Dahlke, Paul. Aufsätze zum Verständnis des Buddhismus Teil 1.

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Aufsätze
zum Verständnis
des Buddhismus
Erster Teil
Von
Paul Dahlke
BERLIN
C. A. Schwetschke und Sohn
1903
2
Vorrede
Die nachfolgenden Aufsätze enthalten nichts Neues,
Ungehörtes über den Buddhismus. Aber vielleicht
werden sie dazu dienen, das Verständnis einiger sog.
dunklen Punkte zu erleichtern. Wenn die Arbeit vor
mancher andern über den Buddhismus einen Vorzug hat,
so ist es der, daß sie nicht nur aus Bücherstudien, sondern
auch aus dem persönlichen Verkehr mit einheimischen
Gelehrten Ceylons und Birmas hervorgegangen ist.
Die Citate sind, soweit nicht andere Quellen angegeben
sind, der Hauptsache nach der mittleren Sammlung des
zweiten Buches des Pali-Kanons, dem Majjhima-Nikayo
entnommen, welches durch K. E. Neumanns schöne
Übersetzung zur bei weitem wertvollsten Fundgrube über
den Buddhismus geworden ist, welche die letzten
Jahrzehnte uns eröffnet haben.
Soweit es zum Verständnis notwendig erschien, sind die
Bezeichnungen in der Ursprache hinzugefügt worden.
Ohne Zweifel verdient hier das Pali den Vorzug vor dem
Sanskrit, weil unser Bestes über den Buddhismus aus den
Pali-Quellen stammt. Aber wir sind seit zu langer Zeit an
die Sanskrit-Namen gewöhnt, als das Ausdrücke wie
Dhammo (anstatt Dharma) oder Kammam (anstatt
Karma) u. s. w. in einem für Laien berechneten Buch
schon für sich allein bestehen könnten. Daher sind meist
Pali- und Sanskrit-Bezeichnungen zusammen gegeben,
resp. nur Pali, wo Pali-Quellen, nur Sanskrit, wo
Sanskrit-Quellen zitiert werden.
3
Bezüglich der Aussprache ist zu beachten, daß:
c = tsch (genauer etwa wie „t" zusammen mit dem
französischen „j" in jamais), j = dsch („d" zusammen
mit dem französischen „j"), n = n, s = seh, v = w y,
i = ist, „h" hinter dem Consonanten tönt deutlich mit (z.
B. Budd-ha, Magad-ha, b-hikk-hu), „s" tönt scharf (z. B.
Sramana, Sakya).
Das Buch erscheint in zwei Teilen, deren jeder zehn
Aufsätze enthält.
Hinweis des Herausgebers:
Die vorliegende Ausgabe als Datei beruht auf einer mit Hilfe eines
Texterkennungsprogramms erstellten digitalen Kopie des Druckwerkes von
1903 (Erster und Zweiter Teil).
Durch Fehler beim automatischen einlesen war die Lesbarkeit des Textes
erheblich eingeschränkt. Eine Bearbeitung erfolgte, um die Lesbarkeit
wieder herzustellen und evtl. einen Druck in einem heute gängigen Format
und Layout zu ermöglichen. Die Diktion, die Schreibweise und das Layout
der Originalausgabe von 1903 wurden weitestgehend beibehalten.
Im Juni 2016 / DOEB
4
Inhalt
Erster Teil
Seite
1.
Das Leben des Buddha
2.
Kurze Darstellung der Hauptlehrsätze
7
23
des Buddhismus
3.
Einige Charakteristika des Buddhismus
39
4.
Der Pessimismus und das Leiden
59
5.
Nirvana
75
6.
Gott
91
7.
Karma der Weltrichter
99
8.
Moral im Buddhismus
113
9.
Das Geben
131
10.
Das Wissen
137
5
6
Das Leben des Buddha
Der Buddhismus, jene wunderbare Lehre, welche das Leben
als Leiden predigt und doch frei von Pessimismus ist, welche
scheinbar stärksten Egoismus lehrt und doch voll höchster
Moral ist, welche das ‚Ich‘, die Seele leugnet und doch
absolute Verantwortlichkeit für unser Tun in den
Wiedergeburten lehrt, welche ohne Gott, ohne Glauben, ohne
Bittgebet doch die sicherste Erlösung bietet — diese
wunderbare Lehre wurde begründet von Gautama (Pali:
Gotamo) aus der hochadligen Familie der Sakya, der ‚stolzen
Sakya‘. Sein Vater hieß Suddhodana, seine Mutter Maya.
Seine Geburtsstadt war Kapilavastu (Pali: Kapilavatthu) am
Südabhang des Himalaya, im heutigen Nepal. Geboren wurde
er um 560 v. Chr. (nach anderen um 500 v. Chr.). Sein
Familienname war Siddhartha (Pali: Siddhattho). Im höchsten
Wohlleben erzogen, früh verheiratet und Vater eines Sohnes,
ging ihm im dreißigsten Jahre die Erkenntnis über die wahre
Natur des Lebens auf: Er erkannte, daß all Leben Leiden ist, er
fühlte es, und angeekelt, geängstigt verließ er ‚schwarzhaarig,
in der Blüte der Jugend‘ als Bettler den Palast seiner Väter, um
in religiösen Übungen und Kasteiungen Erlösung von diesem
Leiden zu finden. Jäh hatten ihn die Schrecken von Krankheit,
Alter und Tod aufgerüttelt. Es war ihm ergangen wie dem
Wanderer bei Nacht, der in schöner Landschaft zu sein glaubt:
Plötzlich tritt der Mond hervor und er erkennt den
Leichenacker rings um sich und den Galgen vor sich. So hatte
er sein bisheriges Leben erkannt. Einem solchen Zustand
mußte abgeholfen werden um jeden Preis. Nicht hohe Pläne,
sondern Widerwille und Ekel trieben hinaus.
Ganz Indien, zum mindesten das ganze religiöse Indien
(vielleicht bestand aber in Wirklichkeit kaum ein Unterschied
zwischen diesen beiden Begriffen) stand schon zu Gautamas
7
Zeit unter der Herrschaft jener fürchterlichen Phrase: Die
Askese läutert! Inmitten sonstiger unerhörter Freiheit der
Spekulation war dieses der fixe Punkt; und wie der
aufgespießte Falter um die Nadel, so drehte sich um ihn der
Flügelschlag all religiösen Lebens: Kein Heil ohne
Selbstpeinigung!
Auch Gautama ging diesen von so vielen anderen vor ihm
ausgetretenen Weg; er beschritt ihn mit dem Eifer der Jugend
und mit der Gewalt der Verzweiflung.
Nach sechsjähriger, bis zum Übermaß getriebener, aber
vergeblicher Bußübung ging ihm endlich unter dem
Bodhibaum in Uruvela die wahre Erkenntnis auf: Er wurde
zum Buddha (Pali: Buddho), das heißt zum Erleuchteten, zum
Erwachten. Hinter dem Ausdruck „Buddha" versteckt sich
nichts Übernatürliches. Er bedeutet nichts als das völlige
Durchschauen
des
allgültigen
Naturgesetzes
der
Vergänglichkeit. Buddha ist nichts anderes als einer, der
diesen spezifischen Gedanken von der Vergänglichkeit, den
jeder fassen kann, bis zum Ende verfolgt und verwirklicht hat.
Das hatte Gautama erreicht, anders ausgedrückt: Er erkannte
die Ursache des Leidens und damit dessen Vernichtbarkeit.
Seine Lehre, die später zur Religion wurde, war somit
gegründet. Lediglich das konzentrierte Streben nach
Leidenslosigkeit ist der Ausgangspunkt des Buddhismus, —
das Erreichen des Zustandes der Leidenslosigkeit ist sein
Endpunkt. Mit der Exaktheit eines Pendels schwingt
buddhistisches Denken nur zwischen diesen beiden Punkten:
zwischen Leiden und Leidenslosigkeit. — Für den Buddhisten
existiert nichts anderes, Außenliegendes, wie es für den in der
Arena Laufenden nur zwei Punkte gibt.
Sieben Tage lang, so berichtet die Legende, brachte Gautama,
jetzt der Buddha, am Fuße des Bodhibaumes zu Uruvela zu,
die Seligkeit der Erlösung genießend. Es war die Ruhe nach
dem Sturm sechsjähriger Askese.
8
Endlich wieder zu sich selbst gekommen, überlegte er: „Was
soll ich nun tun, nachdem ich dieses heilige Wissen, diese
Wissensklarheit erworben habe? Dieses Geschlecht, das nur
der Lust dient, wird mich nicht verstehen, und wenn ich meine
Lehre, die unter Schmerzen geborene, verkünde, so wird Plage
und Enttäuschung mein Lohn sein.―
So kam ihn das Verlangen an, sich in sich selbst genügen zu
lassen, aber Brahma Sahampati, so erzählt die Legende,
erschien vor ihm, ihn bittend die Welt nicht verloren gehen zu
lassen. Durch ihn überzeugt, erkannte der Buddha, daß unter
der Masse der Wesen wohl solche sein möchten, welche fähig
wären, die Tiefe der Lehre zu ergründen, und er entschloß sich
zum Predigen.
So machte er sich auf den Weg nach Benares, um dort den
fünf Mönchen, die ihn in seiner sechsjährigen Askese
umgeben hatten, die Wahrheit zu eröffnen. Unterwegs traf er
den nackten Asketen Upaka, der ihn fragte: „Dein Antlitz ist
so heiter-still. Wer ist der, als dessen Schüler du der Welt
entsagt hast?― Gautama aber, im Treiben seines Genius,
antwortet: „Ich habe keinen Lehrer. Mir ist keiner gleich. Ich
bin der Vollendete, der Buddha. Die Ruhe habe ich erreicht,
Nirvana gewonnen. Um das Reich der Wahrheit zu gründen,
gehe ich jetzt zur Stadt Benares. Dort will ich des Lebens
Trommel schlagen in dieser Welt der Dunkelheit.― — „So bist
du der Allbesieger?― fragt Upaka. — „Das Böse habe ich
besiegt, darum bin ich Allbesieger― —
In Benares kam der Buddha im Tierpark Isipatana an und traf
dort jene fünf Bhikshu (Pali: bhikkhu, Asket, Bettelmönch),
die er suchte. Als diese ihn von weitem sahen, sprachen sie
zueinander: „Dort kommt jener Gautama, der die Askese
aufgegeben hat und jetzt ein Wohlleben führt. Laßt uns ihn
nicht empfangen.―
Als aber der Buddha herankam, da entfielen ihnen ihre
Absichten. Der eine nahm ihm Schale und Kleid ab, der
andere bereitete den Sitz, der dritte brachte Fußwasser u. s. w.
9
Und nun spricht der Buddha zu ihnen: „Hört, ihr Mönche, das
Totlose (amatam) ist gefunden.― Die aber wehren ab, weil sie
das Vertrauen zu ihm Verloren haben. Zweimal noch muß er
seine Aufforderung wiederholen, nachdrücklich fragen „Habe
ich je zu euch so gesprochen?" Da endlich geben sie nach, und
der Buddha legt sein Gesetz von Grund und Folge, vom
Leiden und vom Pfad der Mitte dar. Gautama Buddha beginnt
seine Laufbahn als Lehrer der Welt.
Es folgen nun die Bekehrungsgeschichten einzelner Personen,
meist social und geistig hochstehender Leute, und ganze
Philosophenschulen, und damit reißt der fortlaufende Faden
über den Lebensgang des Buddha ab, soweit er uns im
Mahavagga, einem Teil des ersten Buches des Palikanon,
gegeben wird. Erst im Sutta-Pitakam, in dem großen
Parinibbana-Sutta folgt nach langer Lücke die Fortsetzung. Es
ist der Bericht über die letzten Lebenstage des Buddha, der
hier gegeben wird. Zwischen dem Bericht des Mahavagga und
diesem hier liegt somit ein Zeitraum von etwa 45 Jahren.
In der Stadt Rajagriha (Pali: Rajagaham), einem seiner
Lieblingsaufenthalte, treffen wir den Erhabenen wieder. Mit
Ananda (Pali: Anando), seinem Lieblingsschüler, und von
einer Menge Mönche begleitet, tritt er von hier aus seine
gewohnten Wanderungen von Ort zu Ort an, überall religiöse
Discurse haltend. Immer wiederholt sich dasselbe Thema:
„Groß, wahrlich, ist die Frucht, groß, wahrlich, ist der Lohn
standhaften Nachdenkens, wenn gestützt durch richtiges
Benehmen. Groß, wahrlich, ist die Frucht, groß der Lohn der
Einsicht, wenn gestützt durch standhaftes Nachdenken. Der
Geist, gestützt durch Einsicht, wird befreit von den großen
Übeln: von der Sinnlichkeit, der Persönlichkeit, der
Täuschung, der Unwissenheit.―
Immer weiter wandernd, weiter predigend kam er nach der
reichen Stadt Vesali, wo er der Gast der Courtisane Ambapali
war. Von hier begab er sich nach dem nahen Ort Beluva und
entließ die Mönche, um selber wie alljährlich die
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dreimonatliche Regenzeit (vassa) hier zuzubringen. Hier nun
überfällt ihn schwere Krankheit, er aber denkt: „Es würde
nicht recht sein, aus dem Dasein, zu scheiden, ohne zu den
Jüngern geredet zu haben. Ich will durch eine
Willensanstrengung diese Krankheit niederzwingen und mich
am Leben halten, bis die Zeit da ist.― Und die Krankheit
weicht von ihm.
Nach abgelaufener Regenzeit läßt er die Gemeinde
zusammenrufen, ermahnt die Brüder und teilt ihnen mit, daß
sein Lebensende in drei Monaten erreicht sein würde. Dann
tritt er seine Wanderungen wieder an. Im Ort Pava wird er
vom Schmied Cunda im Mangohain bewirtet und bald danach
wieder von einer heftigen, schmerzhaften Krankheit
überfallen. Er trägt geduldig, aber auf dem Wege zwischen
Pava und Kusinara bricht er zusammen. Nachdem er sich
durch einen Trunk Wasser gestärkt, wandert er weiter und
kommt im Salahain von Kusinara an, der letzten Station seiner
Wanderschaft. Zwischen zwei Salabäumen läßt er sich sein
Ruhelager bereiten und, so heißt es, die Bäume lassen einen
Schauer von Blüten auf ihn herabfallen, trotzdem es nicht die
Jahreszeit ist. Da spricht der Buddha zu Ananda: „Siehe! ganz
voll Blüten sind diese Salabäume außer ihrer Zeit; einen
Blütenregen lassen sie auf den Leib des Tathagata*)
herabfallen aus Ehrfurcht für den Nachfolger der Buddhas der
Vorzeit. Aber das ist nicht die Weise, o Ananda, wie der
Tathagata wahrhaft geehrt wird, sondern dadurch, daß das
Gesetz befolgt wird, dadurch ehrt man wahrhaft den
Tathagata.―
Noch einmal beruft er dann seine Mönche, noch einmal fragt
er sie, ob in einem von ihnen irgendein Zweifel über
irgendeinen Punkt der Lehre verborgen liege: „damit ihr nicht
später bereut, mich nicht gefragt zu haben, als ich noch unter
euch weilte.―
*) Tathagata bedeutet dem Sinne nach ‚der Vollendete‘. Neben
Bhagavat (der Gesegnete) ist es das häufigste Beiwort des Buddha
11
Als alles schweigt, folgt seine letzte Ermahnung, die letzten
Worte aus seinem Munde: „Ich ermahne euch, o Brüder: Alles
was entstanden ist, muß auch vergehen. Kämpft für euer Heil
ohn Unterlaß.― So preßte er diesen letzten Atemzügen noch
einmal den Stempel seines ganzen Lebens und seiner ganzen
Lehre auf.
Man setzt sein Todesjahr etwa auf 480 (resp. 420) vor unserer
Zeitrechnung.
Von den achtzig Jahren seines Lebens waren fünfzig einer
Unermüdlichen Lehrtätigkeit, einem einzigen Gedanken
gewidmet, und mit Recht konnte er, als er, das Sterben vor
sich, einmal noch den Blick hinter sich wandte zu Subhadda,
seinem letzten Schüler, sagen:
„Kaum dreißig Jahre war ich alt, Subhadda,
Als ich die Welt ließ, nach dem Höchsten suchend
Und fünfzig Jahre dann und eins, Subhadda,
Bin ledig wohl ein Pilgrim ich gewesen
Im weiten Reich der Tugend und der Wahrheit.
Merke: Nur in ihm allein ist Heil zu finden.“
Es ist nicht viel, was wir vom Leben dieses Außerordentlichen
wissen. Vor allem vermissen wir schmerzlich die feineren
Züge. Es fehlen die Farben. Die Sutras (Pali: Suttam), die
Lehrreden, welche der Buddha selber gehalten hat, füllen diese
Lücke nicht genügend aus. Vom Persönlichen erfahren wir in
ihnen nicht viel mehr, als daß der Erhabene zu der und der Zeit
da und da weilte, etwa zu Savatthi im Garten Anathapindikas
oder im Bambushain zu Rajagaha u. s. w. Stets und überall ist
der buddhistische Stil der gleiche. Jener Mangel an Wärme,
jene Affectlosigkeit, die auch sonst dem System anhaften,
machen sich hier besonders störend bemerkbar. Nie hat der
Buddha wie Christus oder Paulus geeifert, von der finstern,
tödlichen Glut der alten Propheten gar nicht zu reden. In der
Legende heißt es vom Buddha: „Die Würde der Erscheinung
macht ihn kenntlich als wie den Tempel die gestickte Flagge.―
12
Diese bis zur Schwerfälligkeit gesteigerte Würde
charakterisiert auch seine religiösen, Gespräche. In erhabener
Gleichförmigkeit fließt der Discurs dahin, sorgfältig in jeder
Äußerung das Maß wahrend. Unter der Last schematischer,
endloser Wiederholungen wird jedes Aufschnellen unmöglich
gemacht. Kaum daß, wenn einer aus der Gemeinde in
ketzerische Ansicht verfallen ist, für einen Augenblick der
Affect durchleuchtet. „Mißverständigen Sinnes, o Tor, willst
du uns verbessern und gräbst dir selbst das Grab und schaffst
dir schwere Schuld. Das wird dir, o Tor, lange zum Unheil,
zum Leiden gereichen.― Damit aber gleitet auch die Rede
schon wieder in die ruhige Form zurück.
Selten auch sehen wir den Discurs in selbständiger, lebendiger
Rede und Gegenrede sich abspielen. Selten erfolgt auf eine
directe Frage die directe Antwort. Durch eine Gegenfrage wird
vielmehr der Frager auf sich selbst zurückgeworfen. Wenn er
hier in sich die zu einer ersprießlichen Beweisführung nötige
Basis gefunden hat, dann beginnt der Buddha sein stereotypes
System von Fragen, dem ein ebenso stereotypes System von
Antworten folgt.
Nie wird vom Buddha gesagt, daß er lächelte oder weinte.
Solche Sätze wie: „Da ergrimmte er im Geist und betrübte sich
selbst, und ihm gingen die Augen über― haben keinen Platz im
buddhistischen Kanon. Nur die Legende erzählt, daß der
Buddha lächelte. Als z. B. bei seiner Rückkehr nach
Kapilavastu, seiner Vaterstadt, sein Schwiegervater ihm mit
Schmähungen den Weg vertrat, da lächelte der Buddha. „Das
war, heißt es ausdrücklich, das erste Mal, daß er lächelte seit
seiner Buddhaschaft.―
Das Untertauchen in menschliche Gefühle ist nicht Sache des
Buddha. Affect ist Unwissenheit. Selten nur sehen wir über
diese eherne Klarheit, die sich hoch erhaben über alles
Menschliche hinspannt wie der Himmelsdom über die Erde,
hellen Wolken gleich Gefühle hinstreichen. Aber es mag wohl
sein, daß hieran nicht der Mann, sondern nur der starre
13
Überzug buddhistischer Diction schuld ist. Die Persönlichkeit
Gautama Buddhas ist zu groß, zu vielseitig, als daß ihr irgend
etwas Menschliches sollte ferngeblieben sein.
Wie rührend, wie zart ist z. B. jene Episode, die uns das
Mahaparinibbana-Sutta erzählt: Der Lieblingsjünger Anando
steht, fassungslos vor Trauer über das bald zu erwartende
Abscheiden des Buddha, hinter der Tür und weint. Da ruft ihn
der Buddha zu sich und tröstet ihn wie die Mutter ihr Kind
tröstet: „Laß gut sein, Ananda. Weine nicht. Habe ich es dir
nicht oft gesagt, daß das der Lauf der Dinge ist, daß wir uns
von allem was uns lieb und teuer ist, trennen müssen. Wie
sollte es wohl möglich sein, daß etwas, das entstanden ist,
nicht auch vergehen sollte?―
Ein andermal trifft er einen kranken Mönch hilflos und
verlassen in seiner Zelle liegen. Da ermahnt er seine Mönche:
„Ihr habt nicht Vater, nicht Mutter; so seid euch selber Vater
und Mutter. Wie ihr mich selber verwarten würdet, so
verwartet auch die Kranken.― (Mahavaggo).
Wenn Mönche von fern her zu ihm kommen, so hält er es
nicht für unter seiner Würde sie zu fragen: „Wie steht es mit
dir, o Mönch? Hast du Mangel an Nahrung gehabt? Hast du
eine beschwerliche Reise gehabt?― Auch die Geißel des
Spottes weiß er wohl zu schwingen: Eines Tages saß der
Erhabene unter einem Laubbaum, sich der Meditation
erfreuend. Da kam der vornehme Stutzer Dandapani, begrüßte
den Erhabenen und auf seinen Spazierstock gestützt frug er
von oben herab: „Was bekennt und verkündet der Asket?― —
„Daß er durch nichts auf der Welt aus der Fassung gerät, daß
dem Heiligen, der keine Fragen mehr stellt, jeden Unmut
vertilgt hat, weder Dasein noch Nichtsein begehrt,
Wahrnehmungen nicht anhaften. Das bekenne ich, Bruder, das
verkündige ich.― (Heißt auf gut Deutsch: Du bist Luft für
mich.)
Die Art des Verkehrs mit seinen Mönchen spiegelt sich in
folgender Episode des Sutta vom ‚Heiligen Ziel‘ wieder: „Da
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nun begaben sich viele Mönche zum ehrwürdigen Anando und
sagten zu ihm: „Lang ist her, Bruder Anando, seitdem wir vom
Munde des Erhabenen ein lehrreiches Gespräch gehört haben.
Gut wäre es, Bruder Anando, wenn wir vom Munde des
Erhabenen ein lehrreiches Gespräch zu hören bekämen.―
„Wohlan, Ehrwürdige, so begebt euch, zur Klause des
Brahmanen Rammako. Vielleicht werdet ihr vom Munde des
Erhabenen ein lehrreiches Gespräch zu hören bekommen.―
„Das wollen wir tun, Bruder― erwiderten da jene Mönche dem
ehrwürdigen Anando. Nachdem nun der Erhabene in Savatthi
von Haus zu Haus getreten und vom Almosengange
zurückgekehrt war, wandte er sich nach dem Mahle an den
ehrwürdigen Anando: „Komm, Anando, laß uns in den
Osthain gehen zu Mutter Migaros Terrasse und bis gegen
Abend dort verweilen.―
„Wohl, o Herr― erwiderte der ehrwürdige Anando dem
Erhabenen. Und der Erhabene begab sich nun in den Osthain
zu Mutter Migaros Terrasse für den Tag. Als nun der Erhabene
gegen Abend die Gedenkensruhe beendet hatte, wandte er sich
zum ehrwürdigen Anando: „Komm, Anando, gehen wir ins
‚Alte Bad‘ die Glieder erfrischen.― „Wohl, o Herr― erwiderte
der ehrwürdige Anando dem Erhabenen.
Und der Erhabene ging nun mit dem ehrwürdigen Anando ins
‚Alte Bad‘ die Glieder erfrischen. Da nun sprach der
ehrwürdige Anando zum Erhabenen also: „Jene Klause des
Brahmanen Rammako, o Herr, ist nicht weit von hier,
entzückend gelegen, in heiterer Ruhe. Gut wäre es, o Herr,
wenn der Erhabene sich dorthin begeben möchte, von Mitleid
bewogen.― Schweigend gewährte der Erhabene die Bitte. Und
der Erhabene, begab sich nun zur Klause des Brahmanen
Rammako.
Um diese Zeit aber waren dort viele Mönche in lehrreichem
Gespräche versammelt. Da blieb der Erhabene vor dem Tor
der Klause stehen und wartete das Ende des Gespräches ab.
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Als nun der Erhabene merkte, das Gespräch sei zu Ende,
räusperte er sich und schlug mit dem Klopfer an; jene Mönche
aber öffneten dem Erhabenen die Pforte. Und der Erhabene
betrat nun die Klause des Brahmanen Rammako und setzte
sich auf den. angebotenen Sitz. Hierauf wandte sich der
Erhabene an die Mönche u. s. w.―
An den Vorschriften, die er seinen Mönchen gegeben hatte,
hat er selber bis zuletzt festgehalten. Noch als Achtzigjährigen
sehen wir ihn nach beendeter Regenzeit seine Wanderungen
von Ort zu Ort machen und von öffentlicher Mildtätigkeit
leben. Nicht selten begegnen wir in den Suttas dieser
Einleitung: „Da nun erhob sich der Erhabene am frühen
Morgen, nahm Mantel und Almosenschale und begab sich u. s.
w.―, d. h. er machte wie jeder seiner Mönche den täglichen
Bettelgang in den Vormittagsstunden. War der Almosengang
und die Mahlzeit erledigt, so wurde der Rest des Tages unter
einem Baum im Walde in Meditation zugebracht.
„Zu einer Zeit―, heißt es in einem Sutta des AnguttaraNikayo*), „weilte der Erhabene zu Alavi, am Kuhwege, in
einem Simsapawalde, auf einem Lager von Blättern. Da nun
bemerkte ein Einwohner von Alavi, Namens Hatthako, als er
durch den Wald ging, den Erhabenen am Kuhwege im
Simsapawalde, in Meditation versenkt auf einem Laublager
sitzen. Hierauf schritt er zu dem Orte hin, wo der Erhabene
sich befand, begrüßte den Erhabenen ehrerbietig und setzte
sich zur Seite nieder.
Dort sitzend sprach er nun zum Erhabenen also: „Lebt, o Herr,
der Erhabene wohl glücklich?―
„So ist es, o Jüngling, ich lebe glücklich. Und von denen, die
in der Welt glücklich leben, bin ich auch einer.―
*) Nikayo (Nikaya) heißt Sammlung, Abteilung.
Dieser und alle später erwähnten Nikayas sind
Teile des Sutta-Pitakam (2tes Buch des Palikanon).
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„Kalt, o Herr, ist die Winternacht, es kommt die Zeit des
Reifs, rauh ist der von den Hufen der Rinder zertretene Boden,
dünn ist das Laublager, fein, sind die Blätter der Bäume, leicht
die gelben Mönchsgewänder; scharf der schneidende
Winterwind.―
Und in erhabener Eintönigkeit erwidert der Buddha: „So ist es,
o Jüngling, ich lebe glücklich. Und von denen, die in der Welt
glücklich leben, bin ich auch einer.―
Unter anderem Bild tritt uns der Buddha in seinen
Disputationen mit Andersgläubigen entgegen. Etwas
schematisch wird der ermattete, schweißbedeckte Gegner dem
Buddha gegenübergestellt, der ruhig, ohne äußere Anzeichen
der Erregung dasitzt, „die Hautfarbe klar wie Gold". Er selber
freilich hatte erklärt: „Daß ich nun (bei Disputationen mit
irgendjemandem) in Bestürzung oder Verlegenheit geraten
könnte, eine solche Möglichkeit ist nicht vorhanden, und weil
ich keine solche Möglichkeit kenne, deswegen bleibe ich
ruhig, unverstört, zuversichtlich.―
Mit jenem Stolz, wie er nur dem Genius erlaubt ist, hatte er,
schon ein Greis, dem Sariputta, seinem Hauptjünger, erklärt:
„Und wenn ihr mich auf dem Bette herbeitragen werdet,
Sariputto: Die Geisteskraft des Vollendeten wird unverändert
sein.―
Wir meinen jenen Einfluß zu fühlen, der von der
übermächtigen Persönlichkeit dieses wunderbaren Mannes
ausgegangen sein muß, wenn es an einer Stelle, heißt: „Ich
weiß wohl, wenn ich da einer Schar von vielen Hunderten die
Lehre verkündet habe, so denkt ein jeder von mir: Nur für
mich hat der Asket Gotamo die Lehre verkündet.―
Doch ist das nicht also zu verstehen, weil ja der Vollendete
den anderen die Lehre zur Aufklärung verkündet. Aber wenn
eine solche Darlegung zu Ende ist, dann richte ich auch das
einzelne Gemüt eines jeden Friede Suchenden auf, bring es zur
17
Ruhe, einige es, füge es zusammen. Und so halte ich es alle
Zeit, alle Zeit.―
Sicher haben wir in der sich häufig wiederholenden Antwort
seiner Mönche: „Vom Erhabenen stammt all unser Wissen―
nicht nur eine Phrase, sondern die Anerkennung dieser
allüberragenden Geistesfähigkeit zu sehen. Trotzdem hält er es
aber nicht für unter seiner Würde, sich der Mönchsgemeinde
zu unterstellen und sich ihrem Urteil zu unterwerfen gleich
jedem anderen Mönch:
„Zu jener Zeit nun―, heißt es im Samyuttaka-Nikayo, „bei der
Uposathofeier*) an einem Vollmondsabende, bei der
alljährlichen letzten Zusammenkunft der Jünger vor der
Wanderzeit, saß der Erhabene umgeben von der
Jüngergemeinde unter freiem Himmel.
Da nun sah der Erhabene über die schweigsame
Mönchsgemeinde hin und sprach zu den Mönchen: „Wohlan
denn, ihr Jünger, ich lade euch ein zu sagen, ob ihr
irgendetwas an mir mißbilligt, sei es in Taten oder in Worten.―
Er schämt sich nicht, als ein Brahmane ihn fragt: „Gibt der
verehrte Gotamo wohl zu, bei Tage zu schlafen?―, einfach und
ohne Umschweife zu antworten: „Ich gebe es zu, im letzten
Monat des Sommers, nach dem Mahle, wenn man vom
Almosengange zurückgekehrt ist, den Mantel vierfach gefaltet
auszubreiten und, auf der rechten Seite liegend, gesammelten
Sinnes einzuschlafen.―
In erhabenster Menschlichkeit aber sehen wir ihn vor uns,
wenn er von seinem Ringen vor erlangter Buddhaschaft
spricht. Mit Rührung und Ehrfurcht lauschen wir hier seinen
Worten. So hat noch nie ein Religionsstifter gesprochen. Einer
der so spricht, braucht nicht mit Himmelswonnen zu locken.
Einer der so spricht, zieht durch sich selbst mit jener Gewalt,
mit der die Wahrheit jeden zieht, der in ihren Bereich kommt.
*) Uposathafeier ist die zweimal im Monat stattfindende Feier,
bei welcher öffentlich gebeichtet wurde
18
„Auch ich habe einst, ihr Mönche, noch vor der vollen
Erwachung, als unvollkommen Erwachter, Erwachung erst
Erringender, selber der Geburt unterworfen, gesucht was auch
der Geburt unterworfen ist, selber dem Altern unterworfen,
gesucht was auch dem Altern unterworfen ist, selber der
Krankheit unterworfen, gesucht was auch der Krankheit
unterworfen ist, selber dem Sterben unterworfen, gesucht was
auch dem Sterben unterworfen ist, selber dem Schmerz
unterworfen, gesucht was auch dem Schmerz unterworfen ist,
selber dem Schmutz unterworfen, gesucht was auch dem
Schmutz unterworfen ist.
Da kam mir, ihr Mönche, der Gedanke: ‚Was suche ich denn,
selber der Geburt, dem Altern, der Krankheit, dem Sterben,
dem Schmerze, dem Schmutze unterworfen, was auch der
Geburt, dem Altern, der Krankheit, dem Sterben, dem
Schmerze, dem Schmutze unterworfen ist! Wie, wenn ich nun,
selber der Geburt unterworfen, das Elend dieses Naturgesetzes
merkend, die geburtlose, unvergleichliche Sicherheit, die
Wahnerlöschung suchte; selber dem Altern unterworfen, das
Elend dieses Naturgesetzes merkend, die alterlose,
unvergleichliche Sicherheit, die Wahnerlöschung suchte;
selber der Krankheit unterworfen, das Elend dieses
Naturgesetzes merkend, die krankheitslose, unvergleichliche
Sicherheit, die Wahnerlöschung suchte; selber dem Sterben
unterworfen, das Elend dieses Naturgesetzes merkend, die
unsterbliche, unvergleichliche Sicherheit, die Wahnerlöschung
suchte; selber dem Schmutze unterworfen, das Elend dieses
Naturgesetzes merkend, die unbeschmutzte, unvergleichliche
Sicherheit, die Wahnerlöschung suchte‘. Und ich zog, ihr
Mönche, nach einiger Zeit, noch in frischer Blüte, glänzend
dunkelhaarig, im Genusse glücklicher Jugend, im ersten
Mannesalter, gegen den Wunsch meiner weinenden und
klagenden Eltern, mit geschorenem Haar und Barte, mit
fahlem Gewande bekleidet, vom Hause fort in die
Heimatlosigkeit hinaus.―
19
Kann der Mensch dem Menschen Bedeutenderes sagen! —
Wie sehr fühlen wir ihn als unseresgleichen, wenn er gesteht:
„Auch ich hatte schon vor der vollen Erwachung, als
unvollkommen Erwachter, Erwachung erst Erringender, den
Satz: ‚Unbefriedigend sind die Begierden, voller Qual, voller
Verzweiflung und noch mehr des Elends‘ der Wahrheit gemäß
mit vollkommener Weisheit erkannt, doch außer den
Begierden, außer dem Schlechten fand ich keine
Glückseligkeit.―
Wie fühlt und bangt unser Herz mit ihm, wenn wir ihn an der
Arbeit sehen im Kampf mit diesem widerstrebenden Leib.
So erzählt er selber: „Da sagte ich mir: Wie wenn ich nun in
gewissen verrufenen Nächten, bei Vollmond und bei
Neumond, bei zunehmendem und bei abnehmendem Viertel
Grabhügel in Hainen, in Wäldern, unter Bäumen aufsuchte, an
Stätten des Grauens und Entsetzens weilte, damit ich doch
erführe, was es mit jener Furcht und Angst sei. Und im Laufe
der Zeit suchte ich in gewissen verrufenen Nächten bei
Vollmond und bei Neumond, beim ersten und beim letzten
Viertel Grabhügel auf in Hainen, in Wäldern, unter Bäumen,
weilte an Stätten des Grauens und Entsetzens. Da saß ich nun,
und ein Reh kam herbei, oder ein Waldhuhn knickte einen Ast,
oder Wind schüttelte das Laubwerk. Ich aber dachte: Hier wird
sich wohl jene Furcht und Angst einstellen, und ich sagte mir:
Was warte ich denn unverwandt auf das Erscheinen der
Furcht? Wie wenn ich nun, sobald sich jene Furcht und Angst
zeigen sollte, auch schon alsbald jener Furcht und Angst
begegnete? Und jene Furcht und Angst kam über mich, als ich
auf- und abging. Aber weder stand ich da still, noch setzte ich
mich nieder, noch legte ich mich hin, bis ich auf- und
abgehend jener Furcht und Angst begegnet hatte. Und jene
Furcht und Angst fand sich ein, als ich stille stand. Aber weder
ging ich da auf und ab, noch setzte ich mich nieder, noch legte
ich mich hin, bis ich stille stehend jener Furcht und Angst
begegnet hatte. Und jene Furcht und Angst nahte mir, als ich
saß. Aber weder legte ich mich da hin, noch stand ich auf,
20
noch ging ich umher, bis ich sitzend jener Furcht und Angst
begegnet hatte. Und jene Furcht und Angst kam heran als ich
lag. Aber weder hob ich mich da empor, noch stand ich auf,
noch ging ich hin und her, bis ich liegend jener Furcht und
Angst begegnet hatte.―
Wie aufrichtig, wie ernst, wie kindlich ist dieser Kampf. Wie
reißt er alle unsere Sympathien an sich. Selbst die unerhörte,
fast übernatürliche Höhe seiner Selbstpeinigung wird durch
die Naturwahrheit, durch die packende Schlichtheit, mit der er
sie darstellt, uns näher gerückt. Aufatmend fühlen wir mit ihm,
sind wir überzeugt mit ihm: „Das ist das Höchste, weiter geht
es nicht.― Wie traurig und doch wie tröstlich klingt es, wenn er
zu seinen Jüngern spricht: „Mangel an Verständnis und an
Einsicht in die Vier heiligen Wahrheiten, o ihr Brüder, trägt
die Schuld, daß wir solange die traurigen Pfade des Samsara*)
wandeln mußten — beide, ihr und ich.― (Maha-ParinibbanaSuttam)
Vielleicht nie, solange die Welt steht, ist eine Persönlichkeit
von so ungeheurem Einfluß auf das Denken der Menschheit
gewesen, als Gautama, der Träger des Buddha-Gedankens.
Diese Behauptung wird zur unzweifelhaften Tatsache für
jeden, der sich von jenem unmotivierten Dünkel freigemacht
hat, in der Welt nur das griechisch-römisch-christliche
Culturcentrum. und seine Radien in Raum und Zeit zu sehen.
Diese Behauptung wird ferner zur unzweifelhaften Tatsache
für jeden, der gelernt hat, unter Cultur etwas anderes zu
verstehen, als nur die Kunst comfortabel zu leben und schnell
Geld zu machen, der verstehen gelernt hat, daß wahrer
Fortschritt nicht nach außen geht, daß wahre Entwicklung nur
in jener Verinnerlichung besteht, die das suchen und umfassen
lernt, was die Welt nicht kennt, oder mit Indifferenz, vielleicht
auch mit Verachtung behandelt.
*)Pali: Samsaro; wörtlich: das Zusammenwandern; die Welt von
Geburt und Tod; die endlose Reihe der Wiedergeburten.
21
Wer das erkennt, der erkennt auch, daß schon fast vor
zweieinhalb Jahrtausenden der Gipfelpunkt geistiger
Entwicklung erreicht worden ist, und daß schon damals in
jenen stillen Büßerhainen am Ganges das Höchste gedacht
worden ist, was Menschen denken können, und daß in den
Zeiten nur die Schale, aber nicht der Kern gewechselt hat, die
Ausdrucksweise, aber nicht die Sache, und daß in den
endlosen Jahrtausenden nach uns es nicht anders gehen wird.
Denn einen Gedanken, höher als jenen Buddhagedanken, der
mit der ganzen Welt auch seinen Träger aufhebt, gibt es nicht.
Das waren jene einzigen Zeiten, in denen ein dem Suchen
nach dem höchsten, überweltlichen Gut gewidmetes Leben
nicht für Torheit, sondern für etwas Verehrungswürdiges galt;
jene einzigen Zeiten, in denen es naturgemäß schien, die
Wahrheit, das Gute nicht nur zu lehren, sondern auch zu leben.
Kann diese Einförmigkeit Menschen zugeschrieben werden, so
ist der Buddha Gautama unter ihnen.
22
Kurze Darstellung der Hauptlehrsätze des
Buddhismus
„Überhaupt ist der nächste Zweck der Glaubenslehren,
den Intellect zu befriedigen, aber so daß der Wille
auf den rechten Weg, den der Moralität und Entsagung
geleitet werde.“ (Schopenhauer, Briefe.)
Wie der Körper auf zwei Füßen, so ruht das System des
Buddha auf zwei Sätzen: 1. All Leben ist Leiden, 2. Stets geh
den Pfad der richtigen Mitte. Sie enthalten in ihren
Consequenzen und in ihrem gegenseitigen Aufeinanderwirken
die ganze Masse dessen, was man Buddhismus nennt. Beide
Sätze sind vom Buddha selber in den vier heiligen Wahrheiten
(ariyasacca) zusammengefaßt worden. Die drei ersten
derselben enthalten die Philosophie der Lehre, die letzte die
Moral der Lehre, gesehen durch die Brille dieser Philosophie.
