geistesleben specifische Wissen. Wissen soweit es der Function dient: zur Erlösung zu führen, ist das Wissen par excellence, das große Wissen. Jedes andere Wissen, mag es in den Augen der Welt noch so groß dastehen, ist kleines Wissen, ja Form der Unwissenheit, wenn über ihm der Sinn für jenes große Wissen verloren geht. Den Begriff dieses Erlösung schaffenden Wissens hatte der Buddha aus dem Brahmanismus übernommen, aber wie jemand, der ein und dasselbe Reagenz auf völlig verschiedene Substrate einwirken läßt, völlig verschiedene Reactionsproducte erhalten wird, so war es hier. Im Brahmanismus wirkte dieses Wissen vom Leben als einer Täuschung auf den im sicheren Bett des Glaubens ruhenden Atman, im Buddha wirkte es auf der Basis völliger Glaubenslosigkeit. Substrat war hier nicht Seele, Atman, sondern das eherne Gesetz von Grund und Folge. Daher die Verschiedenartigkeit der Endproducte: dort Vergottung, hier Vergehen, Auslöschen wie die Lampe, der das Öl ausgeht. Soviel aber steht fest, daß nur im Buddhismus Wissen auf seiner absoluten Höhe dasteht, in jener ungemischten, glaubenslosen Klarheit, in welcher es den Beweis seiner Völligkeit in sich selber trägt. Was ist nun Wissen im Buddhismus? — Der Buddha selber hat die Definition gegeben: Wissen ist nichts als das Wissen der vier heiligen Sätze vom Leiden, Unwissenheit nichts als die Unkenntnisse dieser vier Fundamentalsätze. Wissen ist: Leiden wissen. Leiden wissen aber ist gleichbedeutend mit Erlösung wissen. Wie aber Leiden wissen gleichbedeutend ist mit leidlos sein, so ist Erlösung wissen gleichbedeutend mit erlöst sein. Somit ist Leiden wissen gleichbedeutend mit erlöst sein. 138 Wie kann nun Wissen vom Leiden gleich bedeutend sein mit Erlösung? — Dadurch, daß der Satz ‚Alles ist vergänglich‘ sich einerseits in den Satz umwandelt ‚Alles ist leidvoll‘, anderseits in den Satz ‚Alles ist Nicht-Ich‘. Der Übergang von Vergänglichkeit in Leiden ist besprochen. Es wäre nunmehr zu zeigen, wie der Satz von der Vergänglichkeit sich in den Satz vom Nicht-Ich umwandeln kann. Als der Buddha jenen fünf Asketen in Benares als den Ersten seine neue Lehre vorträgt, kleidet er sie in die Form des VierSatzes vom Leiden. Kondanna ist der Erste, welcher erkennt, aber er reagiert nicht so, daß er einfach sagt: „Ich habe erkannt,― sondern er beweist sein neu erwachtes Wissen damit, daß er erkennt: „Alles was seiner Natur nach dem Entstehen unterworfen ist, ist seiner Natur nach auch dem Vergehen unterworfen.― Und als der Brahmane Sariputta, der spätere Hauptjünger des Buddha, den Mönch Assaji bittet, ihm die Lehre des Erhabenen in kurzen Worten darzulegen, antwortet dieser: „Von allen Dingen, die aus einer Ursache entstanden sind, hat der Tathagata die Ursache erklärt, und ihre Vernichtung hat er gleichfalls erklärt.― Da geht dem Sariputta das reine, fleckenlose Auge der Wahrheit auf und. er erkennt: „Was immer seiner Natur nach dem Entstehen unterworfen ist, ist seiner Natur nach auch dem Vergehen unterworfen.― Trotzdem also dem einen der Satz vom Leiden, dem andern das Gesetz von Grund und Folge vorgetragen wird, antworten beide in denselben Worten. Wir haben hier noch eine neue Form, in die der Vergänglichkeitsgedanke sich einkleidet: Alles Entstandene ist nur die Wirkung früherer Ursache; diese Ursache ist selbst Wirkung einer früheren Ursache gegenüber u. s. w. ad infinitum. Alles was wir mit den sechs Sinnen erfassen können, das ganze Weltall besteht aus nichts, als einer endlosen Kette von Ursachen und Wirkungen und damit aus einem endlosen Entstehen und Vergehen. Denn alles was als Wirkung früherer Ursache eingesetzt hat, muß aufhören, 139 sobald die Kraft, die zu seiner Verwirklichung geführt hat, erschöpft ist. Nun kann niemand behaupten, daß meine Persönlichkeit in irgendeinem Sinne da war, bevor meine Eltern mich zeugten. Als ‚Name und Form‘ bin ich meiner Totalität nach entstanden, d. h. bin ich Wirkung einer Ursache, muß demnach auch meiner Totalität nach vergehen, sobald die Kraft, die zur Verwirklichung geführt hat, erschöpft ist. Gehe ich aber im Tode meiner Totalität nach zu Grunde, so kann kein Faden, kein Unvergängliches, keine Seele eine Existenz mit der andern verbinden. Ich lebe nur weiter in der Weise, daß ich, selber Wirkung früherer Ursache, jetzt Ursache späterer Wirkung werde. Mein Ich ist das, worin Ursache und Wirkung als Schein von Tat und Folge ineinander fallen, ist ganz Ursache einerseits, ganz Wirkung anderseits. Das ist der Grund weshalb Karma, die einwortige Formel für das Ich als wirkendes, mit ‚Ursache und Wirkung‘ definiert wird. Eine Verbindung der früheren mit der späteren Existenz besteht nicht, und doch hängt eine mit der andern zusammen und ist eine in der andern enthalten wie im Schlag der Rückschlag. So reiht sich ohne Anfang, ohne Ende die ungeheure Kette der Existenzen, und doch steht jede einzelne gesondert für sich da, wie das Herz jeden Schlag gesondert liefert und doch den geschlossenen Organismus produciert. Als Einwirkung des Grundfolgegedankens auf das Erkennen haben wir mithin dieses Resultat: Individualität in toto entstanden, muß folglich auch in toto vergehen. Daher kann sich in ihr kein ewiger Kern, keine Seele verstecken. Die Seele aber hieß im alten Indien der Atman, das Selbst, das wahre Ich, weil unvergänglich. Dieser Leib, als vergänglich, galt nicht als wahres Ich. Weil der Buddha keine Seele in diesem Leib gefunden hatte, weil er diese Körperlichkeit samt allen ihren Functionen, samt Erkennen und Bewußtsein als bedingt d. h. als vergänglich erkannt hatte, darum sagte er: „Dieser Leib ist anatta (nicht-selbst), ist nicht mein Ich, er gehört mir nicht.― Denn so wird argumentiert: „Du, der du sprichst 140 'Dieser Körper ist mein Selbst', erfüllt sich dir bei diesem Körper der Wunsch: 'So soll mein Körper sein, so soll mein Körper nicht sein?', — oder: 'So sollen meine Gefühle, meine Wahrnehmung, meine Unterscheidungen, mein Bewußtsein sein, so sollen sie nicht sein?'.― Wie kann dieser Körper mir gehören, wenn ich keine Macht über ihn habe? Wie kann er das wahre Ich sein, wenn er gar nicht mir gehört? Nie hat der Buddha gesagt: „Es existiert keine Seele―, wie er auch nie gesagt hat: ,,Es ist kein Gott.