Folgendermaßen lauten diese vier heiligen Wahrheiten:
„Dies ist die heilige Wahrheit vom Leiden: Geburt ist Leiden,
Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden. Sterben ist Leiden, mit
Unliebem vereint sein ist Leiden, von Liebem getrennt sein ist
Leiden, nicht erlangen was man begehrt ist Leiden; kurz die
fünf Elemente des Lebensdranges sind Leiden.―
„Dies ist die heilige Wahrheit von der Entstehung des Leidens:
Es ist diese Sucht, die von Wiedergeburt zu Wiedergeburt
führt, die von Lust und Leidenschaft begleitete, die bald da,
bald dort sich ergötzt, es ist der Geschlechtstrieb, der
Daseinstrieb, der Entfaltungstrieb.―
„Dies ist die heilige Wahrheit von der Vernichtung des
Leidens: Die restlose, totale Vernichtung eben dieser Sucht,
das Verlassen, das Sichlosmachen, die Befreiung, die Erlösung
von ihr.―
23
„Dies ist die heilige Wahrheit von dem zur Vernichtung des
Leidens führenden Wege: Es ist der heilige, achtteilige Pfad,
der da besteht in rechtem Erkennen, rechtem Entschließen,
rechter Rede, rechtem Tun, rechtem Leben,, rechtem Streben,
rechtem Gedenken, rechtem Sichversenken.― (Mahavaggo.)
Dieser heilige Achtpfad ist aber nur ein anderer Ausdruck für
den Satz vom Pfad der Mitte.
Die vier heiligen Wahrheiten begreifen nicht nur intellectuell,
sondern auch formell den ganzen Buddhismus von Anfang bis
zu Ende. Mit der Tatsache des Leidens einsetzend, führen sie
zur Vernichtung dieses Leidens, mit dem Samsara, dieser Welt
des Leidens einsetzend, führen sie zum Nirvana.
Weil der Buddha mit der Tatsache des Leidens einsetzt, weil
ihm mit dem Leiden die Welt beginnt, so ist mit der
Vernichtung des Leidens der natürliche Abschluß da, ist die
gestellte Aufgabe gelöst.
Es sei dieses von vornherein hervorgehoben: Nur für solche,
denen Leben Leiden ist, paßt der Buddhismus. Nur solche,
welche von dieser Basis aus hochbauen, können zum
Abschluß gelangen. Es hat keinen Zweck, Buddhismus zu
lehren, außer da, wo Leben als Leiden gefühlt resp. verstanden
wird. Überall wo dieses nicht der Fall ist, werden die vom
Buddha gezogenen Consequenzen absurd oder fürchterlich
erscheinen.
Nun erklärt der Buddha, daß Leben in jeder Form, in jeder
Äußerung Leiden ist. Weshalb ist aber all Leben Leiden? —
Weil all Leben dauerlos, vergänglich ist. Alles Vergängliche,
Wechselnde aber ist leidvoll, weil es zur Leidensfreiheit, zur
Seligkeit als etwas Wechsellosem in natürlichem Gegensatz
steht.
Weshalb ist aber alles dauerlos? — Weil alles aus einem
Grund, einer Ursache, entstanden ist, folglich aufhören muß,
sobald diese Ursache aufhört zu wirken. Und das ist der
Grund, warum nicht nur da, wo Leben als Leiden gefühlt wird,
24
sondern überall da, wo etwas entsteht und vergeht, wo
Vergänglichkeit ist, das Gesetz des Buddha herrscht. Nicht
Leben als Leiden zu fühlen, sondern zu erkennen, schafft die
Befähigung zum Buddhismus.
Wie ist es aber möglich, sich aus diesem Leiden
hinauszuretten, wenn nirgends ein fester Punkt sich bietet? —
Durch wahre Erkenntnis, durch wahres Wissen. — Auf welche
Weise erreichbar? — Durch consequente Befolgung des
Achtpfades.
Und welches ist dieses Wissen? — Daß mein eigenes Ich,
diese meine Persönlichkeit, weil gleich allem anderen ganz
und gar aus einer Ursache entstanden, auch ganz und gar
vergänglich ist, daß also in diesem Ich kein ewiger
Bestandteil, keine Seele enthalten ist. Dieser Satz enthält
Leiden sowohl wie Seligkeit in höchster Potenz umschlungen:
Höchstes Leiden, weil mir so mein eigenes Ich entrissen und
in eine ‚Leidensmasse‘ verwandelt wird, höchste Seligkeit,
weil im Moment dieser Erkenntnis der Weg zur Erlösung sich
mir auftut. Leiden ist nicht Strafe, Folge der Sünde, sondern
Unwissenheit.
Weil dieses Ich, diese meine Persönlichkeit, wie alles andere
in der Welt bedingt ist, aus einer Ursache entstanden, also in
toto vergänglich ist, darum kann es nicht in Wahrheit mein Ich
sein, an welches letztere man die Anforderung einer Seele,
eines ewigen Principes stellen müßte. Darum ist dieses Ich nur
ein Schein-Ich, wie der Buddha sagt: „Es gehört mir nicht.―
„Gleichwie z. B. ihr Jünger, wenn ein Mann das, was an
Gräsern und Reisig, Zweiglein und Blättern in diesem JetaWaldhain daliegt, wegtrüge oder verbrennte, oder sonst nach
Belieben damit schaltete, würdet ihr da wohl denken: Uns
trägt der Mann weg, oder verbrennt er, oder schaltet sonst
nach Belieben?― „Und was euch nicht angehöret, das gebet
auf; das von euch Aufgegebene wird euch für immer zum
Wohle, zum Heile gereichen.―
25
Darin liegt die Seligkeit, die Erlösung: Das Ich ist aufgebbar,
aufhebbar, es schwindet mit der Ursache, die zu seiner
Bildung geführt hat, was nicht möglich wäre bei einem
wahren, Seele-begabten Ich.
Was folgt nun aus dem Satz, daß alles Entstandene durch eine
Ursache bedingt ist? — Das folgt daraus, daß diese Ursache
selber wieder eine Ursache haben und dieser Ursache
gegenüber Wirkung sein muß und so weiter rückwärts ad
infinitum. Das heißt in anderen Worten: Leben ist ewig, ohne
Anfang.
Dieses Bewußtsein in Verbindung gebracht mit der Tatsache
des Geborenwerdens und Sterbens hat in indischem Denken
zur Lehre von der Seelenwanderung geführt. Eine Existenz
geht aus der anderen hervor in ununterbrochener Kette, und
die Seele ist der verbindende Faden. Nun lehrt der
Buddhismus, daß eine Seele, ein Unvergängliches in diesem
Leib nicht zu finden ist und er hat daher keine
Seelenwanderung,
sondern
einen
‚Kreislauf
der
Wiedergeburten‘. Wie aber ist dieser möglich, wenn im Tode
nichts Ewiges zurückbleibt, welches die Verbindung von einer
Existenz zur nächsten liefert? — Die Function der Seele wird
hier gewissermaßen vom Karma übernommen. Der
Gedankengang ist folgender:
Diese Persönlichkeit (bhavo*) ist ein Schein-Ich, wie wir
gesehen haben, weil es uns etwas Seiendes, Ewiges, eine Seele
vortäuscht, wo nichts ist als ein Werden ohne ewigen Kern.
Jede Täuschung muß aber irgendetwas Reales hinter sich
haben, auf Grund dessen sie zustande kommt. So muß auch
dieses mein Schein-Ich, dieser Bhava auf etwas Realem basiert
sein. Dieses reale Substrat sind die fünf Skandhas (Pali:
khandho**) mit Namen: Körperlichkeit (rupam), Gefühl,
*) wörtlich: Zustand des Seins resp. Werdens.
**) wörtlich: Haufe. Das Verb desselben Stammes heißt ‚gerinnen
machen‘.
26
Wahrnehmung, Unterscheidung (sanskara, Pali: sankharo),
Bewußtsein (vinnanam).
Alle fünf zusammen als Repräsentant des ‚Ich‘ heißen auch
Nama-Rupam (Name und Form), wobei Nama die vier
letzteren mit Vinnana an der Spitze darstellt.
Man sieht, das sind Realitäten, wie sie nur jemand aufstellen
darf, für den in Wahrheit nichts existiert als das Leiden. Für
sich ist jedes von ihnen ein Nichts; erst durch ihren
Zusammenschluß bilden sie Persönlichkeit, Bhava. Fünf
fingierte Realitäten schließen sich zusammen zur realen
Fiction. Leben ist Täuschung und Wirklichkeit, Sein und
Nichtsein gleichzeitig.
Was bewirkt nun den Zusammenschluß der Khandhas? — Das
Karma (Pali: kammam). Die fünf werden zusammengehalten
d. h. Leben besteht, solange das Karma in Kraft ist. Sie fallen
auseinander, sobald das Karma erschöpft ist. Man merke wohl:
Nichts wird im Tode zerstört, nichts geht zu Grunde, als der
Schein,
die
Täuschung
dieses
Bhava.
Die
aufeinanderfolgenden Existenzen sind nichts als ein
Sichauflösen, und wieder aufs neue Sichzusammenschließen
der Khandhas.
Was ist denn aber Karma? — Es ist die Kraft, welche aus dem
Schlag den Rückschlag hervorgehen läßt. Es ist das was aus
der Action dieses Lebens als Reaction das nächste Leben
schafft. Das Wollen dieses Lebens, der Lebenstrieb ist wie
eine Spannkraft, welche als Karma die Brücke zur nächsten
Existenz und damit diese nächste Existenz selber schafft. Der
Wille zum Leben, die Lust am Leben ist die Kraft, welche das
endlose Spiel von Action und Reaction, von Entstehung eines
Lebens aus dem anderen in Gang erhält. Soweit Leben gleich
‚Wollen‘ ist, solange Leben gleich Wollen ist, soweit, solange
entsteht Karma. Soweit dieses Leben gleich Wollen ist, soweit
steckt in ihm schon das nächste Leben. Wie das was Action
und Reaction verbindet, einerseits zur Action, anderseits zur
Reaction gehört, so gehört das Karma, als dieses Leben mit
27
dem nächsten verbindend, zu einem sowohl wie zum anderen.
‚Karma ist da‘, bedeutet nichts, als daß mit diesem Leben auch
schon das nächste, mit diesem das übernächste und so die
ganze, endlose Reihe der Existenzen gegeben ist. ‚Leben‘ ist
gleichbedeutend mit Anfangs- und Endlosigkeit des Lebens,
und Karma ist nichts als die einwertige Formel dafür, daß
diese unergründliche Endlosigkeit, dieses Spiel des Lebens im
Gange ist.
Wenn die Verbindung zwischen dieser und der nächsten
Existenz eine derartige ist, kann mich dann diese nächste
Existenz nicht sehr kühl lassen? Keine Seele verbindet eine
mit der anderen, kein Bewußtsein geht von einer zur anderen
über; denn Bewußtsein ist individuell, mit jedem Bhava frisch
entstehend, mit jedem Bhava vergehend. Was habe ich denn
für ein Interesse an solcher nächsten Existenz? — Ein sehr
naheliegendes: In ihm trifft mich Lohn und Strafe für die
Taten dieses Daseins. — Wie ist das aber möglich, wenn kein
Ich da ist? Ist kein Ich da, so ist doch auch kein Täter da. Ist
kein Täter da, wie kann es dann eine Folge der Tat d. h. Strafe
und Lohn geben? Wie ist es denkbar, daß dann nicht jedes
Streben nutzlos, nicht jede Moral ein Scherz wird? — Freilich
ist kein Ich-Täter da, aber die Tat ist da. Sie bedarf zu ihrer
Realisierung keines wahren Ich, sie haftet an diesem aus dem
Willen zum Leben sich immer wieder aufs neue
reconstruierenden Schein-Ich; sie haftet an ihm, wie das
Leiden an ihm haftet. Wie dieses aber ‚haftet‘, werden wir
später sehen.
Jede Tat zieht nun unweigerlich ihre Folgen nach sich wie der
Körper den Schatten wirft, wie der Stein, ins Wasser
geworfen, seine Ringe zieht. Und wie jede Reaction durch die
specifische Natur der Action bedingt ist, so ist auch die Art
und Weise, wie die Folge der Tat sich äußert, durch die Tat
selber bestimmt. Das heißt in anderen Worten: Der guten Tat
folgt Lohn, der schlechten Strafe. Das nächste Dasein wird
demnach in seiner Beschaffenheit den Taten dieses Daseins
entsprechen. Ist somit auch kein Ich da, so geht doch nicht das
28
kleinste Teilchen meiner Taten verloren. Jedes Taten-Atom
hilft mit zur Construction der nächsten Existenz.
Nun wohl, aber was kümmert mich das, wenn doch mein
Bewußtsein nicht mit übergeht? Ich weiß ja nichts von dem
Leiden der anderen Existenz. Es steht mir unendlich viel
ferner, als mir z. B. das Leiden meines Nebenmenschen steht,
mit dessen Schmerz ich doch durch meine Sinne in Beziehung
stehe.
Zum Verständnis müssen wir hier wieder an die Definition
erinnern, die der Buddha dem Begriff ‚Leiden‘ gegeben hat:
Leiden muß nicht sowohl gefühlt, als vielmehr verstanden
werden. Wem freilich Leiden nichts ist als gefühltes Leiden,
den mag die nächste Existenz kalt lassen. Rührend, ja der
Schrecken aller Schrecken wird der Kreislauf der
Wiedergeburten nur da, wo Leiden zu einem Gegenstand des
Erkennens, zu einem Wissen geworden ist. Volles Erkennen
des Leidens ist aber nur möglich im vollen Erkennen der
Vergänglichkeit. Volles Erkennen der Vergänglichkeit ist
gleichbedeutend mit Einsicht in das Gesetz von Grund und
Folge, dieses gleichbedeutend mit Einsicht in das Wirken des
Karma. Wer aber das Wirken des Karma versteht, der versteht,
daß in dieser Existenz schon die nächste enthalten ist, ja daß
diese Existenz schon die nächste selber ist. Ahnend wittert er
die Täuschung von Vor- und Nacheinander, die Täuschung der
Zeit; in der Täuschung der Zeit fühlt er die Täuschung des Ich,
und das im Nachdenken nach innen sich senkende Auge tut
den ersten Aufschlag zum Nirvana.
Doch davon später. Noch einmal: Er versteht, daß in dieser
Existenz schon die nächste ruht. Er erkennt sich als identisch
mit ihr und so lernt er sich vor ihrem Leiden fürchten, wie
jemand, der einen heftigen Schmerz überstanden hat, sich vor
der Wiederkehr dieses Schmerzes fürchtet. Der Schmerz
besteht nicht mehr, das Bewußtsein des Schmerzes ist nicht
mehr, es würde erst mit dem neuen Schmerz neu erwachen,
und doch fürchtet er sich davor und tut alles, der Wiederkehr
29
desselben vorzubeugen. Der Schmerz lebt in der Erinnerung,
im Intellect. So lebt auch die Furcht vor den Leiden der
nächsten Existenz im Intellect.
Wer den wahren Zusammenhang zwischen dieser und der
nächsten Existenz erkannt hat, der weiß: Mit jeder guten Tat
nutze ich nur mir selbst, mit jeder schlechten Tat schade ich
nur mir selbst, einerlei nach wie vielen Existenzen Strafe und
Lohn mich treffen.
Nun gut! Mag die Tat unweigerlich ihre Folgen nach sich
ziehen, woher weiß ich aber, daß die Folge meiner Tat
notgedrungen immer mich trifft? — Im Durchschauen des
Gesetzes von Grund und Folge, im Erfassen des Gedankens:
„Es ist kein Ich―, weiß ich das. Denn wenn kein Ich da ist,
welches die Tat begehen könnte, kein Täter, dessen Product
die Tat wäre, nun so bin ich ja selber die Tat, bin verkörperte
Tat. Bin ich aber selber die Tat, so bin ich auch selber die
Folge der Tat, wie die Reaction die gleiche Kraft repräsentiert
wie die Action. Strafe und Lohn braucht mich nicht erst zu
suchen, nicht erst zu finden. Ich selber bin verkörperte Strafe,
verkörperter Lohn. Das ist die Art und Weise, wie die Tat und
ihre Folge am Täter ‚haftet‘.
Hiermit wandelt sich das allgemeinste Naturgesetz, das Gesetz
von Grund und Folge, wie durch genialen Coup zum obersten
Weltenrichter um, und die Creatur, ohne eine unsterbliche
Seele, ohne Aufsicht eines Gottes, scheinbar aller
Verantwortlichkeit bar, wird in die Formen eines ehernen
Moralgesetzes gepreßt, dessen Gerechtigkeit für unser Gefühl
zu erhaben dasteht, um immer von Grausamkeit unterschieden
werden zu können. Unter dem brutalen Zwang des Egoismus
bin ich moralisch, zum Besten dieses Schein-Ich bin ich
moralisch. Denn jede Bewegung der Immoralität drückt mir
den Stachel ins eigene Fleisch. Egoismus ist zwar das kahlste,
aber solideste Fundament der Moral, welches diese Welt
bieten kann.
30
So lebt der Mensch, trotzdem keine Seele, kein Ewiges in ihm
ist, doch ewig durch den Willen zum Leben. Er lebt ewig
durch die unabänderlich ins Dasein tretende Folge seiner
Taten: er ‚erlebt‘ seine Taten. Indisch ausgedrückt: Er lebt
durch sein Karma.
Um die Bedeutung der Worte ‚er lebt durch sein Karma‘, ganz
zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die Lehre vom
Werden werfen. Sie gehört mit zum ureigensten Kern des
Systems, zu dem was aus dem Munde des Buddha selber
hervorgegangen ist.
Alles, weil durch Ursachen bedingt, ist dauerlos, in einem
ständigen Werden, einem ständigen Entstehen und Vergehen
begriffen. Mag die Schwingungsdauer dieser Wellen
Gedanken-kurz sein im Aufblitzen des Bewußtseins, mag sie
sich über zahllose Weltperioden erstrecken, der geklärte Geist
erkennt durch die maskierende Hülle der Formen hindurch:
Alles ist in diesem werdenden Schwingen begriffen. Das
meinte der Buddha, als er in jener berühmten Feuerpredigt
seinen Jüngern zurief: „Alles brennt―. Wie das brennende
Licht einen Flammenkörper bildet, der scheinbar ständig, in
Wahrheit nicht einen Moment der gleiche ist, ebenso alles
Entstandene. Auch diese meine Persönlichkeit, dieses ScheinIch ist, gleicht dem Scheinkörper der Flamme, ein flackerndes,
in fortwährendem Entstehen und Vergehen begriffenes Ding,
bei dem nichts ständig ist als der Wechsel. Es besteht wie die
Flamme aus einzelnen Werdemomenten. Der Unerfahrene,
‚der Lehre der Edlen Unkundige‘ kennt nur ein Vergehen: das
was die Menschen Tod nennen. Der Erfahrene weiß, daß unser
ganzes Leben ein unfaßbar oft sich wiederholendes Entstehen
und Vergehen ist, und daß beide Arten des Vergehens, jenes
grobe und dieses sublime, in nichts unterschieden sind, als in
der Zeitdauer. Jenes grobe, mit dem Tode abschließende
Werden fällt vermöge seiner Schwingungsdauer in den
Bereich unserer Sinne. Jenes andere, feinere Werden steht
jenseits unserer Empfindungsschwelle.
31
In derselben Weise wie das Karma diese Existenz mit der
nächsten verbindet, so schweißt es auch innerhalb dieser
Existenz die zahllos sprühenden, einzelnen Lebensfünkchen zu
dieser Persönlichkeit zusammen, welche mir ein Seiendes, ein
Ich vorspiegelt. Jedes dieser durch ‚Zusammentreffen‘ rastlos
entstehenden Lebensfünkchen ist ja in sich eine völlige
Existenz, von dieser sinnlichen nur durch die enorme
Verkürzung unterschieden.
Und wie das Karma nicht nur die Verbindung zur nächsten
Existenz liefert, sondern diese nächste Existenz auch selber
bildet, so liefert es auch nicht nur die Verbindung zum
nächsten Werdemoment, sondern ist dieses selber. Wo keine
Verbindung zum Nächsten ist, da ist auch kein Nächstes. Erst
jetzt erkennt sich die volle Bedeutung der Worte: ‚Wir leben
durch unser Karma‘.
Da nun all Leben Leiden ist, und das Karma diesen
Lebensprozeß d. h. das Leiden ad infinitum unterhält, so ist die
brennende Frage: Wie befreien wir uns von diesem Karma,
oder was gleichbedeutend ist: Wie befreien wir uns von
diesem Leiden?
Wie gezeigt, ist dieses Ich nur ein Schein-Ich, ein in seiner
Totalität Entstandenes resp. Entstehendes und daher aufhebbar
mit der Ursache, die zu seiner Entstehung führt. Aus
demselben Grunde (weil ein Werdendes, Vergängliches) wird
dieses Schein-Ich auch zum Leiden, ist verkörpertes Leiden.
Das Leiden haftet nicht an mir, ich produciere nicht das
Leiden, sondern ich bin das Leiden, ebenso wie ich nicht die
Tat begehe, sondern die Tat bin. Hebung des Leidens kann
folglich nur eintreten mit Hebung der Persönlichkeit; beides
sind identische Begriffe. Hier stoßen wir auf den tiefsten
Grund, weshalb Leiden nicht nur gefühlt, sondern verstanden
werden muß: Nur in erkanntem Leiden hebt sich das Ich und
damit auch das Leiden. Gefühltes Leiden schafft keine
Erlösung.
32
Hebung des Leidens kann nur erfolgen durch Hebung der
Persönlichkeit. Persönlichkeit aber lebt immer wieder auf,
solange Karma da ist. Karma ist die Ursache für die ständige
Neubildung der Persönlichkeit. Karma seinerseits, d. h. die aus
der Tat sich ergebende Folge, kann nur aufhören, wenn die Tat
selber aufhört. Die Tat aber kann nur aufhören, wenn die
Veranlassung zur Tat aufhört: das Sich-ergötzen der Sinne an
den Objecten, das Haften an den Objecten. Im Haften der
Sinne hätten wir somit den Quell alles Leidens gefunden.
Weshalb schafft aber all Haften am Sinnlichen Leiden? Weil
es ständig neues Leben schafft. Wo aber neues Leben entsteht,
da vergeht es auch; wo aber Entstehen und Vergehen, Wechsel
ist, da ist Vergänglichkeit, da ist Leiden.
Wie kann aber aus unserer Sinnestätigkeit Leben entstehen?
— Die ganze Welt steht als Object mir dem Subject
gegenüber. Als Erkanntes mir, dem Erkenner. Wo nichts ist,
was erkennt, da kann auch kein Erkanntes sein; wo kein
Subject, da auch kein Object. Die Wahrheit als Object ist
bedingt durch mich als Subject. Die Wahrheit ist bedingt
durch meine fünf Sinne nebst dem Geist als sechsten.*) Auf
der Tätigkeit meiner sechs Sinne ruht diese Welt. Die
Tätigkeit meiner sechs Sinne läßt in ununterbrochenem Fluß
immer wieder diese Welt neu entstehen. Welt, Leben ist nichts
als die Summe der Eindrücke, welche entstehen, wenn meine
sechs Sinne sich mit den Objecten vereinigen. Tätigkeit
unserer Sinne, ihr Haften an den Objecten ist nichts als ein
Zeugungsproceß, der entstandene Eindruck ist die Geburt, sein
Aufhören ist Sterben. Somit schaffen unsere Sinne Entstehen
und Vergehen, Geburt und Tod, d. h. Leben sowohl wie
Leiden in ununterbrochenem Strom, und der Buddhist
schreitet, das Auge unverrückt auf jene ständig fluctuierende,
bei jedem Schritt sich neubildende Grenzlinie gerichtet, in
welcher wie in einem Horizont Individualität immer wieder
neu ansetzt.
*) Indischer Anschauung nach hat der Mensch sechs Sinne.
33
Man kann sagen, die Lehre des Buddha ist der reine Kant'sche
Transzendental-Idealismus, für religiöse Zwecke verarbeitet.
Dieser Gedanke, vielleicht der tiefsinnigste, der je gedacht
worden ist, und dessen Menschen überhaupt fähig sind, ist von
ihm aufs klarste erkannt, bis aufs äußerste durcharbeitet und
bis aufs äußerste für seine Zwecke dienstbar gemacht worden.
Ist dieser Gedanke auch nicht im Jargon der Philosophie
entwickelt, so steht er doch, oder vielleicht gerade deshalb in
kristalliner Klarheit da, ein Beweis dafür, daß menschliches
Denken bereits vor mehr als zwei Jahrtausenden zum
naturgemäßen Abschluß gelangt ist.
Doch weiter: Läßt die Tätigkeit dieser sechs Sinne die Welt
aus sich hervorgehen, anders ausgedrückt: Besteht für das
Individuum keine andere Welt als die individuelle, die es sich
durch seine Sinnesorgane selber geschaffen hat, so folgt, daß
diese Welt auch mit der Sinnestätigkeit aufhören muß. Wo
keine Welt mehr ist, da ist aber auch kein Leiden. Leiden
sowohl wie Erlösung liegen in mir selber, und der Weg zur
Erlösung, ja die Erlösung selber ist damit gegeben, daß meine
Sinne aufhören, ständig neues Leben d. h. neues Leiden zu
producieren. Das geschieht mit dem Moment, wo der Contact
mit den Objecten abgebrochen wird.
Wie kann aber der Contact zwischen Sinnen und Objecten
abgebrochen werden? — Nicht gewaltsam, nicht durch
Abschneiden; das würde die Wurzel in der Tiefe zurücklassen.
Der Contact kann sich naturgemäßer weise nur auflösen
dadurch, daß mein Verlangen, mein Wollen sich auflöst.
Dieses aber löst sich auf, sobald ich die leidvolle
Vergänglichkeit des Lebens erkenne. Diese Erkenntnis
culminiert in der Tatsache, daß auch dieses mein eigenes Ich
sich in nichts von der Vergänglichkeit der übrigen Welt
unterscheidet, daß dieses Ich ein Schein-Ich ist. Dadurch wird
dem Wollen naturgemäß der Boden entzogen. Jedes neu
aufkeimende Wollen löst sich in der neu gewonnenen
Erkenntnis auf. Dem Wollen wird nicht nur das Object,
sondern auch das Subject entzogen; denn wahrhaft nichtwollen
34
kann ich erst dann, wenn ich weiß, daß kein Ich da ist, das da
wollen kann.
Somit kann Wollen nur da sein, wo Ich-Bewußtsein ist, d. h.
Wollen beruht auf einer Unkenntnis von der wahren Natur der
Dinge, auf einer Unwissenheit. Mit ihr, der Unwissenheit
(avijja), setzt alles ein. Aus ihr läßt der Buddha als aus einer
Art Gegenstück der Urzelle in 12 Stufen (den sog. 12 Nidanas)
seine Buddha-Welt entstehen, deren letzte Entwicklungsphase,
deren Blüte das Leiden ist in der Form von Alter, Krankheit,
Sterben, Not und Jammer, Gram und Verzweiflung. Geht diese
Unwissenheit in das wahre Wissen, in das Wissen vom Ich als
Nicht-Ich (anatta)*) über, so geht damit notwendig Wollen in
Nichtwollen über. Ist kein Wollen mehr da, so ist auch keine
Tat mehr da. Fällt die Tat, so fällt die Folge der Tat, d. h. das
Karma. Wo kein Karma, da keine neue Existenz: der Kreislauf
der Wiedergeburten hat ein Ende.
Oder anders ausgedrückt: Wo Unwissenheit in Wissen, da geht
notwendig Wollen in Nichtwollen über. Wo kein Wollen, da
kein Haften der Sinne an den Objecten. Wo kein Haften, da
kein Entstehen und Vergehen. Wo kein Wechsel, da kein
Leiden. Wo kein Leiden, da kein Ich. Wo kein Ich, da keine
Welt, Leiden, Ich, Welt, alle stehen sie da als ein Product der
Unwissenheit und mit dem Übergang in Wissen wird erkannt:
‚Nicht mehr ist diese Welt‘. Mit dieser Erkenntnis ist „alles
getan was zu tun war―.
Das Wissen hat sich an sich selber betätigt, hat an sich selber
den Beweis seiner Echtheit geliefert, indem es im Nichtwollen
seinen Träger selber auflöst.
*) An-atta bedeutet Nicht-Selbst, seelenlos und ist der präciseste
Ausdruck für des Buddha Lehre von der Vergänglichkeit. Alles
ohne Ausnahme, auch dieses mein Ich ist anatta, weil alles ohne
Ausnahme, auch dieses mein Ich vergänglich, seelenlos ist.
35
Wie denn aber? Der Träger des Wissens ist doch da, und muß
da sein, um die Freiheit vom Leiden constatieren zu können.
Wie kann er sich denn im Wissen aufheben?
Freilich kann das Wissen nicht diesen Leib aufheben; denn
derselbe hat sich aus früherem Karma herausgebildet und kann
erst zerfallen mit der Erschöpfung dieses Karma. Aber es
beugt der Bildung neuer Existenzen vor. In diesem Sinne hebt
es seinen Träger auf. Würde Wissen diese Scheinform, in der
und durch die es erworben ist, aufheben, so könnte ja die
Erlösung nicht constatiert, Nirvana nicht erblickt werden und
das ganze System wäre halt- und zwecklos, ein leeres Spiel
ohne Möglichkeit der Realisation.
Wie kann ich aber wissen, daß dieses meine letzte Geburt ist,
daß mit dieser Form das Leiden ein Ende haben wird?
Wie das System des Buddha mit dem Begriff ‚Leiden‘
einsetzt, so läuft es naturgemäß in den Begriff
‚Leidenslosigkeit‘ aus. Wie das Leiden, um nutzbringend zu
werden, nicht nur gefühlt, sondern erkannt werden muß, so
muß auch Leidenslosigkeit, um nutzbringend zu werden, nicht
nur gefühlt, sondern auch erkannt werden. Wie gefühltes
Leiden Schmerz ist, erkanntes Leiden aber Wechsel,
Vergänglichkeit, so ist gefühlte Leidenslosigkeit gleich
Seligkeit, erkannte Leidenslosigkeit aber ist jene
unerschütterliche
Gemütserlösung,
jene
wechsellose
Gleichmütigkeit, die den Beweis dafür, daß kein Ich mehr da
ist, in sich selber trägt. Wo diese Gleichmütigkeit da ist,
solange sie da ist, da ist keine Möglichkeit für den IchGedanken mehr, wie da, wo Nichtwollen herrscht, keine
Möglichkeit für das Wollen ist.
Damit wäre freilich nichts als die Tatsache temporärer
Leidenslosigkeit geliefert und nicht die Tatsache des Endes
der Wiedergeburten. Aber wie der eigentliche Nutzen des
erkannten Leidens darin besteht, daß es mir die Gewißheit
gibt: In dieser Existenz ist schon die nächste enthalten, das
Leiden der nächsten Existenz ist mein Leiden — so besteht der
36
eigentliche Nutzen der erkannten Leidenslosigkeit darin, daß
sie mir die Gewißheit gibt: Das Nirvana, das Aufhören all
Werdens, all Lebens, es ist schon in dieser meiner jetzigen
Existenz.
Diese
Gleichmütigkeit,
diese
realisierte
Leidenslosigkeit, sie ist das Nächste, sie ist das nach der
letzten Existenz, und insofern als ich das erkenne, weiß ich:
Dieses ist meine letzte Geburt.
Und was ist nun das Ende, der Abschluß? — Das Ende ist
nichts als eben diese unerschütterliche Gewißheit vom Ende,
unerschütterlich weil nicht auf dem Glauben, sondern auf dem
Wissen beruhend. Wie der Anfang des Ganzen die Gewißheit
des Leidens ist, so ist das Ende des Ganzen die Gewißheit der
Leidenslosigkeit. Wie das Weltentstehen in mir liegt, subjectiv
ist, so liegt auch das Weltvergehen in mir, ist subjectiv.
Erlösung ist nichts als Gewißheit des Erlöstseins. Diese
Gewißheit ist die letzte Schwingung, in welche jener Prozeß
der Umwandlung von Nichtwissen in Wissen ausklingt.
Darum spricht der Buddha: „Und so ist der Gewinn des
Asketentums, ihr Mönche, nicht Almosen, Ehre und Ruhm,
nicht Ordenstugend, nicht Glück der Selbstvertiefung, nicht
Wissensklarheit. Jene unerschütterliche Gemüterlösung aber,
wahrlich, ihr Mönche, das ist der Zweck, dies ihr Mönche, ist
das Asketentum, das ist der Kern, das ist das Ziel.― Wer sich
selber erlöst weiß, er ist erlöst.
So bleibt nur noch die Frage: Wie kommt diese Umwandlung
von Nichtwissen in Wissen zustande? — Durch Belehrung
von Seiten des Buddha oder solcher, die seine Worte erfaßt
haben und durch tiefes Nachdenken.
Das ist in ihren Hauptzügen die Lehre des Buddha, wie sie
sich in den Palischriften darstellt. Sie beginnt mit der Moral
des Achtpfades und dem Nachdenken als unterster, jedem
erreichbarer Stufe und endet in den schwindelnden Höhen des
Wissens. In höchster Kunst und höchster Natürlichkeit sind
Moral und Wissen in Abhängigkeit voneinander gebracht.
Eines ist durch das andere bedingt, eines steigt durch das
37
andere, bis beide auf der Höhe den natürlichen Abschluß in
der Auflösung ihres Trägers erreichen.
Auf diesem langen Wege aufwärts fehlt aber nicht eine Stufe,
nicht ein Glied. In der Solidität ihrer Basis, in der ehernen
Logik ihres Aufbaues muß diese Religion auch dem
Nichtanhänger stets als eines der kolossalsten und
bewunderungswürdigsten Werke erscheinen, die je aus dem
Geist hervorgegangen sind. Sie ist der denkbar völligste Sieg
des Menschen über den Menschen.
38
Einige Charakteristika des Buddhismus
Der Buddhismus ist Philosophie zu einer Hälfte, Morallehre
zur anderen Hälfte. Religion wird er in der untrennbaren
Vereinigung beider einerseits und durch den Erfolg, der ihn
zum geistigen Herrscher Asiens machte, anderseits. Er ist aber
nicht Religion in dem Sinne, den wir dem Worte beizulegen
gewöhnt sind. Das Gefühl für das Unendliche, für etwas
jenseits der Sinne und des Verstandes Liegendes, ein auf dem
Unbekannten basierendes Sehnen und Fürchten, die
Gottesfurcht gilt als Beginn aller Religionen. Ist diese
Definition erschöpfend, so ist der Buddhismus überhaupt
keine Religion, ja noch mehr: so hat noch nie eine Philosophie
sich von aller religiösen Beimischung so frei gehalten wie der
Buddhismus. Denn er als das einzige aller existierenden
philosophischen und religiösen Systeme setzt, mit resoluter
Überspringung des Unbekannten in jeder Form, mit der in der
Gegenwart gegebenen Tatsache des Leidens ein. Das ist das
geniale Moment des Buddhismus. Der ungeheure Vorzug
springt sofort in die Augen. Wir brauchen hier nicht eine
mystische Urmacht, wir brauchen nicht einen ebenso
mystischen Gott, der in dreifach mystischer Action aus dieser
Urmacht das erste Leben hervorgehen läßt. Diese ganze
hirnverwirrende Frage nach dem Anfang des Anfangs fällt. —
Weshalb? Weil sie vom Buddha gelöst ist? — Nein! Auch der
Buddha kann sie nicht lösen; aber er hat uns gelehrt, ihre
Lösung zu verachten. Als Christ kann ich nicht über die
Weltschöpfung hinwegspringen; sie gliedert sich in den
Gottbegriff und damit in das Ende, das ewige Leben in Gott
ein. Als Buddhist hat die Frage nach der Weltschöpfung
keinerlei Bedeutung für mich. Der Buddhismus ist daher die
einzigste aller Religionen, die sich frei vom Gift der
Hypothesen halten konnte. Forscht der müßige Frager hier
nach dem Anfang des Anfangs, so erhält er mit stolzer
39
Consequenz die Antwort: Im Anfang war das Leiden. Mag der
geistige Horizont auch bis ins endlose sich erweitern, so
erblickt doch das geistige Auge nichts als dieses Leiden. Wie
für einen Mann, der mitten im Weltmeer schwimmt, nichts
existiert als dieses Weltmeer, so existiert für den Buddhisten
nichts als das Leiden. Was nicht aus dem Samenkorn ‚All
Leben ist Leiden‘ herauswächst, das gehört nicht zum wahren
Baum buddhistischen Denkens.
Wie der nächtige Wanderer im Flammen des Blitzschlages die
Landschaft rings um sich erkennt, und vor dem geblendeten
Auge das so gewonnene Bild noch lange nachschwingt, so
hatte der Buddha im Aufleuchten seines Genies Leben als
Leiden erkannt mit so ungeheurer Grellheit, daß das Nachbild
auf seiner geistigen Netzhaut nie mehr verblaßt ist. Vor
diesem blendenden Glanz verschwanden alle dunklen
Hypothesen vom Anfang des Anfangs: Nichts schaute er an als
das Leiden, nichts erstrebte er als Leidenslosigkeit. Das war
sein ‚heiliges Ziel‘. Eines ist und dieses eine ist Alles: Das
Leiden ist. Das ist der sichere, unbewegliche Punkt, von dem
buddhistisches Denken ausgeht. „Und was, ihr Jünger,
erklären die Weisen und ich als in der Welt vorhanden? —
Einen Körper, ein Gefühl, eine Wahrnehmung, eine
Unterscheidung, ein Bewußtsein, die vergänglich, leidvoll,
dem Wechsel unterworfen sind, erklären die Weisen als in der
Welt vorhanden und auch ich sage: Sie sind vorhanden.―
(Samyutta-Nikayo.)
So setzt der Buddhismus mit dieser Gegenwart, mit der
unbestreitbaren Tatsache des Leidens ein und endet mit dem
Wissen, dem Bewußtsein von der Auflösung des Leidens. Der
Buddha schuf gleichsam eine neue Gedankenwelt, die von der
Sonne des Leidens erleuchtet wurde. So weit die Strahlen
dieser Sonne reichen, soweit reicht diese Welt. Nach einer
neuen Ordnung teilte der Buddha die Dinge. Er teilte nicht in:
Denken und Sein, oder: Geist und Materie, oder: Kraft und
Stoff, oder: gutes und böses Princip, oder ähnliche Abstracta,
sondern aus seinem Munde zuerst vernahm die überraschte
40
Welt die neue Ordnung nach Leiden und Leidenslosigkeit.
Wie unser Sonnensystem die fünf Sinnesorgane in ihren
specifischen Funktionen erfordert, so erfordert das
Sonnensystem
des
Buddha
das
Organ,
die
Empfindungsfähigkeit für das Leiden. Das ist das einzige
Erfordernis; nichts ist nötig als Gefühl, Verständnis für das
Leiden dieses Lebens. Wie klar, wie positiv, wie rein
menschlich.
Der Gedankengang vom Leben als Leiden zieht sich wie ein
roter Faden durch alle indische Philosophie. Nicht wie wir: vor
dem Tode, dem wahren, ruhebringenden, köstlichen Tode,
fürchtet sich der Hindu, sondern vor dem Leben, diesem in
endlosen Wiedergeburten sich erneuernden Leben. Der
Samsara, der in den Wiedergeburten sich abspielende
Kreislauf ist das Schreckgespenst indischen Geistes. Und nicht
nur Product philosophischen Denkens ist diese Ansicht,
sondern in ungewöhnlichem Grade ist sie Gemeingut des
ganzen indischen Volkes. Auf solche Grundanschauungen
eines Volkes muß man zurückgehen, um seine Religion
verstehen zu können. Religion ist nichts neben oder über dem
Volk, sondern aus dem Volk heraus Entstandenes, ein Product
seiner .Charakteranlage. Auch diese Charakteranlage mag
sich, ja zum Teil erklären lassen, aber schließlich kommt man
doch auf einen Punkt, wo ein weiteres Ableiten aus Gründen
aufhört und man sich mit der Tatsache begnügen muß. Eine
Tatsache in diesem Sinn ist es, das ein Volk intensiver am
Leben hängt als das andere. Die Indifferenz der
amerikanischen Rasse diesem sogenannten höchsten Gut
gegenüber ist bekannt. Auch der Ostasiate greift mit uns
unverständlicher Leichtigkeit zum Selbstmord, und der
Malaye bringt es fertig, die Rache an seinem Feind, wenn alle
anderen Wege verschlossen sind, dadurch auszulassen, daß er
sich vor dessen Tür erhängt. In hervorragendem Maße hat das
indische Volk an dieser Charaktereigenschaft Anteil und steht
so in auffallendem Gegensatz zur semitischen Rasse mit ihrem
derben, unverwüstlichen Lebenstrieb, welcher sich religiös in
41
der Lehre von diesem mit Bewußtsein begabten Leben nach
dem Tode an einem himmlischen Ort wiederspiegelt. Mag es
einem so Veranlagten im Leben auch noch so jammervoll
gehen, er sieht die Schuld nicht in der allem Leben
anhaftenden Unvollkommenheit, sondern in persönlichem
Mißgeschick und gewissen Sonderbedingungen. So hofft er
bis zum letzten Moment auf besseres, und bleibt nichts mehr
zu erwarten, so springt seine Hoffnung auf das Leben nach
dem Tode über. All Heil liegt für ihn im Leben, und nur weil
selbst der Kurzsichtigste über das Elend hier nicht wegstolpern
kann, wird nach abgekürztem Verfahren mit dieser einen
Existenz als einer etwas mißglückten Probe abgeschlossen,
und alles andere in ein mit jeglichen Vollkommenheiten
begabtes Paradies verlegt. So läßt man sich vom Leben
täuschen, wie ein gutwilliges Publikum, dem irgendein
Tausendkünstler eine schlechte Schaustellung vorführt und
hinterher, seine eigene Mangelhaftigkeit fühlend, sagt: „Dieses
war nur so eine Andeutung meines Könnens, dieses ist darum
mißglückt und jenes darum, aber nächstes Mal, da sollt ihr
sehen!― Der gute Mann hat aber tatsächlich sein Bestes
geliefert und immer, wenn er seine Schaustellungen wieder
vorführt, macht er dieselben Ausreden. Wer das Leiden des
Lebens in Zufälligkeiten sucht, der ist wie einer mit krankem
Fuß, der die Ursachen seiner Schmerzen im Stiefel sucht.
Ein anderer aber fühlt im individuellen das allgemeine Leiden,
wie es allem Leben anhaftet. Im einzelnen Phänomen wittert
er das allgemeine Naturgesetz. Und bald ergreift ihn Angst
und Übersättigung: er verzichtet. So reagiert aus
unerklärlichen Gründen der eine auf das Phänomen des
Lebens in dieser, der andere in jener Weise. Die Art dieser
Reaction ist, wie der Kristall in der Salzlösung, der
Ansatzpunkt, um den herum sich ein Gedankenmolekül nach
dem anderen gruppiert bis zur völligen Entwicklung des
religiösen Systems.
Aber noch einmal: Nichts ist für den Buddhisten nötig als
Gefühl, Verständnis für das Leiden dieses Lebens. In den
42
Offenbarungsreligionen
ist
ein
Glauben
gewisser
übernatürlicher Tatsachen unerläßlich, um sich in Wahrheit
einen Angehörigen dieser Religionen nennen zu können.
Dieses Glauben-können ist aber eine angeborene Eigenschaft,
kann nicht anerzogen, nicht angelernt werden. Darum: hindert
mich mein Verstand, die christlichen Dogmen zu glauben, sind
die Strafen, mit denen gedroht, die Verheißungen, mit denen
gelockt wird, leere Worte für mich, so bin ich trotz höchster
Moral kein Christ. Unwiderruflich versperrt mir mein
Verstand den Eintritt. Es ist als ob ich mit dem Licht in der
Hand der Dunkelheit nachliefe und keine Macht der Erde kann
helfen. Dagegen um Buddhist zu sein, ist es nicht notwendig,
glauben zu können. Hier ist der Glaube entthront und durch
das Wissen, das Verstehen ersetzt worden, also etwas
Unlehrbares durch etwas Lehrbares. Darum: Heil euch allen,
die ihr nicht glauben könnt! Euch als den ersten gelten die
Verheißungen des Buddha. Euch wird der Buddha verstehen
lehren, und im Verstehen wird sich euch das Höchste
offenbaren.
Aber wenn ich auch an nichts Übersinnliches zu glauben
brauche, so muß ich doch an. den Buddha und an seine Lehre
glauben? — Selbst das ist nicht notwendig. Mehr als einmal
wird dieser Punkt in den Suttas besprochen; nie wird verlangt,
daß jemand seine Laufbahn mit Glauben an die Lehre beginnt.
Es heißt stets nur: „Nachdem er diese Lehre gehört hat, faßt er
Vertrauen zum Vollendeten (dem Buddha).― Dieses Vertrauen
mag daher entstehen, daß in der Tiefe seines Herzens eine
Saite erklingt in sympathetischem Mitschwingen, wie eine
Stimmgabel mittönt, wenn eine andere, auf den gleichen Ton
abgestimmte, angeschlagen wird. Oder das Vertrauen mag
daher entstehen, daß er an anderen den Erfolg der Lehre sieht.
Wie ein Kranker ein neues Heilverfahren, so mag der Buddhist
seine Laufbahn beginnen. Wie ein Kranker, der andere durch
dieses Heilverfahren genesen sieht, den Entschluß faßt, die
Vorschriften dieses Verfahrens zu befolgen, wenn auch noch
ohne Glauben, so faßt der angehende Buddhist den Entschluß,
43
die Vorschriften des Buddha zu befolgen, den heiligen
Achtpfad zu betreten, wenn auch noch ohne Glauben. Mit den
Fortschritten in Moral und Wissen stellt sich auch der Glaube
ein. Der volle Glaube freilich wird erst erreicht mit dem vollen
Wissen, wie jemand erst den höchsten Gipfel eines Berges
erklimmen muß, ehe er den vollen Überblick über die
Landschaft gewinnt.
Der Glaube im Buddhismus ist lediglich ein Product des
Wissens, nichts als eine mathematische Gewißheit. Für ihn gilt
nicht jene neutestamentliche Definition; denn das hieße aus
dem Unsicheren Sicheres, aus dem Fraglichen Fragloses
ableiten. Eine derartige geistige Manipulation existiert nicht
im Buddhismus. Wie es in einem Hause, welches vom Boden
bis zum Keller erleuchtet ist, keine Gespenster gibt, so gibt es
in dem vom Wissen bis in die entlegensten Winkel
erleuchteten Buddhismus keinen Glauben im christlichen Sinn,
kein Etwas, welches, den allgültigen Naturgesetzen
widerstreitend, seine Berechtigung lediglich aus seiner
Unerklärbarkeit herleitet. Im System des Buddha hat nur das
Platz, was sich dem ehernen Gesetz von Grund und Folge
einreiht, und es gibt hier keine Lücke, über die der Verstand
im Saltomortale hinwegschnellen müßte.
Es ist ohne weiteres klar, daß ein System, welches des
Glaubens nicht bedarf, auch keines Gottes bedarf. Denn wie
das Sehen zum Sichtbaren, das Hören zum Hörbaren sich
verhält, so der Glaube zum Gottbegriff. Eines bedingt das
andere, eines fällt mit dem anderen. Der Buddhismus ist nicht
atheistisch im Sinne von Gott leugnend: nie hat der Buddha
die Existenz eines göttlichen Wesens bestritten, es lag aber in
der Anlage, in dem Aufbau des Systems, daß er sich dieser
Frage gegenüber völlig gleichgültig verhielt, verhalten mußte.
Er hatte das Leiden erkannt; das Leiden sollte vernichtet
werden. Mit der Exactheit eines Rechenexempels war diese
Aufgabe gelöst worden: Das war genug. Die Einführung des
Gottbegriffes würde das Aufgehen des Rechenexempels
unmöglich gemacht haben. Der Buddha hatte einen Fußweg
44
zum höchsten menschlichen Ziel, der Leidenslosigkeit
gefunden, den jeder hochklimmen kann, der natürliche
Gliedmaßen hat. Er hat aber nie bestritten, daß man auch auf
Flügeln, oder im Luftballon, oder auf andere wunderbare
Weise zu diesem Höchsten gelangen könne. Er begnügt sich
zu constatieren: Diesen Weg habe ich gefunden; wer sich mir
anvertrauen will, dem kann ich Führer sein. „Ich verstehe die
Zeitlichkeit und verstehe die Ewigkeit; und die meiner
Schwimmkunst vertrauen wollen, denen wird es zu langem
Wohle und Heile gereichen.―
Wie ein Kaufmann, der von der Güte seiner Waren überzeugt
ist, keine Reclame und keine Kunstkniffe nötig hat, so begnügt
sich der Buddha einfach, sein Gesetz vom Leiden darzulegen,
wie Leiden entsteht und wie es vergeht. Das ist das große
Gesetz, das alle Buddhas vor ihm gelehrt haben und alle
Buddhas nach ihm lehren werden. Alles andere was außerdem
noch gelehrt wird, ist von diesem Grundgesetz umfaßt, „wie
von der Elefantenspur jede andere Spur lebender Wesen
umfaßt wird.―
So geht alles erquicklich offen zu wie bei einem ehrlichen
Handel. Der Käufer kennt die Ware und kennt den Preis. Die
zu erstehende Ware ist die Leidenslosigkeit, der zu zahlende
Preis ist das resolute Verzichten, das Nicht-Wollen. Es ist
natürlich, daß nur einer, der Verwendung für diese Ware hat,
d. h. nur einer, der Leben als Leiden schwer genug fühlt,
geneigt sein wird, einen in unseren Augen so exorbitanten
Preis zu zahlen.
Man darf nicht vergessen, daß ein Vergleichen des
Buddhismus mit anderen Religionen in vielen Beziehungen
ein Vergleichen incongruenter Größen ist. Das Höchste ist für
den Buddhisten etwas ganz anderes, als für den Anhänger der
anderen Religionen. Sein Endziel ist nicht ein Himmel, eine
Vereinigung mit dem Göttlichen: Sein Endziel ist die
Leidenslosigkeit.
Hier
allein
bleibt
der
Begriff
‚Leidenslosigkeit‘ in der reinen Negation und ist nicht das,
45
versteckte Positivum (himmlische Seligkeit). Der Buddhismus
als einzige unter allen Religionen ruht auf der Negation, läuft
in die Negation aus, ja ist Negation. Er hat daher lediglich
Wert für solche, die nach der Tür suchen, welche aus dem
Leben hinausführt; und tatsächlich ist Buddhismus nichts
anderes als Anleitung hierfür. Wir dürfen uns also nicht
wundern, daß auch der Apparat, mit dem gearbeitet wird, ein
völlig anderer ist als bei den übrigen Religionen, daß Glaube
und Gottbegriff fehlen und durch das Verstehen ersetzt sind.
Wie in Bezug auf Weltanfang, so steht auch in Bezug auf das
Ende der Buddhismus einzig unter allen Religionen da, weil
nicht im Himmel, einer mystischen Vereinigung mit dem
Göttlichen endend, sondern in dem kahlen, aber klaren Begriff
der Leidenslosigkeit. Da Leben in jeder Form für den
Buddhisten Leiden ist, so ist für ihn das Höchste, die
ungemischte Leidenslosigkeit, logischerweise nur ohne Leben
denkbar. Leben und Leidenslosigkeit schließen sich
gegenseitig aus. Sehnsucht nach dem Himmel ist nichts als
sublimste, aber auch intensivste Form des Lebenstriebes.
Durch den Trieb zum Leben lebe ich aber. Ist für mich Leben
wahrhaft Leiden, so muß die Sehnsucht auch nach dem
Himmel fallen. Die Sehnsucht nach dem Himmel ist aber der
Himmel. Wo keine Sehnsucht nach ihm, da auch kein
Himmel. Wo kein Himmel, da braucht er auch nicht bewiesen,
erklärt, vorgeführt werden, die dankbarste und zugleich
mißlichste Aufgabe der Welt. Während alle anderen
Religionen stets in der fatalen Lage sind, den Gläubigen ihre
Himmel in einer Weise darstellen zu müssen, daß selbst bei
vorsichtigster Zurückhaltung immer noch menschliche Farben
durchschimmern, wird für den Buddhisten in höchster,
farbloser Consequenz der Negation alles durch die drei Worte
umfaßt: Ich leide nicht.
Freilich hat der Buddhismus seine Himmel und seine Götter,
sogar, in Übereinstimmung mit jener Neigung zum
Kolossalen, ungeheure Massen von Göttern, aber, um in
obigem Bild zu reden, ihre Spur ist auch in der Elefantenspur
46
der Lehre vom Leiden mit inbegriffen. Auch sie sind dem
großen Gesetz vom Leiden und der Vergänglichkeit
unterworfen. Vergeblich flüchtet sich der getäuschte Geist in
den Schoß der Gottheit; den Schützling samt dem Schützer
reißt das unerbittliche Karma in das endlose Kreisen der
Wiedergeburten zurück, wie das verdunstete Wasser, mag es
noch so hoch in den Äther sich erhoben haben, doch immer
wieder als Regen in das Meer zurückkehrt. Was sollen also
himmlische Seligkeiten! Sie sind ja gleich den irdischen nichts
als der Rückschlag vorangegangener Leiden, und unweigerlich
wird ihnen neues Leiden als Rückschlag folgen. Mag die
ungeheure Langsamkeit des Rhythmus auch ewiges Sein,
ewige Ruhe vortäuschen, der Wissende wittert auch hier die
Schwingungen, die Unbeständigkeit, das Leiden.
Die Götter im Buddhismus sind ähnlich jenen allegorischen
Wandgemälden, mit denen man öffentliche Gebäude
schmückt, um sie nicht so kahl erscheinen zu lassen. Die
Beziehung dieser Götter zum System ist keine nähere, als die
der gemalten Allegorie zum Gebäude.
Nun schön! Mag der Buddhist nicht an Gott, nicht an den
Buddha glauben, so glaubt er doch an sein Nirvana. Was für
den Christen die Vereinigung mit Gott, das ist für ihn das
Eingehen in Nirvana. Auch das Nirvana kann er nicht sehen
und doch zweifelt er nicht daran. So ist Glauben hier wie da,
und alles läuft schließlich auf Wortunterschiede hinaus. —
Nichts ist falscher als das! Über den Nirvanabegriff ist an
anderer Stelle des näheren gesprochen worden, hier sei nur
hervorgehoben, daß, sowie kein Sehnen, Streben nach, so auch
kein Glauben an Nirvana möglich ist. Nirvana ist nichts, als
der aus der absoluten Negation hervorgegangene Begriff der
Leidenslosigkeit. Der Buddhist sehnt sich nicht nach Nirvana,
sondern nach Befreiung vom Leiden. Hiermit ist Nirvana an
sich da, wie die Dunkelheit da ist, wenn das Licht ausgeht. Er
glaubt nicht an Nirvana, sondern er weiß: das Leiden ist
vernichtet. Damit schaut sein Geist Nirvana in dem Sinne, wie
das Auge die Dunkelheit schaut: eben im Nichtsehen.
47
Noch einmal: Der Buddhismus kennt tatsächlich nur das aus
dem Wissen entstandene Glauben. Er hat nicht nötig, mit den
Glaubensbegriffen der Offenbarungsreligionen zu operieren.
Der denkende Geist ist hier nicht gezwungen, sich mit diesen
unlösbaren Problemen abzuarbeiten. Ja mehr als das: Er ist
nicht
einmal
gezwungen,
die
Dogmen
der
Offenbarungsreligionen zu leugnen. So völlig abseits liegt die
Welt des Buddha, daß keiner seiner Gedankenkreise auch nur
eine dieser Fragen schneidet oder tangiert. Sie mögen wahr
sein, sie mögen falsch sein, und keins von beiden übt die
leiseste Einwirkung auf die geschlossene Grundfolgekette des
buddhistischen Systems aus.
Hieraus ergibt sich ein anderer ungemeiner Vorzug dieser
Lehre:
Als einzigste unter allen Religionen steht sie a priori nicht im
Widerspruch mit der Wissenschaft und ihren Fortschritten. Sie
selber ist ja schließlich nichts als eine Übertragung der in den
Naturwissenschaften gültigen Gesetze auf das Moralgebiet.
Der Buddhismus kennt nicht jenes dünkelhafte, anderen
Religionen eigene Ablehnen. Willig nimmt er die Tatsachen
der Wissenschaft auf, z. T. sogar als Stütze für sein eigenes
Lehrgebäude. Jene Sucht nach Wissen freilich, die in der
unerschöpflichen Fülle der Tatsachen ihren Träger zu Grunde
gehen läßt, ist streng verpönt. Hang zur Vielwisserei ist eine
der vier Arten des Lebenstriebes, die an der Erlösung hindern.
Erlösung aber ist das Endziel, und Erlösung ist nur möglich,
durch ständiges Denken an die Erlösung. Vergesse ich über
dem Studium mich selbst, wie kann ich da zur Erlösung
kommen? Auch hier heißt es, den Pfad der richtigen Mitte
halten. Die Phrase ‚sein Leben der Wissenschaft widmen‘,
wird hier zur Immoralität Die Sucht nach Wissen (Wissen im
vulgären Sinn genommen) trägt, weil das Materielle zum
Substrat habend, das Unvollkommene, Unbefriedigende in
sich, kann also nicht zum Frieden, zur vollkommenen Ruhe
führen. Es gibt im Buddhismus keine verbotenen Bücher, kein
verbotenes Wissen, aber der Verständige wird in jedem neu
48
erworbenen Wissen die Unvollkommenheit, das Leiden
schmecken. Mag der Geist, wie die Biene aus allerhand
Blumen, sich hier und da Nahrung suchen, der Verständige
wird wie die Biene Süßes und Bitteres zum Honigseim der
Erlösung verarbeiten. Wie das ganze Leben, so ist auch die
Wissenschaft nichts als ein Spiegel, der das Leiden und die
Vergänglichkeit der Welt zurückwirft. Nie darf sie
Selbstzweck sein. Nur wer die Wissenschaft in diesem Sinn
auffaßt, der faßt sie recht auf. Nicht gelehrter und genialer
Menschen benötigt die Welt, sondern nachdenklicher und
moralischer. Aber noch einmal: Nie kann hier Wissenschaft
sich zu einem solchen Gegenpol der Religion ausbilden wie im
Christentum, weil die Sätze des Buddha nichts enthalten, was
den Ergebnissen der Wissenschaft an sich widerstritte.
Die Wichtigkeit dieses Punktes kann gar nicht überschätzt
werden. Die Folgen der Trennung von Wissenschaft und
Religion machen sich im christlichen Kulturgebiet in immer
stärkerer Weise fühlbar. Bis in die tiefsten Schichten des
sozialen Körpers klafft der Riß. Dieser Zwiespalt stammt aus
jenen ersten Zeiten, als das Christentum sich über die
griechisch-römische Welt legte. Nie waren die sozialen
Unterschiede so kolossale, als zur Zeit der römischen
Kaiserherrschaft. Nie war die Welt jenem Zustand der
Zweitklassigkeit ohne die vermittelnden Zwischenstufen so
nahe als zu jener Zeit. Die damalige Gesellschaft unter einem
gemeinsamen Gesichtspunkt, in gemeinsamem Streben zu
vereinigen, war eine Aufgabe ähnlich der, allein aus Salz und
Zucker einen Kuchen zu backen. Es fehlte das Mehl des
Mittelstandes. So war es unausbleiblich, daß diese neue
Religion, den Bedürfnissen des einen Standes angepaßt und
für diesen ein Ruhelager, für den anderen Stand ein
Prokrustesbett wurde.
Wie die Kerbe in der Rinde eines jungen Baumes, so ist dieser
Riß zwischen Wissenschaft und religiösem Glauben mit dem
Wachstum der ersteren immer umfangreicher, tiefer geworden.
Die Zeiten, in denen der immer wieder aufklaffende Spalt
49
immer wieder durch Hekatomben von Menschenopfern
gestopft werden konnte, sind vorüber, vielleicht nur, weil der
Spalt zu groß geworden ist, um einer Füllung auf diese Weise
noch hoffen zu lassen. Aber das ist die fürchterliche Folge
dieses Zwiespaltes, daß er, gewisse begünstigende
Eigenschaften des Volkscharakters vorausgesetzt, den
Fanatismus ins Leben ruft. Wie in der Chemie das unschuldige
Blutlaugensalz, wenn es in seine beiden Bestandteile
zerspalten wird, das giftige Cyankali entstehen läßt, so läßt die
Kultur, die in ihrer Vollkommenheit aus der organischen
Verbindung von Glauben und Wissen besteht, aus der
Trennung dieser beiden das Lebenzerstörende Gift des
Fanatismus entstehen. Und wie ein Krebsleiden, trotz
scheinbarer lokaler Wucherung, den ganzen Organismus und
damit sich selbst zerstört, so zerstört der Fanatismus, trotz
scheinbarer lokaler Erfolge, doch schließlich das ganze
System und damit seine eigene Basis.
Der antiken Welt war religiöser Fanatismus fremd. Wie
köstliche Producte wurden im römischen Weltreich die
Gottheiten der einzelnen Länder gegenseitig ausgetauscht. Wie
Rahei die Hausgötzen ihres Vaters in ihre neue Heimat, so
nahmen der Syrer, der Jude, der Ägypter ihre Landesgötter
mit nach Rom, und in krystallener Durchlässigkeit nahm der
Riesenkörper alle von diesen neuen Lichtcentren ausgehenden
Strahlen auf, ohne in Brand zu geraten, ja ohne sich nur zu
erwärmen. Auch die anderen Weltherrschaften, die
macedonische,
die
persische
sind
nie
religiöse
Gewaltherrschaften gewesen. Politik und Religion, irdisches
und himmlisches Reich liefen in antiker Weltanschauung stets
getrennt neben einander. Nur im jüdischen Volk hatte sich
durch ein Zusammentreffen eigenartiger Anlagen und
besonderer Umstände die Verquickung beider vollzogen.
Deswegen war es stets dieses kleine Volk, welches im
Organismus der sich folgenden Riesenreiche saß, wie der Dorn
in der Klaue des Löwen. Deshalb, weil es sich diesen
Organismen nicht eingliedern lassen wollte, weil es, in seinen
50
Glauben eingekapselt, allem Außenstehenden fanatischen
Widerstand entgegensetzte, nahmen auch die an ihm
vollzogenen Strafen den Charakter des Fanatismus an. Jede
Beschränkung ihres politischen Lebens wurde gleichbedeutend
mit einem Gewaltakt gegen ihre Religion. Tatsächlich ist der
Religionskrieg, der schrecklichste, weil unmotivierteste aller
Kriege, den alten Weltreichen unbekannt geblieben.
Man darf behaupten, daß in der Charaktermischung keiner
Rasse der Prozentgehalt an Fanatismus ein so bedeutender ist,
als beim semitischen Stamm, und wenn der Jehovah-Kult von
irgendeinem anderen an Fanatismus übertroffen wird, so ist es
vom Islam. Das Christentum als Sprößling jüdischen Wesens
hatte die Anlage zum Fanatismus geerbt, wie das Kind vom
Vater eine Krankheitsanlage erbt. Die ständige Reibung, die
bald mit dem hochentwickelten exacten Wissen des römischgriechischen Kulturkreises eintrat, brachte leicht den zur
Entwicklung des Keimes nötigen Wärmegrad hervor. Weil das
Raisonnement hier nicht ausreichte, mußten Feuer und
Schwert mithelfen. So überzog mit dem Christentum religiöser
Fanatismus die Länder Europas. Und jenes furchtbarste
Schauspiel der Weltgeschichte, daß ein Volk das andere mit
Krieg überzieht, um ihm seinen Glauben zu bringen, jene
entsetzlichste Komödie des Göttlichen spielte sich erst unter
der Herrschaft der dem semitischen Stamme entsprossenen
Religionen ab.
Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man den Buddhismus die
einzige aller Religionen nennt, die völlig frei von Fanatismus
in jeder Form ist. Der Grund hierfür liegt in dem Mangel
jeglicher Glaubenssätze. Ebenso wenig wie bei der Lösung
einer mathematischen Aufgabe gestritten werden kann ob
Recht oder nicht — denn die rechte Lösung zeigt sich durch
sich selber, — ebenso wenig kann im Verfolg des
buddhistischen Gedankenganges gestritten werden. Von jedem
Punkt aus kann mit mathematischer Exactheit das Ganze
entwickelt werden, und nirgends bleibt jener Rest, jenes
Unauflösbare, Unerklärbare, welches, wie nichts anderes in
51
der Welt, die geheimnisvolle Eigenschaft besitzt, die
menschlichen Affecte auflodern zu lassen.
Wer im Verfolg der Gedanken des Buddha auf irgendetwas
stößt, was unerklärbar scheint, sich dem Ganzen nicht
einzugliedern scheint, der mag sicher sein, daß er von der
Basis: ‚All Leben ist vergänglich‘ schief aufwärts gebaut hat.
Im buddhistischen System gibt es nichts Unerklärtes,
Mysteriöses, Kosmisches. Das meinte der Buddha, als er zu
einem seiner Jünger sprach: „Hinsichtlich der Lehre ist am
Tathagata nichts gleich der geschlossenen Hand des Lehrers,
welche etwas verbirgt.―
Auch äußerlich zeigt sich diese ungeschützte Offenheit, wie
sie nur auf voller, innerer Sicherheit beruhen kann. Im
‚buddhistischen Gottesdienst‘ (wenn man so sagen darf) ist
nichts Heimliches, Geschlossenes, ja im eigentlichen,
südlichen Buddhismus, wie er in Ceylon und Birma herrscht,
erstreckt sich diese Offenheit sogar auf das Äußerliche. Es gibt
(mit Ausnahme der alten Felsentempel) keine geschlossenen
Tempelräume. Die Anbetung findet auf der offenen Plattform
der Pagode statt. Jeder hat Zutritt, jederzeit. Es gibt unter allen
Ceremonien nicht eine, die der Fremde, Andersgläubige nicht,
ohne vorherige Einweihung, mitmachen könnte, falls ihn ein
Gefühl der Ehrfurcht treibt. Der buddhistische ‚Gottesdienst‘
ist der liebenswürdigste der Welt, und besonders an Orten, an
welchen neben Buddhismus Religionen wie Hinduismus und
Mohammedanismus mit ihrer finsteren Exclusivität bestehen,
hebt er sich in seiner vollen Lieblichkeit, in seiner naiven
Natürlichkeit ab. Wer die Plattform des Shwe-Dagon (der
goldenen Pagode in Rangun) oder den heiligen Berg Mihintale
in Ceylon besucht hat, der wird gerne zustimmen.
Auch die buddhistischen Reiche waren stets ausgezeichnet
durch Toleranz und Zugänglichkeit. Ceylon im frühen
Mittelalter war in der ganzen damaligen Welt berühmt durch
die völlige Gleichberechtigung, die es den verschiedenen
Religionen zukommen ließ. Tibet ist nicht durch den
52
Buddhismus, sondern durch seine Hierarchie, die dem Sinne
des wahren Buddhismus völlig widerstreitet, das
abgeschlossenste Land der Welt geworden.
Für den Buddhisten ist Religion jedermanns eigenste Sache,
mit der er sich selber abzufinden hat. Der Buddha selber war
soweit davon entfernt, auf seine eigene Herde einen Zwang
auszuüben, daß er vor seinem Hinscheiden seinen Jüngern
sagte: „Der Tathagata denkt nicht, daß er es ist, der die
Brüderschaft leiten muß, oder daß der Orden abhängig von
ihm ist― (Maha-Parinibbana Suttam).
Der Buddhismus ist ja schließlich nichts als eine innere
Umwandlung des Menschen, die auf stillem Nachdenken
beruht. Mit Gewalt, mit Streit, ja selbst mit Überreden ist
nichts gemacht. Nichts kann getan werden, als das Gesetz
darlegen. Alles andere muß dem anderen überlassen bleiben.
So begnügt die Sonne sich, ihr Licht zu zeigen, ohne jemand
zu zwingen davon Gebrauch zu machen. So läßt der Tathagata
den Quell der Erlösung fließen; mag trinken wer da Durst hat.
Alles gewaltsame Eingreifen fällt hier fort. Welches Gut sollte
dem anderen auch mit Gewalt aufgedrungen werden? Das
höchste Gut, der Gott, ist ja nicht. Hier ist nichts zu
verschenken, besonders nicht dieses ideelle Gut, das sich
erfahrungsgemäß sehr viel leichter anbietet, als der Inhalt der
Börse. Höchstes Gut ist ja hier nichts Positives, sondern
besteht nur in der Fortnahme einer Täuschung. Hebung einer
Täuschung kann aber nur durch Richtigstellung erfolgen. Da
ich aber diese Täuschung (vom Ich als wahrem Ich) nicht nur
habe, sondern selber bin, so kann die Richtigstellung lediglich
durch mich selbst erfolgen. Der andere mag mir dadurch, daß
er den Quell der Lehre fließen läßt, Gelegenheit zur
Richtigstellung geben: Die Richtigstellung selber kann nur
durch mich allein stattfinden.
So drängt alles auf jene Concentrierung, die über den anderen
hinwegsehend, Himmel und Hölle, Vergangenheit und
Zukunft vergessend, das geistige Auge nur auf dieses Ich
53
fixiert hält, auf dieses erstaunliche, unerhörte Erleben des
Leidens und seines Überganges in Seligkeit.
In keiner Religion ist das Ich so sehr ein Nichts und doch so
sehr alles wie in dieser. Jedes Hinfallen des geistigen
Schwerpunktes nach außerhalb ist nur ein der Täuschung
verfallen und kann unmöglich dem anderen nützen, muß aber
unweigerlich mir selber schaden. Daher das resolute Abweisen
aller Gedankenreihen, die außerhalb dieses Systems der
Erlösung liegen. Daher der Kampf gegen, der Spott über jene
Hypothesensucht, die im alten Indien ebenso geblüht haben
mag und ebensolche Auswüchse getrieben haben mag wie in
den Sophistenschulen von Hellas. Diese nutzlose
Hypothesensucht meint der Buddha, wenn er zum Brahmanen
Janussoni spricht: „Doch gibt es, o Brahmane, manche
Asketen und Brahmanen, die halten die Nacht für Tag und den
Tag für Nacht. Ich aber, Brahmane, halte die Nacht für Nacht
und den Tag für Tag.― Und zu seinen Jüngern spricht er:
„Denkt nicht Gedanken wie die Welt sie denkt: ‚Die Welt ist
ewig oder die Welt ist nicht ewig. Die Welt ist endlich oder
die Welt ist nicht endlich‘. Wenn ihr denkt, ihr Jünger, so
mögt ihr also denken: ‚Dies ist das Leiden‘. Ihr mögt denken:
‚Dies ist die Entstehung, des Leidens‘. Ihr mögt denken: ‚Dies
ist die Aufhebung des Leidens‘. Ihr mögt denken: ‚Dies ist der
Weg zur Aufhebung des Leidens‘.― Und er selber spricht zu
einem Brahmanen die stolzen Worte: „Der Tathagata ist frei
von aller Theorie.―
Man hat den Buddhismus mit dem Christentum verglichen und
gesagt: Er war wie diese eine Religion für die Armen, für die
Niedrigen, Elenden, Geknechteten. Ich denke, etwas
Falscheres kann kaum gesagt werden. Man hat sich dadurch
täuschen lassen, daß der Buddha die Ketten sprengte, in
welche das indische Leben sich selber geschlagen hatte, daß er
weit die Tore seiner Lehre öffnete, so weit, daß die Mitglieder
aller Kasten nebeneinander eintreten konnten. Er selber sagte:
„Wie im Ocean alle großen Ströme Namen und Existenz
verlieren, so in meiner Lehre alle Kasten.― Es ist wahr, der
54
junge Buddhismus nahm alles auf, was die anderen, in
Kastenbegriffen befangen, zurückweisen mußten, doch das lag
in der Mission Gautamas als Buddha mit einbegriffen. Er war
ja der Erlöser der Welt und wie er weit über den Göttern stand,
so stand er auch weit über den göttlichen Institutionen. Von
den andern Sekten wegen seiner Skrupellosigkeit in dieser
Hinsicht getadelt, antwortet er: „Mein Gesetz ist ein Gesetz
der Gnade für alle.―
In gewissem Sinne kann man sagen: Das Christentum ist nicht
für Welt, sondern für die Armen, Enterbten geschaffen
worden, für die von allen materiellen und geistigen Genüssen
dieser Welt Ausgeschlossenen. Wenn man etwas vom
Buddhismus nicht sagen kann, so ist es dieses. Man bedenke,
daß das indische Volk, für welches mehr als für jedes andere
das Leben Leiden ist, sich den Buddhismus wieder hat nehmen
lassen, und daß die heute dem Buddhismus zugehörigen
Völker zu den lebenslustigsten der Erde gehören; ich denke
hier besonders an die Birmanen. Das schließt nicht aus, daß
Arme und Geknechtete sich seine Lehren zu nutzen machten,
aber geschaffen wurden sie nicht für sie.
Befreiung vom Kastenzwang war das, was die Armen zu der
Lehre hinzog, und nur zu oft mag nicht innerer Drang, sondern
Rücksicht auf äußerliche Vorteile die Triebfeder gewesen sein.
Der Buddha mochte Ursache haben, seinen Mönchen
zuzurufen: „0 daß meine Jünger Erben der Wahrheit seien und
nicht Erben der Notdurft!―
Noch viel weniger gilt im Buddhismus das „Selig sind, die da
geistig arm sind.― Es ist bezeichnend für das ganze System,
daß Gautamas erster Gedanke nach erlangter Buddhaschaft
dieser ist: „Werden mich meine Mitmenschen auch
verstehen?― „Mag ich, heißt es an anderer Stelle, in Kürze die
Wahrheit verkünden, mag ich ausführlich die Wahrheit
verkünden, Versteher sind schwer zu finden.― Ohne, weiteres
fühlt man: das kann keine Lehre für die Armen im christlichen
Sinne sein. Man hat sich auch hier durch die Redeweise des
55
Buddha täuschen lassen, durch seine in die Breite gehende, in
ermüdenden Wiederholungen sich gefallende Lehrart, die zu
der der Brahmanen mit ihrer dunklen Tiefe und rätselhaften
Kürze in grellstem Widerspruch stand. Aber nicht, weil er in
erster Linie für die Niedrigen da war, lehrte er so, sondern weil
er der Erste war, der consequenterweise öffentlich predigte.
Weil er ferner aus alten Schlagworten neue Gedankenreihen
hervorgehen ließ, und weil diese Gedankenreihen im
Gedächtnis behalten werden mußten: denn Schreiben war noch
nicht Usus zu seiner Zeit.
Der Arme, der von den Genüssen dieser Welt noch nichts
gekostet hat, wird sich für ein solches ‚Sichlossagen von jeder
Lebenslust‘ nicht begeistern; ihm muß ein Ideal vorgestellt
werden im Himmel, in dem er doppelt nachholen wird, was er
hier versäumt hat. Die Religion der Armen ist eine Religion
der Verheißungen, des Buddha Religion ist aber eine Religion
des Entsagens.
Hier gähnt zwischen Buddhismus und Christentum eine Kluft,
wie zwischen dem jüdischen Zimmermannskinde und dem
indischen Fürstensohn, den der Ekel am Luxus hinaustreibt,
der ringsum nichts als Leiden sieht, weil die natürlichen
Freuden längst für ihn verloren gegangen sind. Das ist nicht
das Leiden der wirklich Armen, welches Freuden gebiert so
zart, so schön, wie die Blumen, die dem Schnee entsprießen.
Das Leiden Gautamas ist jenes finstere Leiden, das tot daliegt
wie ein ausgebrannter Krater, der auf Erdrevolutionen wartet,
um aufs Neue ins Leben hineingerissen zu werden. Solch einer
Revolution verdankt der Buddhismus seine Entstehung: es war
der Rückschlag gegen die Askese, und die vulkanische
Fruchtbarkeit des neu belebten Bodens hat eine Blume von
unsäglicher Reinheit sprießen lassen: die Erlösungslehre des
Buddha.
Nach einer Art sprechen alle Buddhas, wenn sie Laien lehren.
Erst predigen sie über die Verdienstlichkeit des
Almosengebens, über die Pflichten der Moralität, über die
56
Sündlichkeit der Lust, über den Segen des Sichlossagens von
der Lust. Erst dann, wenn sie sehen, daß ihre Zuhörer
genügend präpariert, genügend empfänglich sind, erst dann
predigen sie die große Lehre aller Buddhas, d. h. das Leiden,
die Ursache des Leidens, die Vernichtung des Leidens und den
Pfad, der zur Vernichtung des Leidens führt. Das ist die Art
wie die Buddhas lehren.
Schon aus dieser Äußerlichkeit geht hervor, wie der Buddha
selber nie vergessen hat, daß seine Lehre nicht für jedermann
geeignet ist. Trotzdem er als Erlöser der Welt kam, stets ist ein
Zug von Noblesse und Exklusivität seiner Lehre eigen
gewesen. „Die andern werden nur für das vor Augen Liegende
Interesse haben, mit beiden Händen zugreifen, sich schwer
abweisen lassen; wir aber werden nicht nur für das vor Augen
Liegende Interesse haben, nicht mit beiden Händen zugreifen,
uns leicht abweisen lassen,― heißt es in einem Sutta. Man darf
wohl behaupten, daß dieses gutgemeinte, aber oft sehr lästige
Aufdrängen der religiösen Überzeugungen, diese banalste
Äußerung
menschlichen
Wohltätigkeitssinnes
dem
Buddhismus fremder geblieben ist als allen anderen
Weltreligionen. Das lag vielleicht mit an der Person und
Herkunft des Stifters. Er war aus fürstlicher Familie und in
mehr als einer Beziehung mag Gautama der König unter den
Asketen gewesen sein. Könige sympathisieren mit ihm als
einem der ihrigen, Könige sehen wir unter den ersten seiner
Anhänger. Das Leiden, welches er predigte, ist jenes Leiden,
welches die Könige mehr fühlen, als die Bettler. Nicht daß es
nur bei den ersteren existierte. O nein! Es wohnt bei Hoch so
gut wie bei Niedrig, nur liefert der eine einen besseren
Resonanzboden als der andere. Und ‚die Söhne edler
Geschlechter‘ waren williger, diesen Entsagungsweg aus dem
Heim in die Heimatlosigkeit zu gehen. Sie waren fähiger, in
der Vergänglichkeit das Leiden zu wittern, und in ihren Mund
paßt besser jener berühmte Vers, den der Götterkönig Sakka
beim Hinscheiden des Buddha äußert und der die aparten
Farben des. Buddhismus besonders klar zeigt:
57
„Wie so vergänglich ist doch all Gewordenes!
Wachstum und dann Zerfall: das ist sein Wesen.
Jedwedes Ding vergeht und wird aufs neu,
Bestes ist Ruh des Niemehr-Auferstehens.“ —
58
Der Pessimismus und das Leiden
„Durch lange Zeit, ihr Jünger, habt ihr Leid
erfahren, Qual erfahren, Unglück erfahren und das
Leichenfeld vergrößert; — lange genug wahrlich,
ihr Jünger, um von jeder Existenz unbefriedigt zu
sein, lange genug, um sich von allem Sein
abzuwenden, lange genug, um sich von ihm zu
erlösen.“ (Samyutta-Nikayo).
Zum guten Teil infolge Schopenhauers schiefer Auffassung
der beiden indischen Hauptreligionen, des Vedanta*) und des
Buddhismus, sind beide, besonders aber der letztere, in den
Ruf gekommen, dem Pessimismus zu huldigen, in gleicher
Weise wie das Schopenhauersche System selbst. Nichts kann
falscher sein als diese Ansicht. Vor allem aber den
Buddhismus als die Religion des allgemeinen Weltschmerzes
hinzustellen, ist der Gipfelpunkt des Mißverständnisses.
Pessimismus kann nur da sein, wo Egoismus ist. Er ist nichts
als verletzter und trotz aller Verletzungen und Stöße
ungebrochener Egoismus. Pessimismus ist, trotz all
scheinbaren Verneinens doch im Grunde nichts als eine Form
der Lebensbejahung, und ohne Frage ihre unglücklichste
widersinnigste Form. Lebensbejahung kann natürlichen
Abschluß nur im Gottbegriff haben.
Nun hat im specifischen Gedankengang des Vedanta der
Egoismus solche Form angenommen, daß in seinem vollen
*) Vedanta bedeutet „Ende des Veda". Es bezeichnet diejenige
religiöse Richtung des Brahmanismus, deren Denken in den
Upanishads niedergelegt ist.
59
Verständnis höchste göttliche ‚Wonne‘ liegt. Die volle
Erkenntnis ist aber dieses: „Alles ist ‚Ich‘; diese ganze Welt,
der Gott, jenes höchste Brahman, alles ist ‚Ich‘.― Im Erkennen
dieses meines Ich werde ich zu Gott. ‚Brahman wissend, wird
er Brahman‘. So ist der Vedanta ungetrübter Optimismus. All
Leiden, als vor der Erkenntnis liegend, ist ja nur Täuschung,
beruht auf Unwissenheit. Kann es größere Wonne geben, als
Gott zu sein? Für Pessimismus ist kein Platz im System.