― Er hat nur gesagt: Mit diesem Gottbegriff ist keine Erlösung vom Leiden des Lebens zu erreichen. Er hat ferner nur gesagt: In dieser Körperform ist keine Seele und in allem mit den sechs Sinnen zu Fassenden ebenfalls nicht, weil alles, alles nichts ist, als eine endlose Folge von Ursachen und Wirkungen. Hierüber hinaus brauchte er nicht zu gehen, weil seine Aufgabe nur darin bestand, vom Leiden zur Erlösung zu führen, und im Gedanken „dieser Körper ist nicht mein Ich, ist anatta― die Erlösung geborgen lag, wie die süß-reife Frucht in der bitteren Schale. Darum, als der fremdgläubige Asket Vacchagotta ihn geradezu fragt: „Ist das Ich?― schweigt er. Als jener weiter fragt: „Wie denn nun, geehrter Gautama, ist das Ich nicht?" schweigt er wieder, und jener geht davon. Der Buddha hatte ihm nicht geantwortet, weil die Frage jenseits des Gebietes von Leiden und Erlösung lag, und die Beantwortung daher nutzlos gewesen wäre. Denn zur Erlösung genügt, daß in dieser Form kein Ich ist. Das hat der Buddha klar dargelegt. Das genüge! Nur wie das Leiden ausgerodet wird, lehrt der Buddha. Wer anderes wissen will, für den spricht der Buddha nicht. So ist es auch für uns müßige Spielerei, und beruht auf einem Mißverständnis des Ganzen, uns den Kopf zu zerbrechen, welche von beiden Möglichkeiten der Buddha selber innerlich als die wahrscheinlichere angesehen hat. Er selber fragt seine Mönche warnend: „Werdet ihr nun, ihr Mönche, also erkennend, also verstehend, auch jetzt über die Gegenwart bald diese, bald jene Frage stellen: 'Bin ich nicht — was bin ich — wie bin ich — woher ist wohl dieses mein - 141 Wesen gekommen, wohin wird es gehen?'― Und: „Wahrlich nicht, o Herr― lautet die Antwort. Wie alles im Buddhismus individuell ist, so auch das Nicht-Ich. Das Ich, das Ewige, die Seele ist nicht, soweit es diese meine Persönlichkeit betrifft. Das genügt. Was es abgesehen hiervon mit dem Ich für eine Bewandtnis hat, das können wir nicht wissen und brauchen wir nicht zu wissen. So wandelt der Verstand den Satz von Grund und Folge resp. von der Vergänglichkeit in den Satz vom Nicht-Ich um. Der Satz von der Vergänglichkeit, der Satz von Grund und Folge, der Satz vom Leiden, der Satz vom Nicht-Ich sind nur Modificationen eines und desselben. Vernichtung des Leidens und Vernichtung des Ich-Wahns werden als identisch gesetzt. „Das Vergängliche, o Herr, das Vergängliche, so sagt man, o Herr; was ist nun aber, o Herr, das Vergängliche?" fragt ein Mönch den Buddha. „Der Körper wahrlich, das Gefühl, die Wahrnehmung, die Unterscheidung, das Bewußtsein, sie sind vergänglich.― „Das Leiden, das Leiden sagt man, o Herr; was ist nun aber, o Herr, das Leiden?― „Der Körper wahrlich usw. sie sind das Leiden.― „Das Nicht-Selbst, das Nicht-Selbst (anatta), so sagt man, o Herr; was ist nun aber, o Herr, das Nicht-Selbst?― „Der Körper wahrlich usw. sie sind das Nicht-Selbst.― „Dem Entstehen und Vergehen Untertan, so sagt man, aber, o Herr, dem Entstehen und o Herr; was ist nun Vergehen Untertan?― „Der Körper wahrlich usw. sie sind dem Entstehen und Vergehen Untertan.― (Samyutta-Nikayo) Der Satz vom Nicht-Ich, von der Nicht-mir-Gehörigkeit des Leibes ist das versteckte Zwischenglied in dem Gedanken „All Leben ist vergänglich, folglich ist all Leben Leiden.― Er ist die versteckte dritte Größe, welche die Gleichheit der beiden andern vermittelt und klar legt. Weil all Leben vergänglich ist, nur ein Entstehen und Vergehen, ein Spiel von Ursache und 142 Wirkung, darum ist all Leben ‚anatta‘, wesenlos, seelenlos, ohne Ich. Der Gedanke: „Hier ist ein Ich― hat sich als Täuschung, als Unwissenheit herausgestellt. Und weil somit diese meine eigene Persönlichkeit, dieses was ich bisher als mein sicherstes, köstliches Eigentum angesehen hatte, mir geraubt wird als nicht mir gehörig, als seelenlos und damit als wertlos sich entpuppt, darum wird die Vergänglichkeit zum Leiden. Denn wie einer, der da meint einen kostbaren Diamanten zu besitzen und vom Juwelenhändler erfährt, daß es ein Kiesel ist, Schmerz empfindet, so auch einer, der da meint, im ‚Ich‘ jenes Unvergängliche, Wonnevolle, zu Brahman Erhebende zu besitzen und dann erkennt, daß es eine wertlose Last ist, ein Haufe Sankhara, geformtes Leiden, das er mit sich schleppt. Vergänglichkeit, Leiden, Nicht-Ich, sie alle drei meinen das Gleiche von verschiedenem Standpunkt aus gesehen, und Wissen vom Leiden ist nichts anderes als Wissen von der Vergänglichkeit und Wissen vom Nicht-Ich. Der Zusammenklang dieser drei, das ist das große Wissen, das Buddha-Wissen. Inwiefern ist nun dieses Wissen gleichbedeutend mit Erlösung? Drei Dinge zu lehren sind alle Buddhas in der Welt erschienen: Daß alles vergänglich ist, daß alles leidvoll ist, daß nirgend ein Ich zu. finden ist. Das ist die Summe, die Quintessenz ihrer Lehre, und von Erlösung ist nichts darin. Aber wie das Meer vom Land und das Land vom Meer umschlungen ist, so umschlingen sich in der Lehre des Erhabenen Leiden und Erlösung. Und wie einer der alle Landumrisse auf der Erdoberfläche gezogen hat, damit auch gleichzeitig die Meeresgrenzen gegeben hat, so hat der Buddha mit seinen drei Sätzen von der Vergänglichkeit, dem Leiden und dem Nicht-Ich gleichzeitig die Erlösung geliefert. Im Anatta-Gedanken, im Gedanken vom Ich als Nicht-Ich fallen, wie Subject und Object, Tat und Folge, Vor- und 143 Nacheinander, so auch Leiden und Erlösung zusammen, wird Leiden zur Erlösung. Weil Leiden und Vergänglichkeit gleichbedeutend sind, so wird diese Individualität, als in toto vergänglich, auch in toto Leiden. Leiden ist demnach nichts Außenstehendes, Empfundenes, kein Product der Körperlichkeit, sondern ist Körperlichkeit selber, ebenso wie Tat kein Product, sondern Körperlichkeit selber ist. Persönlichkeit, richtig erkannt, ist nichts als geformtes Leiden. Es ist dasselbe zu sagen: „Körperlichkeit aufheben― und „Leiden aufheben.― Daher darf man nicht nur sagen: Leiden geht zu Grunde mit dem Leidensträger, sondern man muß auch sagen: Leiden und Leidensträger sind identisch, sind ein und dasselbe Ding von verschiedenem Standpunkt aus gesehen, ebenso wie Tat und Täter. Wie im Wissen kein Täter bestehen kann, so auch kein Leidensträger. Es bleibt nur Tat und Leiden. Darum, weil ich das Ich als vergänglich ohne Rest erkannt habe, so muß auch das Leiden vergänglich ohne Rest sein. Darum, weil ich das Ich als aus einer Ursache entstanden erkannt habe, so muß auch das Leiden aus einer Ursache entstanden sein und muß verschwinden mit der Aufhebung dieser Ursache. Erlösung im Buddhismus ist aber nichts als aufgehobenes Leiden. Somit dreht sich alles darum, diese Ursache zu finden. Diese hat der Buddha gefunden im Haften unserer Sinne an den Objecten. Unsere Sinne sind der ständig tätige Mechanismus, durch welchen ständig Vergänglichkeit in Leiden umgewandelt wird. Denn Leiden ist ja nichts als die ins Bewußtsein getretene Vergänglichkeit alles Entstandenen. Dadurch daß unsere fünf Sinne mit dem Geist als sechstem die Vergänglichkeit fassen, fassen sie das Leiden. Da sie aber nicht fähig sind, etwas anderes zu fassen als die Vergänglichkeit, da sie nur auf Werdendes, Entstehendes, Vergehendes reagieren, so fassen sie n u r das Leiden, und Sinnestätigkeit ist identisch mit Leidensentstehung. Denn wenn das Auge auf etwas Sichtbares trifft, es berührt, sich mit ihm vereinigt, so entsteht, wird gezeugt der Gesichtseindruck. 