Noch ferner liegt jeder Pessimismus der Lehre des Buddha,
weil hier in der wahren Erkenntnis das ‚Ich‘ überhaupt sich
auflöst. Der Wissende sieht durch die Scheinform dieses
Leibes hindurch und sieht kein Ich. Wo aber kein Ich ist, kann
naturgemäß auch kein Egoismus, keine Ich-Sucht sein. Im
System des Buddha fällt nicht nur der Pessimismus, sondern
es fällt die Möglichkeit zu Pessimismus sowohl als
Optimismus. Es bleibt nur jene unbewegte Ruhe, jene bewußte
Indifferenz, die ihre Basis in der alles ausgleichenden
Erkenntnis hat.
Man geht wohl kaum fehl, wenn man behauptet, daß der
Pessimismus erst mit dem Christentum sich ausgebildet hat.
Die griechisch-römische Kultur war optimistisch in der Form
des, man könnte sagen, diesseitigen, immanenten Optimismus.
Das Leben war etwas Schönes, zum Genießen Geschaffenes
und es wurde genossen ohne Skrupel. In Goethe'schem Sinne
war Persönlichkeit höchstes Glück dieser Erdenkinder. Das
‚Nachher‘ trat in seiner Bedeutung völlig gegen das ‚Jetzt‘
zurück. Jene antiken Lebenskünstler standen von der Tafel
dieses Lebens auf mit dem satten Wohlbehagen, mit welchem
der Reiche sein üppiges Mahl verläßt.
Die indischen Religionen sind optimistisch in jener Form des
jenseitigen, transcendenten Optimismus, wie überhaupt
vielleicht in keinem Volk der Erde so sehr die Neigung zum
Transcendenten liegt wie im Indischen. Wie schon gesagt,
beruht der Optimismus hier darauf, daß all das unendliche
Leiden dieses Lebens ja nur Täuschung ist, die in der wahren
60
Erkenntnis verschwindet wie Schreckgespenster im
Tageslicht. Wie hinter düsterem Traum ein lichter Tag steht,
so steht hinter diesem Lebensleiden jenes Große, Göttliche,
ganz aus Wonne Bestehende, jenes Brahman.
Dadurch, daß das Christentum das Leben als Leiden, das
Diesseits als ein Jammertal erklärte, stellte es sich in,
ungeheuersten Gegensatz zur Antike. Der Schwerpunkt, der
bisher im Diesseits gelegen, wurde plötzlich ins Jenseits
verlegt, und so gewissermaßen oben und unten vertauscht. Die
antiken Philosophien lehrten glückliches Leben, das
Christentum: glückliches Sterben. Der Gedanke, daß Leben
nur Vorbereitung zum Sterben ist, wäre dem Hellenen
ungeheuerlich erschienen. Wie die Lebenslust des Griechen,
eine wirkliche Lebenslust war, so ist das Lebensleid des
Christen ein wirkliches.
Hier entpuppt sich der Gegensatz zwischen Christentum und
indischen Religionen. In ersterem ist, wie gesagt, Lebensleid
ein wirkliches. Hier gibt es nicht, wie im Indischen,
Täuschung. Jehovah liebt keine Spiegelfechtereien, keine
Überraschungen. Von ihm gilt nicht das Wort der Upanishads:
‚Die Götter lieben gleichsam das Geheimnisvolle‘. Leben ist
Schuld im Christentum, Unwissenheit in den indischen
Religionen. Hier spaltet sich Osten und Westen, Indisches und
Christlich-Jüdisches dicht über der Wurzel. Hier liegt auch das
Verständnis für die völlig verschiedenartige Auffassung des
Leidens hüben und drüben.
Leiden im Christentum ist etwas Wirkliches, weil etwas von
Gott Kommendes. Es ist die Rute, mit der ein Gott seine
Kinder straft. Rute ist aber Erziehungsmittel. Die Rute
empfängt derjenige, der gebessert werden soll. Bessern ist aber
gleichbedeutend mit Gott-Nähern. So ist das Leiden ein Mittel,
durch welches ein Gott seine Kinder zu sich zieht. Er zeigt
ihnen ein Interesse, eine Güte, ein Liebes dadurch, daß er sie
straft, ihnen Leiden auferlegt, und Leiden wird
gleichbedeutend mit göttlicher Bevorzugung. Zum erstenmal
61
aus dem Munde des Christentums hörte die staunende Welt die
unerhörte Phrase: ‚Selig sind, die da Leid tragen‘.
Ganz anders stellt sich uns das Leiden im System des Buddha
dar. Leiden, als identisch mit Leben, ist hier eine
Unwissenheit, ein Mangel an Wissen, der gehoben werden
muß. Stets galt im Buddhismus Leiden als etwas, das
gemieden werden, dem entflohen werden muß, eine
Auffassung, die jeder für die menschlichste, natürlichste
erklären wird. Das ganze System verdankt seine Entstehung
lediglich diesem intensiven Horror vor dem Leiden, diesem
intensiven Streben nach Leidenslosigkeit. Keinen anderen
Punkt hat der Buddha so stark betont als diesen, daß er nur in
der Welt erschienen ist, um das Leiden zu zerstören. „Nur
Eines, ihr Mönche, verkündige ich heute wie immerdar: Das
Leiden und des Leidens Ausrodung.― Nichts in dieser Welt der
Täuschung erkennt der Buddhist, als das Leiden. Auf nichts
anderes denkt er, als auf die Aufhebung dieses Leidens. Wie
der Adler in die nackte Sonne, so blickt er unentwegt in diese
Leidensglut, welche die ganze Welt durchdringt.
Mit den vier heiligen Wahrheiten vom Leiden setzt wie mit
einem vollen Accord der Buddha ein. Die vier heiligen
Wahrheiten vom Leiden sind Anfang, Mitte und Ende. „Wie
alles Fußbegabte in der Elefantenspur mit fortkommt, so
begreifen die vier heiligen Wahrheiten vom Leiden alles Gute
in sich.― Ich möchte sagen, die Pointe des ganzen Buddhismus
liegt in der eigenartigen Definition, die hier dem Leiden
gegeben ist.
Was ist Leiden im System des Buddha? — „Geburt ist Leiden,
Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Sterben ist Leiden,
Wehe, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind
Leiden; was man begehrt nicht erlangen, das ist Leiden, kurz
gesagt: Die fünf Elemente des Lebenstriebes sind Leiden.―
Das Leiden, welches der Buddha meint, kann demnach
unmöglich Leiden im vulgären Sinn sein: Das Buddhaleiden
ist nichts als das Gefühl für die Vergänglichkeit alles
62
Entstandenen. Leiden ist nichts als Vergänglichkeit von einem
bestimmten Standpunkt aus gesehen.
„Sieh hin, o Weiser, auf dieses Sein:
Entstehen-Vergehen ist seine Pein.“
Überall, soweit meine Sinne, mein Denken reicht, da herrscht
Entstehen und Vergehen, da erkenne ich Anfang und Ende.
Anders ausgedrückt: Ein Denken ist nur möglich in der Zeit
und kann daher unmöglich das erfassen, was außerhalb der
Zeit steht, das Ewige, Seiende. Daher kann ich sagen: Überall,
wo meine Sinne hindringen, da schleppen sie wie eine Seuche
die Vergänglichkeit mit ein. So wird selbst das Göttliche
entthront und mir in Bezug auf Vergänglichkeit gleich
gemacht, wenn ich ihm nicht mit dem Glauben entgegentrete,
sondern es mit dem Verstand zu umfassen suche. So wird
unsere eigene Körperlichkeit, weil als in toto entstanden, auch
in toto wieder vergehend, zum Inbegriff der Vergänglichkeit.
Leben und Vergänglichkeit werden gleichbedeutende Begriffe;
ob Leben ein irdisches, ob ein himmlisches ist, das macht
keinen Unterschied: Leben und Vergänglichkeit sind gleich.
Dem denkenden Auge löst das ganze Weltall sich in eine
gärende, werdende, ewig entstehende, ewig vergehende Masse
auf, an der das einzig Wirkliche eben dieses ewige Werden ist.
Das ist dieselbe Realität, wie sie der Strudel im Wasser, der
Regenbogen in der Luft hat.
Nun argumentiert der Buddha in folgendem, sich oft
wiederholendem Schema:
„Was meint ihr wohl, ihr Mönche, ist der Körper ewig oder
vergänglich?―
„Vergänglich, o Herr!―
„Und das was vergänglich ist, ist das leidvoll oder freudvoll?"
„Leidvoll, o Herr!―
„Und das was vergänglich, leidvoll, dem Wechsel unterworfen
ist, kann man wohl davon denken: das gehört mir an, das bin
Ich, das ist mein Selbst?―
„Das ist unmöglich, o Herr!―
63
Ein anderer Beweis dafür, daß Leiden gleich Vergänglichkeit
ist, ist nirgends gegeben worden. Beide werden ohne weiteres
als gleich gesetzt. Wir stoßen hiermit auf die natürlichen
Grenzen des Systems. Es gehört ohne Frage eine gewisse
Anlage des Denkvermögens dazu, die Gleichheit von Leiden
und Vergänglichkeit als selbstverständlich anzunehmen. Diese
Anlage meint vielleicht der Buddha, wenn er zu seinen
Jüngern spricht: „Nur wenig Wesen werden von den wahrhaft
ergreifenden Dingen ergriffen, im Vergleich zu jenen
zahlreicheren Wesen, welche von den wahrhaft ergreifenden
Dingen nicht ergriffen werden.― Nur wen die Vergänglichkeit
als Leiden ergreift, der ist der Resonanzboden für die Worte
des Buddha. Denn der Grundsatz des ganzen Systems ‚Leben
ist Leiden‘ ist nur beweisbar, ist nur fruchttragend, da wo
Leiden und Vergänglichkeit als gleich verstanden werden.
Nun liegt der tiefste Grund für die Gleichheit beider im
Anatta-Gedanken versteckt, in der Erkenntnis, daß dieses Ich
kein wahres Ich ist. Da aber der Anatta-Gedanke das
Nichtglaubenkönnen schon wieder voraussetzt, so stoßen wir
auch von dieser Seite her auf etwas Unerklärliches, auf eine
natürliche Anlage des Denk- und Empfindungsvermögens.
Fehlt die Fähigkeit zu glauben, das heißt die Fähigkeit, das als
bewiesen vorauszusetzen, was erst bewiesen werden soll,
nämlich die Existenz einer Seele, eines Ewigen, so wird der
Körper zu einem in toto Entstandenen, daher in toto
Vergänglichen, Seelenlosen, d. h. er wird zum Nichtselbst,
zum Anatta. Denn das wahre Selbst, das Ich müßte, um wahres
Ich zu sein, ein ewiges Princip, eine Seele in sich bergen.
Gerade in diesem Übergangsproceß vom Ich zum Nicht-Ich ist
aber Vergänglichkeit notgedrungen etwas Leidvolles. „Da hat
z. B. einer den Glauben ‚Das ist die Welt, das ist die Seele, das
werde ich nach meinem Tode werden, unvergänglich,
beharrend, ewig, unwandelbar, ewig gleich, ja. werde ich so
verbleiben‘. Der hört vom Vollendeten die Verkündung der
Wahrheit, die zum Aufhören alles Daseins führt. Da wird ihm
also zu Mute: ‚Vernichtet werde ich sein, o, zu Grunde
64
gegangen, ach! nicht mehr werde ich sein‘. Er ist traurig,
gebrochen, er jammert, schlägt sich stöhnend die Brust und
gerät in Verzweiflung.―
Vergänglichkeit aber, soweit sie mich selbst, mein Edelstes
betrifft, ist gewissermaßen die maßgebende, entscheidende,
unter all den unzähligen Formen, in denen Vergänglichkeit
auftreten kann. Und weil sie in dieser ausschlaggebenden
Form leidvoll ist, so ist sie es überhaupt. Ist aber die Tatsache
‚Vergänglichkeit ist gleich Leiden‘ anerkannt, so ist damit
auch Leben gleich Leiden geworden; denn beide sind gleich
Vergänglichkeit. Ist aber Leben an sich gleich Leiden, so
werden auch alle Lebensäußerungen zum Leiden und damit
alle jene naturgemäßen Vorgänge, Geburt, Alter, Tod mit in
den Rahmen des Leidensbegriffes hineinversetzt. Sie sind ja
die Zeiger am Uhrwerk der Vergänglichkeit. Geburt, Alter,
Krankheit und Sterben, sie sind die vier großen Weltübel,
denen der Buddha entfliehen wollte, als er das Haus seiner
Väter verließ und in die Askese ging. Körperlichkeit und
Leiden werden identisch. „Wer, ihr Jünger, sich des Körpers
erfreut, der erfreut sich des Leidens; wer sich des Leidens
erfreut, unerlöst ist der vom Leiden, das sage ich.―
Oder:„Das Vergängliche, das Vergängliche, sagt man, o Herr,
was ist nun aber, o Herr, das Vergängliche?― so fragt ein
Mönch den Buddha.
„Der Körper, wahrlich, ist vergänglich, das Gefühl, die
Wahrnehmung, die Unterscheidungen, das Bewußtsein ist
vergänglich.―
„Das Leiden, das Leiden, sagt man, o Herr! Was aber ist das
Leiden, o, Herr?―
„Der Körper, wahrlich, ist Leiden, das Gefühl, die
Wahrnehmungen, die Unterscheidungen, das Bewußtsein ist
Leiden.―
„Das Nichtselbst, das Nichtselbst, so sagt man, o, Herr "Was
ist nun aber, o Herr, das Nichtselbst?―
65
„Der Körper, wahrlich, ist das Nichtselbst, das Gefühl, die
Wahrnehmungen, die Unterscheidungen, das Bewußtsein, ist
Nichtselbst.― (Samyutta-Nikayo)
Vergänglichkeit, Leiden, Nichtselbst, Körperlichkeit sind
gleichbedeutende Begriffe, aber nicht so, daß eines das andere
ersetzen könnte, sondern so, daß mit jedem einzelnen die drei
anderen an sich gegeben sind. Es mag jemand das Leiden des
Lebens fühlen, aber er erkennt nicht die Vergänglichkeit, das
Nicht-Ich, so hat er nichts als die Pein; sein Leiden trägt keine
Frucht. Anderseits: Er mag die Vergänglichkeit, das Nicht-Ich
des Körpers verstehen, aber dieses Verständnis ‚ergreift‘ ihn
nicht, ruft keine Reaction in ihm hervor, geht nicht als Leiden
wieder von ihm ab, so ist nichts getan. Denn erst wo
Vergänglichkeit als Leiden gefühlt wird, da tritt das Bedürfnis
ein, sich von der Vergänglichkeit zu erlösen. Des Buddha
Lehre ist aber nichts als die Anleitung zu dieser Erlösung. Erst
da, wo Körperlichkeit als der Zusammenklang von
Vergänglichkeit, Leiden und Nicht-Ich dasteht, erst da ist
Buddhismus. Vergänglichkeit und Nicht-Ich muß als Leiden
gefühlt, Leiden als Vergänglichkeit und Nicht-Ich verstanden
werden. Der Ausdruck ‚Vergänglichkeit fühlen‘ und der
Ausdruck ‚Leiden verstehen‘ sind gleichbedeutend: einer wie
der andere umgreift das Ganze. ‚Leiden verstehen‘ heißt ihm
seinen Platz zwischen Vergänglichkeit und Nicht-Ich
anweisen, und das heißt: alles verstehen.
Das gefühlte Leiden an sich ist im System des Buddha nutzlos,
höchstens kann es den Weg ebenen zum Verstehen des
Leidens. Aber das gefühlte Leiden ist nicht die notwendige
Vorstufe zum verstandenen Leiden. Man kann zum vollen
Verständnis des Leidens d. h. zur Erlösung kommen, ohne je
Leiden gefühlt zu haben. Der Weise Nagasena*) sagt von sich
selber: „Ich wurde in den Orden aufgenommen als bloßer
Knabe, ohne jenes höchste Ziel auch nur zu kennen. Aber ich
*) Aus dem in buddhistischen Ländern hochgeschätzten Buch:
‚Fragen des Königs Milinda‘ an den Weisen Nagasena.
66
dachte, diese Buddhajünger sind weise, sie werden mich
belehren. Und sie belehrten mich. Und nun weiß ich und
verstehe ich beides: Grund sowohl wie Lohn des Entsagens.―
Das ist das Charakteristikum des Leidens im Buddhismus: Es
liegt nicht im Gefühl, sondern im Verstand. Es ist nicht der
vulgäre, sondern ein philosophischer Begriff, und nur diese
eigenartige Verschiebung macht es möglich, unser geistiges
Sehfeld in seiner ganzen Ausdehnung durch den Begriff des
Leidens auszufüllen. Erst da, wo Vergänglichkeit als Leiden
anerkannt wird, kann Leben in toto zu Leiden werden, kann
Leiden verstanden, erkannt werden. Nur so ist es möglich,
überall da, wo Leben als Leiden nicht anerkannt wird, einem
Mangel an wahrer Erkenntnis, einer Unwissenheit die Schuld
zu geben. Nur so ist es möglich, das Gesetz des Buddha als ein
für alle mit Ich-Bewusstsein begabten Wesen gültiges
hinzustellen. Alle, die es nicht anerkennen, die Leben als
Leiden nicht anerkennen, tun das nicht, weil Leben in
Wirklichkeit nicht Leiden wäre, sondern nur weil ihre
Unwissenheit sie hindert, Leben, in seiner wahren Natur zu
erkennen.
So wäre das Leiden des Buddhisten ein wirkliches ebenso, wie
das des Christen? — Nein! Leiden ist ein Wirkliches, nur so
lange Leben ein Wirkliches ist d. h. so lange diese
Körperlichkeit als wahres, seelebegabtes Ich angesehen wird.
Mit der Wirklichkeit des Ich fällt die Wirklichkeit des
Leidens. Wird das Ich als Täuschung erkannt, so wird auch
das Leiden als Täuschung erkannt. Ebenso wie die Vorstellung
‚hier ist ein Ich‘, ist auch das Leiden nichts als Folge einer
Unwissenheit.
Somit hätten wir die wunderliche Doppeltatsache: Leben nicht
als Leiden erkennen, ist Folge einer Unwissenheit, und:
Leiden selber ist Folge einer Unwissenheit. Jemandem die
Augen öffnen für das Leben als Leiden, scheint hiernach
nichts zu sein, als ihn aus einer Unwissenheit in die andere
bringen. — In Wirklichkeit liegt die Sache anders: Leiden ist
Folge einer Unwissenheit, bedeutet nichts als: Leiden ist
67
versteckte Erlösung; Erlösung ist nichts als Leiden, von
besonderem Standpunkt aus angesehen. Also jemandem das
Leiden des Lebens zeigen, heißt ihm die Erlösung anbieten ihn das Leiden des Lebens verstehen lehren, heißt ihm die
Erlösung geben. Leben als Leiden erkennen, erkennen, daß
Leben nicht Leiden hat, sondern Leiden ist, heißt beide als
Täuschung erkennen.
Ist Leiden Folge einer Täuschung, einer Unwissenheit, so muß
es gehoben werden können mit dieser Unwissenheit, durch
ihren Übergang in Wissen. Ist aber Leiden nicht Product des
Ich (gefühltes Leiden) sondern selber das Ich (verstandenes
Leiden), so muß Hebung des Leidens gleichbedeutend sein mit
Hebung dieser Körperlichkeit, dieses Ich. Dieses Ich ist
aufhebbar aber nur, wenn es kein wahres Ich mit ewigem
Kern, sondern ein Schein-Ich ohne ewigen Kern ist. Das
Wissen vom Ich als Nicht-Ich, der Anatta-Gedanke ist daher
das große, das einzige Wissen, das Wissen par excellence, das
Buddhawissen, weil in einem Zug Leiden und Leben
aufhebend. Leidenslosigkeit, weil höchst Ersehntes, steht hier
hoch im Preis: Mein eigenes Ich ist die Anzahlung bei diesem
Handel.
Nun gibt es noch eine, ich möchte sagen menschlichere
Gedankenreihe, die ebenfalls die Gleichheit von
Unbeständigkeit und Leiden erklärt: Überall, wo die sechs
Sinne in Tätigkeit sind, da ist Entstehen und Vergehen. Aber
nicht nur Welten entstehen, vergehen; was würden mich
Welten kümmern, wenn ich nur wohl bin: sondern
Wichtigeres: Wünschen entsteht, das Wollen wird wach; die
Sinne haften am Erkannten, wie die Wärme am besonnten
Gegenstand, nachdem das Licht schon gegangen ist. Im
tiefsten Herzensgrunde beruht alle Wonne in der Ruhe, in der
Wechsellosigkeit; darum wünschen die Sinne auf den
Objecten zu ruhen. Das aber ist unmöglich; denn Vereinigung
der Sinne mit den Objecten als ein ständiges Wechseln. Die
Neigung der Sinne zum Haften ist das Verlangen nach Ruhe in
der Ruhelosigkeit, somit etwas Unbefriedigendes, Leidvolles.
68
Sinnestätigkeit ist nichts als ein Geboren- und
Begrabenwerden von Wünschen, ein schmerzvoller Proceß,
solange Behagen an den Dingen da ist, solange Aufhören der
Vereinigung von Sinn und Object eine Trennung, ein
Auseinanderreißen ist. „Behagen ist des Leidens Wurzel―
heißt es, und weiter: „der Wille, das Vergnügen, die Bejahung,
das Behagen in diesen fünf Elementen des Lebenstriebes: Das
ist die Leidensentstehung.―
Derselbe Gedanke wird an anderer Stelle in einem anderen
Bilde vorgeführt. Im Milindapandho, dem oben erwähnten
Buch der Fragen des Griechenkönigs Milinda (Menander) an
den Weisen Nagasena heißt es: „Der Kontakt der
Sinnesorgane mit den Objecten ist so, als wenn zwei Widder
miteinander kämpfen; das Auge ist mit dem einen zu
vergleichen, die Form mit dem anderen.― Wie in jedem Kampf
die Affecte auflodern, wie die Flamme aufsprüht, wenn Kiesel
und Stahl sich aneinander reiben, so das Feuer von Lust, Haß
und Irre, wenn die Sinne sich an den Objecten reiben.
Wir haben somit zwei Erklärungen für die Gleichheit von
Leiden und Vergänglichkeit: eine philosophische, bei welcher
der Satz vom Nicht-Ich, und eine rein menschliche, bei
welcher der Wille die Vermittelung bildet. Überall da, wo
Wille ist, da ist Schmerz, Leiden. Beide sind untrennbar, wie
in der Flamme Licht und Wärme. Neben der Unwissenheit
haben wir also ein zweites Entstehungsmoment des Leidens:
Das Wollen, und damit einen zweiten Weg zur Hebung des
Leidens: Aufhebung des Wollens, Nicht-wollen. Wo kein
Wollen, kein Verlangen, kein Behagen ist, da ist kein Haften
an den Objecten; wo kein Haften, da keine Trennung, kein
Vergehen, kein Leiden. Wollen aber kann sich nur im Wissen
aufheben, und Unwissenheit wird so zur Quelle des gefühlten
Leidens sowohl, als des verstandenen Leidens. Mit dem
Wissen fällt das eine, wie das andere. Es wäre nutzlos, jene
Erkenntnis, die der Buddha uns lehren will, die auf jener
Umwandlung der ganzen Welt in etwas Vergängliches und
daher Leidvolles beruht, von sich fern zu halten unter dem
69
Vorwand: „Erst mit dieser Erkenntnis kommt das Leiden. Wo
keine Erkenntnis der Vergänglichkeit ist, da kann auch kein
Leiden sein.― — Das Leiden ist doch da, weil am Wollen
haftend. Solch ein Widerstrebender versperrt sich nur den Weg
zur Erlösung. Er hat die Last, aber nicht den Lohn des
Leidens; denn gefühltes Leiden ist nutzlos. Nur erkanntes
Leiden kann jenen Umwandlungsproceß in die Erlösung
durchmachen. Wie der Lichtstrahl, nachdem er gewisse
Medien passiert hat, specifische Eigenschaften annimmt, so
nimmt Leiden die specifische Fähigkeit, sich in Erlösung
umzuwandeln, erst an, nachdem es aus dem gefühlten in das
begriffene Leiden übergegangen, d. h. nachdem es mit
Vergänglichkeit gleichbedeutend geworden ist.
Nun ist Vergänglichkeit auch ohne den Menschen in der
Natur. Würde die Natur, das Weltall leidvoll sein, auch wenn
der Mensch nicht darinnen wäre? — Nein! Vergänglichkeit,
Unbeständigkeit an sich würden noch kein Leiden sein
[ebenso wie Ruhe, Wechsellosigkeit noch keine Seligkeit],
wenn es keinen Schauer, keinen Erkenner der Unbeständigkeit
gäbe. Meeresspiegel und Sonnenstrahl vereinigen sich, trennen
sich ohne Lust und Leid. Erst das Ich schafft das Leiden; nur
soweit Erkennen reicht, soweit werden Leiden und
Unbeständigkeit gleichbedeutend. Es ist die specifische
Function all und jeder Individualität, Unbeständigkeit in
Leiden umzuwandeln, wie der Gährungspilz den Traubensaft
in Alkohol umsetzt. Das Individuum schafft Leiden nicht aus
dieser oder jener Charakteranlage heraus, wie wir vom
Standpunkt unserer Unwissenheit aus annehmen möchten,
sondern ist selber Form des Leidens und jede Betätigung der
Körperlichkeit ist ein sich betätigendes Leiden.
Wären Leiden und Unbeständigkeit nicht nur gleichbedeutend,
sondern identisch, würde Leiden, ebenso wie die
Unbeständigkeit, existieren, wenn auch kein Erkenner da ist,
so würde Leiden zu etwas an sich Bestehendem werden, zu
einer Art kosmischer Potenz, und ihr müßte ein entsprechender
Seligkeitsbegriff gegenüberstehen. Leiden an sich existiert
70
nicht. Als die im Individuum sich spiegelnde Vergänglichkeit
ist es und ist nicht, wie das Bild im Spiegel ist und nicht ist zu
gleicher Zeit, wie diese Körperlichkeit ist und nicht ist zu
gleicher Zeit.
Leiden ist, wie alles, ein relativer Begriff, der mit mir entsteht,
mit mir vergeht; der ebenso durch mich bedingt ist, auf mir
beruht, wie diese Welt, wie alles Erkannte auf mir beruht. Wie
die Welt auf mir beruht und ich doch selber ‚Welt‘ bin, so
beruht das Leiden auf mir und ich bin selber Leiden. Der
Gedanke ‚all Leben ist Leiden‘ ist nur insofern etwas
Specifisches im Heer des Erkannten, weil er als der im
Organismus
der
Individualität
umgewandelte
Unbeständigkeitsgedanke gerade derjenige ist, der zur
Erlösung führt, Erlösung ist.
Daß ich erkenne: die Welt beruht auf mir, wie ich auf ihr, der
Gott beruht auf mir, wie ich auf ihm, — das erkennt der
Vedantist (Anhänger des Vedanta) auch und fällt doch in die
Schlingen einer ewigen Seligkeit; das schafft noch keine
Erlösung. Daß ich aber diesen Unbeständigkeitsgedanken ganz
auffange, wie das Auge die ganze Welt auffängt; daß ich ihn
ganz durch mich hindurchgehen lasse, wie einen Lichtstrahl,
ihn im Hindurchgehen ganz in Leiden umsetze, umpräge, wie
der unhandliche Goldbarren in Goldstücke, in Courant
umgeprägt wird, das schafft Erlösung. Denn wenn Erlösung
erreicht werden soll, muß sie gesucht werden. Gesucht wird
sie aber erst wahrhaft, wenn alles restlos, ohne Ausnahme als
Leiden erkannt wird, als etwas von dem sich zu erlösen
Notwendigkeit ist. So grausam diese Umwandlung in Leiden
auch erscheinen mag, notwendig und zum Besten eines jeden
einzelnen ist sie, weil das auf dem Willen beruhende, gefühlte
Leiden in dem auf der Unwissenheit ruhenden, erkannten
Leiden enthalten ist, durch dasselbe gedeckt wird, wie die
Welt bei Nacht durch die Welt bei Tage. Das gefühlte Leiden
ist nur aufhebbar durch Umsetzung in erkanntes Leiden. Wie
die Umwandlung der Nachtwelt in die Tagwelt nur durch die
Sonne geschehen, kann, so die Umwandlung einer Leidensart
71
in die andere nur durch das Wissen. Und wie beim Aufgehen
der Sonne alles Tag wird, so weit das Auge reicht, so wird
beim Aufgehen des wahren Wissens alles Leiden, soweit das
Denken reicht. Und wie keiner sagen kann: „Hier soll Tag
sein, da Nacht―, so kann keiner sagen: „Hier in diesen
Himmel, bis an diesen Gott soll die Vergänglichkeit, das
Leiden nicht hindringen.― Die Umwandlung ist nur möglich,
ist nur fruchttragend als völlige. Auf der Völligkeit der
Umwandlung von Unbeständigkeit in Leiden beruht die
Umwandlung von Leiden in Erlösung. Leiden als erkannte
Vergänglichkeit ist an die Spitze des Systems gestellt, weil
von ihm, wie von dem rechten Ende der Schleife aus, alles
sich leicht, gleichsam von selbst löst.
Nur in dem Sinn ist der Buddhismus die Religion des Leidens,
als Leiden gleichbedeutend ist mit Erkenntnis des Leidens.
‚All Leben ist Leiden‘ bedeutet nicht den Gipfelpunkt eines
Gefühls, sondern den Gipfelpunkt eines klaren, affectlosen
Durchschauens, Erkennens. In diesem Sinn ist auch das
einleitende Citat zu verstehen. Mit Trübsal und Pessimismus
hat das Leiden, welches der Buddha predigt, nichts zu tun.
Man darf sich nicht an Stellen stoßen wie diese: „Und die
Vollkommenheit, hat die der Lebenslustige oder der
Lebensleidige? — Und die rechte Antwort wäre:. Der
Lebensleidige, nicht der Lebenslustige.― An anderer Stelle
heißt es vom Buddha: „Dem lebensfrohen Geschlecht, o
Wunder, dem lebensfreudigen, lebenslustigen hat er das Leben
mit der Wurzel ausgesogen.― Wieder an. anderer Stelle spricht
der Buddha zu seinen Mönchen: „Geht, ihr Mönche, betrachtet
die Erbärmlichkeit des Körpers, gedenket des Ekels der
Nahrung, gedenket der Freudlosigkeit an der ganzen Welt,
gedenket der Flüchtigkeit aller Erscheinungen.― Freudlosigkeit
ist nichts als der Kaufpreis, der für die Leidlosigkeit gezahlt
werden muß.
Aber nicht Freude an sich ist verpönt, sondern nur Freude,
soweit sie Äußerung des Willens ist. Willenlose, unschuldige
Freude ist wohl erlaubt, und Beweis dafür ist jenes ruhige
72
Genießen der Natur, wie es uns gerade in buddhistischen
Schriften so oft entgegentritt.
Der ruhespendende Schatten des Waldes, der weite, schöne
Wald, den der Buddha preist, der kühle, klare Lotusweiher,
das Spiel der Wellen, die Majestät der Sonne, die Reize der
Mondnacht, sie mögen das Herz des Jüngers mit süßer Freude,
mit heiterer Ruhe erfüllen. „Entzückend, Bruder, ist der
Gosingam Wald, herrlich die klare Mondnacht, die Bäume
stehen in voller Blüte, himmlische Düfte, meint man, wehen
umher―, spricht in einem Sutta ein Mönch zum andern.
Ausdrücklich wird constatiert: „Alle die lieben Asketen und
Brahmanen, die gehässig, verbitterten Sinnes tief im Walde
abgelegene Orte aufsuchen, die erfahren, eben weil sie
gehässig, verbitterten Sinnes sind, schuldige Furcht und
Angst.― Verbitterung, Pessimismus ist unverträglich mit dem
Gedanken des Buddha, und ausdrücklich wird hervorgehoben,
daß die rechte Erkenntnis, um die Frucht der Gemütserlösung
zu bringen, die Eigenschaft der Ruhe und die Eigenschaft der
Heiterkeit besitzen muß. Mit Recht konnte der Buddha von
sich rühmen: „Von denen, die in der Welt glücklich leben, bin
ich auch einer.― Und mit Recht heißt es im Dhammapadam:
„Wir die wir nichts unser eigen nennen, von Heiterkeit
durchsättigt strahlen wir wie lichte Götter.―
Nur als den versteckten Unbeständigkeitsgedanken gibt uns
der Buddha den Leidensgedanken, ein Ding zum Nachdenken,
zum Durchschauen, nicht zum Jammern und zum Verwirren.
Er gibt uns im Leiden die Unbeständigkeit wie das Gold im
Beutel. Und wie einer dem anderen sagt: „Hier gebe ich dir
tausend Goldstücke― und ihm einen Beutel überreicht, so
spricht der Buddha: „Hier gebe ich euch das Leiden― und gibt
uns den Vergänglichkeitsgedanken. Daß er aber hiermit uns
Besseres als Gold, ja den allerköstlichsten Schatz gibt, das
beruht darauf, daß wie durch einen Kniff des Genies auf seiner
Höhe Leiden plötzlich in Erlösung überschlägt, durch
Erkenntnis zur Erlösung wird, nicht Weg und Steg zwischen
73
sich und dem anderen lassend. „Dies erkennend, ihr Mönche,
ist der verstehende, heilige Jünger des Körpers satt und
überdrüssig, satt empfindet der Ekel gegen alles Sein, durch
seinen heiligen Wandel erlöst er sich. ‚In dem Erlösten ist die
Erlösung‘, diese Erkenntnis geht auf. ‚Vernichtet ist die
Geburt, vollendet das Asketen-Leben, getan was zu tun war,
nicht mehr ist ferner diese Welt‘: so erkennt er.― Ja, so erkennt
er, und das heißt Leiden erkennen.
74
Nirvana*)
Im Nirvana-Begriff mehr als anderswo müssen wir die eherne
Consequenz dieses Systems bewundern, das unverrückbare
Feststehen auf der Basis des Leidens und der Vergänglichkeit.
Im Brahmanismus war das höchste Wissen das Wissen von
dem Identischsein meines Selbst mit der Gottheit, dem
höchsten Brahman. Dieses Bewußtsein, als Product höchster
Erkenntnis, war gleichzeitig höchste Seligkeit. Es war der
natürliche Abschluß des Systems, ein Abschluß, welcher trotz
aller Grandiosität doch die allerhöchsten und allerletzten
Fragen an den Glauben verwies. Überdies konnte dieses mich
zum Gott machende Identitätsbewußtsein nicht durch
Moralität errungen, nicht durch Meditation erfaßt werden:
beide mußten in äußerstem Maße geübt werden, aber die
Frucht wurde doch erst durch eine Art Gnadenact erlangt. Der
höchste Atman mußte sich dem Beglückten selber geben.
„Wo, ihr Freunde, ist denn jener große Brahma", fragt ein
Bhikkhu, und erhält zur Antwort: „Wir, o Mönch, wissen
nicht, wo Brahma ist oder wodurch man zu Brahma gelangt
oder wohin es zu Brahma führt. Wenn aber, o Mönch, die
Anzeichen der Nähe Brahmas sichtbar werden, wenn es licht
wird, wenn strahlende Helligkeit eintritt, dann wird Brahma
erscheinen. Es ist nämlich das einzige Kennzeichen der
Sichtbarwerdung Brahmas, daß es licht wird, daß strahlende
Helligkeit eintritt.― (Digha-Nikayo).
Zu Gautamas Zeiten war die Spekulation der Upanishads wohl
noch nicht zur vollen Blüte entwickelt, aber sicherlich keimten
schon die Anfänge dieses erhabenen Systems. Und mit
*) Pali: Nibbanam. Wörtlich: ‚Frei von Verlangen‘ oder: Das
Aufhören, oder: Das Ausgelöschtwerden.
75
Staunen sehen wir, daß der Buddha wagte, über diesen, auf
dem Wissen ruhenden höchsten Seligkeitsbegriff hinweg auf
ein neues unerhörtes Ziel loszugehen.
Sollte die Basis des Leidens nicht verlassen werden, so durfte
logischerweise das höchste Wissen für den Buddhisten nichts
sein als die höchste, durchdringendste Erkenntnis dieses
Leidens, höchste Seligkeit nichts als die Befreiung von diesem
Leiden. Damit wurde diese höchste Seligkeit etwas ohne
Gnadenact Erreichbares, etwas Lehrbares.
Überdies blieb im Brahmanismus trotz völligsten Entsagens
immer noch die Sehnsucht nach dieser Vereinigung mit
Brahman. Nach ihm sehnte sich der Muni ‚wie die Pilger nach
der Heimat sich sehnen‘ und ‚wie der müde Adler nach seinem
Nest‘. Das Höchste aber, zu dem buddhistisches Denken sich
aufschwingen konnte, war gegeben in dem Begriff absoluter
Freiheit von jedem Verlangen. Denn Verlangen, mag es auch
auf das Höchste gerichtet sein, schafft Leiden. Das höchste
Gut aber des Buddhisten ist Leidenslosigkeit. Folglich mußte
dieser Seligkeitsbegriff des Vedanta fallen. Für ihn war kein
Platz im System.
Dem Buddha bedeutete das Vereintsein mit dem höchsten
Brahman nichts als ‚den Ort der Leiden wechseln‘, nichts als
ein Leben unter besonderen Modificationen. Im Volksmund
hieß es freilich: ‚Ach, das glänzt wie bei den 32 Göttern‘, aber
kalt streifte das Auge des Buddha über diesen Schein. „Und
sollte ich auch, spricht er zu Sariputta, nur unter reinen
Göttern kreisen, ich mag in diese Welt nicht wiederkehren.―
So schritt er denn mit einem letzten Schritt auch über dieses
brahmanische Ideal hinaus und stellte als höchstes Ziel auf:
Die Loslösung nicht nur von allem Sinnlichen, sondern
ungeheuerlicherweise auch von allem Übersinnlichen. Damit
verlangte er das Größte, was je von Menschen verlangt
worden ist: Das Verzichten nicht nur auf die irdischen,
sondern auch auf die himmlischen Genüsse. Erst wenn jemand
dahin gelangt ist, daß er selbst aus den Freuden des Jenseits
76
Leiden und Vergänglichkeit herausschmeckt und sich selbst
hier verneinend abwendet, erst dann erblickt er Nirvana.
Nirvana bedeutet nichts als einen Zustand völliger
Wunschesfreiheit. Das Herz, welches auf Grund der
Erkenntnis der wahren Natur der Dinge, durch das Wissen
vom Nicht-Ich sich so völlig von allem losgelöst hat, daß es
nichts mehr verlangt, ist am wahren Endpunkt angelangt. Wo
kein Verlangen im Herzen ist, da ist auch kein Haften; wo kein
Haften ist, da ist auch kein Trennen, kein Leiden; wo kein
Leiden, da ist auch keine Vergänglichkeit, kein Wechsel. Und
so ist mit Nirvana der wahre Zustand ewiger Ruhe und
wechselloser, geburtsloser Sicherheit erreicht. ,,Nibbanam,
Nibbanam, so sagt man, Freund Sariputto, was aber ist das
Nibbanam, Freund?― — „Der Untergang der Gier, der
Untergang des Hasses, der Untergang der Verblendung: Das,
o Freund, wird Nibbanam genannt.―
Weil der Buddha mit der Tatsache des Leidens (in der Form
von Gier, Haß, Verblendung) einsetzt, von ihr ausgeht, so läuft
sein System naturgemäß in der Leidenslosigkeit, der Negation
dieser drei aus. Nicht-Leiden ist der Abschluß, ist das Höchste.
Bei dieser Umwandlung von Leiden in Leidenslosigkeit ist
nichts Altes zerstört, nichts Neues aufgebaut worden. Es ist
alles das Alte geblieben, nur von verändertem Standpunkt aus
gesehen. In unserem Erkennen hat sich jener Übergang von
der irrigen Anschauung in die nichtirrige vollzogen und damit
ist, ebenso wie Vergänglichkeit in Leiden, so Leiden in
Leidenslosigkeit übergegangen. Unser ganzes Dasein erscheint
somit unter dem Bilde eines arithmetischen Exempels, das,
schon im Ansatz fehlerhaft, mit einem + statt eines aufgesetzt, unlösbar geworden ist, aber emsig ad infinitum
weiter gerechnet wird und dieses ganze ungeheure Weltall als
Fehler auswirft. Der Tathagatha aber, gleich einem geübten
Rechenmeister, legt den Finger an diese irrige Stelle und zeigt
dir: „O Mensch! setz' hier in der Anlage des Lebensexempels
- statt +, setz' Nichtwollen statt Wollen, und glatt löst sich
alles bis auf den letzten Rest. Das ungeheuerliche Produkt
77
deines Grundfehlers, dieses Weltall samt Gott und Ich, es
schwindet in der Richtigstellung der Zeichen gleich einem
Rechenfehler.― Das Problem des Lebens, welches, mit der
Größe ‚Wollen‘ infinitesimal wird, löst sich mit der Größe
‚Nicht-wollen‘ restlos auf.
Nirvana ist nichts als zerstörtes Leiden. Diese Zerstörung ist
aber keine reale, sondern nichts als Leiden von verändertem
Standpunkt aus angesehen, nichts als Zerstörung einer in mir
ruhenden, mit meiner Entstehung gleichzeitig entstandenen
Täuschung. In der Tiefe unseres Inneren, gleichsam durch ein
Zwinkern unseres geistigen Auges vollzieht sich dieser
ungeheure Umschwung. In uns liegt ja alles: diese ganze Welt,
ihr Entstehen, ihr Vergehen. Somit schafft sich jeder sein
eigenes Nirvana. Wie der Beginn der Welt, so ist auch ihr
Ende individuell; Nirvana ist nichts als ein relativer Begriff:
Wo bisher Leiden erkannt wurde, da wird es jetzt nicht mehr
erkannt. Das ist eben der geniale Coup dieses Systems, daß
alles in der Relation bleibt, daß alles auf meiner Individualität
fußt. Leiden und Nirvana sind nichts als nach außen in die
Ferne projicierte Formen meines Erkennens. Wie ein Mann,
der Lichtbilder auf eine ferne, ferne Wand wirft, durch eine
kleinste Drehung seines Apparates das Bild in den Luftraum
werfen d. h. verschwinden lassen kann, so läßt der Erkenner,
welcher im Nichtwissen das Bild dieser Welt, d. h. das Leiden
schafft, durch jene Drehung zum Wissen das Bild dieser Welt,
d. h. das Leiden verschwinden. ‚Die Welt, das Leiden ist da‘
und: ‚Die Welt, das Leiden ist nicht mehr da‘' ist nichts als
diese Schwenkung in unserem Inneren auf das Universum
projiciert.
Also noch einmal: Nirvana ist ein relativer Begriff und besagt
nichts als: da wo bisher Leiden gefühlt resp. erkannt wurde,
wird es jetzt nicht mehr erkannt. Die Vorstellung eines
Zustandes der Seligkeit, einer realen Seligkeit ist verkehrt,
weil auf das Absolute hinauslaufend. Die Vorstellung eines
Ortes der Seligkeit ist noch viel verkehrter; denn wie schon
gesagt: Nirvana ist individuell. Wie jeder sich seine eigene
78
Welt, sein eigenes Leiden schafft im Nichtwissen, so schafft
auch jeder sich seine eigene Welt-, seine eigene LeidensAufhebung, sein eigenes Nirvana im Wissen.
Nirvana begreift nichts als den klaren, kahlen Zustand der
Leidenslosigkeit, basierend auf der Wunschesfreiheit, diese
basierend auf der höchsten Erkenntnis vom Wesen der Dinge,
vom Nicht-Ich. Wie die Lampe verlöscht, der kein Öl
zugeführt wird, so verlöscht ein Lebewesen, dem der
Lebenstrieb von keiner Seite mehr Nahrung zuführt. In diesem
Sinn sagt Nagasena zum König Milinda: „Aufhören ist
Nirvana.― Es ist ein Zustand aus sich heraus ganz unerklärbar,
undefinierbar. Wie die Dunkelheit nur aus dem Licht heraus,
als Gegensatz des Lichtes zu erklären ist, die Ruhe nur aus der
Bewegung heraus, als Gegensatz der Bewegung, so auch
Nirvana nur aus dem Leiden heraus, als Gegensatz des
Leidens. Wie überall da, wo kein Licht ist, Dunkelheit
herrscht, überall da, wo keine Bewegung ist, Ruhe herrscht, so
ist überall Nirvana, wo kein Leiden, kein Wechsel herrscht.
Nirvana ist das einzige, was nicht als Folge eines Grundes
entstanden, auch keine Folge aus sich hervorgehen läßt. Es
steht über oder vielmehr außerhalb des Grundfolgegesetzes,
hier aber nicht das Absolute, den Gott, sondern nur das Ende
aller Relationen darstellend. Weil nicht entstanden, ist es auch
nicht der Vergänglichkeit unterworfen. Es ist das einzige, was
nicht aus einer in ständigem Werden begriffenen Vereinigung
verschiedener Componenten besteht, nicht Sankharo*) ist,
daher das einzige Unveränderliche, Ewige, nicht mit Schmerz
Gemischte.
Von Nirvana, sagt der ehrwürdige Nagasena, kann man nicht
sagen, daß es entstanden oder nicht entstanden ist oder
entstehen kann, daß es vergangen oder zukünftig oder
gegenwärtig ist.
*) Sankharo – siehe Seite 80 unten
79
„Gibt es einen Ort für Nibbanam?― fragt der König Milinda.
— „Einen Ort für Nibbanam, o König, gibt es nicht, und doch
existiert Nibbanam. Gerade so, wie Feuer existiert und doch
kein Platz, wo es aufgehäuft ist. Wenn aber ein Mann zwei
Hölzer aneinander reibt, so kommt es.―
„Gibt es keinen Standpunkt, von dem aus man Nibbanam
erreichen kann?― — „Ja, o König, den gibt es. Es ist die
Tugend.―
Wie jemand, der eine mächtige Fernsicht verlangt, den Gipfel
des Berges erklimmen muß, so muß der Bhikshu, der Nirvana
erblicken will, den Gipfel der Tugend erklimmen, erarbeiten,
erkämpfen.
„Kämpfer, Kämpfer, o Herr, so nennen wir uns; inwiefern
denn sind wir Kämpfer?― so fragt ein Mönch den Buddha.
„Wir kämpfen, o Bhikkhu! Deshalb heißen wir Kämpfer.― —
„Um was kämpfen wir, Herr?― „Um hohe Tugend, um hohes
Streben, um hohe Weisheit. Deshalb, o Bhikkhu, heißen wir
Kämpfer.―
Nun muß man dieses Streben und Ringen richtig deuten.
Nirvana selbst, weil völlig Negation, kann nicht erstrebt
werden. Es ist gewissermaßen nichts als die unvermeidliche
*) Sankharo (sanskara) bedeutet sowohl etwas was
zusammenfügt, als etwas Zusammengefügtes.
Es ist eins der 12 Nidanas sowohl als der 5 Khandhas. Seine
Übersetzung mit „Unterscheidungen" entspricht hier der
allgemeinsten Teilung der Welt in Subject und Object, dem
‚Unterscheider‘ und ‚Unterschiedenem‘ par excellence.
Practisch bezeichnet es diese ganze Welt, als das aus der
Einwirkung von Object auf Subject ‚Zusammengefügte‘. Nur wo
Zusammengesetztes ist, kann Unterscheidung sein. Dem Sinn
nach ist es somit gleichbedeutend mit anatta. Alles ist anatta,
alles ist sankhara außer Nirvana. Ebenso ist es dem Sinn nach
gleichbedeutend mit Samsara, der Welt des Geborenwerdens und
Sterbens.
80
Consequenz des Strebens. Wenn man den Mönchen in Ceylon
vorhält: „Ihr sagt, daß jedes Streben, jedes Verlangen ein
Hindernis auf dem Wege zu Nirvana ist; so muß doch das
Streben nach Nirvana selbst auch ein solches Hindernis sein,
und je mehr ihr strebt, desto weiter entflieht es―, so lachen sie
über den superklugen Europäer. Verlangen kann ja nur da sein,
wo es etwas zu ‚haften‘ gibt. An Nirvana, als völlig jenseits
aller Wahrnehmung und Erkenntnis, gibt es aber nichts zu
haften. „Wo es kein Etwas gibt, wo es kein Festhalten gibt, die
Insel, die einzige: Das Nibbanam nenne ich sie, das Ende von
Alter und Tod.―
Daher kann es auch kein Streben nach Nirvana geben.
Gestrebt wird nur nach der Vernichtung des Leidens. Auf
diese folgt aber Nirvana so naturgemäß, wie die Dunkelheit
folgt, wenn das Licht ausgeht. „Ein reines Herz, das frei von
Hindernissen, frei von Verlangen ist, das schaut Nibbanam.―
Und an anderer Stelle: „Und wie ist Nibbanam zu erkennen?
— „Durch Freiheit von Not und Elend, durch Friede, Ruhe,
Reinheit.― (Milinda-Pando.)
Das ist ‚Nirvana in diesem Leben‘.
Auch dieser Ausdruck bedarf, wie das ‚Streben nach Nirvana‘,
der Erklärung. Nur geschaut kann Nirvana werden, nicht
begriffen. Nirvana, Erlösung können wir ebensowenig
begreifen, wie das Licht die Finsternis begreifen kann.
Begreifen kann ich nur meine Individualität, mein Ich insofern
als es Nicht-Ich ist; die Täuschung kann ich begreifen. Eben
weil kein Ich-Selbst da ist, eben deswegen kann ich meine
Individualität in toto begreifen und daher in toto verneinen.
Diese völlige Verneinung der Individualität, dieses völlige
Fahrenlassen der Lebenstäuschung, das ist Aufgeben des
Leidens; denn Individualität ist Leiden. Was aber der
Aufhebung der Individualität folgt, darüber kann kein Buddha
etwas sagen, braucht kein Buddha etwas zu sagen; denn seine
Aufgabe ist vollendet mit Aufhebung der Individualität, d. h.
des Leidens. Begreifen ist nur möglich mit Kräften, die in
81
dieser Individualität liegen. Nirvana aber ist nur da, wo
Individualität nicht mehr ist. So ist auch ‚Schauen Nirvanas‘
kein geistiges Schauen in unserem Sinn; das wäre für den
Buddha nichts als ein sinnliches Schauen und würde das ganze
Nirvana in die Vergänglichkeit reißen, wie den Gott: Das
‚Schauen Nirvanas‘ beruht wie Nirvana selber auf der
Negation. ‚Schauen Nirvanas‘ ist nichts als ‚Nicht-Schauen
des Leidens‘, wie ich die Dunkelheit nur sehe im Nicht-Sehen.
Nur aus den Folgen, die diese Freiheit vom Leiden hervorruft,
kann ich mir klar machen: ‚Ich habe Nirvana‘, wie ein Mann
sein Auge nicht sieht und doch weiß ‚Ich habe Augen‘, weil er
die Folgen dieses Habens erkennt. So ist Nirvana nicht zu
begreifen, und doch gibt es ein Nirvana in diesem Leben, und
in vier Stufen, den vier Jhanas (Pali: Jhanam = Meditation)
aufwärts steigend kann ich mich immer wieder dieser Tatsache
vergewissern. Denn von dem letzten, höchsten dieser Jhanas
habe ich den vollen Ausblick auf Nirvana.
Man liebt die Jhanas, die ‚schon im Leben beseligenden‘,
mystische Schauungen zu nennen. Nach der Häufigkeit, mit
der dieselben im Sutta-Pitakam erwähnt werden, zu urteilen,
müßte dann keine Religion so viel Wert auf ekstatische
Zustände legen, wie der Buddhismus. Nichts ist aber falscher
als diese Ansicht. Ganz ordnungsgemäß, in voller geistiger
Toilette geht alles vor sich. Die Jhanas sind nichts als eine
immer wieder aufs Neue vorgenommene Selbstprüfung des
einzelnen, ein künstliches Hervorrufen jener süßesten aller
Erkenntnisse: Im Erlösten ist die Erlösung. Sie sind „die selig
heitere Übung im Guten, die der Mönch Tag und Nacht zu
pflegen hat.―
Wie ein befreiter Galeerensklave immer wieder nach seinen
Knöcheln faßt, um sich vom Fehlen des Eisenringes zu
überzeugen, so prüft sieh der Erlöste immer wieder: „Habe ich
erkannt? Bin ich frei?― Und wie der frühere Galeerensklave
mit immer neuem Entzücken die Freiheit seiner Glieder
constatiert, so constatiert der früher von Lust, Haß und Irre
82
Gefesselte mit immer neuem Entzücken: „Ich habe erkannt.
Ich bin frei.―
In den Suttas sehen wir den Buddha immer wieder, oft fast
unvermittelt auf diese Jhanas übergehen. Wie das volle Schiff,
ins Wasser gleitend, plötzlich keine Schwere mehr merken
läßt, so gleitet des Buddha Rede aus der Schwere der
Beweisführung plötzlich erleichtert in die glatte Bahn der
Jhana-Schilderung. Mit geringen Modifikationen wiederholt
sich folgendes Schema immer wieder:
„Er hat nun die fünf Hemmungen aufgehoben, die Schlacken
des Gemüts kennen gelernt, die lähmenden; den Wünschen
erstorben, dem Schlechten entronnen, lebt er in sinnend
gedenkender, ruhegeborener, seliger Heiterkeit in der Weise
der ersten Schauung.―
Und ferner noch: „Nach Vollendung des Sinnens und
Gedenkens erwirkt der Mönch die innere Meeresstille, die
Einheit des Gemütes, die von Sinnen und Gedenken freie, in
der Selbstvertiefung geborene selige Heiterkeit, die Weihe der
zweiten Schauung.―
Und ferner noch: „In heiterer Ruhe verweilt der Mönch,
gleichmütig, einsichtig, klar bewußt, jenes Glück empfindet er
in seinem Körper, von dem die Heiligen sagen: Der
gleichmütig Einsichtige lebt beglückt. So gewinnt er die
Weihe der dritten Schauung.―
Wie aber das Schiff aus den Wogen der offenen See in den
stillen Hafen einläuft, so geht der Geist aus der immer noch
lustgestörten dritten Schauung in die völlig unbewegte Ruhe
der höchsten und letzten Schauung über:
Und ferner noch: „Nach Ankerwerfung der Freuden und
Leiden, nach Vernichtung des einstigen Frohsinns und
Trübsinns, erreicht der Mönch die Weihe der leidlosen,
freudlosen , gleichmütig einsichtigen, vollkommen reinen
vierten Schauung.―
83
Hier erkennt er nun das Höchste, was zu erkennen ist. Er
erkennt: „Dies ist das Leiden. Dies ist die Leidensentstehung.
Dies ist die Leidensvernichtung. Dies ist der zur
Leidensvernichtung führende Pfad.― Und das heißt Nirvana
erblicken.
Wie ich mir meines Wollens bewußt bin und als Leiden fühle,
so bin ich mir meines Nichtwollens bewußt und fühle es als
Freiheit vom Leiden, als Friede, Ruhe, Reinheit. Um Nirvana
zu erblicken, muß ich mir des Nichtwollens bewußt werden;
um das zu können, muß ich in der Körperlichkeit sein. So ist
dieser Leib nicht nur Gefäß und Trank des Leidens, sondern
auch Gefäß und Trank der Seligkeit. Nur von ihm aus kann ich
die Seligkeit kosten, Nirvana erblicken, wie ich nur vom
Gefängnis aus in die Freiheit blicken kann.
Führt denn aber Nichtwollen notwendig zu Nirvana? —
Nichtwollen, aufgehobenes Wollen führt so notwendig zu
Nirvana, wie der von seinen Fesseln befreite Ballon notwendig
aufwärts steigt. Wie ein von seinen Fesseln befreiter Ballon
keinen andern Weg gehen kann als den aufwärts, so kann der
von den Fesseln des Egoismus befreite Geist keinen anderen
Weg gehen als den zum Nirvana. Hier gibt es keine Sackgasse,
keine Irrwege. Erlösung ist ja im tiefsten Grunde nichts als
Leiden von anderem Standpunkt aus angesehen. Für den
Wissenden fallen beide zusammen im Nicht-Ich. Nicht-Ich ist
Leiden, Nicht-Ich ist Erlösung. Nichts ist ja nötig als die
Hebung einer Täuschung, wie nichts als der richtige Unterricht
nötig ist, um Abend- und Morgenstern eins werden zu lassen.
Es bedarf keines Übergangs vom Nichtwollen zu Nirvana.
Beides sind Ausdrücke für dasselbe Ding. Nirvana ist da,
sobald unser Wollen auf der Unterlage ‚Wissen‘ ‚Nicht-Ich‘
functioniert, d. h. sobald unser Wollen keine Möglichkeit mehr
hat, sich zu betätigen, gehobenes Wollen, Nichtwollen
geworden ist. Nichts, durchaus nichts geht hier vor sich, als
daß unser Erkennen statt der Form des Nichtwissens durch
Belehrung und Nachdenken die Form des Wissens annimmt.
Damit wird notgedrungen Wollen zum Nichtwollen. Was aber
84
durch das Brennglas des Wollens angesehen Leiden war, das
ist
durch
das
Medium ‚Nichtwollen‘
angesehen
Leidenslosigkeit. Mehr aber kann von Nirvana nicht gesagt
werden, als daß es Ledigsein vom Leiden ist.
Wie unsere Körperlichkeit in einem beständigen Kampf mit
dem Gesetz der Schwere steht, so gibt es auch auf
moralischem Gebiet ein solches Gesetz der Schwere, zu dem
unser Egoismus als Wille, als Lebensbetrieb in ständigem
Contrast steht. Und wie da, wo ständiger Kampf ist, keine
Ruhe sein kann, und wo keine Ruhe ist, Elend und Leiden
herrscht, so ist im tiefsten Grunde dieses auf meiner
Unwissenheit beruhende Ich-Bewußtsein, dieser mich vom
Universum trennende Egoismus die Quelle aller Leiden.
Wer erkannt hat: Dieser Körper ist nicht mein Ich, der hat die
Quelle endlosen Friedens entdeckt. Wer jede Regung der
Ichheit vertilgt hat, wer jedem Wunscheswahn, jedem
Daseinswahn ein Ende gemacht hat, für wen das ‚Ich‘ sich
gewissermaßen verflüchtigt hat und nur da ist, um ihm sein
Nichtwollen klar zu machen, die Wonne des Nichtwollens
wiedertönen zu lassen, der hat „alles .getan, was zu tun war―,
der erblickt Nirvana. Mit dem Ich-Bewußtsein fällt der Wille
zum Leben, mit diesem jede Differenz und damit jeder Grund
zum Leiden. „Und wie, ihr Mönche, wird der Mönch zum
Heiligen? — Da wird, ihr Mönche, von dem Mönch der
Ichheit-Dünkel verneint, an der Wurzel abgeschnitten, einem
Palmstumpf gleich gemacht, so daß er nicht mehr keimen,
nicht mehr sich entwickeln kann.―
„Segen aller Segen ist:
Den Wahn zu lassen, der da spricht: 'Ich bin'.“
Hinfort durchkreuze ich nicht mehr als ein mit den Wogen
ringender Schwimmer in Todesangst das Meer des Lebens, ein
fruchtloses Bemühen, sondern wie die Möwe auf der Welle
lasse ich mich im ungeheuren Rhythmus des Gesetzes von
Grund und Folge auf- und abwiegen, ohne Furcht, ohne
Widerstreben. Das ist jener ersehnte höchste Zustand der
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absoluten Gleichmütigkeit, des Erhabenseins über Leid und
Freud, irdisches wie überirdisches, über Jugend und Alter,
Gesundheit und Krankheit, Leben und Sterben. Das ist das
volle Schauen Nirvanas in diesem Leben. Ein solcher wünscht
weder Dasein, noch Nichtsein. Ein solcher hat sich jenes
‚Erdball gleiche‘ Gemüt zu eigen gemacht, von dem der
Buddha spricht. Ein solcher hat den höchsten Gewinn des
Asketentums
eingeheimst.
„Jene
unerschütterliche
Gemütserlösung, aber wahrlich, ihr Mönche, das ist der
Zweck, das ist der Kern, das ist das Ziel.―
Einer der den Duft Nirvanas gewittert hat, dem schmeckt
nichts mehr, nichts Irdisches, nichts Himmlisches. Er haftet an
nichts, nichts haftet an ihm. In tiefer, seliger Ruh zieht er seine
Bahn wie die Wolke im Blau. Nur in einem Gedanken lebt er:
„Ich bin frei, ich bin restlos erlöst von diesem Wunscheswahn,
von diesem Daseinswahn. Für mich hat der Kreislauf der
Wiedergeburten ein Ende.― Denn so hat der Erhabene gelehrt:
„Für die in vollkommener Weisheit Erlösten, ein Wandeln gibt
es für diese nimmer.―
Und kommt für einen solchen der Augenblick, wo dieser
‚Haufe Sankhara‘, diese fünf Khandhas, die, durch die Macht
des Karma vereinigt, den Schein eines ‚Ego‘ hervorgerufen
hatten, den Naturgesetzen gehorchend sich auflösen, tritt das
ein, was wir Tod zu nennen gewöhnt sind, so bleibt nichts
zurück, was als Wurzel oder Same zu irgend einem neuen
Entstehen dienen könnte. Ein solcher verlöscht wie die
Flamme, nachdem auch das letzte, im Docht aufgespeicherte
Öl verbrannt ist. Er schwindet wie die Wolke, nachdem sie all
ihre Feuchtigkeit zur Erde gesandt hat. Von dem Tage seines
Erkennens ab hat er auf das Leben geschaut wie der
Erwachsene auf ein Puppenspiel, nicht nur auf das Leben
ringsum, sondern vor allem auf das Leben, wie es sich in
dieser seiner Körperlichkeit abspielt, die er zuvor fälschlich
für ein gesondertes, reales Ich angesehen hatte. Durch die
Erkenntnis hat sich ihm dieses sein Schein-Ich in Spiel und
Zuschauer aufgelöst. So sprach der bekehrte Yitasoka
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doppelsinnig: „Für den, welcher sein Herz von allem frei
gemacht hat, gleicht diese Menschenwelt einem ständigen
Fest.― Wie bei einer Zaubervorstellung oder bei einer
Schlangenbeschwörung auf offener Straße die Zuschauer sich
zu einem Zuschauerkörper anhäufen, angezogen durch den
Reiz der Schaustellung, so haben durch die Macht des Karma
diese Khandhas sich zur Illusion eines Körpers vereinigt: So
erkennt er. Und wie bei diesem Zuschauerkörper hier einige
gehen, dort einige dazu kommen, und doch die Masse als
Ganzes unverändert bleibt, so ist dieses sein Schein-Ich auch
in ständigem Zu- und Abfluß, Werden und Vergehen
befindlich: So erkennt er. Und wie nach Beendigung der
Vorstellung die Zuschauer sich zerstreuen, und auch der
Gaukler seinen Korb nimmt und von dannen geht und nichts
zurückbleibt, so löst sich auch der Körper eines solchen auf,
der erkannt hat, d. h. er geht ein in das Parinirvana: So weiß er.
Parinirvana (Pali: Parinibbanam) ist nichts als Nirvana ohne
diese Körperlichkeit, Nirvana aus dem dieser Leib
herausgewelkt ist, Leidenslosigkeit ohne ein Organ sich ihrer
bewußt zu werden, d. h. Übergang der Leidenslosigkeit in
Vergängnislosigkeit, Wechsellosigkeit, reine Ruhe. Wie Welt
überall da entsteht, wo Vergänglichkeit zum Leiden wird, so
vergeht Welt überall da, wo Leiden zu Leidenslosigkeit wird.
Wie Leiden nichts ist als der im Individuum gefärbte
Vergänglichkeitsbegriff, so ist Leidenslosigkeit nichts als der
Begriff der Vergängnislosigkeit, so lange er noch durch die
letzten Reste dieser Individualität gefärbt ist. Nirvana ist das
Vergängnislose, so lange es seine Resonanz im Individuum
findet. Parinirvana ist das reine, ungefärbte, von Individualität
unbeschmutzte Vergängnislose. Aber wohl gemerkt: Es steht
dem Entstehen und Vergehen, dem Werden nicht als das
‚Sein‘, als Brahman, als Gott gegenüber, sondern lediglich als
‚Nichtmehr-Werden‘. Dieses System tut nichts als aufheben,
negieren. Es setzt keine neuen Götter an Stelle der Gestürzten.
Ob ‚Nicht-Werden‘ gleich ‚Sein‘ ist, ob es nicht gleich ist, wer
kann das wissen, wer braucht das zu wissen? Nur das Werden
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kann begriffen werden, nur Werden ist Leben, nur Werden ist
Leiden. Darum ist das Problem gelöst mit der Überführung
von Werden in Nichtmehr-Werden. Von diesem Parinirvana
zu reden ist ein Widerspruch in sich, denn von etwas reden,
heißt es ins Leben rufen, zu einem ‚Werdenden‘ machen, und
über etwas denken, heißt das gleiche. — Wie komme ich dann
überhaupt zum Begriff Parinirvana? — Aus dem Begriff des
Nirvana heraus, durch den Umweg über Nirvana. Wie ich mir
den Begriff ‚Selbstlosigkeit‘ nur auf dem Körper einer
arithmetischen Aufgabe klar machen kann, so den Begriff
Parinirvana nur von der Basis dieser Körperlichkeit aus. Wie
die mit Körperlichkeit gemischte Selbstlosigkeit, die im
Rechnen ihrer Auflösung zueilende Aufgabe das Nirvana in
diesem Leben ist, so ist die eingetretene Auflösung, die
Restlosigkeit ohne körperhafte Basis: Nirvana nach diesem
Leben, Parinirvana. Wie aber der Rechnende schon vorher
sieht: Das Exempel wird sich restlos auflösen, so weiß der
Erkennende schon in diesem Leben: Nirvana ist da. Da er nun
eben so sicher weiß: über kurz oder lang zerfällt diese Form,
so weiß er schon in diesem Leben, daß auf das Nirvana das
Parinirvana folgen wird. So ist die höchste Function dieses
Schein-Ich, dieser geformten Vergänglichkeit, daß sie uns das
Vergängnislose beweist.
„Es gibt, ihr Jünger, spricht der Buddha, eine Stätte, wo nicht
Erde noch Wasser ist, nicht Luft noch Licht, nicht
Raumunendlichkeit noch Zeitunendlichkeit, nicht irgend ein
Dasein, nicht. Vorstellen noch Nichtvorstellen, nicht diese
Welt noch jene Welt. Dort ist nicht Entstehen noch Vergehen,
nicht Sterben, nicht Ursache noch Wirkung, nicht
Veränderung noch Stillstand.― Das ist das Parinirvana. Selbst
dem Wissenden geht es hier wie dem Wanderer im tiefen
Hohlweg, der die Wipfel der Bäume ahnend über sich
rauschen hört, aber sie nicht sieht. Selbst dem Wissenden hat
sich der Vorhang, der dieses ‚Andere‘ verhüllt, noch nie
gelüftet. Mit keinem Gedanken ist es zu erreichen, weil
jenseits aller Erkenntnis; mit keinem Vergleich zu treffen, weil
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jenseits aller Bilder. Hier zeigt kein Gaukler seine
Produktionen. Weshalb sollte er auch? Es ist ja niemand, der
da zuschaut.
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90
Gott
Götter sind im System des Buddha scharenweise, aber es fehlt
der Gottbegriff. Der Buddhismus ist das einzige, völlig
atheistische System der Welt. Jene Systeme, die ausdrücklich
alles Göttliche ableugnen, stehen insofern noch zum
Gottbegriff in Beziehung, sind ihm Untertan, als sie sich gegen
ihn wehren, sich in Opposition zu ihm stellen. Der
Gottesleugner erkennt die Existenz eines Gottes durch sein
Leugnen an. Der Buddhismus aber steht dem Gottbegriff so
völlig fern, daß er nicht in die Notlage des Leugnens versetzt
wird. Wie der Adler hoch im Äther seine Kreise zieht, ohne
durch anderes behindert zu sein, so zieht der Buddha seine
mächtigen Gedankenkreise hoch über allen Himmeln. In allen
anderen Religionen versteht man unter ‚Gott‘ den bei der
Unendlichkeitsrechnung nicht aufgehenden Rest. Weil im
Buddhismus, als der einzigen Religion, die mit der Gegenwart
und der Tatsache des Leidens einsetzt, die Rechnung restlos
aufgeht, so liegt keine Notwendigkeit vor, mit dem Gottbegriff
zu operieren.
Nie hat der Buddha die Existenz eines Göttlichen geleugnet;
das lag nicht innerhalb der Grenzen des Systems, weil nicht
zur Erlösung gehörend. Kein System der Welt hält sich so
streng an das ‚quod erat demonstrandum‘ als das des Buddha.
Als einzigster aller Religionsstifter der Welt spricht der
Buddha nur von Dingen, die er beweisen kann. Die NichtExistenz eines Gottes ist nicht beweisbar, weil der Beginn der
Welt unerkennbar ist. Daher hat der Buddha sich begnügt zu
behaupten, daß in allem Göttlichen, soweit es irgend
menschlichem Denken zugänglich ist, Lebensbejahung,
Leben, Vergänglichkeit versteckt liegt und daher von dem
fahren gelassen werden muß, der nach wahrer Erlösung strebt.
Ausdrücklich lehrt der Buddha: „Wenn ein Mönch dieser Welt
nachhängt, so ist sein Herz eben umsponnen. Wenn ein Mönch
91
jener Welt nachhängt, so ist sein Herz eben umsponnen.― Über
das aber, was jenseits unseres Erkenntnisvermögens liegt,
kann niemand in der Welt, kein Weiser, kein Büßer, kein
Buddha etwas sagen. Weshalb also nachgrübeln und nutzlose
Hypothesen aufstellen über etwas, das nicht zur Erlösung
gehört? Nur kostbare Zeit wird verloren und das Denken vom
geraden Weg abgelenkt, wie ein Messer seine Schneide
einbüßt, wenn man ungeeignete Sachen damit bearbeitet.
Dem entsprechend war auch die Stellung, die der Buddha dem
Göttlichen notgedrungen anweisen mußte. Alle die Götter wie
Indra, Brahma, Javara u. s. w. sind nur mythologische
Gestalten, aus Connivenz mit aus dem Hinduismus herüber
genommen, um die schwachen Pflänzchen unter den
Neubekehrten in ihrem gewohnten Erdreich belassen zu
können. Alle diese Götter stehen unendlich tief unter dem
Buddha. Sie beten den Buddha an und werden von ihm
belehrt. Die Legende erzählt: Als der junge Siddhartha (der
spätere Buddha) zum Tempel in Kapilavastu gebracht wird, da
heben sich die Statuen Sivas, Narayanas, Indras und aller
anderen von ihren Piedestalen und verneigen sich vor ihm. Die
Götter rangieren im System des Buddha als Laien. Ein wie
erhabener Standpunkt, aber wie teuer erkauft! Es fehlt dem
Buddhismus jenes höchste, unter unzähligen Namen
erscheinende Wesen, welchem die Anhänger sämtlicher
anderer Religionen in höchster Not sich in die Arme zu werfen
berechtigt sind. — Weshalb berechtigt? — Weil sie an ein
solches Wesen glauben. Der Glaube ist das unfreiwillige Opfer
meines Verstandes, und ihm steht, als höchstem Opfer,
welches der Mensch bringen kann, auch höchster Lohn zu.
Freilich fehlt ein solches Wesen. Der Buddhist hat überhaupt
kein Bittgebet, sondern nur ein Dankgebet an den Buddha
dafür, daß er den Wesen den zur Erlösung führenden Pfad
gezeigt hat. Der Buddhist ist in der Tat der einzig Erwachsene.
Alle anderen sind Kinder ihrem Gott gegenüber und bitten wie
die Kinder. Der Buddhist ist der einzige, der Wahrheit sucht,
rücksichtslos.
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Der Gedankengang, den der Buddha ging, ist vielleicht der
erstaunlichste, den je ein Mensch gegangen ist. Man denke
sich die ganze Welt als ein Wettrennen. Alles drängt, rennt,
stürmt vorwärts nach einem Ziel: Seligkeit. Und einer, ein
einziger sagt: Was alle durch Wollen, durch Vorwärtsdrängen
zu erreichen suchen, das will ich durch Nicht-Wollen, durch
Zurücktreten zu erreichen suchen. Unter diesem Bild stellt sich
uns der Buddha dar. Der Mut, in diesem ungeheuren, vorwärts
sich wälzenden Strom als der einzige unbeirrt nach rückwärts
zu schreiten, das ist das am höchsten zu Bewundernde. Manch
einer hatte schon gefühlt, daß alles Täuschung ist und das
Beste: Fahrenlassen. Aber sie alle waren wie Leute, die nur
einen Fetzen vom Gewände des Ewigen abgeschnitten hatten
und sich mit diesem Fetzen brüsteten, wie der Dieb, der froh
ist, wenn er nur eine Handvoll Gold aus der vollen Truhe
heraus geholt hat, oder wie David dem Saul einen Fetzen
seines Kleides abschnitt, um zu zeigen: Ich hätte dich ganz
nehmen können, wenn ich nur gewollt hätte. — Ei! weshalb
hat er nicht gewollt? — Weil ihm der Mut fehlte:
Zaghaftigkeit. Der Buddha aber trat ohne Zagen auf jenes
Göttliche, Ewige, Geheimnisvolle, Verhüllte, Bemäntelte zu
und nahm in göttlicher Frechheit den ganzen Mantel samt dem
was darinnen war. Und als er seinen Fang enthüllte — was
war darin? Etwas, von dem er, wie von allem anderen, mit
lächeln der Verachtung sprechen konnte: „Ich mag nicht.―
Warnend fragt er seine Mönche: „Kennt ihr wohl einen
Glauben an Unsterblichkeit, der dem Gläubigen Erlösung
brächte von Wehe, Jammer, Leiden, Gram und
Verzweiflung?― Ihm, dem Glaubenslosen, wurde alles
Göttliche zu nichts als einer vom Menschen für sich selbst
construierten Welt. Nicht nur Träger dieser Welt sind wir,
sondern auch Träger von Himmel und Hölle. In diesem Leib,
ein Paar Spannen hoch, durchmessen wir die Höhen des
Himmels und die Tiefen der Hölle. Im Denken des Buddha
werden, wie diese Welt, so auch Himmel und Hölle zu nichts
als zu Formen unserer Anschauung, Formen der Täuschung. In
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einem Sutta des Digha-Nikaya findet sich ein wundervoller
Passus, voll Geist, voll feinen Humors, aber jedes Wort ein
zermalmender Keulenschlag für den Gott im Himmel: Ein
Mönch, über das relative Ende der Welt, über das Ende der
Buddha-Welt hinaus verlangend, sucht nach dem absoluten
Welt-Ende. „Wo tritt wohl die restlose, totale Vernichtung der
vier Elemente ein?― Den Buddha verlassend, tritt er mit seiner
Frage vor die Götter; aber hier kann niemand seine Zweifel
lösen. Aus einem Himmel immer zum nächst höheren
geschickt, gelangt er schließlich zu jenem höchsten Brahma
und stellt standhaft auch vor ihm seine Frage. Der aber
antwortet: „Ich bin, o Mönch, Brahma, der große Brahma, der
Höchste, der Unbesiegte, der Alles-Sehende, der Gebieter, der
Herr, der Schöpfer, der Erschaffer, der Vollkommenste, der
Lenker, der Richter, der Vater von allem was da war und sein
wird.― Der Mönch aber erwidert: „Ich frage dich ja nicht
darum, Freund, sondern das wahrlich frage ich dich: Wo tritt
wohl die restlose, totale Vernichtung dieser vier
Hauptmaterien ein, der Erde, des Wassers, des Feuers, des
Windes?― Der aber antwortet wiederum: „Ich bin Brahma, der
große Brahma u. s. w.― und wieder gibt der Mönch seine
Gegenantwort, und so zum dritten Male. Da nun nahm dieser
große Brahma den Mönch beim Arm, führte ihn beiseite und
sprach also zu ihm: „Die Götter der Brahmawelt freilich
denken von mir: Nichts ist vor Brahma verborgen nichts bleibt
von Brahma unerkannt, alles ist Brahma offenbar. — Aus
diesem Grunde habe ich mich ihnen niemals gezeigt. Auch
ich, o Mönch, weiß nicht, wo diese vier Hauptmaterien restlos
zu Grunde gehen. Daher, o Mönch, hast du hierin gefehlt, daß
du, von dem Erhabenen dich entfernend, außerhalb seiner
Erkenntnis eine Lösung dieser Frage gesucht hast. Gehe, o
Mönch, richte nur an den Erhabenen diese Frage, und wie sie
der Erhabene erklärt, so bewahre sie.―
In einem anderen Sutta wird der Buddha als im Wettkampf mit
jenem höchsten Brahma dargestellt, und warnend ruft ihm
einer aus dem göttlichen Gefolge zu: „Mönchlein, Mönchlein!
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hüte dich vor diesem. Das ist ja Brahma, der große Brahma u.
s. w.―
Aber der Buddha kannte keine Furcht. Als der Einzige trat er
furchtlos und unverzagt dem gegenüber, vor dem alles andere
in blindem Bangen auf den Knien liegt. Mit Recht heißt er
daher der ‚Löwe der Sakya‘. Er allein wagte es, in die
Behausung jenes Geheimnisvollen zu dringen, vor welcher,
wie in der Fabel, zwei Ritter mit ständig geschwungenen
Schwertern postiert sind. In dem Moment aber, als er es wagte
und hindurchtrat, da erstarrten die wirbelnden Arme, und die
blitzenden Schwerter hingen regungslos.
Was gab dem Buddha jenen übermenschlichen Mut? — Eben
das resolute Entsagen. „Durch Entsagen habe ich das Höchste
erreicht― belehrt er seine Jünger. Nicht nur dieser Welt
entsagte er, sondern auch jener Welt und seinem eigenen Ich
in beiden. So wurde er der einzig Unparteiische,
Unbestochene, der Einzige, der unbelastet durch Gedanken an
himmlische Wonnen, der Einzige, der nackt in die Arena trat,
um hier den Kampf um die Wahrheit auszuringen.
Wer nackt ist auch an Wünschen, dem kann kein Mensch, kein
Gott mehr etwas nehmen; der ist unüberwindlich geworden.
Weil er aber unüberwindlich geworden ist, darum hat er keine
Furcht. Durch die Furcht aber werden Götter und mit der
Furcht verschwinden sie, wie die Gespenster mit der
Dunkelheit. Denn aus Besitzen und Wünschen einerseits und
aus dem Gefühl des Unbekannten anderseits entsteht jede
Furcht, auch jene Gottesfurcht.
So war der höchste Mut im Buddha der Mut des Entsagens.
Dieses gab ihm den Mut des Zugreifens. Mit dem Zugreifen
schwand das Unbekannte, mit dem Unbekannten die Furcht
und mit der Furcht der Gott. Darum heißt es: „Jedes Fürchten,
das entsteht, erhebt sich nur im Toren, nicht im Weisen―, d. h.
nur in dem, der nicht erkennt. Und an. anderer Stelle: „Da hat
ein Mönch gehört: Kein Ding ist der Mühe wert. Wenn der
Mönch so gehört hat, so betrachtet er jedes Ding; wenn er
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jedes Ding betrachtet hat, so durchschaut er jedes Ding, und
wenn er jedes Ding durchschaut hat und nun irgend ein Gefühl
empfindet, so beobachtet er bei diesen Gefühlen die Gesetze
der Vergänglichkeit, der Aufhebung, der Auflösung, der
Entäußerung und indem er so beobachtet, haftet er nirgends an
der Welt; nirgends haftend erzittert er nicht; nicht erzitternd
erlangt er eben die eigene Wahnerlöschung. Insofern ist ein
Mönch, kurz gesagt, durch Vernichtung der Lebenslust erlöst,
durchaus gefeit, durchaus gesichert, durchaus geheiligt,
durchaus vollendet, Höchster der Götter und Menschen.―
Wer sich von jeder Herrschaft, auch der göttlichen freimachen
will, für den ist nichts gewonnen, wenn er breiten Mundes den
Gott leugnet. Nur im völligen Entsagen ist völlige Freiheit.