144 Wenn das Ohr etwas Hörbares, das Geruchsorgan etwas Riechbares, das Geschmacksorgan etwas Schmeckbares, das Tastorgan etwas Tastbares trifft, so entstehen die betreffenden Eindrücke. Ja, wenn der Geist mit dem Denkbaren sich vereinigt, so wird in der Vereinigung der Gedanke gezeugt. „Durch das Gedenken und die Dinge entsteht das Denkbewußtsein; der Einschlag der drei gibt Berührung.― Wo Berührung, da ist Entstehen, Geburt. Wo Entstehen, da Vergehen, Tod. Wo Entstehen und Vergehen, Geburt und Tod, da ist Leiden. Wie die Vereinigung des Männlichen mit dem Weiblichen, so ist die Vereinigung der Organe mit den Objecten. So beruht all Leiden auf unseren Sinnen, und soweit die Sinne reichen, soweit reicht das Leiden. Der Schlüssel für buddhistisches Denken liegt in der Gleichheit von Vergänglichkeit und Leiden. Nun haben wir gesehen, daß dieses Ich, als in toto entstanden, auch in toto begreifbar wird mit dem Begreifen der Ursache, die zu seiner Entstehung geführt hat. Als Entstehungsursache ist das ‚Haften‘ gefunden worden. Dieses aber ist etwas unserem Verstehen Zugängliches. Dadurch wird ‚Ich‘ etwas in toto begreifbares, damit in toto ein Werdendes, ein ständig aus dem Zusammenwirken von Seh-, Hör-, Riech-, Schmeck-, Tast- und Denkbewußtsein Entstehendes und ständig durch ihre Auflösung Vergehendes. „Die Persönlichkeit, die Persönlichkeit, heißt es; was hat denn wohl der Erhabene gesagt, daß die Persönlichkeit sei?― fragt ein Mönch die Nonne Dhammadinna. Und diese antwortet: „Die fünf Elemente des Lebenstriebes sind die Persönlichkeit, hat der Erhabene gesagt.― Wie diese ganze Welt auf unsern sechs Sinnen ruht, so auch dieses Ich. Wie die sechs Sinne die Welt bilden, so bilden sie auch das Ich. Weil mit den Sinnen faßbar, darum wird das Ich mir entrissen als nicht mir gehörig und in die allgemeine Werdemasse mit hineingeworfen, zu einem Teil der 145 Außenwelt gemacht. Erst in dieser Auffassung wird das Wort des Buddha verständlich, wenn er predigt: „Alles, o ihr Mönche, ist ein brennendes Feuer. Und wie, o ihr Mönche, ist Alles ein brennendes Feuer? — Das Auge ist ein Brennen; die Objecte sind ein Brennen; die geistigen Eindrücke, die auf dem Auge beruhen, sind ein Brennen; das Haften des Auges ist ein Brennen; die aus dem Haften entstandene Empfindung ist ein Brennen, mag sie angenehm oder widrig oder keines von beiden sein. Und was für ein Feuer brennt hier? — Wahrlich! es ist das Feuer der Lust, des Hasses und der Irre, das hier brennt; es ist das Feuer des Geborenwerdens, Alterns, und Sterbens, das Feuer von Gram, Jammer, Leiden, Elend und Verzweiflung.― (Mahavaggo) In diesem Gedankengang löst alles scheinbare Sein sich auf in ein ungeheures Werden, welches Subject sowohl wie Object, den Seher wie das Gesehene, den Denker wie das Gedachte in seine Strudel reißt. Wenn aber dieses Ich als Außenwelt erkannt wird, nun so muß doch etwas da ein, was das Ich in diese Position versetzt; etwas da sein, was sich selber als im Gegensatz zur Außenwelt erkennt, also ein wahres Ich hinter, in diesem Schein-Ich versteckt? — Nein! Außer diesem Schein-Ich kann nichts da sein, weil wir es in toto erfaßt, gewissermaßen sein Entstehen belauscht haben. Unmöglich kann sich in mir, so weit ich Individualität, Ich bin, etwas Ewiges, eine Seele verbergen. Die Fähigkeit des Erkennens, die Fähigkeit, dieses Ich als Schein-Ich zu begreifen, ist gleichfalls nur Function dieses Schein-Ich. Gleich den übrigen fünf Sinnen ist das Erkennen, die Persönlichkeit producierend, selber Product der Persönlichkeit. Wie die kühle Hand am eigenen Rumpf sich wärmt, so nimmt Erkennen aus eben jener Körperlichkeit, aus der es entstanden ist, auch die Fähigkeit, aus der Form des Nichtwissens in die Form des Wissens überzugehen. Das ist nur das Einzigartige in der Stellung, welche Erkennen in der Form des Erkennens vom Ich als Nicht-Ich, Erkennen als Wissen einnimmt, daß es nicht die Tat, d.h. neues Leben, d.h. 146 neue Persönlichkeit produciert, sondern die Tat, welche zur Aufhebung der Tat führt, d. h. zur Auflösung der Individualität. Übergang von Erkennen als Nichtwissen in Erkennen als Wissen ist gleichbedeutend mit jener Tätigkeit, jenem Prozeß, in dem Individualität sich auflöst. Ich produciere Wissen, heißt: Ich löse mich selber auf, und Erlöstsein ist nichts als die unerschütterliche Gewißheit des Erlöstseins. Erkennen, welches seine specifische Function ausübt Erkennen als Wissen ist von dem communen Erkennen als Leben-schaffendem Sinn an sich nicht verschieden. Das Erstere ist aus dem Letzteren lediglich durch Belehrung hervorgegangen. Nichts als Aufnahmefähigkeit des Erkennens, die Belehrungsfähigkeit schafft den Boden für die Erlösungslehre des Tathagata. So wird nicht auf Grund einer Intuition, sondern auf Grund von Erkenntnistatsachen, die sich Schritt für Schritt aus dem allgültigen Naturgesetz von Grund, und Folge ableiten lassen, nicht allein der Körper als Ganzes, sondern auch seine feinsten Teile und die auf denselben basierten Lebensäußerungen in ein ständiges Werden, ein flammengleiches Entstehen und Vergehen verwandelt, welches nur deshalb den Schein der geschlossenen Körperlichkeit erweckt, weil die einzelnen Zuckungen völlig jenseits des Bereiches unserer Sinne liegen. Ebenso wie die Flamme in ihren einzelnen Partikelchen in übersinnlicher Schnelligkeit jeden Moment tausendfältig geboren wird und tausendfältig stirbt, ebenso auch der Körper. Und wie bei der Flamme die Summe dieser Werdemomente, von denen jedes einzelne jenseits der Grenzen unserer Sinne liegt, sich zum Scheinbild des Flammenkörpers summieren, so auch die Masse der Werdemomente des Individuums zum Scheinbild dieses Leibes, dieses durch und durch flackernden Dinges, von dem es daher mit Recht heißt: „Zerstörung ist ein Element, nicht ist in ihm ein fester Kern.