Der ist ein ausgemachter Tor und wird ein böses Sterben
haben, der Leben bejaht und Gott leugnet. Leben ist Gott. Weil
der Buddha, das Leben fahren lassend, sich an das Leiden
klammerte, darum entschwand ihm der Gottbegriff. Und wie
ein Mann aus der Tenne Spreu und Korn in ein Sieb tut und
rüttelnd und schüttelnd die Spreu entfernt und das Korn behält,
so tat der Buddha in ungeheurem Wurf die ganze Welt in das
Sieb seines Denkens, und rüttelnd und wieder rüttelnd, und
schüttelnd und wieder schüttelnd, entfernte er sorgsam die
Spreu des Ungeformten, Unsinnlichen, jenseits der Erkenntnis
Liegenden. Und als er dann klar prüfenden Auges in das Sieb
schaute, da war nichts darin als Vergängliches und Leidvolles.
Nicht aber war darin ein Ewiges, eine Seele, ein wahres Ich,
Gott. Und wie ein nahrungsuchender Mensch, wenn ihm ein
ekelhaftes Mahl vorgesetzt wird, trotz seines Hungers sich
widernd abwendet, so sprach der Buddha über dieses ganze
Sieb sein „Ich mag nicht―. Es war ja nicht das darin, was er
suchte.
Für den Buddha gibt es nur jene eine Welt, die er mit dem Ich
als Centrum und mit dem Erkennen als Radius construierte;
nur jene eine Welt, die soweit reicht, soweit die Sonne des IchBewußtseins, des Leidens reicht. Fällt der Radius, so fällt der
Lebenskreis; verlischt die Sonne, so verlischt die Leidenswelt,
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der sie geleuchtet hat. „Nicht mehr ist diese Welt―, erkennt der
Wissende. Zur Welt gehört aber auch der Gott.
Nur das was in uns liegt, durch uns bedingt ist, kann mit uns
aufhören. Nur wenn alles in uns liegt, durch uns bedingt ist,
kann alles mit uns aufhören; nur dann hat Verneinen Sinn und
Zweck. Erkennen wir aber etwas an, was als Unbedingtes,
Unerkennbares, Ewiges hinter der Natur steht, etwas dem ein
ewiges Princip, eine Seele in uns adäquat ist, so wäre ein
Lebensverneinen unmöglich, undenkbar, widersinnig. Den
Gott leugnen wäre zwecklos. Gott aber ist nicht nur das was
die Religionen so nennen, sondern auch das was die
Upanishads Brahman (als Neutrum), die Philosophien das
Absolutum nennen. Nur der einzige Gautama hielt sich mit
unerhörter Consequenz von allem fern, was jenseits der
Erkenntnis liegt. Nur so konnte er der große Verneiner
werden. Er verneinte nicht um zu verneinen, wie der
Pessimist, sondern sein Suchen wurde. ihm unter den Händen
zum Verneinen; weil er den Gott nicht fand, den er suchte,
darum verneinte er. Oder besser: Nur das verneinte er, worin
der Gott nicht zu finden war. Er war aber nirgends zu finden,
und so ist selbst dieses Verneinen kein absolutes, sondern ein
relatives, mit einer Art Reserve ausgesprochenes. Der Buddha
sagt nichts als: Trotz allen Suchens habe ich keinen Gott
gefunden, aber auf dieser Gott-Suche habe ich den Weg zur
Erlösung gefunden. Ob Gott ist, darüber kann und brauch ich
nichts zu sagen; aber in der Erkenntnis der wahren Natur des
Lebens habe ich gefunden, daß Erlösung ohne Gott, neben,
außerhalb Gott möglich ist. Die Erlösung vom Leiden kann ich
euch geben. Seid ihr damit zufrieden, so kommt, „der stille
Friedensort steht offen―. „Wer meiner Schwimmkunst
vertraut, dem wird es für immer zum Wohle, zum Heile
gereichen.― Wer freilich über jene Grenze hinaus auf jenes
Unbekannte los will, für den spricht der Buddha nicht. Nichts
lehrt der Tathagata als das Leiden und des Leidens Ausrodung.
Und daß er selber allen Versuchungen, seine Grenzen zu
überschreiten und mit dem Unbekannten zu liebäugeln, stets
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widerstanden hat, das gibt seiner Lehre jenes einzigartige,
einförmige Gepräge, wie es nur der Wahrheit eigen ist. Dieser
Lehre behagt keine Sonderheit, genügt keine Sonderheit.
Unbarmherzig macht sie alles gleich im Nicht-Ich, auch den
Gott.
Wie denn nun aber: Hebung des Gottbegriffes ist selbst dem
Buddha unmöglich; Grund: Die Unerklärbarkeit des Daseins
der Welt. Weshalb nun lehrt uns der Buddha den Gottbegriff
zu umgehen, zu übergehen? Weshalb lehrt er uns den Himmel
verachten? Dasein der Welt ist mehr als ihre Aufhebung, und
der Buddha-Gedanke wird zum Spiel oder zur Frivolität, wenn
keine Notwendigkeit zu demselben vorliegt. — Eben in der
Unerklärbarkeit des ‚Weltdaseins‘ d. h. in der Möglichkeit des
Gottbegriffes liegt die Notwendigkeit des Buddha-Gedankens.
Unerklärbarkeit des Weltdaseins beruht auf der Ewigkeit,
Anfangslosigkeit der Welt; diese Anfangslosigkeit wieder
darauf, daß alles nur Folge früheren Grundes ist. Wo das
Grundfolgegesetz ausnahmslos herrscht, da ist kein Anfang.
Weiter: weil in toto Grundfolge, darum ist diese Welt ein
Werden, darum ein Entstehen-Vergehen, darum ein Leiden.
Weil Leiden, darum liegt in ihrem Dasein an sich der Anreiz,
der Zwang zur Aufhebung dieses Daseins. In der
Unerklärbarkeit dieses Weltdaseins, d. h. in der Möglichkeit
des Gottbegriffes liegt die Notwendigkeit des BuddhaGedankens. Denn der Buddha-Gedanke ist die Wahrheit in der
Form der Religion. Wahrheit aber duldet nicht ‚Möglichkeit‘
in sich. Wo Religion reine, ungemischte Wahrheit ist, da kann
sie nicht die ‚Möglichkeit‘, d. h. den Gottbegriff enthalten.
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Karma*) der Weltrichter
Wenn kein Gott die Oberaufsicht hat, wer straft und lohnt
dann? Wer ist Richter? — Das Karma. — Aber wie, wenn sich
hinter diesem Ausdruck auch der Gottbegriff versteckte?
Im Buddhismus ist alles individuell: Das Leiden, die Erlösung,
Samsara, Nirvana, alle beruhen sie auf dem Individuum, sind
bedingt durch das Individuum. Nur dieses einzige Karma
scheint über dem Individuum zu stehen, mit dunkler Gewalt
das Individuum zu beherrschen. Alle seufzen wir unter dem
Druck dieses Gewaltigen, nur der Arahat, der in Heiligkeit
Vollendete ist Karma-frei.
So muß eine Möglichkeit sein, dieser Macht, die sich im
Karma repräsentiert, Herr zu werden. — Ja, dadurch, daß wir
es begreifen; denn nur was wir begreifen, können wir
aufheben. Karma ist Herr nur, solange es unbegriffen ist.
Buddhistischer Anschauung zufolge ist dieser Körper
zusammengesetzt aus den fünf Skandhas (Körper, Gefühl,
Wahrnehmung, Unterscheidungen, Bewußtsein). Diese fünf
sind das für unsere Sinne unfaßbare Substrat des Körpers; sie
sind das Wirkliche, das Existierende. In den Bereich unserer
Sinne fallen sie erst, wenn sie sich zum Bhava, zur
Erscheinungsform dieses Körpers vereinigt haben. Diese
letztere ist Illusion, wie am Regenbogen der Körper Illusion
ist, Regentropfen und Lichtstrahl, die Wirklichkeit. Oder:
Diese Körperform entsteht wie der Wind: In Wirklichkeit ist
nicht Wind; es gibt kein Ding, welches als Wind existierte,
sondern Wirklichkeit sind die athmosphärische Luft und die
Sonne. Der Wind entsteht mit der barometrischen Differenz, er
verschwindet mit dem Ausgleich dieser Differenz. Nur wer in
*) Pali: Kammam, übersetzt: Tat, Action
99
in diesem Sinn Körperlichkeit sich vorzustellen vermag, denkt
buddhistisch.
So besteht diese Scheinform aus den fünf Skandhas und ist
doch nicht identisch mit ihnen; denn die Fünf sind real, die
Form ideal, eine Illusion. Erst jene in spezifischer Weise
zusammengefügten, angeordneten, in Wirksamkeit getretenen
Skandhas stellen die Körperform dar. Diese Zusammenfügung
ist eben das Werk des Karma; es ballt die Fünf zu Name und
Form zusammen, macht sie sinnlich.
Was ist nun Karma? — Es ist die Kraft, welche aus der Action
die Reaction entstehen läßt, welche aus dem schon
bestehenden Leben immer wieder in nie versiegendem Strom
neues Leben hervorgehen läßt.
An anderer Stelle haben wir gesehen, daß das scheinbare Sein
dieses Körpers in Wahrheit ein ewig wechselndes Werden ist,
in dem in endloser, zahlloser, übersinnlicher Aufeinanderfolge
ein Werdemoment an das andere sich reiht. So wird die
scheinbare Continuität des Körpers im Wissen aufgehoben und
in ein zuckendes, ruckweises Entstehen und Vergehen
aufgelöst, wie der Blitz für den Unterrichteten in unfassbar
schnell aufeinanderfolgende Fünkchen sich auflöst. Das, was
die Verbindung von einem Werdemoment zum andern schafft,
die Kraft, welche ein Werdemoment als Reaction aus dem
andern hervorgehen läßt, ist das Karma.
So bedingt das Karma die scheinbare Continuität der
Körperform. Aber ebenso wie ein Werdemoment das andere
gebiert, so gebiert eine Körperlichkeit die nächste. Und in
demselben Sinne wie das Karma ein Werdemoment mit dem
andern verbindet, in dem Sinne verbindet es auch eine
Existenz mit der andern, läßt aus dieser die nächste
hervorgehen, wie aus der Action die Reaction hervorgeht.
Diese Kraft, die sich als Karma repräsentiert, ist nichts neben
den Skandhas Existierendes, über ihnen Stehendes. Es ist in
den Skandhas enthalten, wie der Abhidamma lehrt, in der
100
Form von Wollen (cetana). Es ruht in ihnen, wie die Kraft,
welche den Schlag mit dem Rückschlag verbindet, nicht neben
beiden steht, sondern in beiden, ein Teil beider ist, ja eins so
gut wie das andere ist.
Nun muß es etwas geben, was dieses endlose Spiel von Action
und Reaction in ständigem Gang erhält. Es muß einen
elektrischen Strom geben, der diesen Wagnerschen Hammer,
das beste Bild unseres Lebens, in ständiger Tätigkeit erhält:
Dieser Strom ist das Verlangen, welches an den Dingen
haftend, sich an ihnen ergötzend, immer wieder neue Nahrung
aus ihnen saugt, wie die Pflanze Wasser aus der Erde, wie der
Docht Öl aus dem Bassin. Trishna (Pali: Tanha), der
Lebensdurst, und Upadana, das Haften am Leben, sie sind die
nie versiegenden Quellen für den Strom des Leidens, sie sind
die Spannkraft, die als Reaction neues Leben und damit neues
Wollen hervorgehen läßt. Dieser Leidensmechanismus kann
nimmer zur Ruhe kommen, solange Verlangen da ist; denn
dieses führt immer wieder neue Nahrung zu, wie die Flamme
nicht auslöschen kann, solange immer wieder frisches Öl
aufgegossen wird. Verlangen schafft die Tat, die Tat schafft
die Folge, diese Folge stellt sich dar als neue Körperlichkeit
mit neuem Verlangen. Tat zieht ihre Folgen so unweigerlich
nach sich, wie der Körper den Schatten. Das ist das
allgemeinste Naturgesetz von der Erhaltung der Kraft auf das
Moralgebiet übertragen. Wie im Weltall keine Kraft verloren
gehen kann, so auch im Individuum nichts von der durch
Verlangen angehäuften Spannkraft. Ewig wandelt sich diese
Spannkraft zu neuem Leben um, und ewig leben wir so durch
unsere Lust am Leben. Der Existenzen-Vermittler aber ist das
Karma.
Wie dieses Gesetz von der Erhaltung der Kraft in der
Leidenswelt des Buddha zur Tat mit ihrer Strafe, ihrem Lohn
wird, wie das Grundfolgegesetz, sobald es in die Sphäre der
mit Bewußtsein begabten Wesen, der Individualität tritt, zum
Karma, zum obersten Weltenrichter wird, ist an anderer Stelle
gezeigt. Ja, Karma nimmt die Stelle des Gottes in den
101
monotheistischen Religionen ein insofern, als das von ihm
gerichtete Individuum auch gleichzeitig seine Kreatur ist;
durch seine Kraft haben sich ja die fünf Khandhas zu Name
und Form vereinigt, sind zum Individuum geworden, zu etwas,
was fähig ist, Leiden zu fühlen, Strafe und Lohn zu
empfangen. Der Unterschied zwischen ihm und dem Gott liegt
dem Anschein nach nur darin, daß Karma unbarmherzig,
unbestechlich arbeitet. Wie ein blankgeschliffener Spiegel uns
bis ins Kleinste das Bild zurückwirft, welches wir haben
hineinfallen lassen, so wirft das Karma die Folge der Tat dem
Täter zu. Kein Zucken der Wimper bleibt ohne Folge, d. h.
unbestraft oder unbelohnt. Kein Gedanke kann je ‚verloren
gehen in Zeit und Raum‘. „Nicht im Luftreich, nicht in des
Meeres Mitte, nicht wenn du in Bergeshöhlen hinabdringst,
findest du auf Erden eine Stätte, wo du der Frucht deiner Taten
entrinnen magst.―
In den Religionen freilich meinen die Gläubigen, den Gott
durch Gebete bestechen zu können, das Karma aber ist so
wenig zu bestechen, wie der zur Erde fallende Stein durch
Wünschen aus seiner Bahn zu lenken ist. Da das buddhistische
Universum eine selbsttätige Maschinerie ist, da ein gütiger
Gott fehlt, so fehlt auch die Möglichkeit einer Vergebung der
Sünden. Der ganze Proceß des Sündenbegehens und
Sündentilgens hat etwas von der kahlen Accuratesse
kaufmännischer Buchführung an sich. Jede begangene Tat ist
wie eine Anleihe an die Ewigkeit. Auf Heller und Pfennig
wird die entliehene Summe gebucht und auf Heller und
Pfennig muß sie zurückgezahlt werden. Gültig ist aber nur
eine Münze: Leben! Die Folge unserer Taten muß erlebt,
abgelebt werden. Ehe aber noch ein Posten, gestrichen ist, sind
schon wieder unzählige neue Anleihen gemacht worden, und
endlos zieht sich die qualvolle Kette der Wiedergeburten.
Nirgends sieht der verzweifelnde Blick eine Möglichkeit des
Entrinnens.
So wären wir auf ewig an das Leben geschmiedet? — Nicht
auf ewig, sondern solange Unwissenheit bestehen bleibt,
102
solange wir die wahre Natur dieses Karma nicht erkennen.
Freilich sind wir Geschöpfe dieses Karma und stehen unter
seiner Schreckensherrschaft, aber im tiefsten Grund ist dieses
Karma, welches uns von Geburt zu Geburt reißt, ja nichts, als
ein Product von uns selbst. Jeden Augenblick haben wir die
Macht, jene endlose Kette zu unterbrechen: Wenn die Tat
aufhört, hört die Folge der Tat auf, und wo keine Brücke zum
Nächsten ist, da ist auch kein Nächstes, wie da kein
Herzschlag, wo keine Verbindung zwischen Systole und
Diastole ist. Systole für sich ist ebenso undenkbar, wie
Diastole für sich. Erst das Übergehen von einem zum andern
macht beide, macht Leben.
Nur solange ich Taten tue, habe ich unter den Leben-, d. h.
Leidengebärenden Folgen zu seufzen. Taten geschehen aber,
solange der Wille zu Taten da ist. Der Wille aber kann sich nur
heben im wahren Wissen, im Wissen von der Vergänglichkeit,
vom Nicht-Ich. In ihm geht nicht nur der Lebensmut, das
Wollen, sondern die Möglichkeit des Wollens unter, mit ihr
die Möglichkeit der Tat, mit ihr die Möglichkeit der Folge.
So bin ich Herr des Karma sobald mein Wollen in Nichtwollen
verkehrt ist. Dieser im Wissen erzeugte Entschluß zum
Nichtwollen, zum Lebens-Verneinen das ist die größte aller
Taten, ‚die Tat, die zur Aufhebung der Tat führt‘. Und weil
dieser Entschluß in meiner Gewalt steht, darum bin ich selber
meines Schicksals Schmied. Ich selber schmiede meine
Ketten, ich selber feile sie durch und achte keines Gottes. In
keiner Religion steht Menschlichkeit in so erhabener, freier
Größe da, wie im System des Buddha. Auch in diesem Sinn ist
der Buddhismus die menschlichste aller Religionen; hier liegt
alles in uns. Sind wir verständig, so gebührt uns allein das
Verdienst; sind wir Toren, so trifft uns allein die Schuld, denn:
„Hat wohl das Feuer je gedacht:
Versengen will den Toren ich?"
Das Wissen macht uns aber zu Herren des Karma nicht nur
dadurch, daß es dasselbe im Nichtwollen zum Versiegen
103
bringt, sondern auch dadurch, daß es uns erkennen lehrt:
Ebenso wie das Ich, ist auch das Karma Täuschung. Wie das
Leiden sich im Nichtwollen und im Erkennen hebt, so hebt
sich auch das Karma im Nichtwollen sowohl, als im Erkennen.
Die Kraft, welche die Action mit der Reaction verbindet, ist
ganz Action einerseits, weil in ihr wurzelnd, ganz Reaction
anderseits, weil in sie sich umwandelnd, in sie aufblühend.
Einerseits ganz Tat, anderseits ganz Folge der Tat ist aber auch
das Ich. Karma ist nichts als der Ausdruck für das Ich, soweit
es Moral übt und selber Moral ist, ebenso wie Individualität
der Ausdruck für das Ich ist, soweit es Vergänglichkeit
erkennt und selber Vergänglichkeit ist. Schwindet der Begriff
Ich, so schwindet auch damit der Begriff' Karma. Wie das Ich
nur schwinden kann, wenn es als auf Täuschung beruhend
erkannt wird, so auch das Karma. Etwas Reales, Seiendes
kann nie und auf keine Weise schwinden. Aufhören kann nur
das Werden, und Karma, als ganz Tat, ganz Folge, d. h. weder
Tat noch Folge, ist nichts als der ständige Übergangsprozeß
von einem zum andern, ist nichts als ein Werden. Gäbe es
etwas, was Tat für sich, wäre, so gäbe es auch etwas, was
Folge der Tat für sich wäre. Tat für sich, das wäre die
Weltschöpfung, der absolute Beginn; Folge der Tat für sich,
das wäre das ewige Leben in Himmel oder Hölle, das absolute
Leben. Gott und Seele wären damit gleichzeitig statuiert. Der
Karma-Begriff frißt beide. Karma ist das glanzlose Ende,
welches jener glänzende Atmangedanke der Upanishads im
Hirn des Buddha fand. Der Atman (das Selbst, die Seele), der
gleich einem Blitz Himmel und Erde, Gott und Menschen
verbindet, er wurde im anatomisierenden Denken des Buddha
zum zuckenden Fünkchen, das, immer wieder sich aus sich
selbst regenerierend, den Schein der geschlossenen Kurve
vortäuscht. Die Seele kann erkannt, das Unbegreifliche
begriffen werden nur in ihrer Aufhebung. Aufhebung aber ist
nur möglich, wo Werden ist. Die Seele, das Ich erkennen,
heißt sie als Täuschung erkennen, das Sein als Werden
erkennen.
104
Fragen wir jetzt noch einmal: Wer herrscht, wenn kein Gott
ist? — Das Ich herrscht, aber so, daß es auch gleichzeitig das
Beherrschte ist. Ich ist das, in dem Tat und Folge
zusammenfallen, ist das, was nicht die Tat tut, sondern die Tat
ist. Sein Herrschen ist Täuschung, aber damit auch sein
Beherrschtwerden.
Frei
von
der
Täuschung
des
Beherrschtwerdens kann ich nur werden, wenn ich frei von der
Täuschung des Herrschens werde. Erst wenn ich sehe: „Hier
ist kein Täter,― erst dann kann ich sehen: „Hier ist keine Folge
der Tat.― Ich löse das Karma auf, heißt: Ich löse das Ich auf.
Erst dadurch, daß ich mich völlig als Product des Karma,
völlig als Folge früheren Grundes erkenne, völlig, restlos, erst
dadurch werde ich zum Herrn des Karma, zum Herrn der
Welt. Denn bin ich nichts als Folge eines Grundes, so ist auch
das All nichts als Folge eines Grundes. Ich verstehe den Satz:
‚Die Welt ist die Frucht der Werke‘ und ich verstehe: Hebung
der Welt muß eintreten mit Hebung der Werke, mit Hebung
der Tat. Die Tat bin ich. Mit dem Ich fällt die Welt. Die
Möglichkeit zur Hebung der Welt liegt in mir, ja in mir. Diese
Möglichkeit aber ist nichts als ein anderer Ausdruck für: ‚All
Leben, ist Leiden‘. Denn wo aufgehoben werden kann, da ist
Werden, Vergänglichkeit, kein Sein, kein Ewiges, kein
Göttliches, keine Ruhe, keine Wonne. Daher: Möglichkeit der
Weltaufhebung ist Notwendigkeit der Aufhebung; denn wie
das Wasser von Berg zu Tal, so drängt das Menschenherz vom
Leiden zur Leidensfreiheit. Verstehen des Karma ist Zwang zu
seiner Aufhebung.
Wie in einem Gedanken das Ich zum tragenden Centrum der
Welt, zum Weltzeuger und Weltgebärer wird und zum ScheinIch, so wird in einem Gedanken das Karma zum Herrscher der
Welt und zum Product der Täuschung, und es verstehen heißt,
seiner Herr werden. Der Kampf gegen die Täuschung, die
Unwahrheit ist der einzig naturgemäße, notwendige Kampf.
Im Satz: ‚Karma ist Täuschung‘ liegt der Zwang, seiner Herr
zu werden und im Satz ‚Aufhebung des Karma ist ein Zwang‘
liegt die Notwendigkeit des Karmas als Täuschung.
105
Karma ist wie die Stimme in meiner Brust. Solange ich sie als
Gedanke in mir halte, bin ich ihrer Herr; sobald ich sie mir
aber als Wort habe entfahren lassen, wird sie zum Herrn über
mich, zu etwas außer mir Stehendem, dessen Folgen ich nicht
mehr entweichen kann. Wie ich durch Schweigen die
Herrschaft über mein Gedachtes und damit über mich behalte,
so behalte ich durch geistiges Schweigen die Herrschaft über
das Karma d. h. über das Ich, soweit es den endlosen,
anfangslosen Werdeproceß der Welt darstellt. Durch geistiges
Schweigen werde ich Herr der Welt.
Das Karma ist ferner wie das Herz in meiner Brust, das auch
rastlos von Systole zu Diastole eilt, unbeeinflußbar durch
meinen Willen. Unterbreche ich aber die Atmung, so kommt
schließlich dieser rastlose Arbeiter, der von Moment zu
Moment neues Leben gebiert, zur Ruhe. Wie dem Herzen nur
von der Atmung aus beizukommen ist und nicht direct, so dem
Karma nur vom Willen, von Trishna-Upadana aus. Und wie
ich von der Atmung aus das Herz nicht regulieren, sondern nur
zum Stillstehen bringen kann, so kann ich vom Willen aus das
alte Karma nicht ändern, aber ich kann jenes Spiel von Action
und Reaction, jene ständige Neubildung von Karma zum
Aufhören bringen. Ich bin nicht Herr über die Vergangenheit,
aber über die Zukunft, nicht über den Anfang, aber über das
Ende der Welt.
Wie jeder Herzschlag das Endproduct der endlosen Zahl der
vergangenen Herzschläge und der Träger, der Producent der
endlosen Zahl der folgenden ist; wie das Jetzt das Product, der
Abschluß endloser Vergangenheit und der Producent, der
Träger endloser Zukunft, so ist das Karma das Product, der
Auswurf, die Folge aller vergangenen Taten und ist der
Träger, der Zeuger, der Mutterschoß aller zukünftigen.
Körperlichkeit; Jetzt, Karma sind dasselbe von verschiedenen
Standpunkten aus angesehen. Wie das Ich erst ganz zum
Träger der Welt wird, wenn es ganz als Täuschung erkannt
wird, wie das Jetzt erst ganz zum Träger der Zukunft wird,
wenn es ganz als Täuschung erkannt wird, so auch wird das
106
Karma erst ganz zum Weltenrichter, wenn es ganz als
Täuschung erkannt wird. Karma als Täuschung erkennen heißt
nicht: es verachten, sondern es in seiner vollen
Fürchterlichkeit, in seiner Ewigkeit erkennen. Wo nichts ist als
Grundfolge, als Werden, da ist auch die Endlosigkeit des
Werdens. Ein Beginnen des Werdens statuieren, heißt das
Sein, den Gott statuieren. Ist kein Beginnen des Werdens, so
ist auch kein Enden und jedes Moment, jedes Jetzt ist der
Beginn einer Unendlichkeitsreihe. Jedes Jetzt, jede Tat, jeder
Gedanke ist der Bildner der Zukunft in ihrer Totalität. Nichts
steht vor uns als fixer Punkt, nichts wartet am andern Ende;
kein Gott mit offenen Armen, kein Höllenrachen; Leben ist
kein Wettrennen zum Ziel. Den Weg, den der Wanderer geht,
schafft er sich erst aus sich selbst, wie die arbeitende Spinne
aus sich selber die Straße zieht, auf der sie geht. Nichts ist da
als das Jetzt, welches, weil Täuschung, ewig neu das Jetzt aus
sich heraus gebiert. Leben ist nicht einer Zukunft
entgegengehen. Eine Zukunft hat nur, wer einen Gott hat. Wo
nichts ist als Grundfolge, wo Karma herrscht, da ist nur das
Jetzt und Leben ist nichts als das Heraustreten aus dem Jetzt in
das Jetzt. Leben ist das zur Ewigkeit gewordene Jetzt. Das
Jetzt ist unser Halt, unsere Zukunft. Und wie der Mann, der
auf gespanntem Seil dahinschreitet, nur von Tritt zu Tritt
denkt, so denkt der Wissende nur von Jetzt zu Jetzt. Mit jedem
Jetzt weiß er: „Ich schaffe die Welt aufs neu―, weiß er: „Ich
schaffe den neuen Ansatz, die neue Richtungslinie für die
endlose Zukunft.― Daher schreitet er behutsam wie der Mann
auf dem Seil. Er wagt es nicht, sein geistiges Auge über das
Jetzt hinausgleiten zu lassen. Jenseits des Jetzt ist nichts. Das
Jetzt hinter dem Jetzt muß erst geschaffen werden. Sein Auge
vom Jetzt auf die Zukunft, von der Erde auf den Himmel
richten, heißt in das Nichts, den Abgrund treten. Auch das
Plänemachen ist ein Treten ins Leere. Sicher geht nur der,
welcher das Auge starr auf das Jetzt gesenkt, nicht nach
Himmel, nicht nach Hölle schielend, von jedem Schritt weiß:
„Er trägt meine Zukunft.― Sicher geht nur der, welcher nicht
107
rechts nicht links, nicht vorwärts nicht rückwärts gafft,
sondern fest nach innen spähend, bei jeder Tat, jedem Wort,
jedem Gedanken weiß: „Jetzt streue ich den Samen der
Zukunft. Eben jetzt schaffe ich die Himmel, die Höllen, die
mich später einnehmen werden.― Dieser Gedanke, wenn er im
Ich Wurzel gefaßt hat, der macht die Hand langsam, die Zunge
vorsichtig, das Hirn nachdenklich. Einen solchen lockt nicht
Ruhm, nicht Gold, nicht Liebe. Und Heimat, und Himmel sind
ihm leere Worte. Das macht: er denkt alles dieses und im
Denken verrinnt es ihm. Wo Denken ist, da kann kein Wollen
sein, wie keine Finsternis sein kann, wo Licht ist. Wo Liebe
gedacht wird, da kann sie nicht gefühlt werden; wo Reichtum
gedacht wird, da .kann er nicht erworben werden; wo Himmel
gedacht wird, da kann er nicht ersehnt werden. — Ja, selbst
nach dem Nirvana schaut er nicht. Völlig im Jetzt stehend, nur
das Leiden, das Entstehen, das Vergehen anschauend, schreitet
er von Jetzt zu Jetzt, jeder Schritt Weg zum Ziel und das Ziel
selber. So wandert er groß, einzig, still seine Straße, gleich der
Sonne sich den Weg schaffend und erleuchtend, den er geht.
Aber wozu das alles? — „Wer die Entstehung aus Ursachen
merkt, der merkt die Wahrheit; wer die Wahrheit merkt, der
merkt die Entstehung aus Ursachen― spricht der Buddha.
Nachdenklichkeit und Achtsamkeit tragen ihren Lohn in sich
selbst, schaffen ihren Lohn von Moment zu Moment. Das
Gesetz von Grund und Folge, von der Vergänglichkeit, vom
Werden verstehen, heißt die Wahrheit erkennen. Die Wahrheit
erkennen, heißt die Erlösung haben. Grundfolge erkennen,
heißt Nichtwollen. Nicht-wollen führt zu Nirvana und ist
Nirvana. Jeder Schritt im Nichtwollen ist Weg zum Ziel und
Ziel selber. Wer die Wahrheit erkennt, der weiß: Dieses
Karma, das mich an das leidvolle Leben schmiedet, es kann
mich nicht mehr schrecken. Ich habe mich vor ihm gefürchtet,
wie das Kind sich vor seinem eigenen Spiegelbilde fürchtet,
weil es sich selbst nicht kennt. Ich bin nicht nur Product, ich
bin auch Schöpfer dieses Karma. Von meinem Wollen aus ist
108
es aufhebbar, und nichts ist nötig als die Fortnahme jener
Täuschung, welche das Ich als Seiendes vorspiegelt.
So habe ich diesen Baumeister, der immer wieder ein neues
Lebensgehäuse zimmert, überall gesucht und endlich, o
Wunder! in mir selbst, im Herz meines Herzens gefunden.
Darum spricht der Buddha:
„Erkannt bist Hauserbauer du.
Nicht mehr wirst du das Haus erbauen.
All deine Balken sind zerstört,
Vernichtet ist das ganze Haus,
Vernichtungsselig hat das Herz
Des Wollens Aufhebung erreicht."
(Dhammapadam.)
Nun aber ein Zweifel: Ist das im Karma Wiedergeborene
dasselbe oder etwas anderes als das Alte?
„Was ist's wohl, o Gotamo: Der Selbe, der jetzt lebt,
empfindet die Folgen seines Tuns in der Wiedergeburt?― so
fragt ein Brahmane den Buddha.
„Der Selbe, der jetzt lebt, der Selbe empfindet die Folgen
seines Tuns: dies, Brahmane, ist das eine Extrem.―
„Was also, o Gotamo: Ein Anderer, als der jetzt Lebende
empfindet die Folgen seines Tuns?―
„Ein Anderer; als der jetzt Lebende empfindet die Folgen
seines Tuns: dies, Brahmane, ist das zweite Extrem. Diese
beiden Extreme meidend, zeigt der Vollendete die in der Mitte
liegende Wahrheit.― Und nun setzt die Reihe der zwölf
Nidanas ein, vom Nichtwissen bis zu Geburt, Tod, Leiden.
Das heißt: Es ist weder der Selbe noch der Andere, und es ist
sowohl der Selbe als der Andere. Ebenso ist das Ich als Tat
(Action) von dem Ich als Folge der Tat (Reaction) verschieden
und doch nicht verschieden. Das heißt: Leben ist kein Sein,
weder in der Form des ‚Selben‘, noch in der Form des
‚Andern‘, sondern es ist überhaupt kein Ich da; nichts ist da;
109
als der Proceß, das endlose, sich selbst regenerierende Spiel
von Action und Reaction. Von diesem aber kann man nicht
sagen: Auf diese Seite gehört der Teil, auf jene Seite jener —
mit seinem Dasein an sich ist seine endlose Vergangenheit,
seine endlose Zukunft gegeben. Wie eine Flamme, welche die
Nacht durch brennt, am Ende der Nacht dieselbe ist wie am
Anfang und doch nicht dieselbe, so ist das neue Wesen
dasselbe und doch nicht dasselbe wie das alte. Wie die
Reaction nicht das Gleiche ist wie Action, und doch nichts
Verschiedenes, so ist auch diese Existenz nicht die gleiche wie
die nächste, und auch nicht eine andere. Es ist das ‚Jetzt‘ hier
wie da und in alle Ewigkeit.
Nun noch ein anderer Zweifel: Wenn das Karma nur durch
Aufhebung der Tat aufgehoben werden kann, so muß ja auch
die gute Tat unterbleiben; denn auch sie zieht ihre Folgen nach
sich, gebiert Leben? — Allerdings muß auch die gute Tat
unterbleiben, aber nicht so, daß ein solcher sich sagt: „Ich darf
die gute Tat nicht tun, um mir kein neues Karma, kein neues
Leben zu bilden.― Dieses Abweisen der guten Tat würde auch
wieder Tat sein, Tat mit der ihr entsprechenden Folge. Daß
also solche Ausdrücke des Buddha wie: „Sie sind vom Bösen
und Guten erlöst― oder: „Ihr habt das Rechte zu lassen,
geschweige das Unrecht― besonders gedeutet werden müssen,
ist klar.
Gut und böse hängen am Individuum, am Ich-Gedanken.
Sobald der Ich-Gedanke im wahren Wissen sich aufgelöst hat,
haben ‚gut‘ und ‚böse‘ keine Bedeutung, keinen Sinn mehr.
Ein solch Erwachter, der sich schon in diesem Leben Nirvana
sichtbar gemacht hat, steht jenseits, oberhalb beider; er wirkt
die Spanne Zeit, die er noch in dieser Scheinform zu
verbringen hat, wie die Sonne. Wie die Sonne gleichmäßig
über Berg und Tal, über Schönes und Häßliches geht, so geht
sein Tun und Denken gleichmäßig über Gutes und Böses hin,
ohne mit dem Wollen an ihm zu haften, ohne eine Empfindung
zu erregen. Denn wo kein Nichtwissen mehr ist, da sind keine
Unterscheidungen mehr. Er tut was zu tun ist, aber er haftet an
110
nichts; denn nur mit dem Ich kann er haften. Und erst im Ich,
in der Individualität wandelt sich die Folge des Grundes wie in
Lohn und Strafe, so in die Begriffe ‚gut‘ und ‚böse‘ um. Mit
dem Fallen des Ich-Gedankens fallen beide Begriffe in die
Indifferenz zusammen; Ebenso wie die Begriffe ‚Object und
Subject‘, ‚Tat und Folge‘, ‚Vergangenheit und Zukunft‘, so
sind auch die Begriffe ‚gut‘ und ‚böse‘ nichts als
Differenzierungen, die auf der Täuschung des Ich beruhen.
Der im Wissen Vollendete tut freilich Taten; denn dieser Leib
ist noch da. Aber nicht die Tat an sich schafft Karma-Leben,
Leiden, sondern die aus dem Willen entsprungene Tat. Nicht
das Aneinanderlegen von Kiesel und Stahl schafft Feuer,
sondern die Reibung. Wille aber kann nur da sein, wo ein Ich
ist, welches will.
Das was der Buddha Karma nennt, ist nicht allgemein die
Kraft, welche aus der Tat zur Folge führt, die Folge
verwirklicht, sondern Karma heißt dieser Proceß, soweit, er
sich im Bewußtsein-begabten d. h. Leidens-fähigen Wesen
abspielt. Und notwendigerweise; denn nur hier ist Folge der
Tat d. h. Leben gleichbedeutend mit Leiden. Das Wort des
Buddha gilt aber nur für die Welt, in der Leiden herrscht,
Leiden gefühlt und verstanden wird. Wie Leiden nichts ist, als
der in die Individualität hineingetragene, von der Individualität
verarbeitete Satz von der Unbeständigkeit, so ist Karma nichts
als der in die Individualität hineingetragene, in ihr verarbeitete
Satz von der Erhaltung der Kraft. Als etwas in der
Individualität Ruhendes, geht es mit der Individualität zu
Grunde. Frei kann der Wissende gehen. — Nicht auch jeder
Andere, der da hört: „Es ist kein Karma, und das Gerede von
Lohn und Strafe ein Ammenmärchen? Was soll die Zucht, die
der Mensch sich selbst auferlegt! Frei will ich leben, über das
Genick der Menschheit hinschreitend!― — Nein! Frei geht nur
der Wissende, kein Anderer. So lange Wollen da ist, so lange
sind Taten da. So lange Taten da sind, so lange ist Karma
grimme Wirklichkeit und Lohn und Strafe keine leeren Worte.
Freiheit von Karma kann nicht gelehrt, sondern nur gelebt,
111
nicht erlernt, sondern nur erlebt werden. Karma ist ja nicht nur
mein Geschöpf, sondern auch mein Schöpfer. Es ist mein Ich.
Nur für wen Karma völlig Schöpfer ist, für den ist es völlig
Geschöpf. Frei von Karma kann nur sein, wer sich frei vom
Ich gemacht hat, dem Ich entsagt hat. Schrankenlose Freiheit
kann nur da sein, wo keine Möglichkeit mehr besteht, diese
Schrankenlosigkeit zu benutzen. — Weshalb unmöglich? —
Auf diesem Ich ruht die Welt. Mit dem Ich vergeht die Welt.
Wo keine Welt, kein Ich mehr ist, da kann auch keine Welt
mehr geachtet, mißachtet werden. Anderseits: Wo keine Welt,
kein Ich mehr ist, da kann auch kein Ich mehr von der Welt
beachtet werden, durch die Welt von Leben zu Leben, von
Leiden zu Leiden gelockt werden. Ein solcher, der sein eigen
Ich aufgehoben hat, der ist der Welt durch Weichen Herr
geworden. Das meint der Buddha, wenn er vom wahren
Mönch spricht: „Geblendet hat er die Natur, spurlos vertilgt
ihr Auge, entschwunden ist er der bösen.― Er sieht keine Welt,
keine Welt sieht ihn.
112
Moral im Buddhismus
Der Buddhismus, wenn auch die mitleidvollste aller
Religionen, ist nicht die Religion der Liebe, sondern des
Wissens. Christus lehrt: „Liebe deinen Nächsten wie dich
selbst.― Die indischen Religionen, Buddhismus und Vedanta,
lehren dasselbe, gleichzeitig aber den Grund hierfür. Hier
verstehen wir, weshalb wir unseren Nächsten wie uns selbst
lieben müssen. Mit naturwissenschaftlicher Exactheit werden
hier die Gesetze entwickelt, nach welchen sich dieses höchste
Phänomen des Moralgebietes abspielt.
Dem Prinzen Siddhartha, genannt Gautama, geht das
Verständnis dafür auf, daß all Leben Leiden ist, und in
mächtiger Concentrierung alles Denkens auf einen Punkt sucht
er sich aus diesem Leiden zu erretten. Das ist, kurz gesagt, der
Ursprung des ganzen Buddhismus. Gautama, der spätere
Buddha, beginnt seine Laufbahn nicht als Erretter der Welt,
nicht als einer, dem zu diesem Zweck von oben herab
übernatürliche Fähigkeiten verliehen sind. Nichts liegt ihm
ferner als das Heil der anderen. Er sucht lediglich seine eigene
Rettung; es ist ein rein egoistischer Trieb, aber was ist
natürlicher, als daß jemand, der sich in einem brennenden
Hause sieht, vor allem sucht, sich selbst zu retten.
Nachdem ihm aber diese Rettung gelungen ist, nachdem er
sich selbst aus dem Meer des Leidens, an das Ufer in
Sicherheit gebracht hat, nachdem ihm die selige Erkenntnis
aufgegangen ist: „Ich bin erlöst―, da wendet sich sein Geist
auch auf die leidende Menschheit zurück, und erst in dieser
rückläufigen Bewegung sehen wir die Liebe in der Form
verstehenden Mitleids auftreten. Charakteristisch sagt er
selber: „Zwei Gründe sind es, die mich zu dieser
Lebensführung bestimmen: Mein eigenes Wohlbefinden in
dieser Zeitlichkeit und das Mitleid mit denen, die mir
113
nachfolgen.― Daß der Buddha der leidenden Welt gezeigt hat:
„Diesen Weg bin ich gegangen, auf diesem Weg bin ich zum
Ziel gelangt, dieses ist der Weg zur Erlösung―, das ist seine
große Liebesgabe, darum heißt er der ‚große Mitleidsvolle‘.