― (SamyuttakaNikayo) 147 So schaute der Buddha das Leben an. Darum verglich er den Leib der Schaumblase, die Gefühle dem Gischt beim Wolkenbruch, die Wahrnehmungen der Luftspiegelung zur Sommerszeit, die Unterscheidungen dem Pisangstamm, der Holz vortäuscht, in Wirklichkeit aber aus aufgerollten Blattscheiden besteht. Das Bewußtsein aber verglich er dem Blendwerk eines Gauklers, und mit Recht erkennt der Wissende: „Leer ist das von mir und mein.― Modern ausgedrückt könnte man sagen: Die ganze Körperlichkeit, nicht nur in ihrem vegetativen, sondern auch in ihrem geistigen Teil, war ihm ein Verbrennungs-, ein Oxydationsproceß. In jenem eigenartigen Sutta ‚Der Ameisenhügel‘ heißt es: „Was er (die Persönlichkeit) für das Tagewerk in der Nacht überlegt und erwägt, das ist das Rauchen bei Nacht. Was er nach der nächtlichen Überlegung und Erwägung am Tage in Taten, Worten und Gedanken wirkt, das ist das Flammen bei Tage.― Freilich auch die Brahmanen hatten schon so das Leben aufgefaßt. Das Specifische in des Buddha Anschauung lag nur darin, daß in seinem Denken alles in diesen Oxydationsproceß hineingerissen wurde, daß in der tiefen Glut seines Denkens der ewige Kern, die Seele mitverbrannte, jede Differenz fiel; der Dualismus von Leib und Seele fiel ihm in Eins zusammen, aber nicht in die absolute Einheit ‚Geist, Seele‘ oder ‚Materie‘, sondern in die Doppeleinheit ‚Werden‘. Das Verblüffende ist nur, daß es Materie und Avijja sind, aus denen diese Doppeleinheit, diese Lebenseinheit hervorgeht. Wie in der Arithmetik — mal — zum + wird, so wird aus dem Aufeinanderwirken der beiden Unmöglichkeiten par excellence, der beiden Grundunmöglichkeiten das Grundproduct, die Tatsache par excellence: Leben. Weshalb aber sind Materie und Avijja die beiden Grundunmöglichkeiten? Weil sie in ihrer reinen, ungemischten Form undenkbar sind. Jeder Versuch sie zu denken, ruft sofort die Vereinigung beider, das Geformte, Individualität hervor. Hierin haben wir den besten Ausdruck für die Unmöglichkeit 148 des Lebens als realer Einheit. Alle dahin zielenden Versuche müssen scheitern oder im Glauben endigen. — Doch nehmen wir den unterbrochenen Faden wieder auf: Und jetzt, nachdem im Denken nicht nur das ganze Weltall, sondern auch mein eigenes Ich aus dem scheinbaren Sein in ein rastloses Werden sich umgewandelt hat, erst jetzt, nachdem ich nicht nur in diese gärende Leidensmasse untergetaucht, sondern in ihr selber aufgelöst, selber Leiden geworden bin, erst jetzt, nachdem auch der letzte Rest der Ichheit in diesem mikroskopischen Sehen sich verflüchtigt hat, im untergehenden Nichtwissen verschwunden ist, wie die Schatten mit der untergehenden Sonne schwinden, erst jetzt ist das große Moment da, in welchem wie durch einen Trick des Genies die wunderbarste aller Metamorphosen vor sich geht: Die Umwandlung des Leidens in die Erlösung. Denn da all Leiden Bewußtsein voraussetzt, am Ich, an der Individualität haftet, wie der Regen an der Wolke, so muß ja auch das Leiden verschwinden, wenn kein Ich mehr da ist. Das Ich aber, weil in wahrem Denken in toto als Leiden erkannt, ist in toto als Nicht-Ich erkannt. Das Ich in toto als Nicht-Ich erkennen, heißt es in toto aufheben. So hebt sich im Denken mit dem Ich auch das Leiden auf. Leiden wissen heißt das Ich als Nicht-Ich wissen; das aber ist Erlösung. Das ist der erste Gruß aus jener andern Ordnung der Dinge, der wie ein Hauch den gequälten Geist anfächelt. Man beachte wohl: Nicht dieser Leib, soweit er aus den Elementen besteht, muß schwinden, um das Leiden schwinden zu lassen, sondern dieser Leib, soweit er ‚Name und Form‘, Individualität ist. Nicht an den Elementen, den Körperconstituentien haftet das Leiden, sondern am Bewußtsein, am Ich. Wie Leiden nichts ist als Bewußtsein vom Leiden, so ist Erlösung nichts als Bewußtsein der Erlösung. Mit Recht konnte daher der Buddha sagen: „Mich bezichtigen, ihr Mönche, einige Asketen und Brahmanen grundloser, nichtiger Weise, fälschlich, mit Unrecht: 'Ein Verneiner ist der Asket Gotamo, des wirklichen Lebens 149 Zerstörung, Vernichtung, Aufhebung verkündet er.' Was ich nicht bin, ihr Mönche, nicht rede, dessen bezichtigen mich jene Asketen und Brahmanen. Nur eines, ihr .Mönche, verkündige ich heute wie immerdar: Das Leiden und des Leidens Ausrodung.― Der Wissende sieht: Die Tür, die aus dem Gehäuse des Leidens hinausführt, liegt in mir selber. Ich selber habe Macht sie zu öffnen. Löse ich das Ich, so löse ich auch das Leiden auf. Wie das Feuer aufhört, wenn nichts Brennbares mehr da ist, so Leiden, wenn nichts von Ich mehr da ist. Als ScheinIch, als Werden, als ein Product der sechs Sinne gleich der ganzen Außenwelt, muß es stehen -und fallen mit der Tätigkeit dieser Sinne, muß von den Sinnen her, d. h. durch mich selber auflösbar sein. Ist das nicht aber ebenso, als wenn das Licht sich selber auslöschte? — Nein! diese Auflösung entspricht nicht dem sich selber auslöschenden, sondern dem aus Mangel an Brennstoff ausgehenden Licht. Und dieser Mangel an Brennstoff wird herbeigeführt lediglich durch den Übergang des Erkennens als Nichtwissen in Erkennen als Wissen. Weil Aufhebung des Ich gleichbedeutend ist mit dem Aufheben einer Täuschung, darum ist Ich vom Ich aus aufhebbar. Nichts wird zerstört, nichts wird verneint, nichts wird nicht-gewollt außer Nichtwissen, d. h.: nur falsches Erkennen wird durch Belehrung in richtiges Erkennen übergeführt. Ja, lassen wir selbst falsch und richtig beiseite, sagen wir nur: Das alte Erkennen wird durch ein neues ersetzt. Beide arbeiten in der gleichen Weise, Erkennen hier wie da, nur die Substrate haben sich geändert: Das alte Erkennen arbeitet auf dem Substrat ‚Ich‘ als Seiendem, das neue auf dem Substrat ‚Ich‘ als Werdendem, als Nicht-Ich. Daher ist die Tätigkeit des ersteren ewig Leben schaffend, die des letzteren für ewig Leben aufhebend. Das erstere ist gleich Tat, das letztere gleich Tat, die zur Aufhebung der Tat führt. 