Nicht das Erwachen zu wahrer Erkenntnis macht schon den
Buddha, sondern die Combination von Erwachen und Mitleid
zur Menschheit, sie macht den Buddha. Stets ist im
Buddhismus das Zeigen des wahren Pfades höchste
Liebesgabe gewesen, dem Spender höchsten Lohn sichernd.
‚Weit über der höchsten Gabenspendung steht das Verdienst
desjenigen, der von diesem Lehrbegriff nur einen
viergliedrigen Sloka (Vers) auffaßt und ihn andern erklärend
in wahrhafter Reinheit offenbart‘ heißt es in einem Sutra des
Mahayana. Und tadelnd spricht der Buddha zu seinen
Mönchen: „Wie, ihr Mönche, macht ein Mönch kein Feuer an?
— Da zeigt ein Mönch nicht den andern die Lehre, weithin
sichtbar, wie er sie gehört und gelernt hat. So, ihr Mönche,
macht ein Mönch kein Feuer an.― Wir müssen hier gleich
hervorheben: Diese höchste Liebesgabe wird nicht im
Interesse des Geschenkten verabfolgt, sondern der Geber
verabfolgt sie im eigensten Interesse. Daß der Beschenkte
gleichzeitig unendlichen Lohn einheimst, kommt erst in
zweiter Linie in Betracht. Das ist die in unsern Augen entartete
Form, welche Liebe in diesem System angenommen hat; es ist
nichts geblieben als das knöcherne Gerüst der Taten. Jene
Herzlichkeit, die sich selbst über dem andern vergißt, jene
Herzlichkeit, die erst Weichheit und Farbe schafft, ist völlig
verlorengegangen. Die ganze Moral im Buddhismus ist nichts
als ein Rechenexempel, das der klare, kalte Egoismus anstellt:
Soviel gebe ich dem andern, soviel wird mir dafür zu gut
kommen. Das Karma ist der exacteste Rechenmeister der
Welt.
Haben wir aber das erste Gefühl des Unmuts über diesen
scheinbaren Mißbrauch mit der Liebe, unserem Höchsten,
überwunden, so müssen wir zugestehen, daß im System des
Buddha Liebe keinen andern Klang haben kann. Hier fehlt ja
114
jenes große Liebecentrum, jener Gott-Vater, mit dem ich in
der Liebe eins werde, der mich liebt, den ich wieder liebe,
dessen Kinder alle Menschen sind, und der so durch seine
Allvaterschaft die ganze Welt in eine Gemeinde von Brüdern
und Schwestern verwandelt, deren naturgemäße Pflicht es ist,
sich gegenseitig zu lieben. Im Buddhismus herrscht nur jenes
Karma, jenes Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung,
zwischen Tat und Folge, welches mit der Exactheit einer
Maschine Lohn und Strafe reguliert.
Freilich der Gott fehlt, aber vielleicht hätte der Buddha als
Liebecentrum substituiert werden können? — Der Buddha ist
in Nirvana. Dieser Vaterschaftsgedanke ist so völlig
unvereinbar mit dem Gedankengang des Systems, daß
vielmehr selbst die tatsächlichen Bande der Verwandtschaft in
der neugewonnenen Erkenntnis sich auflösen. Das Individuum
wird aus seiner Verbindung mit Eltern, Kindern, Geschwistern
herausgeschält.
Das
sind
nur
menschliche
Scheinverbindungen. Wie die Vögel abends sich auf einem
einzelstehenden Baum sammeln und morgens wieder
auseinander fliegen, so sammeln sich durch die Macht des
Karma die Glieder einer Familie und gehen wieder
auseinander, wenn ihr Karma, das ihnen diese Form, bestimmt
hatte, abgelaufen ist.
Hier gibt es nur eine Vaterschaft: Meine Tat! nur eine
Sohnschaft: Die Folge der Tat! „Meine Tat ist mein Besitz,
meine Tat mein Erbe, meine Tat der Mutterschoß, der mich
gebar. Meine Tat ist das Geschlecht, dem ich verwandt bin.
Meine Tat ist meine Zuflucht.― So lehrt der Buddha.
Nicht ein Gott ist meine Zuflucht, sondern meine Tat ist meine
Zuflucht. Da ich mit nichts in der Welt zusammenhänge als
mit dieser meiner Tat, so müssen alle andern Verbindungen,
mögen sie Gott, mögen sie Menschen betreffen, als
Täuschungen erkannt und aufgegeben werden. Durch die Kraft
meines Denkens von allen Verbindungen losgelöst, stehe ich
allein im Universum, in ungeheurer Einsamkeit die Pfade des
115
Samsara wandelnd. Nur meine Tat geht mit mir, aber nicht wie
ein Begleiter, sondern wie mein Schatten. So wandere ich wie
ein Mann, der auf unabsehbarer Schneefläche oder in endloser
Sandwüste abends ostwärts zieht und nichts hinter sich hat, als
die lange Spur seiner Schritte, nichts vor sich als den riesigen
Schatten; neben sich aber hat er nichts.
Also lehrt der Buddha: „Zweierlei Freuden gibt es, ihr Jünger.
— Welche zwei? Die Freude des Familienlebens und die
Freude des heimatlosen Lebens. Das, ihr Jünger, sind zweierlei
Freuden. Die erhabenere dieser zwei Freuden ist die Freude
des heimatlosen Lebens― (Anguttara-Nikayo). Und weiter:
„Unabhängigkeit, sag ich, ist höchstes Labsal der Gefühle.―
Der Buddha selber hatte seine Laufbahn mit jener großen
Entsagung eröffnet, mit jenem Heraustreten aus dem Kreise
aller derer, die er liebte, von denen er geliebt wurde. Das war
das fürstliche Handgeld, welches er der Wahrheit gab, um sie
für immer an sich zu fesseln. Stets hat in diesem Kampf um
die höchsten Güter ein einziger Act hingebender Entsagung
mehr gegolten als jahrelanges, qualvolles Forschen und
Zweifeln. Wer nicht den Mut hat, die Schiffe hinter sich zu
verbrennen, der wird nie die neue Geisteswelt erobern. Wer
fest entschlossen ist, den Kreuzzug zur Wahrheit
mitzumachen, von dem verlangt der Buddha, daß auch er
rücksichtslos sein Haus verläßt samt allem, woran sein Herz
bisher gehangen hat.
‚Der Liebe Fesseln wie ein befreiter Elefant abschüttelnd.‘
(Asvagliosha, Buddha-Karita.)
Denn Vater und Mutter, so hoch sie zu ehren sind, Weib und
Kind, alle sind sie nur Fesseln, die den Geist am Hochsteigen
hindern. Als dem Buddha die Geburt eines Sohnes gemeldet
wird, spricht er: „Eine neue Fessel ist mir geboren―. Mehrfach
findet sich folgender Passus: „Mit Fesseln gebunden ist das
Leben im Hause, eine Stätte der Unreinheit, wie der freie
Himmelsraum ist das Leben des Asketen.―
116
Das höchste Ziel des Buddhisten besteht in der Befreiung vom
Leiden der Welt. Dieser Zustand der Leidenslosigkeit wird
erreicht durch ein völliges Sichloslösen von, Sichausschälen
aus der uns umgebenden Welt, mit der wir vermittelst unserer
sechs Sinne in ständigem Contact stehen. „Wer nichts Liebes
hat, der hat auch nichts Leides― spricht der Buddha und:
„Geliebtes lassen ist das größte Leid.―
Aus dieser Anschauung resultiert ein sich auf sich selbst
Beschränken, ein sich in sich selbst Aufrollen, welches dem
Verkehr mit dem Nebenmenschen von vornherein sein
specifisches Gepräge aufdrückt. Jene active Liebe, jene
spontane Sorge für den Nächsten fällt damit fort. Der Christ
muß bestrebt sein, Taten der Liebe zu verrichten, muß der Arzt
der geistig Kranken sein, muß unter Zöllnern und Sündern
sitzen, muß alles andere lassen und dem einen verirrten Schaf
nachgehen; die Liebe ist das Endziel seiner Religion, ist die
Erfüllung. Gott ist die Liebe. Für den Buddhisten liegt keine
Notwendigkeit zu solcher Handlungsweise vor. Für alle
Handlungen gibt es bei ihm nur eine Regel und Richtschnur:
Dient das zu meiner Erlösung oder nicht oder besser gesagt:
Kann das meiner Erlösung hinderlich sein oder nicht?
Von diesem Standpunkt aus sich selbst betrachtend, macht er
sich selbst zum Centrum des Universums. Mit ängstlicher
Sorgfalt hält er darauf, daß sein geistiger Schwerpunkt stets
innerhalb des eigenen Ich liegt, und daß selbst bei dieser
gesicherten Lage alle Vibrationen nach Kräften vermieden
werden. Selbst in den Werken der Liebe darf er nie vergessen,
warum er sie tut, darf er nie sein eigenes Ich vergessen; denn
jedes Vergessen ist hier ein Zurückgleiten auf der steilen Bahn
zum Nirvana. Tugend ist nicht das an sich zu Erstrebende: sie
ist nur die Leiter zum Höchsten. Gutes tun ist nichts als
Meiden des Schlechten. „Hätte der Erhabene, spricht der
Mönch Punno zum Mönch Sariputto, reine Tugend als
stofflose, vollkommene Wahnerlöschung bezeichnet, so würde
der Erhabene Stoffhaftes als stoßlose, vollkommene
117
Wahnerlöschung bezeichnet haben.― Das Stoffhafte aber ist
das Minderwertige.
Weshalb genügt aber dieses sich auf sich selbst Beschränken?
— Weil sich mit mir zugleich ja auch die ganze Welt ändert.
Auf mir ruht die Welt, meine sechs Sinne schaffen von
Moment zu Moment diese Welt aufs Neue. Wie das Ich, der
Producent beschaffen ist, so wird auch die Welt, das Product,
beschaffen sein. Die Welt, weil kein Seiendes, sondern ein
Werdendes, ist nichts für ewig Festgelegtes, so oder so
Beschaffenes, sondern wie sie sich mir darstellt, so ist sie, und
wie ich innerlich beschaffen bin, so stellt sich mir die Welt
dar. Meine innerliche Beschaffenheit aber richtet sich nach
dem Stande meiner Erkenntnis, meines Wissens. Hier liegt der
Stützpunkt, von dem aus die Welt auf- und abgehebelt werden
kann, bis sie schließlich im letzten gewaltigen Ruck
entschnellt, sie nicht mehr sichtbar für mich, ich nicht mehr
sichtbar für sie.
Ohne weiteres ist klar, daß in solchem System die
Beschaulichkeit über der activen Nächstenliebe steht. Kein.
Buddhist wird es für recht halten, seine Jhanas (Schauungen)
zu unterbrechen, um Werke zu tun.
‚Das eigne Heil gib nimmer auf
‚Um fremden, noch so großen Heils‘.
(Dhammapadam.)
Eine Parallele mit dem christlichen Mysticismus ist hier kaum
zu umgehen. „Wer sich viel äußerlich herumtreibt, und sei es
auch wegen guter Werke, der kommt nie zum wahren Frieden
seines Herzens― sagt Tauler. Das ist der Aufstieg zu jenem
ungeheuerlichen Wort des Buddha: „Ihr Jünger, die ihr das
Höchste versteht, ihr habt das Rechte zu lassen, geschweige
das Unrecht.―
Nun darf man nicht annehmen, daß mit dieser Sorge um das
eigene Ich der Rücksichtslosigkeit gegen den andern Tür und
Tor geöffnet ist: ganz im Gegenteil. Zwar wird der Buddhist in
118
kühler Verständigkeit jeden Contact mit dem Nächsten nach
Kräften zu meiden suchen. Tritt derselbe aber doch ein, so
wird er sich so benehmen, wie es sein eigenes Bestes
erheischt, d. h. er wird im Sinne der Liebe handeln, und nicht
nur handeln, sondern auch denken. Jeder Gedanke ist so gut
meine Tat, wie das Wort meiner Zunge, wie der Schlag meiner
Faust. Der Nächste ist nur der Resonanzboden meiner Tat, das,
woran meine Tat sich verwirklicht. Wie aber der Ball, an die
Wand geworfen, zum Werfer zurückfliegt, so kehrt im
Bewußtsein die Tat zum Täter zurück, ihm als Folge Strafe
oder Belohnung bringend. Durch die gute Tat nutze ich mir
allein, wie ich durch die schlechte mir allein schade.
Und selbst diesem scheinbar sterilen Boden des kahlen
Egoismus entsprießen duftende Blüten. Wir hörten oben, daß
die heiligsten Verwandtschaftsbande in diesem System der
Erkenntnis zerbröckeln. Das gilt aber nur für die Vollendeten,
für die, denen mit dem Zerfließen des eigenen Ich auch alle
Beziehungen zerflossen sind, in welchen dieses Ich bisher
gestanden hatte. Für die Nichtvollendeten, noch Strebenden
liegt die Sache völlig anders: Ist schon mein Nebenmensch mit
höchstem Wohlwollen zu behandeln, so kommt bei den Eltern
noch die Pflicht der Dankbarkeit hinzu. Denn sie sind das
Mittel, durch welches ich die Wiedergeburt als Mensch erlangt
habe. Höher noch als göttliche, ist aber menschliche
Wiedergeburt. Denn nur aus ihr heraus führt der Weg zum
Höchsten, zur Buddhaschaft. Meine Mutter aber hat dadurch,
daß sie mich gesäugt und aufgezogen hat, mich in den Stand
gesetzt, an meiner Befreiung zu arbeiten durch Befolgen der
wahren Lehre. Darum heißt es: „Wenn jemand die Mutter auf
eine, den Vater auf die andere Schulter nimmt und so hundert
Jahre lang trägt, so ist das noch immer weniger Beistand, als er
selber s. Z. empfangen hat.― Darum spricht der Buddha: „Wer
richtig für seine Eltern sorgt, ist größer als ein Qakravartin
(weltbeherrschender König).― Darum sagt er an anderer Stelle:
„Brahma, o ihr Jünger, ist bei jenen Familien, in deren Hause
Vater und Mutter von den Kindern verehrt werden.― Darum
119
steigt der Legende nach jeder Buddha in den Tushita-Himmel,
um dort seiner Mutter den Dharma (Pali: Dhammo) zu
predigen.
Fast noch enger aber als die Bande, welche mich an meine
Eltern knüpfen, sind die Bande, welche mich an meinen
geistigen Vater, den Lehrer knüpfen, der mir den Weg zur
Erlösung zeigt. Geistige Geburt ist ja unendlich viel wichtiger
als körperliche. Darum ist dem Lehrer Gehorsam, Demut,
Liebe entgegenzubringen, und der Birmane stellt im Gebet den
Lehrer vor die Eltern.
Freundschaft ist nur insoweit zu pflegen, als sie uns im
Hochsteigen, im Verstehen des Gesetzes helfen kann. Ein
Freund ist gut, aber rechtes Denken ist der beste Freund. Von
jenem körperlichen Freund gilt das Wort des Sutta-Nipata*):
„Zwei Armbänder von blankem Gold, wenn noch so glatt
gemacht, reiben sich doch aneinander; darum laßt uns allein
wandern gleich dem Rhinoceros.―
Ist nun einer von denen, die uns nahe stehen, durch den Tod
von uns gerissen worden, so ist Klagen und Jammern ein
Zeichen des Nichtverstehens der allgültigen Naturgesetze.
Hätte Klage irgendeinen Zweck, sicher, der Verständige würde
sie nicht verschmähen. So aber nützt sie dem Toten nichts und
schadet dem Bekümmerten. „Friede kommt nicht in das Herz
von Weinen und Klagen.― Die Weisen stärken sich durch
Nachdenken über den Tod. Im Denken überwinden sie den
Kummer, nehmen Speise und besorgen ihre Geschäfte. Sie
wissen: „Was dem Tode unterworfen ist, ist tot. Was der
Auflösung unterworfen ist, ist aufgelöst.― Des Menschen
Leben ist ja stets wie die reife Frucht am Baum, von der man
jeden Augenblick das Herabfallen erwarten kann. Mit klaren
Worten sagt der Buddha: „Beweinen ist nutzlos― und: „Suche
den Kummer in dir zu zerstreuen ähnlich dem Wind, welcher
die Baumwolle (an der Staude) weit weg führt― (SuttaNipata*).
*) Ein Teil des zweiten Buches (Sutta-Pitakam)
120
Im Buddhismus wird, ebenso wie der Glaube, so auch die
Liebe zu einem Product des Wissens. Klar, glänzend, aber kalt
und farblos wie die Sonne am Wintermorgen, so steigt diese
Liebe vor uns auf. Haben wir aber erst das Auge an diesen
kalten Glanz gewöhnt, haben wir uns abgefunden mit dem
Mangel jener schönen Dämmerungsfarben, die im Christentum
Glaube, Hoffnung und vor allem Liebe umspielen, so kann uns
nicht verborgen bleiben, wie viel fester, solider alles gefügt ist,
als in den Offenbarungsreligionen. Sicherlich ist es ein
ungeheures Wagnis, die Liebe, welche doch im Christentum
Weg zum Höchsten und Höchstes selber ist, unbestimmten
Gefühlen, Instincten zu überlassen. Freilich ist oft und
eindringlich vorgeschrieben: „Liebet euren Nächsten wie euch
selbst―, „Liebet eure Feinde―, aber diese Vorschrift
widerstreitet der menschlichen Natur, solange ich nicht
verstehe, warum ich jedem, auch meinem Feinde Gutes tun
muß. Das „Auge um Auge, Zahn um Zahn― liegt uns viel
besser zur Hand und bedarf keiner Begründung, aber alle die
diesen Vorschriften zuwiderhandeln, werden seinerzeit
bestraft werden. — Ganz recht, aber es ist ein gütiger Gott da,
und wenn wir auch hier und da, gegen die Gebote der Liebe
verstoßen, es ist ja doch die Hoffnung, daß alles durch einen
göttlichen Gnadenact wieder ausgeglichen wird. Wir sagen
freilich „hier und da― und ahnen nicht, wie unendlich oft wir
täglich diese Gebote übertreten. Wenn wir auf den Stand
unserer Moralität mit demselben Interesse achteten wie auf
den Stand unserer Börse, wir würden entsetzt sein über die
Höhe der aufgehäuften Schuld. Und wenn wir wüßten, daß
alles auf Heller und Pfennig abgezahlt werden muß, wir
würden verzweifeln.
Wie ganz anders steht der Gott-lose Buddhist da! Von
Kindesbeinen an ist ihm der Gedanke eingeprägt worden, daß
jeder Tat, der guten wie der bösen die Vergeltung folgt, wie
dem Körper der Schatten. Die Lehre vom Karma ist das
Gesetz von der Erhaltung der Kraft, das allgemeinste aller
Naturgesetze, auf das Moralgebiet übertragen. Nichts kann je
121
verlorengehen; unabänderlich kommt alles in irgendeiner
Form, sei es als Belohnung, sei es als Strafe, und zu
irgendeiner Zeit zu Tage. Das ist ehernes, ewiges Naturgesetz.
Hier kann kein Gott, kein Buddha helfen. Hier gibt es nur eine
Hilfe: Unterlaß die Tat, so wird die Folge von selbst
ausbleiben. Das aber, was dich jetzt als Folge früherer Taten
trifft, das ertrage, weil unabänderlich, gefaßt wie ein Mann.
Auch nicht gleichgültig ertrage es, sondern gesammelten
Sinnes, mit Überlegung, damit du klar verstehst: So bitter ist
das Leiden; wie süß muß da die Leidenslosigkeit sein, wie
höchst erstrebenswert. Was für ein Tor müßte ich sein, wenn
ich noch einmal um kurzer Lust willen Dinge beginge, die so
langes, schweres Leiden nach sich ziehen, Leiden, bei denen
kein Gott mir helfen kann. Der Buddhist stellt auf dem
Standpunkt des welterfahrenen, seiner Verantwortlichkeit sich
vollbewußten
Mannes.
Der
Anhänger
der
Offenbarungsreligionen gleicht in mehr als einem Sinn dem
Kinde. Der Erwachsene weiß: In der Welt ist nichts umsonst;
die Ware, die ich nehme, muß ich bezahlen auf Heller und
Pfennig. Das Kind dagegen streckt seine Hand nach diesem
oder jenem, ohne zu überlegen: Ich werde bezahlen müssen.
Durch Bitten und Schmeicheln sucht es Straflosigkeit oder
eine Gunst zu erlangen. Was aber beim Kinde anmutig ist, das
würde beim Erwachsenen häßlich sein. Weil der Anhänger der
Offenbarungsreligionen seinem Gott gegenüber sich als Kind
fühlt, deswegen ist hier das Gebet am Platze mit seiner Bitte
um Vergebung, um Gewährung, mit seinem kindlichen
Liebreiz, seiner Naivität. Die alten Athener beteten: „Laß es
regnen, liebster Jupiter, laß es regnen auf die Felder der
Athener― und Mark Aurel fügt hinzu: „Wenn man schon betet,
so soll man mit so freier Einfalt wie die Athener beten―, und
sicherlich, jedes echte Gebet ist solch ein Athener-Gebet.
Im Buddhismus geht dieser Schmelz der Kindlichkeit
verloren. Das Bittgebet ist für ihn eine Täuschung, die
lächerlich sein würde, wenn sie nicht zu ernsthaft wäre. Mit
unbarmherzigem Spott spricht der Buddha zu einem
122
Brahmanen: „Was meinst du wohl, Vasettha, wenn dieser
Strom hier bis zum Rande angeschwollen wäre, und ein Mann,
den sein Geschäft an die andere Seite ruft, käme heran und
sich an das Ufer stellend riefe er: ‚Komm herüber, o du
jenseitiges Ufer! Komm herüber zu meiner Seite!‘ — Was
meinst du wohl, würde all sein Anrufen und Bitten und Flehen
und Hoffen das jenseitige Ufer herüberbringen? — Ebenso
sind eure Brahmanen, wenn sie sprechen: Indra! dich rufen wir
an, Soma, Varuna, Brahma! dich rufen wir an.― (Tevijja-Sutta,
Digha-Nikayo)
So sieht der Buddhist auf das Bittgebet. Er ist ja ein
Erwachsener; selbst der Säugling an der Mutterbrust, auch er
hat schon tausendmal in früheren Geburten all Leid und Weh
des Menschenlebens durchgelebt. Der Buddhist steht in der
Welt wie ein in Ketten Gelegter, Eingekerkerter, ohne Freund,
ohne Verwandten, ohne Helfer. Ein solcher faßt den kühnen
Entschluß, sich aus eigenen Kräften zu befreien und mit all
ihm zu Gebote stehender Zähigkeit des Geistes und Körpers
geht er an die Arbeit. Er weiß: „Mir hilft keiner.― Mit Armen
und Beinen, mit Fingern und Zehen, mit Nägeln und Zähnen
arbeitet er. Tag und Nacht weilt sein Geist bei nichts anderem,
bis er die Kruste der Herzensumhüllungen durchbrochen hat,
wie das Küchlein im Ei mit Kralle und Schnabel die Schale
aufhackt und heil durchbricht. Mehr als für den Christen ist für
den ‚schlaffen‘ Buddhisten Leben ein ständiger Kampf: es
fehlt der vergebende Gott. „Ringet ohne Unterlaß!― waren des
Buddha letzte Worte.
So kämpft der Buddhist den höchsten Kampf, den ein Mensch
kämpfen kann: den heißen, innigen Kampf der Entsagung und
Selbstbezwingung. In lautlosem Ringen müht er sich ab mit
seinem eigenen Ich, wie Jakob in der Nacht mit dem
Unbekannten. Hier winkt kein Ruhm, kein Gold, ja nicht
einmal die Liebe in jener himmlischen Form, die den Christen
zum höchsten begeistert. Nur um die Leidenslosigkeit dreht
sich der Kampf, um jene gesicherte, ewige Ruhe, die kein Gott
nehmen kann, wie sie auch kein Gott gegeben hat.
123
Ein kalter Ernst geht durch diese ganze Lehre. Wie mit dem
Seciermesser wird jede Tat, jedes Wort, jeder Gedanke
behandelt. Für so wichtig hält der Buddha diese Zucht, daß er
sie den geraden Weg nennt, „der zur Läuterung der Wesen, zur
Überwältigung des Schmerzes und Jammers, zur Zerstörung
des Leides und Kummers― führt. Diese Zucht, meint er, wenn
er seinen Mönchen vorhält: „Durch verständige Betrachtung,
durch Festigkeit und Ausdauer habe ich das höchste Ziel
erreicht.―
Bei allem ist erste und einzige Frage: Wie schlage ich daraus
Kapital für mich? Wie kann ich das meiner Erlösung nutzbar
machen? Geschieht mir ein Unrecht, so weiß ich: Nicht ich bin
der Geschädigte, sondern jener, der Übeltäter. Ich weiß, er ist
schon gestraft und bleibe ruhig. Ja, ich bemühe mich sogar,
liebreiche Gesinnung gegen ihn zu hegen; denn so erst ist
meine Ruhe eine vollkommene. Und somit, bin ich der richtige
Egoist, so mache ich mich daran und begegne meinem
Beleidiger mit Liebe und Sanftmut. „Denn nicht durch Haß
wird Haß überwunden: durch Nichthassen wird Haß
überwunden― lehrt der Erhabene. Und: „Wohlwollende
Gesinnung ist die beste Art der Wiedervergeltung.― Und
weiter: „Wenn auch, ihr Mönche, Räuber und Mörder mit
einer Baumsäge Gelenke und Glieder abtrennten, so würde,
wer da in Wut geriete, nicht meine Weisung erfüllen.― Jenes
‚erdballgleiche Gemüt‘, das ist höchstes Ziel, ist höchste Zier
des wahren Jüngers. Wer sich dieses zu Eigen gemacht hat,
von dem kann man sagen: „Er hat viel geleistet.―
Nicht weil er weiß, daß das Auge eines allwissenden Gottes
auf ihm ruht, tut der Buddhist das alles, sondern weil er
ständig an seinen wahren Vorteil denkt. „Wem ist sein Selbst
lieb, wem ist es nicht lieb?― fragt König Pasenadi den
Erhabenen. Der antwortet: „Die mit dem Körper, mit der
Rede, mit dem Gemüt den Weg der Sünde wandeln, denen ist
ihr Selbst nicht lieb, und wenn sie auch sprächen: ‚Wir lieben
unser Selbst‘, sie lieben es dennoch nicht.― (Samyutta-Nikayo)
124
Wenn wir nur in der richtigen Weise denken gelernt haben, so
können wir aus uns zugefügtem Unrecht die größten Vorteile
ziehen und unseren Feinden nicht mit gewaltsamer
Verleugnung unserer Natur, sondern mit gutem Grund als
unsern größten Wohltätern danken. Die Legende erzählt: Dem
Königssohn Kunala werden durch die Tücke seiner in ihn
verliebten und von ihm abgewiesenen Stiefmutter beide Augen
ausgestochen. Als er nach Herausreißung des ersten Auges
gefaßten Geistes sich dasselbe vom Henker geben läßt und es,
in der Hand haltend, mit dem andern Auge betrachtet, da geht
ihm plötzlich das Verständnis für die Vergänglichkeit alles
Entstandenen auf. Das wahre Wissen erwacht in ihm, und,
jedes Gefühl des Ich abstreifend, bricht er jubelnd in die Worte
aus: „Möge sie lange Glück, Leben und Macht behalten, die
sich dieses Mittels bedient hat, um mich eines so großen
Vorteils teilhaftig werden zu lassen.―
Eine andere Legende erzählt: Der Buddha hört von einem
Mönch Purna, daß er sich in einem Lande niederlassen will,
dessen Bewohner wegen ihrer Gewalttätigkeit verschrien sind.
„Wenn sie dich schmähen und beleidigen, was wirst du dann
denken?― — „Ich werde dann denken: Diese Leute sind
wahrlich gut, daß sie mich nur schmähen, nicht aber schlagen
und mit Steinen werfen.― — „Wenn sie dich aber schlagen und
mit Steinen werfen?― — „So werde ich denken: Sie sind
wahrlich gut, daß sie mich nur schlagen und mit Steinen
werfen, nicht aber mit Stock und Schwert mißhandeln.― —
„Wenn sie dich aber mit Stock und Schwert mißhandeln?― —
„So werde ich denken: Sie sind wahrlich gut, daß sie mich
nicht ganz und gar des Lebens berauben.― — „Wenn sie dich
aber des Lebens berauben?― — „So werde ich denken: Diese
Leute sind wahrlich gut, indem sie mich von der Last dieses
Lebens befreien.― — Darauf der Buddha: ,,Wohl gesprochen
hast du, Purna! Gehe und befreie, du Selbst-Befreiter! Führe
zum andern Ufer, du selbst am Ufer Angelangter! Tröste, du
bereits Getrösteter! Leite zu Nirvana, du bereits in Nirvana
Eingegangener!― —
125
Ein absichtliches Märtyrertum ist trotzdem undenkbar, denn
im Lieben der Feinde liegt an sich keine Verdienstlichkeit, nur
im Gegenteil würde für mich der Schaden liegen. Mit der
Liebe ist nicht das Gesetz erfüllt, aber mit dem Haß ist es
zerstört. Unverrückbar bleibt der Schwerpunkt des All in mir
ruhen.
Geht das aber nicht ins Unmögliche, daß ich nicht nur Zunge
und Hand, sondern sogar den Gedanken zwingen soll? — Das
Zwingen der Gedanken ist freilich nur möglich da, wo wahre
Erkenntnis errungen ist, wo der Geschädigte weiß: Dieser Leib
hier, dem soeben übles getan ist, gehört mir nicht, ist ja gar
nicht mein Ich. Was brauche ich mich da zu erzürnen, wenn
ihm etwas angetan wird. Dieser Leib an sich ist ja völlig
wertlos. Sein einziger, freilich unersetzlicher Wert beruht
darin, daß an ihn meine Erlösung geknüpft ist, durch ihn
meine Erlösung bedingt ist, wie die Darmsaite, an sich
wertlos, dadurch unersetzlich wird, daß sie den Gedanken des
Genius zu Tage treten, ausschwingen läßt.
So ist in diesem wunderbarsten aller Systeme keine wahre
Moral möglich ohne Wissen, kein wahres Wissen möglich
ohne Moral und beide, Moral und Wissen, sind aneinander
gebunden wie in der Flamme Licht und Wärme oder: Beide
ergänzen sich wie in der Voltasäule die Zink- und
Kupferplatte; eines stärkt sich durch das andere in steigender
Proportion, ohne daß eines das Primäre, das andere das
Sekundäre wäre.
Zwar auch jenes, ich möchte sagen, vulgäre Raisonnement,
welches wir in den Satz einkleiden ,,Was du nicht willst, daß
man dir tu', das füg' auch keinem andern zu―, verschmäht der
Buddha nicht, wie aus der folgenden kleinen Episode
hervorgeht:
Der König Pasenadi fragt sein Weib Mallika: „Hast du wohl
irgend jemand lieber als dich selbst?― In köstlicher Naivität
antwortet die Gefragte: „Wahrlich, großer König nicht habe
ich irgend jemand lieber als mich selbst.― Und unverzagt
126
gesteht der große König das gleiche von sich ein.
Wahrscheinlich aus Langerweile teilen beide ihr tiefsinniges
Gespräch dem Erhabenen mit, der gutmütig genug ist in einem
Vers zu antworten:
„Ich habe alle Gegenden durchwandert,
Doch hab' ich nirgends jemanden gefunden,
Der teurer etwas hielte als sich selbst.
So ist das eigne Selbst gleich teuer jedem Wesen.
Darum verletzte keiner einen andern
Aus Liebe zu dem eignen teuren Selbst."
(Samyutta-Nikayo.)
Aber diese Richtung läuft nur neben her. Im spezifisch
buddhistischen Denken ist Moralität aufs engste mit dem
Egoismus verknüpft, ist angewandter Egoismus. Damit ist
Nächstenliebe auf die zwar kahlste, aber solideste Basis
gestellt, welche diese Welt bieten kann.
Auch in der andern Hauptreligion Indiens, dem System des
Vedanta, ist Liebe auf dem Wissen basiert. Der Wissende
erkennt sich selbst als Gott-Brahman, als das Universum.
Daher: Bin ich das All, ist alles Ich, so ist mein Nächster
identisch mit mir. Ich muß ihn lieben nicht wie mich selbst,
sondern als mein eigenes Selbst. Der Unglückliche, der
Kranke, der Notleidende, den meine Augen sehen, das bin ich
ja selbst; was er leidet, das leide ich. In großen Lettern steht
das ‚Tat twam asi‘ (Das bist Du) über der Eingangstür zur
indischen Moral. Es ist nur eine Täuschung, die mir die
Zweiheit vorspiegelt. Vor dem Wissenden fallen alle
Unterschiede zu dem großen Ich, zu der Einheit zusammen.
Wer aber liebt wohl nicht sein eigenes Ich?
Mag der zu Grunde liegende Gedankengang dem Abendländer
noch so fremdartig erscheinen, für den, der ihm folgt und
durch ihn zum Verstehen gelangt, ist damit Nächstenliebe
ebenfalls zu einer Sache der Notwendigkeit geworden. Hier
haben wir einen Salto mortale des Egoismus vor uns. Wenn
auch das ganze Phänomen, Schopenhauerisch zu reden, auf
127
dem Durchschauen des principium individuationis, auf dem
Aufgeben des Ich-Willens beruht, so gebe ich doch mein Ich
nur auf, um es in allen Wesen wiederzufinden. Ich liebe alle
Wesen, weil sie mein Ego sind. In Wahrheit ist der Egoismus
nicht gehoben, sondern nur der Begriff des Ego hat
gewechselt, ist jener Metamorphose unterlegen, welche neben
jener andere vom Ich zum Nicht-Ich führenden, das
erstaunlichste Phänomen ist, welches diese Welt zu bieten
imstande ist. Überhaupt, wenn wir es recht bedenken, so sind
nur zwei Gedanken da, welche würdig sind, gedacht zu
werden, unser Denken auszufüllen d. h. gelebt zu werden: Der
Gedanke: ‚Alles ist Ich‘, Leben erhaltend für ewig, und der
Gedanke: ‚Alles ist Nicht-Ich‘, Leben aufhebend für ewig.
Der Buddhismus, insofern als er auf dem ‚Alles ist Nicht-Ich‘
beruht, steht dem Vedanta diametral gegenüber. Trotz der
zärtlichsten Sorgfalt, welche diesem Schein-Ich gewidmet
wird, fällt hier doch jeder wirkliche Egoismus, weil jede
Möglichkeit zum Egoismus fällt. Es gibt hier nur einen
Schein-Egoismus, wie es nur ein Schein-Ich gibt. Im Vedanta
ist in der Erkenntnis: ‚Alles ist Ich‘ der Weg zur Moral und
Moral selber gegeben. Im Buddhismus ist die Erkenntnis:
‚Alles ist Nicht-Ich‘ nur der Weg, der zum Gipfel der Moral
führt, nicht dieser Gipfel selber. An sich kann das Erkennen
meines Selbst resp. meines Nächsten als ‚Nicht-Ich‘, als
Täuschung nichts sein, an dem sich Moral betätigen könnte,
während mit dem ‚Alles ist Ich‘ des Vedanta die ganze Moral
in nuce gegeben ist.
Erst die aus dem ‚Alles ist Nicht-Ich‘ gezogenen
Schlußfolgerungen bedingen im Buddhismus die Moral. Erst,
wenn ich erkenne, daß dieses Ich gerade dadurch, daß es zum
Schein-Ich wird, sich in den tragenden Mittelpunkt der Welt
verwandelt, erst wenn ich erkenne, daß dieses Ich gerade
dadurch, daß es Schein-Ich wird, mich für ewig an den
Samsara fesselt, und daß nur eine ganz specifische
Behandlung dieses Schein-Ichs mich befreien kann, erst dann
kann ich mich zu wahrhafter, d.h. fruchtbringender Moral
128
aufschwingen. Im Licht dieser Moral werden meine
Nebenmenschen gleichsam nur Gegenstände, an denen meine
Taten abprallen, um zu mir selber zurückzukehren. Wie das
Sonnenlicht erst reflectiert angesehen und benutzt werden
kann, so wird mir mein Inneres erst, nachdem es sich als Tat
und Wort am Nächsten, resp. als Gedanke an mir selber
reflectiert hat (im Nicht-Ich schwindet die Differenz zwischen
mir und dem Nächsten, und Tat und Gedanke werden
gleichwertig), klar, und erst im Rückprall wird mir die
Möglichkeit des Mich-selbst-Erkennens und damit des
Erlösens gegeben.
Alle Moralforderungen bleiben in mir ruhen, haben Anfang
und Ende in mir. Der Begriff des sich an anderen
Versündigens hat keinen Platz im System. Ich versündige
mich nur an mir selbst oder richtig ausgedrückt: Ich schade
nur mir selbst. Von einer Versündigung, einer Schuld kann
überhaupt nicht geredet werden. Moral ist Wissen, Laster ist
Nichtwissen, Dummheit. Auch vom Standpunkt der Moral aus
werde ich zum Centrum der Welt, und die absolute, reine
Form dieses Schein-Egoismus macht aus dem ganzen
Universum nichts als einen gewaltigen Resonanzboden, der
die von mir ausgehenden Schwingungen auffängt und als
Erlösungsharmonie mir wieder zuführt. Den empfindlichsten
Teil dieses Resonanzbodens aber bildet das eigene Schein-Ich.
Auf ihm tönt die leiseste Schwingung in endlosem Nachklang
wieder, und es ist klar, mit wie ungemeiner Sorgfalt dieses
empfindlichste aller Instrumente gehandhabt werden muß, um
nicht verwirrendes Getöse, sondern die klaren Rhythmen der
Erlösung aus sich hervorgehen zu lassen. Der tiefste, größte
Zweck des Universum und dieses Schein-Ich in ihm ist der,
seinem Mittelpunkt, d. h. dem Leidenden zur Erlösung zu
verhelfen, ihm die Erlösung zu vermitteln.
Buddhismus wie Vedanta, beide stehen sie dem Christentum
mit
seinen
gewaltsamen,
weil
unverständlichen
Moralforderungen gleich Apotheosen des Egoismus
gegenüber, beide freilich in völlig verschiedenem Sinn.
129
130
Das Geben
Geben ist gewissermaßen der Secundenzeiger an der Moraluhr
des Buddhismus. Geben ist der augenfälligste Maßstab für den
Stand der Moral des einzelnen. Am Geben kann Schritt für
Schritt der Gang der Moral verfolgt werden, wie am Springen
des Secundenzeigers der Gang der Uhr. Jene feineren und
feinsten Moralbewegungen sind unserem Sinn fast
unzugänglich, gleich der Bewegung des Stundenzeigers.
Daher können sie schwer zum Beurteilen der Moral dienen.
Wohl aber kann man sagen: Wer nicht geben kann, der hat
selbst das Abc von des Buddha Lehre nicht gefaßt. Denn wie
das Wasser auf die Einwirkung des Feuers vor allem dadurch
reagiert, daß es die aufgehäufte Luft von sich gibt, so das
Individuum auf die Lehre des Buddha vor allem damit, daß es
der angehäuften Schätze sich zu entäußern sucht. Das ist das
erste und sicherste Zeichen, daß jene Umkehrung aller
Begriffe, wie sie bei dem Verstehenden unvermeidlich ist, daß
jener unerhörte Umschwung vom Bejahen zum Verneinen
eingetreten ist.
Zwei Überlegungen zwingen zum Geben: Vor allem das
Verlangen, sich frei und leicht zu machen, um auf jenem
steilen Weg zum Höchsten nicht durch Unnötiges behindert zu
werden. Genug und übergenug, daß ich diese Scheinform
meines Leibes mit mir schleppen muß. Wie die Kämpfer in
den Olympien, so muß ich nackt in diesen höchsten Kampf,
den Kampf um die Wahrheit gehen, will ich mir nicht von
vornherein jede Aussicht auf Erfolg versperren. So sprach
Jesus zum reichen Jüngling: „Willst du vollkommen sein, so
gehe hin, verkaufe was du hast und gibs den Armen.― Das
heißt: Wenn du Kämpfer werden willst, so rüste dich. Das
Sichlosmachen von allem ist in diesem Kampf das Schwert,
Ausdauer der Helm, wahre Demut der Panzer.