150 In welchem Sinn der Leib Product der sechs Sinne ist, haben wir oben gesehen. Das Haften der Sinne ist das lebengebende Moment. Dieses Haften aber kann in der Form der Lust (lobo), in der Form des Hasses (doso), in der Form des Wahnes (moho) bestehen. Sie sind des ‚Daseins tiefste Wurzel‘. Das Feuer der Individualität ist entzündet durch Lust, Haß und Wahn, d. h. durch die drei Arten des Wollens. An einer Stelle heißt es: „Vier Arten der Nahrung, ihr Mönche, sind für die Wesen vorhanden, den entstandenen zur Erhaltung, den entstehenden zur Entwicklung; welche vier? Elementare Nahrung, grob oder fein, zweitens Berührung, drittens geistiges Innewerden, viertens Bewußtsein. Und wo, ihr Mönche, ‘ wurzeln diese vier Arten der Nahrung? Sie wurzeln in der Lebenslust.― Wie ein Feuer immer wieder neues Feuer anzündet und dieses immer wieder neues, so flammt aus dem einmal bestehenden Leben immer wieder neues Leben hervor, aus diesem immer wieder neues und so weiter in endloser Reihe. Als wenn Zündstoff und welkes Gras zusammentreffen, so ist der Contact der Sinne mit den Objecten. Immer wieder aufs neue flackert aus der Berührung die Lebensflamme hoch. Und wie ein Feuer, dem die Nahrung nicht ausgeht, ewig brennt, so auch dieses Lebensfeuer, solange die Sinne immer neue Nahrung schaffen. Daher leben wir ewig durch unsere Sinne. Daher haben wir von Ewigkeit her durch unsere Sinne gelebt; denn Berührung schafft Lust, Lust schafft Tat, Tat schafft Folge, d. h. neues Leben. Hier, in unserem Wollen zum Leben, Hängen am Leben liegt die Kraft, welche ewig jenes Spiel von Action und Reaction unterhält. Daher: ‚Ohne Anfang, ohne Ende ist der Samsara‘, diese Welt des Leidens. Ende, Erlösung ist nur möglich, wenn die Sinne aufhören, der Lebensflamme neue Nahrung zuzuführen. Wie aber ist das möglich? — Das gewaltsame, äußerliche Abwenden der Sinne von den Objecten genügt nicht; denn es gibt einen sechsten Sinn, das Denken, der auch bei geschlossenen fünfen weiterarbeitet, und „all unser Wesen hängt am Denken, das Denken ist sein 151 Edelstes.― Der Buddha selber erzählt uns an mehr als einer Stelle, daß durch Gewaltmaßregeln keine Ruhe, keine Stille in das Herz kommt. „Da kam mir, so erzählt er, der Gedanke: 'Wie wenn ich nun mit aufeinander gepreßten Zähnen und an den Gaumen gehefteter Zunge durch den Willen das Gemüt niederzwänge, niederdrückte, niederquälte. Und ich zwang nun mit aufeinander gepreßten Zähnen und an den Gaumen gehefteter Zunge durch den Willen das Gemüt nieder, drückte es nieder, quälte es nieder. Gleich wie etwa, wenn ein starker Mann einen Schwächeren beim Kopf oder bei der Schulter ergreifend, niederzwingt, niederdrückt, niederquält, ebenso rieselte mir da bei meinem Bemühen der Schweiß aus den Achselhöhlen. Aber regsam war mein Körper, nicht ruhig geworden durch diese so schmerzliche Askese, die mich antrieb.― Gewaltsames Zurückhalten der Sinne ist nichts als eine Art der Action, welche die entsprechende Reaction hervorrufen muß. Wir müssen tiefer gehen, bis an die Wurzelfasern. Solange Sinne da sind, solange müssen sie tätig sein. Ihr Dasein an sich ist Tätigkeit. Wäre diese Tätigkeit an sich leben d. h. leidengebärend, so wäre Erlösung denkbar nur in der Auflösung unseres Ich als Materie, als Elemente. Eine derartige Auflösung ist aber unmöglich, weil wir nicht die Entstehung der Materie, der Welt begreifen können. Auslösbar, weil begreifbar, ist das Ich nur, so weit es ‚Name und Form‘, Individualität ist. Das genügt aber zur Erlösung, weil nicht an der Materie, sondern an der Form, am IchBewußtsein das Leiden haftet. — Weshalb ? — Weil erst im Ich-Bewußtsein das Wollen entsteht. Am Wollen haftet das Leiden, d. h. das Leben. Darum, soll Leben, d. h. Leiden aufhören, so muß Wollen aufhören. Hört Wollen auf, so hört das Haften der Sinne an den Objecten auf. Kühl ruhen beide aneinander wie Stahl und Feuerstein. Es ist keine Berührung, keine feuerschaffende Reibung, kein Wollen, keine Tat da. Ist keine Tat da, so ist auch keine Folge der Tat, kein Entstehen, kein gebärendes Karma. Wo kein Entstehen, ist, da ist auch 152 kein Vergehen. Wo weder Entstehen noch Vergehen ist, da ist auch kein Geborenwerden und Sterben, keine Persönlichkeit, kein Leiden. „Selig des Werdens und Vergehens Ruh.“ „Die Entstehung der Persönlichkeit, die Entstehung der Persönlichkeit, heißt es, o Ehrwürdige; was hat denn nun, o Ehrwürdige, der Erhabene über die Entstehung der Persönlichkeit gesagt?― so fragt jemand die gelehrte Nonne Dhammadinna. „Diese Lebenslust da, die Wiederdasein säende, das, hat der Erhabene gesagt, ist Persönlichkeit.― „Die Vernichtung der. Persönlichkeit, die Vernichtung der Persönlichkeit, heißt es, Ehrwürdige; was hat nun wohl der Erhabene über die Vernichtung der Persönlichkeit gesagt?― „Eben dieser Lebenslust vollkommen restlose Vernichtung, Abstoßung, Austreibung, Aufhebung, Verneinung, das ist Vernichtung der Persönlichkeit, hat der Erhabene gesagt.― An anderer Stelle spricht ein Mönch zum Buddha: „Möge der Erhabene mir in Kürze den Kern der Lehre klar legen, so daß ich, wenn ich so die Lehre gehört habe, einsam, zurückgezogen, wachsam, standhaft und ernsthaft bleiben möge.― „Durch Haften, o Mönch, kommt man zum Entstehen; durch Nicht-Haften kommt man nicht zum Entstehen― ist des Buddha kurze Antwort, aber jener versteht. (SamyuttaNikayo) Wie reimt sich hier nun Anfang und Ende? Oben ist gesagt worden: Dieser Körper gehört mir nicht und als Argument meine Unfähigkeit angeführt worden, irgendetwas an ihm zu ändern. Hier aber soll ich plötzlich, die Fähigkeit haben, ihn sogar völlig aufzulösen? — Dieser Körper gehört mir, insofern als er mein Wollen ist, er gehört mir nicht, insofern als er Folge, die Verkörperung meines Wollens ist. Ebenso gehört die Stimme mir, solange sie 153 als Gedanke in meiner Brust ruht; gehört mir nicht, sobald sie herausgetreten ist. Dieses Ich ist nichts als das, worin sich Ursache und Wirkung vereinen. Als Wirkung gehöre ich mir nicht mehr an, als Ursache bin ich absoluter Herr über mich. Anders ausgedrückt: Da diese Persönlichkeit etwas Werdendes, etwas jeden Moment neu Entstehendes, neu Vergehendes ist, so habe ich Macht, dem Neuentstehenden eine bestimmte Richtung zu geben, ihm Einhalt zu tun, nicht aber das bereits Entstandene in irgend einer Weise zu beeinflussen. Das hieße den Zeiger der Zeit in der Richtung der Vergangenheit drehen. Der Buddha aber blickt nicht rückwärts. Fest auf der rollenden Gegenwart stehend, blickt er unverwandt nur auf diese, als auf den Mutterschoß unendlicher Zukunften. Aber noch einmal: Soll Leben, d. h. Leiden aufhören, so muß Wollen aufhören. Wollen aber kann, ebenso wie die Tätigkeit der Sinne, nicht gewaltsam in Nichtwollen umgedreht werden; das gäbe nur eine neue Form des Wollens. Die Sinne müssen arbeiten, müssen die Objecte treffen; das liegt in der Tatsache ihres Daseins gegeben. Hilfe ist nur möglich, wenn das Substrat der Sinne so geändert wird, daß diese nichts mehr an den Objecten finden, woran sie haften könnten, daß jener naturgemäße Proceß der Sinnestätigkeit, unverändert weiter bestehend, nicht mehr Wollen und damit Leben schafft, sondern auf dem veränderten Substrat zum Nichtwollen und damit zur Aufhebung des Lebens führt. Sinnestätigkeit, Erkennen sind, wie zur Lebensentstehung, so auch zur Lebensaufhebung notwendig. Gewaltsames Abbrechen der Sinnestätigkeit ist nicht nur nicht nutzbringend, sondern hindert die Erlösung. Im System des Buddha wird nichts abgebrochen, nichts unterdrückt, sondern nur das Erkennen wird berichtigt, und mit diesem berichtigten Erkennen weiter gearbeitet. Wie wird nun aber das Substrat der Sinne so geändert, daß diese nichts mehr zu haften finden? — Eben durch diese Änderung, die mit dem Erkennen vorgeht, durch den 154 Übergang des Nichtwissens in Wissen. Wer Leben, Welt, Ich als Werdendes, in seiner leidvollen Vergänglichkeit erkannt hat, der findet nirgends mehr etwas, woran er haften könnte. Denn woran soll er haften, wenn er weiß, daß in Wahrheit kein ‚Selbst‘ da ist, das da haften könnte und kein ‚Anderes‘, an dem es haften könnte; daß alles in dieser ‚Daseinsschwangern Wandelwelt der Geburten‘ nur ein sich ständig wandelndes Conglomerat von Gestaltungen ist, ein Haufe Sankhara, durch den Haken der Lebenslust zur Form aufgespießt. Wie Ameisen um eine Beute sich sammeln und so einen Ameisenkörper bilden, so ballen sich diese fünf Khandhas zur Scheinform dieses Leibes zusammen, der gezeugt ist von der Lebenslust und geboren ist vom Kammam. Daher: „Durch Egoismus entstanden ist diese Körperlichkeit.― Der so Erkennende, der findet nichts mehr zu haften. Wo nichts mehr zu haften ist, da ist nicht nur kein Wollen, sondern auch keine Möglichkeit zum Wollen. Das meinte der Buddha, als er zu seinen Jüngern sprach: „Als ich so erkannte, o ihr Jünger, da ging aller Lebensmut in mir unter.― Wo keine Möglichkeit zum Wollen, da keine Möglichkeit zur Tat und ihrer Folge, da kein Leben, da kein Leiden. „Durch die Auflösung jenes Haftens wird der Lebenstrieb aufgelöst, durch die Auflösung des Lebenstriebes das Sein, durch die Auflösung des Seins die Geburt, durch die Auflösung der Geburt werden Altern und Sterben, Wehe, Jammer, Leiden, Gram und Verzweiflung aufgelöst.― Mit der Hebung des Lebenstriebes, des Wollens hat das endlose Spiel des Sich-Zusammenschließens der Khandhas zu neuer Form ein Ende. Die Balken, die Materie sind da, aber es fehlt der Baumeister, das Kammam. Wie die Flamme nicht entsteht, wenn Kiesel und Stahl nebeneinander liegen, sondern nur, wenn sie sich aneinander reiben, so entsteht diese Lebensflamme, nur, so lange das Feuer der Lust, des Hasses, des Wahnes da ist. Ist dieses im wahren Wissen zu Grunde gegangen, ist jene Sattigkeit des Erkennens eingetreten, das von der ganzen Welt sagt: „Ich mag nicht,― eben weil es sie 155 erkannt hat, so mögen die Sinne immerhin auf die Objecte treffen: kühl und still gleiten sie hier ab, wie der Wassertropfen vom Lotusblatt, ohne es zu benetzen, wie das Sesamkorn von der Spitze der Nadel, ohne zu haften. Und wie die in der Luft sich drehende Schraube das Schiff nicht vorwärts treibt, wie die sich nicht berührenden Mühlsteine das Korn nicht mahlen, so schaffen die ohne Wollen arbeitenden Sinne kein Leben. Das ist das wahre, einzige, endgültige Ende, das Ende der ‚Anhaftungen‘, wenn die Sonderheit Wahrnehmungen, wodurch auch immer bedingt, an den Menschen der Reihe nach herantreten und da kein Entzücken, kein Entsprechen, keinen Halt finden. Und so wird Leidenwissen gleichbedeutend mit Erlösung. Wie Nichtwissen und Wollen, so bedingen sich Wissen und Nichtwollen, sind ineinander geschlungen, aneinander gebunden, wie in der Flamme Licht und Wärme. Und wie man von den Füßen des Laufenden nicht sagen kann: Der Linke ist der vordere oder Rechte —, so kann man auch, hier nicht sagen: Wissen ist das Primäre oder Nichtwollen. Ein Nichtwissender, ein von Lebenslust Getriebener, ist wie einer, der, auf eilendem Wagen dahinsausend, auf die Räder hinabblickt, die ihm in der Hast ihres Drehens das Bild der geschlossenen Scheibe vortäuschen. Der denkende Geist aber, der im Denken den Lebenstrieb schwächt, der ist wie einer, der Peitsche und Stachel ruhen und die Rosse langsamer gehen läßt. Ein solcher fühlt nicht nur die Süßigkeit der Ruhe, sondern, hinabblickend auf die Räder, sieht er mit Staunen, was ihm bisher als volle Scheibe erschienen war, als wirbelnde Speichen wieder. Und je langsamer die Sinnesrosse gehen, je klarer erkennt er, je stärker schmeckt er „den Geschmack der Wahrheit, den Geschmack der Lehre, den Geschmack der Erlösung.― Und je klarer er erkennt, je stärker er schmeckt, um so langsamer fährt er, bis er schließlich still steht. Im nachdenklichen Staunen über das große Wunder des Werdens vergeht ihm all Wollen, all Tun. Jener alte Philosoph nannte das Staunen den Beginn aller Philosophie. Alle wahre 156 Philosophie, alle Philosophie, die lediglich auf dem Staunen, dem Grübeln beruht, ist Lebenauflösend. Des Buddha Lehre ist ihrer einen Hälfte nach reinste Philosophie, ihrer andern Hälfte nach, ist sie Sittenlehre. Zur Religion wird sie dadurch, daß beide Hälften untrennbar sich ineinanderschlingen. Wie bei einem auf beiden Seiten beschriebenen Blatt eine Seite nicht von der andern trennbar ist, so im System des Buddha Moral und Wissen. Moral aber ist nichts als das in bestimmte Formen gebrachte Wollen (Nicht-wollen). Ohne Moral kein Wissen, ohne Wissen keine Moral. Mit der Moral steigt das Wissen, mit dem Wissen steigt die Moral. „Wie man mit der Hand die Hand und mit dem Fuß den Fuß wäscht, so wird auch Rechtschaffenheit durch Weisheit geläutert, und Weisheit durch Rechtschaffenheit." Wie ein Mann, der einen Handel anfängt und durch Geschick und Anleitung einen Überschuß erzielt, mit diesem Überschuß den Handel vergrößert und damit wieder den Überschuß usw., so wächst im Zügeln der Sinne das Erkennen und im Erkennen die Neigung und Kraft zum Zügeln der Sinne. So muß aber doch schließlich ein erster Anstoß da sein, der den Geist auf diesen Weg hinführt? — Ja, es ist das Beispiel, die Belehrung anderer. Daher ist der Buddha der Erwachte, der Selbst-Belehrte, der Lehrerlose, weil in ihm dieser Gedankengang spontan entstanden ist. Wir hätten hier die wahre Weltentstehung, das Einsetzen aus Nichts, wenn nicht der Buddha, wie die Anfangslosigkeit der Welt, so auch die Anfangslosigkeit der Wahrheit und der die Wahrheit verkündenden Buddhas lehrte. Zahllos wie der Sand am Ganges sind die Buddhas, die vor diesem Gautama gekommen sind und nach ihm kommen werden. Das Samenkorn, das in diesem Gautama aufging, ist vor zahllosen Existenzen von einem der früheren Buddhas oder einem durch sie Belehrten gepflanzt worden; und nachdem es zahlloser Leben zu seiner Entwicklung gebraucht hat, ist es in dieser Existenz gereift und fruchttragend geworden. Selbst die Entstehung des Buddha-Gedankens hat 157 nichts mit übernatürlicher Erleuchtung zu tun, sondern ist nur Folge früheren Grundes. Selbst hier werden wir von den Wellen dieses allgültigen Naturgesetzes überflutet. Und wie die Frage nach der Entstehung der Welt, so wird auch diese Frage der Unendlichkeit des Satzes vom Grunde unterstellt. Wenn nun aber ‚Ich‘ Täuschung ist, wenn kein Ich da ist, wie kann ich dann auf dem in dieser Existenz erworbenen Wissen in der nächsten weiterbauen, um so endlich Nirvana zu erreichen? Denn der Weg zum Nirvana ist lang und geht über viele Existenzen hin. Habe ich mit dem Ich nicht auch die Basis für mein Bauwerk fortgezogen und baue Luftschlösser? Wenn kein Ich da ist, fange ich dann nicht in jeder neuen Existenz immer wieder neu in meinem Streben zum Höchsten an, nicht unterstützt durch die Anhaftungen und Errungenschaften des vorigen Lebens? — O nein! Dadurch daß Avijja (Unwissenheit) gehoben wird, daß die Täuschung der Individualität verloren geht, jener auf dem Ich-Bewußtsein ruhende Wahn von Täter, Tat und Folge, wird Individualität in toto als Grund-Folge erkannt. Ist kein Täter da, so begehe ich nicht die Tat, sondern ich bin die Tat. Bin ich aber die Tat, so bin ich auch die Folge der Tat, in dem Sinne wie Reaction gleich Action, Eis gleich Wasser ist. ‚Ich‘ als Folge der Tat ist aber nichts als ein anderer Ausdruck für das Ich als wollendes. Der Gedanke: Ich bin nicht Täter sondern Tat, schließt den andern ein: Ich bin nichts als Tat, bin in toto Tat. Bin ich in toto Tat, so bin ich auch in toto Folge der Tat. Das heißt: Ich bin kein Woller, sondern ich bin Wollen. „Ich bin Wollen― heißt aber: Ich bin nichts als Wollen. Wollen und tun werden hier gleich, etwa wie ‚denken‘ und ‚zu sich selber sprechen‘. Der Buddha selber sagt: „Es ist Cetana (Wollen), das ich Kammam (Tat) nenne.― Erst im Eins-werden beider wird jene absolute Höhe der Moral erreicht, wie sie mit einem die Tat begehenden Ich, einem Ich, das nach Belieben sein Wollen zur Tat werden lassen kann, d. h. einer Seele und einem zu ihr gehörigen Gott unvereinbar ist. Im Gott- und Seele-Begriff liegt eine Abschwächung der Moral. Werden aber Tat und 158 Wollen gleich, so kann ich nicht nur sagen: Ich ‚erlebe‘ meine Tat, sondern: Ich ‚erlebe‘ mein Wollen, bin Creatur meines Wollens. Gleichzeitig wird aber Wollen begreifbar (weil Tat begreifbar ist). Nur dadurch, daß ich mich ganz als Wollen erkenne, ohne ein Ich, das da will und nicht will, nur dadurch werde ich Herr des Wollens. Nur in der Vollständigkeit dieser Erkenntnis liegt ihre Frucht. Denn nur in der Vollständigkeit dieser Erkenntnis werden Tun und Wollen gleich. Nur wo sie gleich werden, wird Wollen bedingt und damit, wie alles Bedingte, der Erkenntnis zugänglich. Wollen und Erkennen im System des Buddha bedingen sich gegenseitig. Wie mein Erkennen beschaffen ist, dem entsprechend wird auch mein Wollen beschaffen sein. Je mehr aber mein Erkennen vom Nichtwissen her sich dem Wissen nähert, umso reiner, klarer, verständiger wird auch mein Wollen sein. Die Höhe meines Wissens verwirklicht sich in meinem Wollen und mein Wollen bedingt meine nächste Wiedergeburt. War mein Wollen gut, wird auch meine Wiedergeburt eine gute sein, d. h. eine solche, in welcher der Geist schon frühzeitig sich vom Wünschen und Verlangen weg zum Nachdenken über die Vergänglichkeit wendet. In diese Form kleidet sich der Lohn für die Reinheit meines Wollens, und insofern ist das in einer Existenz erlangte Wissen für die nächste nicht verloren. Nun aber ferner: Wird das Ich zur Täuschung, so muß auch das Product dieses Ich, die Kraft, welche aus einer Existenz die nächste hervorgehen läßt, Täuschung sein. Ist kein Täter mehr, so ist auch kein Karma, kein Weltrichter mehr, und Lohn und Strafe haben aufgehört. So würde Moralität ein leeres Wort werden, und ich mich frei am andern versündigen können. — Welches ‚Ich‘, welcher ‚Andere‘, was für ein ‚Frei‘. Solange ich Taten tue, Wollen habe, solange ist ein Ich da, solange trifft mit eherner Notwendigkeit die Folge der Taten, mag ich zehnmal gelernt haben: „Es ist kein Ich und Karma eine Posse.― Ist aber wirklich kein Ich mehr da, nun wo ist denn da der Andere, das Andere? Hat sich nicht mit dem Ich alles andere aufgelöst, mit dem Täter der Betatete? Es ist 159 ja niemand da, an dem mein Wollen sich betätigen kann, d. h. mit dem Ich fällt die Möglichkeit des Wollens, des guten wie des bösen. Eben weil Individualität hier in toto Grund-Folge ist, ohne Ewiges, ohne Seele, eben darum wird hier jenes ‚Jenseits von Gut und Böse‘, wie es dem Wissen im Vedanta mit seinem über alle Taten erhabenen Atman droht, zunichte. Hier bleibt die gute Tat stets gut, die böse Tat stets böse. Hier ist die Tat stets etwas Wirkliches. Solange Taten geschehen, solange ist Karma. Freiheit vom Karma ist erst da, wenn die Möglichkeit der Tat resp. des Wollens fällt. Erst wo kein ‚Ich‘ mehr ist, da ist auch kein Karma mehr, da ist aber auch kein ‚Du‘ mehr. Und damit zerfließen jene fürchterlich drohenden Folgen eines Lebens, welches sich im Wissen von aller Moral befreit, in nichts, wie eine Spukgestalt bei Tageslicht. So stürzt mit der Herausnahme des Ich-Selbst diese künstliche Zweiheit von Subject und Object, Woller und Gewolltem, Täter und Betatetem, diese Wandelwelt in die unbewegliche Einheit zusammen. Der Woller wie das Gewollte, der Erkenner wie das Erkannte, die Tat und ihre Folge, das Vorund Nacheinander, sie schnellen mit der Herausnahme des Ich, welches solange diese künstliche Trennung erhalten hat, zusammen, im Berühren sich zu jenem auflösend, das weder ‚Nichts‘ noch ‚Nicht-Nichts‘ ist. Nichts bleibt als, wie bei der gelösten mathematischen Aufgabe: Die Restlosigkeit. Tatsächlich weht uns etwas von der Kälte der Mathematik aus diesem System entgegen; aber anderseits lebt in ihm jene reinste, höchste Schönheit, jene ungefärbte Schönheit, wie sie nur der Mathematik eigen ist. Und etwas einer mathematischen Formel Ähnliches hat jener constante Schlußpassus, der als Ausdruck für den Besitz des höchsten Wissens dient: „Im Erlösten ist die Erlösung, diese Erkenntnis geht auf. — Vernichtet ist die Geburt, vollendet das Asketenleben, getan was zu tun war: nicht mehr ist diese Welt.― 160 Einer, der nach den Anweisungen des Buddha nachzudenken beginnt und im Wissen die Moralität und in der Moralität das Wissen stärkt, der ist gleich einem Pilger, der rüstig Schritt für Schritt der Heimat zuwandert. Und wie dieser, am Ziel angelangt, nicht mehr Pilger ist, nicht mehr in seiner Eigenschaft als Pilger existiert, so der zum Abschluß des Wissens Gelangte nicht mehr als Persönlichkeit, als Individualität. — Als was denn aber? — Darauf antwortet der Buddha nicht. Der Buddha zeigt nur den Weg zur Erlösung, er zeigt die Erlösung selber, aber nicht was nachher folgt. Und es ist das Kennzeichen des wahrhaft, ernsthaft Strebenden, daß alles, was nicht zur Erreichung seines Zieles gehört, kein Interesse für ihn hat. Auch jene andere Frage beantwortet der Buddha nicht: Woher ist nur zum ersten Mal jene auf der Unwissenheit beruhende Umwandlung von Grund-Folge in Täter, Tat und Folge eingetreten? Anders ausgedrückt: Woher stammt Avijja, dieses Ding, das Unwissenheit und Täuschung zugleich ist? — Die Antwort hier ist: Avijja setzt Individualität voraus, ist selber Individualität. Etwas vor der Individualität Stehendes gibt es nicht. Diese Welt, dieses ewig Werdende setzt die Sinne voraus, welche, betrogene Betrüger, den Schein des Seienden daraus machen. Die Sinne ihrerseits setzen diese Welt voraus, d. h. diese Körperlichkeit; denn Welt im buddhistischen Sinn ist nichts als die Gesamtsumme der leidenden und zu erlösenden Wesen. So laufen wir ständig an dieser Grenzlinie hin, an der Subjectives und Objectives zusammenfließen, und können hier ebensowenig ein Ende erreichen, wie der Eilende den Horizont erreichen kann. Jeden Augenblick meinen wir hinübergreifen zu können, aber wir haben das, was wir begreifen wollten, nur vor uns her geschoben. Aber auch das ist keine Lücke im System. Diese in immer neuen Verkleidungen auftretende Frage nach dem Anfang des Anfangs, nach dem realen ‚Eins‘ gehört nicht zum Programm des Buddha. Ganz offen, ganz ehrlich hat er die Welt mit ihren Entstehungsrätseln als gegebene Größe angenommen. Kein 161 Wunder, daß wir auch hier auf Unlösbares stoßen, sobald wir den Weg, der geradeaus zur Verneinung, zum Austritt, zur Erlösung führt, verlassen. Lobo, doso, moho (Lust, Haß und Wahn), die drei Formen des Wollens, d. h. der Unwissenheit, sie sind die drei Daten, mit denen das Rechenexempel des Buddha angesetzt ist. Sie sollen nicht erklärt, sondern ausgerechnet d. h. im richtigen Rechnen aufgelöst werden. Jener Mechanismus, welcher statt der Grund-Folge den Täter samt Tat und Folge vortäuscht, wird als gegeben vorausgesetzt. Der Buddha führt uns die Welt unter dem Bilde eines in vollem Lauf befindlichen Menschen vor, der zum Ziel rennt. Wir finden jenes unergründliche Wechselspiel zwischen Subject und Object bereits in vollem Gange. Wir ahnen auf Schritt und Tritt, daß jenseits dieser Zweiheit eine Einheit stehen muß, aber wir sind nicht fähig, dieselbe nach außen zu projicieren. Das wäre der Gott, der nur geglaubt, nicht begriffen werden kann. Versuchen wir aber, die Zweiheit nach innen zu, in uns zur Einheit zusammenfallen zu lassen, so stoßen wir auf das Selbstbewußtsein als den ersten Ansatzpunkt der Individualität. ‚Selbst‘ aber das ist ja eben die Täuschung aller Täuschungen, die zu heben der Buddha in der Welt erschienen ist. So entgleitet, was wir mühsam errungen zu haben, glauben, unsern Händen und verzweifelnd geben wir den Kampf auf. Wer freilich über solche Fragen grübelt, der ist wie einer, der über den Anfang der Welt grübelt. Und wie dieser nur den Abschluß finden kann dadurch, daß er den Gott statuiert, so müßte auch jener Grübler zu demselben Schluß kommen. Damit wäre er aber „in der Lebenslust gewaltiges Netz verstrickt.― Denn wer Gott glaubt, sehnt sich nach ihm; diese Sehnsucht aber ist die sublimste Form des Lebenstriebes. Damit wäre ein solcher für ewig ans Leben geschmiedet, der Weg zum Austritt ihm auf ewig versperrt. Freilich wo ein Gott ist, da ist Leben kein Leiden mehr. Ist Leben kein Leiden mehr, so ist es auch nicht mehr zu verneinen. Somit wäre auch die Anleitung zum Verneinen und somit der Tathagata 162 überflüssig. Aber wohl gemerkt: Gott muß geglaubt, und nicht mit dem Verstand ergrübelt werden. Dieser Gott, der ergrübelte, ist nichts als ein Product von mir und wird mir nie das Lebens-Leid in Lebens-Wonne verwandeln. Darum sei jeder auf der Hut, daß er nicht aus der auflösbaren Täuschung in die unauflösbare verfalle. Klar hat der Tathagata den Weg vorgezeigt; ihm folge der Verständige und bleibe in den angewiesenen Grenzen; ihm folge der Verständige und lasse sich mit jener Ansicht genügen „der heiligen, ausreichenden, die dem Denker zur völligen Leidensvernichtung ausreicht.― Wer sich so lenken läßt, wer so auf der gegebenen Basis verharrt, für den gibt es im System des Buddha nichts Unklares, Ungelöstes, Unvollkommenes. Vom ersten bis zum letzten Schritt liegt alles innerhalb unserer Individualität, ist von den Kräften, wie diese Individualität sie gibt, zu meistern ohne göttliche Gnade, allein durch Verstehen und Moralität. Darum ist diese Lehre, wie sie die einzige in der Negation auslaufende unter allen religiösen Lehren ist, so auch die einzige, die vom ersten bis zum letzten Schritt klar und greifbar dargelegt werden kann. Weil diese Aufgabe vom Buddha in vollkommener Weise gelöst worden war, darum konnte er mit Recht sagen: „Komm, o Bhikkhu! wohl verkündet ist die Lehre― und mit Recht konnte er seine Lehre diejenige nennen, die da ist „im Anfang vollkommen, in der Mitte vollkommen, im Ende vollkommen.― Denn wie Unwissenheit in diesem System gleichzeitig Täuschung ist, so ist Wissen in diesem System gleichzeitig Wahrheit, ein Ding, das den Beweis seiner Richtigkeit in sich selber trägt. 163 .-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-. (Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a/S.) .-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.- 164