131
Eine geheimnisvolle Kraft muß in diesem scheinbar rein
äußerlichen Act verborgen liegen, und stets hat jeder, dem es
ernst um die Wahrheit war, mit ihm seine Laufbahn begonnen.
Insofern liegt in diesem ‚entsagenden Geben‘ nichts specifisch
Buddhistisches. In allen Religionen, zu allen Zeiten hat diese
große Entsagung als unerläßlich gegolten für jeden, der nach
dem Höchsten strebt, mag dieses Höchste nun im Gottbejahen
oder Gottverneinen liegen. Manch einer möchte den Propheten
spielen, solange er aber nicht den Mut jener Entsagung gehabt
hat, hat er keine Berechtigung zu solchem Amt.
Die andere Form des Gebens könnte man das ‚nehmende
Geben‘ nennen und sie ist die specifisch indische, ja noch
mehr: die specifisch buddhistische Form. Jede Tat zieht die ihr
entsprechende Folge nach sich. Der Lohn für das, was ich
meinen Mitmenschen gebe, fällt so sicher auf mich zurück,
wie der Stein, den ich von der Erde gehoben habe und fallen
lasse, zur Erde zurückfällt. So gibt es ja keinen leichteren,
bequemeren Weg, Verdienst zu erwerben als durch Geben.
Immer wieder, unermüdlich predigt der Buddha Geben. Als
ein Brahmane ihn fragt: „Billigt Gautama das Opfer?―
antwortet er: „Nicht jedes Opfer billige ich, Brahmane, aber
auch nicht jedes Opfer mißbillige ich. Ein blutiges Opfer
billige ich nicht, aber ein unschädliches Opfer billige ich,
Brahmane, es ist unermüdliches Geben.― Und zu seinen
Mönchen spricht er: „Wenn die Wesen, o ihr Mönche, die
Frucht des Almosengebens kennten, wie ich es kenne,
sicherlich, das Mindeste, den letzten Mundvoll würden sie
nicht essen, ohne davon mitgeteilt zu haben.― Almosengeben
gehört zu den sechs hohen Vollkommenheiten eines Buddha.
Die bei weitem verdienstlichste Form des Gebens ist aber das
Geben zur Unterstützung der Religion. ‚Geben‘ und ‚Geben
im Dienst der Religion‘ sind fast gleichbedeutend. Für unser
Geben zu gemeinnützigen aber weltlichen Zwecken hat der
Inder nicht viel Sinn. Schließlich ist ihm ja auch sein ganzes
Leben Religion geworden.
132
Der Buddha, der sonst alle brahmanischen Begriffe aus ihrer
Clausur befreite und in volle Beweglichkeit setzte, ließ diesen
Begriff des Gebens, vielleicht als den einzigen, in den Fesseln,
in welchen er ihn aus dem Brahmanismus überkommen hatte;
ja, unter seinen Händen verlegte der Schwerpunkt des Gebens
vielleicht noch entschiedener als im Brahmanismus sich auf
die religiöse Seite. Wenn der Lohn des Gebens oder die Strafe
des Nichtgebens demonstriert werden soll, so sind es immer
Bettelmönche, die dem Discurs zur Unterlage dienen. Der
Buddha versteigt sich hier zu so derben Naivitäten, wie wir sie
sonst nie aus seinem Munde zu hören gewöhnt sind. Als die
Königin Mallika ihn fragt, woher es kommt, daß es Weiber
gibt, die häßlich und arm sind, antwortet er, daß die
Häßlichkeit ihre Ursache in früherer Zanksucht habe, daß sie
aber arm seien, weil sie in früheren Leben den Mönchen nicht
gegeben hätten.
Der Buddha war gezwungen, gerade das Geben in diesem so
wenig durchgeistigten Begriff zu erhalten; denn der Dharma*)
konnte sich rein nur darstellen in der Mönchschaft, und die
Mönchschaft war völlig auf Mildtätigkeit angewiesen. Es
handelte sich hier um nichts weniger als um die Existenz des
Dharma in seiner concreten Form. Daher der ungeheure
Nachdruck, der auf das Geben an die Mönche gelegt wird,
daher die, ich möchte sagen, Skrupellosigkeit der Mittel, um
das Gefühl für die Notwendigkeit dieses Gebens stets lebendig
zu erhalten. Legende und jenes Grenzgebiet von Legende und
Historik wetteiferten, um Hoch und Niedrig anzustacheln.
König Asoka, der größte Herrscher Indiens, sollte deswegen
sein Königtum erhalten haben, weil er in einer seiner früheren
Geburten als Kind dem Buddha Kassapa in Ermangelung von
etwas besserem eine Handvoll Erde offeriert hatte. Derselbe
Asoka soll das ganze Jambudvipa (Indien) der buddhistischen
Mönchschaft dreimal geschenkt und dreimal wieder
zurückgekauft haben. Und als er, dem Tode nahe und von
*) Pali: Dhammo; das Gesetz, die Erlösungslehre des Buddha
133
seinem Nachfolger bereits aller Macht beraubt, nichts mehr zu
schenken hatte, da sandte er die Hälfte der Amalakafrucht, an
der er sich eben laben wollte, der Mönchschaft zum Geschenk.
Im historischen Ceylon wurde die Legende zur Wirklichkeit.
Niemals vielleicht, so lange die Welt steht, ist ein
Herrschergeschlecht so völlig im Dienste der Religion
aufgegangen, wie diese lange Reihe der Könige der
Sonnendynastie, von denen einer den andern in seinen
Schenkungen an die Mönchschaft zu überbieten suchte. Es gab
Zeiten, in denen das Land 60000 Mönche ernährte. Ein
einziges Kloster in der Hauptstadt Anuradjapura*) zählte 3000
Insassen, die alle von der Mildtätigkeit der Könige lebten.
Es war nicht Furcht, welche zu solchen immensen
Schenkungen antrieb; denn hier gab es niemanden, der gleich
dem brahmanischen Priester, den Himmelsschlüssel in seiner
Faust hielt, dem man daher notgedrungen geben mußte. Trotz
allem Nachdruck, der auf das Geben gelegt wurde, es blieb
doch eine freiwillige Handlung. Aber vielleicht gerade
deswegen wurde umso reichlicher gegeben. In wahrhaft
königlichem, ja fast maßlosem Eifer machten sich die
Herrscher jene günstige Gelegenheit zu Nutz, die ihnen ihr
Reichtum an die Hand gab: durch unaufhörliches Geben an die
Mönchschaft einen Schatz guter Werke anzuhäufen, von dem
sie noch für viele Wiedergeburten zehren konnten. Aber nicht
nur der Hohe, sondern auch der gemeine Mann war von den
gleichen Anschauungen und daher von dem gleichen Eifer
beseelt. Noch heute werden besonders im birmanischen Volk
Schenkungen zu religiösen Zwecken gleich Anzahlungen an
die Ewigkeit angesehen. Niemand zweifelt daran, daß diese
Anzahlungen in späteren Leben mit Zinseszins zurückerstattet
werden. Also wie sehr viel vorteilhafter ist es, sein Geld so
*)Nördlich von Kandy gelegen; berühmt durch seine Ruinen
Residenz der sog. „Großen Dynastie― von etwa 250 v. Chr.
bis 750 n. Chr.
134
anzulegen, als in weltlichen Geschäften, aus denen mir nur
Sorgen erwachsen. Wie viel sicherer, wie viel klüger handle
ich, mich hier mit dem Notwendigen zu begnügen, und mit
dem übrigen mir den schweren Weg der künftigen Geburten
im Voraus zu ebnen. Wer weiß, ob die nächste Geburt mir die
Möglichkeit zum Geben läßt. Wer freilich meint, daß mit
einem Leben alles abgetan ist, der kann ja kein richtiges
Verständnis für sein wahres Wohl haben. Endlos reiht sich die
Zahl der Wiedergeburten, und habe ich mich in Wahrheit lieb,
so muß ich nicht nur für diese eine sorgen, die ich mit meinem
Bewußtsein umfassen kann, sondern für die ganze Reihe, die
der Buddha mich mit meinem Verstand zu umgreifen gelehrt
hat.
Aus diesem Gedanken heraus, daß in diesem Leben vor allem
für das nächste zu sorgen ist, eröffnet sich ja erst die
Möglichkeit der Erlösung. Denn wer ist wohl imstande, sich
aus einer Existenz heraus zu erlösen? So erweitert sich das
geistige Sehfeld eines solchen, und über die engen Schranken
der Einzel-Existenz hinweg gleitend, bekommt er
Anschauungen, wie sie seinem neuen Überblick entsprechen.
Wir Spießbürger freilich lachen über einen solchen
Weltenbürger und halten ihn für einen Narren, der seinen
wahren Vorteil Hirngespinsten opfert. Das kommt daher, daß
niemand uns gelehrt hat, jene engen Schranken, die der
Ichgedanke um uns aufgetürmt hat, zu durchbrechen. Daß aber
in buddhistischen Ländern dieser Umschwung des Denkens
kein bloßes Spiel mit Worten geblieben ist, sondern sich in
Wahrheit vollzogen hat und ins Leben getreten ist, dafür sind
jene Schenkungen der beste Beweis, deren sich die
buddhistische Kirche in so einzig dastehendem Maßstab zu
erfreuen gehabt hat.
Wie bei dieser Theorie von der Tat und der ihr entsprechenden
Folge das Geben in Gefahr kam, zu einem bloßen
Rechenexempel auszuarten, ist klar. Umso angenehmer ist es
zu sehen, daß neben der quantitativen Seite die qualitative
nicht ganz vergessen wurde. Wenn dieselbe auch im Zwang
135
der Verhältnisse lange nicht so kräftig zu Tage treten konnte
wie im Christentum, so haben wir doch immerhin Anklänge an
das Gleichnis vom Scherflein der Witwe. Der Chinese Fa-Hien
erzählt, daß in Purushapura die Almosenschale des Buddha
stand, die sich füllte, wenn der Arme nur eine Blume hineintat,
während der Reiche Tausende hineinwerfen konnte, ohne sie
zu füllen. Sicherlich, hier haben wir die wahre Anschauung
des Buddha über das Geben, und hier wie überall sehen wir,
daß nichts Menschliches diesem Großen fremd geblieben ist.
136
Das Wissen
In den beiden indischen Hauptreligionen, Buddhismus und
Vedanta, ist diese Welt, das Leben Leiden einerseits,
Täuschung anderseits, daher das Verlangen, diese Täuschung
zu heben, naturgemäß; denn jedes Wesen flieht das Leiden.
Hebung der Täuschung ist nur im Wissen möglich. Beide
indische Hauptreligionen sind, im Gegensatz zu allen andern
Religionen, Religionen nicht des Glaubens, sondern des
Wissens, der Vedanta freilich eine wunderbare Vereinigung
von Glauben und Wissen, der Buddhismus die Religion des
reinen Wissens. Im Vedanta führt Wissen zur Erlösung, zu
Brahman; im Buddhismus ist Wissen Erlösung.
Dieses Wissen ist das specifisch indische Wissen, das große
Wissen. Nur wo Leben Täuschung ist, kann dieses große
Wissen bestehen, das Erlösung bringt und Erlösung ist. Im
Gebiet der monotheistischen Religionen kann sich nichts
Analoges entwickeln. Da die Welt hier das Machwerk eines
Gottes ist, so kann sie keine Täuschung sein. Wo Leben keine
Täuschung ist, kann auch das höchste Heil nicht im Wissen
liegen, sondern muß im Glauben ruhen. Denn wo Welt ein
Machwerk ist, da muß Weltschöpfung, absoluter Anfang sein.
Dieser aber ist nie und nimmer dem Erkennen, sondern nur
dem Glauben zugänglich. Erkannt, verstanden werden kann
nur das Ende, das Aufhören. Beginn der Welt, Gott, Glauben
sind untrennbare Begriffe. Der Leitvers des Wissens in der
monotheistischen Welt sind jene Worte des Predigers: „Wo
viel Wissen, da ist viel Trübsal, und wer viel lehren muß, der
muß viel leiden.― Hier ist Wissen nichts als der Ausdruck für
jenes Ungenügende an sich, für jenes Sichnichtselbstgenügen,
mit dessen Steigen die Trübsal steigt, mit dieser die Sucht
nach Erlösung, mit dieser die Unfähigkeit zur Erlösung.
Dieses Wissen führt nur zum halben Ziel; es führt lockend in
die Tiefen des Leidens und läßt dort den Suchenden in ratloser
137
Finsternis stehen. Diesem Wissen fehlt die Fähigkeit, aus dem
Leiden zur Erlösung herauszuheben, ihm fehlt die
fermentative Kraft, Leiden in Erlösung umzuwandeln.
Diese Kraft hat jenes dem indischen Geistesleben
specifische Wissen. Wissen soweit es der Function dient: zur
Erlösung zu führen, ist das Wissen par excellence, das große
Wissen. Jedes andere Wissen, mag es in den Augen der Welt
noch so groß dastehen, ist kleines Wissen, ja Form der
Unwissenheit, wenn über ihm der Sinn für jenes große Wissen
verloren geht.
Den Begriff dieses Erlösung schaffenden Wissens hatte der
Buddha aus dem Brahmanismus übernommen, aber wie
jemand, der ein und dasselbe Reagenz auf völlig verschiedene
Substrate
einwirken
läßt,
völlig
verschiedene
Reactionsproducte erhalten wird, so war es hier. Im
Brahmanismus wirkte dieses Wissen vom Leben als einer
Täuschung auf den im sicheren Bett des Glaubens ruhenden
Atman, im Buddha wirkte es auf der Basis völliger
Glaubenslosigkeit. Substrat war hier nicht Seele, Atman,
sondern das eherne Gesetz von Grund und Folge. Daher die
Verschiedenartigkeit der Endproducte: dort Vergottung, hier
Vergehen, Auslöschen wie die Lampe, der das Öl ausgeht.
Soviel aber steht fest, daß nur im Buddhismus Wissen auf
seiner absoluten Höhe dasteht, in jener ungemischten,
glaubenslosen Klarheit, in welcher es den Beweis seiner
Völligkeit in sich selber trägt.
Was ist nun Wissen im Buddhismus? — Der Buddha selber
hat die Definition gegeben: Wissen ist nichts als das Wissen
der vier heiligen Sätze vom Leiden, Unwissenheit nichts als
die Unkenntnisse dieser vier Fundamentalsätze. Wissen ist:
Leiden wissen. Leiden wissen aber ist gleichbedeutend mit
Erlösung wissen. Wie aber Leiden wissen gleichbedeutend ist
mit leidlos sein, so ist Erlösung wissen gleichbedeutend mit
erlöst sein. Somit ist Leiden wissen gleichbedeutend mit erlöst
sein.
138
Wie kann nun Wissen vom Leiden gleich bedeutend sein mit
Erlösung? — Dadurch, daß der Satz ‚Alles ist vergänglich‘
sich einerseits in den Satz umwandelt ‚Alles ist leidvoll‘,
anderseits in den Satz ‚Alles ist Nicht-Ich‘. Der Übergang von
Vergänglichkeit in Leiden ist besprochen. Es wäre nunmehr zu
zeigen, wie der Satz von der Vergänglichkeit sich in den Satz
vom Nicht-Ich umwandeln kann.
Als der Buddha jenen fünf Asketen in Benares als den Ersten
seine neue Lehre vorträgt, kleidet er sie in die Form des VierSatzes vom Leiden. Kondanna ist der Erste, welcher erkennt,
aber er reagiert nicht so, daß er einfach sagt: „Ich habe
erkannt,― sondern er beweist sein neu erwachtes Wissen damit,
daß er erkennt: „Alles was seiner Natur nach dem Entstehen
unterworfen ist, ist seiner Natur nach auch dem Vergehen
unterworfen.― Und als der Brahmane Sariputta, der spätere
Hauptjünger des Buddha, den Mönch Assaji bittet, ihm die
Lehre des Erhabenen in kurzen Worten darzulegen, antwortet
dieser: „Von allen Dingen, die aus einer Ursache entstanden
sind, hat der Tathagata die Ursache erklärt, und ihre
Vernichtung hat er gleichfalls erklärt.― Da geht dem Sariputta
das reine, fleckenlose Auge der Wahrheit auf und. er erkennt:
„Was immer seiner Natur nach dem Entstehen unterworfen
ist, ist seiner Natur nach auch dem Vergehen unterworfen.―
Trotzdem also dem einen der Satz vom Leiden, dem andern
das Gesetz von Grund und Folge vorgetragen wird, antworten
beide in denselben Worten.
Wir haben hier noch eine neue Form, in die der
Vergänglichkeitsgedanke sich einkleidet: Alles Entstandene ist
nur die Wirkung früherer Ursache; diese Ursache ist selbst
Wirkung einer früheren Ursache gegenüber u. s. w. ad
infinitum. Alles was wir mit den sechs Sinnen erfassen
können, das ganze Weltall besteht aus nichts, als einer
endlosen Kette von Ursachen und Wirkungen und damit aus
einem endlosen Entstehen und Vergehen. Denn alles was als
Wirkung früherer Ursache eingesetzt hat, muß aufhören,
139
sobald die Kraft, die zu seiner Verwirklichung geführt hat,
erschöpft ist.
Nun kann niemand behaupten, daß meine Persönlichkeit in
irgendeinem Sinne da war, bevor meine Eltern mich zeugten.
Als ‚Name und Form‘ bin ich meiner Totalität nach
entstanden, d. h. bin ich Wirkung einer Ursache, muß demnach
auch meiner Totalität nach vergehen, sobald die Kraft, die zur
Verwirklichung geführt hat, erschöpft ist. Gehe ich aber im
Tode meiner Totalität nach zu Grunde, so kann kein Faden,
kein Unvergängliches, keine Seele eine Existenz mit der
andern verbinden. Ich lebe nur weiter in der Weise, daß ich,
selber Wirkung früherer Ursache, jetzt Ursache späterer
Wirkung werde. Mein Ich ist das, worin Ursache und Wirkung
als Schein von Tat und Folge ineinander fallen, ist ganz
Ursache einerseits, ganz Wirkung anderseits. Das ist der
Grund weshalb Karma, die einwortige Formel für das Ich als
wirkendes, mit ‚Ursache und Wirkung‘ definiert wird. Eine
Verbindung der früheren mit der späteren Existenz besteht
nicht, und doch hängt eine mit der andern zusammen und ist
eine in der andern enthalten wie im Schlag der Rückschlag. So
reiht sich ohne Anfang, ohne Ende die ungeheure Kette der
Existenzen, und doch steht jede einzelne gesondert für sich da,
wie das Herz jeden Schlag gesondert liefert und doch den
geschlossenen Organismus produciert.
Als Einwirkung des Grundfolgegedankens auf das Erkennen
haben wir mithin dieses Resultat: Individualität in toto
entstanden, muß folglich auch in toto vergehen. Daher kann
sich in ihr kein ewiger Kern, keine Seele verstecken. Die Seele
aber hieß im alten Indien der Atman, das Selbst, das wahre
Ich, weil unvergänglich. Dieser Leib, als vergänglich, galt
nicht als wahres Ich. Weil der Buddha keine Seele in diesem
Leib gefunden hatte, weil er diese Körperlichkeit samt allen
ihren Functionen, samt Erkennen und Bewußtsein als bedingt
d. h. als vergänglich erkannt hatte, darum sagte er: „Dieser
Leib ist anatta (nicht-selbst), ist nicht mein Ich, er gehört mir
nicht.― Denn so wird argumentiert: „Du, der du sprichst
140
'Dieser Körper ist mein Selbst', erfüllt sich dir bei diesem
Körper der Wunsch: 'So soll mein Körper sein, so soll mein
Körper nicht sein?', — oder: 'So sollen meine Gefühle, meine
Wahrnehmung, meine Unterscheidungen, mein Bewußtsein
sein, so sollen sie nicht sein?'.― Wie kann dieser Körper mir
gehören, wenn ich keine Macht über ihn habe? Wie kann er
das wahre Ich sein, wenn er gar nicht mir gehört?
Nie hat der Buddha gesagt: „Es existiert keine Seele―, wie er
auch nie gesagt hat: ,,Es ist kein Gott.― Er hat nur gesagt: Mit
diesem Gottbegriff ist keine Erlösung vom Leiden des Lebens
zu erreichen. Er hat ferner nur gesagt: In dieser Körperform
ist keine Seele und in allem mit den sechs Sinnen zu
Fassenden ebenfalls nicht, weil alles, alles nichts ist, als eine
endlose Folge von Ursachen und Wirkungen. Hierüber hinaus
brauchte er nicht zu gehen, weil seine Aufgabe nur darin
bestand, vom Leiden zur Erlösung zu führen, und im
Gedanken „dieser Körper ist nicht mein Ich, ist anatta― die
Erlösung geborgen lag, wie die süß-reife Frucht in der bitteren
Schale. Darum, als der fremdgläubige Asket Vacchagotta ihn
geradezu fragt: „Ist das Ich?― schweigt er. Als jener weiter
fragt: „Wie denn nun, geehrter Gautama, ist das Ich nicht?"
schweigt er wieder, und jener geht davon. Der Buddha hatte
ihm nicht geantwortet, weil die Frage jenseits des Gebietes
von Leiden und Erlösung lag, und die Beantwortung daher
nutzlos gewesen wäre. Denn zur Erlösung genügt, daß in
dieser Form kein Ich ist. Das hat der Buddha klar dargelegt.
Das genüge! Nur wie das Leiden ausgerodet wird, lehrt der
Buddha. Wer anderes wissen will, für den spricht der Buddha
nicht. So ist es auch für uns müßige Spielerei, und beruht auf
einem Mißverständnis des Ganzen, uns den Kopf zu
zerbrechen, welche von beiden Möglichkeiten der Buddha
selber innerlich als die wahrscheinlichere angesehen hat. Er
selber fragt seine Mönche warnend: „Werdet ihr nun, ihr
Mönche, also erkennend, also verstehend, auch jetzt über die
Gegenwart bald diese, bald jene Frage stellen: 'Bin ich nicht
— was bin ich — wie bin ich — woher ist wohl dieses mein -
141
Wesen gekommen, wohin wird es gehen?'― Und: „Wahrlich
nicht, o Herr― lautet die Antwort. Wie alles im Buddhismus
individuell ist, so auch das Nicht-Ich. Das Ich, das Ewige, die
Seele ist nicht, soweit es diese meine Persönlichkeit betrifft.
Das genügt. Was es abgesehen hiervon mit dem Ich für eine
Bewandtnis hat, das können wir nicht wissen und brauchen
wir nicht zu wissen.
So wandelt der Verstand den Satz von Grund und Folge resp.
von der Vergänglichkeit in den Satz vom Nicht-Ich um. Der
Satz von der Vergänglichkeit, der Satz von Grund und Folge,
der Satz vom Leiden, der Satz vom Nicht-Ich sind nur
Modificationen eines und desselben. Vernichtung des Leidens
und Vernichtung des Ich-Wahns werden als identisch gesetzt.
„Das Vergängliche, o Herr, das Vergängliche, so sagt man, o
Herr; was ist nun aber, o Herr, das Vergängliche?" fragt ein
Mönch den Buddha.
„Der Körper wahrlich, das Gefühl, die Wahrnehmung, die
Unterscheidung, das Bewußtsein, sie sind vergänglich.―
„Das Leiden, das Leiden sagt man, o Herr; was ist nun aber, o
Herr, das Leiden?―
„Der Körper wahrlich usw. sie sind das Leiden.―
„Das Nicht-Selbst, das Nicht-Selbst (anatta), so sagt man, o
Herr; was ist nun aber, o Herr, das Nicht-Selbst?―
„Der Körper wahrlich usw. sie sind das Nicht-Selbst.―
„Dem Entstehen und Vergehen Untertan, so sagt man, aber, o
Herr, dem Entstehen und o Herr; was ist nun Vergehen
Untertan?―
„Der Körper wahrlich usw. sie sind dem Entstehen und
Vergehen Untertan.― (Samyutta-Nikayo)
Der Satz vom Nicht-Ich, von der Nicht-mir-Gehörigkeit des
Leibes ist das versteckte Zwischenglied in dem Gedanken „All
Leben ist vergänglich, folglich ist all Leben Leiden.― Er ist die
versteckte dritte Größe, welche die Gleichheit der beiden
andern vermittelt und klar legt. Weil all Leben vergänglich ist,
nur ein Entstehen und Vergehen, ein Spiel von Ursache und
142
Wirkung, darum ist all Leben ‚anatta‘, wesenlos, seelenlos,
ohne Ich. Der Gedanke: „Hier ist ein Ich― hat sich als
Täuschung, als Unwissenheit herausgestellt. Und weil somit
diese meine eigene Persönlichkeit, dieses was ich bisher als
mein sicherstes, köstliches Eigentum angesehen hatte, mir
geraubt wird als nicht mir gehörig, als seelenlos und damit als
wertlos sich entpuppt, darum wird die Vergänglichkeit zum
Leiden. Denn wie einer, der da meint einen kostbaren
Diamanten zu besitzen und vom Juwelenhändler erfährt, daß
es ein Kiesel ist, Schmerz empfindet, so auch einer, der da
meint, im ‚Ich‘ jenes Unvergängliche, Wonnevolle, zu
Brahman Erhebende zu besitzen und dann erkennt, daß es eine
wertlose Last ist, ein Haufe Sankhara, geformtes Leiden, das
er mit sich schleppt.
Vergänglichkeit, Leiden, Nicht-Ich, sie alle drei meinen das
Gleiche von verschiedenem Standpunkt aus gesehen, und
Wissen vom Leiden ist nichts anderes als Wissen von der
Vergänglichkeit und Wissen vom Nicht-Ich. Der
Zusammenklang dieser drei, das ist das große Wissen, das
Buddha-Wissen.
Inwiefern ist nun dieses Wissen gleichbedeutend mit
Erlösung?
Drei Dinge zu lehren sind alle Buddhas in der Welt
erschienen: Daß alles vergänglich ist, daß alles leidvoll ist, daß
nirgend ein Ich zu. finden ist. Das ist die Summe, die
Quintessenz ihrer Lehre, und von Erlösung ist nichts darin.
Aber wie das Meer vom Land und das Land vom Meer
umschlungen ist, so umschlingen sich in der Lehre des
Erhabenen Leiden und Erlösung. Und wie einer der alle
Landumrisse auf der Erdoberfläche gezogen hat, damit auch
gleichzeitig die Meeresgrenzen gegeben hat, so hat der
Buddha mit seinen drei Sätzen von der Vergänglichkeit, dem
Leiden und dem Nicht-Ich gleichzeitig die Erlösung geliefert.
Im Anatta-Gedanken, im Gedanken vom Ich als Nicht-Ich
fallen, wie Subject und Object, Tat und Folge, Vor- und
143
Nacheinander, so auch Leiden und Erlösung zusammen, wird
Leiden zur Erlösung.
Weil Leiden und Vergänglichkeit gleichbedeutend sind, so
wird diese Individualität, als in toto vergänglich, auch in toto
Leiden. Leiden ist demnach nichts Außenstehendes,
Empfundenes, kein Product der Körperlichkeit, sondern ist
Körperlichkeit selber, ebenso wie Tat kein Product, sondern
Körperlichkeit selber ist. Persönlichkeit, richtig erkannt, ist
nichts als geformtes Leiden. Es ist dasselbe zu sagen:
„Körperlichkeit aufheben― und „Leiden aufheben.― Daher darf
man nicht nur sagen: Leiden geht zu Grunde mit dem
Leidensträger, sondern man muß auch sagen: Leiden und
Leidensträger sind identisch, sind ein und dasselbe Ding von
verschiedenem Standpunkt aus gesehen, ebenso wie Tat und
Täter. Wie im Wissen kein Täter bestehen kann, so auch kein
Leidensträger. Es bleibt nur Tat und Leiden. Darum, weil ich
das Ich als vergänglich ohne Rest erkannt habe, so muß auch
das Leiden vergänglich ohne Rest sein. Darum, weil ich das
Ich als aus einer Ursache entstanden erkannt habe, so muß
auch das Leiden aus einer Ursache entstanden sein und muß
verschwinden mit der Aufhebung dieser Ursache. Erlösung im
Buddhismus ist aber nichts als aufgehobenes Leiden.
Somit dreht sich alles darum, diese Ursache zu finden. Diese
hat der Buddha gefunden im Haften unserer Sinne an den
Objecten. Unsere Sinne sind der ständig tätige Mechanismus,
durch welchen ständig Vergänglichkeit in Leiden
umgewandelt wird. Denn Leiden ist ja nichts als die ins
Bewußtsein getretene Vergänglichkeit alles Entstandenen.
Dadurch daß unsere fünf Sinne mit dem Geist als sechstem die
Vergänglichkeit fassen, fassen sie das Leiden. Da sie aber
nicht fähig sind, etwas anderes zu fassen als die
Vergänglichkeit, da sie nur auf Werdendes, Entstehendes,
Vergehendes reagieren, so fassen sie n u r das Leiden, und
Sinnestätigkeit ist identisch mit Leidensentstehung. Denn
wenn das Auge auf etwas Sichtbares trifft, es berührt, sich mit
ihm vereinigt, so entsteht, wird gezeugt der Gesichtseindruck.
144
Wenn das Ohr etwas Hörbares, das Geruchsorgan etwas
Riechbares, das Geschmacksorgan etwas Schmeckbares, das
Tastorgan etwas Tastbares trifft, so entstehen die betreffenden
Eindrücke. Ja, wenn der Geist mit dem Denkbaren sich
vereinigt, so wird in der Vereinigung der Gedanke gezeugt.
„Durch das Gedenken und die Dinge entsteht das
Denkbewußtsein; der Einschlag der drei gibt Berührung.― Wo
Berührung, da ist Entstehen, Geburt. Wo Entstehen, da
Vergehen, Tod. Wo Entstehen und Vergehen, Geburt und Tod,
da ist Leiden.
Wie die Vereinigung des Männlichen mit dem Weiblichen, so
ist die Vereinigung der Organe mit den Objecten. So beruht all
Leiden auf unseren Sinnen, und soweit die Sinne reichen,
soweit reicht das Leiden. Der Schlüssel für buddhistisches
Denken liegt in der Gleichheit von Vergänglichkeit und
Leiden.
Nun haben wir gesehen, daß dieses Ich, als in toto entstanden,
auch in toto begreifbar wird mit dem Begreifen der Ursache,
die zu seiner Entstehung geführt hat. Als Entstehungsursache
ist das ‚Haften‘ gefunden worden. Dieses aber ist etwas
unserem Verstehen Zugängliches. Dadurch wird ‚Ich‘ etwas in
toto begreifbares, damit in toto ein Werdendes, ein ständig aus
dem Zusammenwirken von Seh-, Hör-, Riech-, Schmeck-,
Tast- und Denkbewußtsein Entstehendes und ständig durch
ihre Auflösung Vergehendes. „Die Persönlichkeit, die
Persönlichkeit, heißt es; was hat denn wohl der Erhabene
gesagt, daß die Persönlichkeit sei?― fragt ein Mönch die
Nonne Dhammadinna. Und diese antwortet: „Die fünf
Elemente des Lebenstriebes sind die Persönlichkeit, hat der
Erhabene gesagt.―
Wie diese ganze Welt auf unsern sechs Sinnen ruht, so auch
dieses Ich. Wie die sechs Sinne die Welt bilden, so bilden sie
auch das Ich. Weil mit den Sinnen faßbar, darum wird das Ich
mir entrissen als nicht mir gehörig und in die allgemeine
Werdemasse mit hineingeworfen, zu einem Teil der
145
Außenwelt gemacht. Erst in dieser Auffassung wird das Wort
des Buddha verständlich, wenn er predigt: „Alles, o ihr
Mönche, ist ein brennendes Feuer. Und wie, o ihr Mönche, ist
Alles ein brennendes Feuer? — Das Auge ist ein Brennen; die
Objecte sind ein Brennen; die geistigen Eindrücke, die auf
dem Auge beruhen, sind ein Brennen; das Haften des Auges
ist ein Brennen; die aus dem Haften entstandene Empfindung
ist ein Brennen, mag sie angenehm oder widrig oder keines
von beiden sein. Und was für ein Feuer brennt hier? —
Wahrlich! es ist das Feuer der Lust, des Hasses und der Irre,
das hier brennt; es ist das Feuer des Geborenwerdens, Alterns,
und Sterbens, das Feuer von Gram, Jammer, Leiden, Elend
und Verzweiflung.― (Mahavaggo)
In diesem Gedankengang löst alles scheinbare Sein sich auf in
ein ungeheures Werden, welches Subject sowohl wie Object,
den Seher wie das Gesehene, den Denker wie das Gedachte in
seine Strudel reißt.
Wenn aber dieses Ich als Außenwelt erkannt wird, nun so muß
doch etwas da ein, was das Ich in diese Position versetzt;
etwas da sein, was sich selber als im Gegensatz zur Außenwelt
erkennt, also ein wahres Ich hinter, in diesem Schein-Ich
versteckt? — Nein! Außer diesem Schein-Ich kann nichts da
sein, weil wir es in toto erfaßt, gewissermaßen sein Entstehen
belauscht haben. Unmöglich kann sich in mir, so weit ich
Individualität, Ich bin, etwas Ewiges, eine Seele verbergen.
Die Fähigkeit des Erkennens, die Fähigkeit, dieses Ich als
Schein-Ich zu begreifen, ist gleichfalls nur Function dieses
Schein-Ich. Gleich den übrigen fünf Sinnen ist das Erkennen,
die Persönlichkeit producierend, selber Product der
Persönlichkeit. Wie die kühle Hand am eigenen Rumpf sich
wärmt, so nimmt Erkennen aus eben jener Körperlichkeit, aus
der es entstanden ist, auch die Fähigkeit, aus der Form des
Nichtwissens in die Form des Wissens überzugehen. Das ist
nur das Einzigartige in der Stellung, welche Erkennen in der
Form des Erkennens vom Ich als Nicht-Ich, Erkennen als
Wissen einnimmt, daß es nicht die Tat, d.h. neues Leben, d.h.
146
neue Persönlichkeit produciert, sondern die Tat, welche zur
Aufhebung der Tat führt, d. h. zur Auflösung der
Individualität. Übergang von Erkennen als Nichtwissen in
Erkennen als Wissen ist gleichbedeutend mit jener Tätigkeit,
jenem Prozeß, in dem Individualität sich auflöst. Ich
produciere Wissen, heißt: Ich löse mich selber auf, und
Erlöstsein ist nichts als die unerschütterliche Gewißheit des
Erlöstseins.
Erkennen, welches seine specifische Function ausübt
Erkennen als Wissen ist von dem communen Erkennen als
Leben-schaffendem Sinn an sich nicht verschieden. Das
Erstere ist aus dem Letzteren lediglich durch Belehrung
hervorgegangen. Nichts als Aufnahmefähigkeit des Erkennens,
die Belehrungsfähigkeit schafft den Boden für die
Erlösungslehre des Tathagata.
So wird nicht auf Grund einer Intuition, sondern auf Grund
von Erkenntnistatsachen, die sich Schritt für Schritt aus dem
allgültigen Naturgesetz von Grund, und Folge ableiten lassen,
nicht allein der Körper als Ganzes, sondern auch seine feinsten
Teile und die auf denselben basierten Lebensäußerungen in ein
ständiges Werden, ein flammengleiches Entstehen und
Vergehen verwandelt, welches nur deshalb den Schein der
geschlossenen Körperlichkeit erweckt, weil die einzelnen
Zuckungen völlig jenseits des Bereiches unserer Sinne liegen.
Ebenso wie die Flamme in ihren einzelnen Partikelchen in
übersinnlicher Schnelligkeit jeden Moment tausendfältig
geboren wird und tausendfältig stirbt, ebenso auch der Körper.
Und wie bei der Flamme die Summe dieser Werdemomente,
von denen jedes einzelne jenseits der Grenzen unserer Sinne
liegt, sich zum Scheinbild des Flammenkörpers summieren, so
auch die Masse der Werdemomente des Individuums zum
Scheinbild dieses Leibes, dieses durch und durch flackernden
Dinges, von dem es daher mit Recht heißt: „Zerstörung ist ein
Element, nicht ist in ihm ein fester Kern.― (SamyuttakaNikayo)
147
So schaute der Buddha das Leben an. Darum verglich er den
Leib der Schaumblase, die Gefühle dem Gischt beim
Wolkenbruch, die Wahrnehmungen der Luftspiegelung zur
Sommerszeit, die Unterscheidungen dem Pisangstamm, der
Holz vortäuscht, in Wirklichkeit aber aus aufgerollten
Blattscheiden besteht. Das Bewußtsein aber verglich er dem
Blendwerk eines Gauklers, und mit Recht erkennt der
Wissende: „Leer ist das von mir und mein.―
Modern ausgedrückt könnte man sagen: Die ganze
Körperlichkeit, nicht nur in ihrem vegetativen, sondern auch in
ihrem geistigen Teil, war ihm ein Verbrennungs-, ein
Oxydationsproceß. In jenem eigenartigen Sutta ‚Der
Ameisenhügel‘ heißt es: „Was er (die Persönlichkeit) für das
Tagewerk in der Nacht überlegt und erwägt, das ist das
Rauchen bei Nacht. Was er nach der nächtlichen Überlegung
und Erwägung am Tage in Taten, Worten und Gedanken
wirkt, das ist das Flammen bei Tage.―
Freilich auch die Brahmanen hatten schon so das Leben
aufgefaßt. Das Specifische in des Buddha Anschauung lag nur
darin, daß in seinem Denken alles in diesen Oxydationsproceß
hineingerissen wurde, daß in der tiefen Glut seines Denkens
der ewige Kern, die Seele mitverbrannte, jede Differenz fiel;
der Dualismus von Leib und Seele fiel ihm in Eins zusammen,
aber nicht in die absolute Einheit ‚Geist, Seele‘ oder ‚Materie‘,
sondern in die Doppeleinheit ‚Werden‘. Das Verblüffende ist
nur, daß es Materie und Avijja sind, aus denen diese
Doppeleinheit, diese Lebenseinheit hervorgeht. Wie in der
Arithmetik — mal — zum + wird, so wird aus dem
Aufeinanderwirken der beiden Unmöglichkeiten par
excellence,
der
beiden
Grundunmöglichkeiten
das
Grundproduct, die Tatsache par excellence: Leben. Weshalb
aber
sind
Materie
und
Avijja
die
beiden
Grundunmöglichkeiten? Weil sie in ihrer reinen, ungemischten
Form undenkbar sind. Jeder Versuch sie zu denken, ruft sofort
die Vereinigung beider, das Geformte, Individualität hervor.
Hierin haben wir den besten Ausdruck für die Unmöglichkeit
148
des Lebens als realer Einheit. Alle dahin zielenden Versuche
müssen scheitern oder im Glauben endigen. —
Doch nehmen wir den unterbrochenen Faden wieder auf: Und
jetzt, nachdem im Denken nicht nur das ganze Weltall,
sondern auch mein eigenes Ich aus dem scheinbaren Sein in
ein rastloses Werden sich umgewandelt hat, erst jetzt,
nachdem ich nicht nur in diese gärende Leidensmasse
untergetaucht, sondern in ihr selber aufgelöst, selber Leiden
geworden bin, erst jetzt, nachdem auch der letzte Rest der
Ichheit in diesem mikroskopischen Sehen sich verflüchtigt hat,
im untergehenden Nichtwissen verschwunden ist, wie die
Schatten mit der untergehenden Sonne schwinden, erst jetzt ist
das große Moment da, in welchem wie durch einen Trick des
Genies die wunderbarste aller Metamorphosen vor sich geht:
Die Umwandlung des Leidens in die Erlösung. Denn da all
Leiden Bewußtsein voraussetzt, am Ich, an der Individualität
haftet, wie der Regen an der Wolke, so muß ja auch das
Leiden verschwinden, wenn kein Ich mehr da ist. Das Ich aber,
weil in wahrem Denken in toto als Leiden erkannt, ist in toto
als Nicht-Ich erkannt. Das Ich in toto als Nicht-Ich erkennen,
heißt es in toto aufheben. So hebt sich im Denken mit dem Ich
auch das Leiden auf. Leiden wissen heißt das Ich als Nicht-Ich
wissen; das aber ist Erlösung. Das ist der erste Gruß aus jener
andern Ordnung der Dinge, der wie ein Hauch den gequälten
Geist anfächelt.
Man beachte wohl: Nicht dieser Leib, soweit er aus den
Elementen besteht, muß schwinden, um das Leiden schwinden
zu lassen, sondern dieser Leib, soweit er ‚Name und Form‘,
Individualität ist. Nicht an den Elementen, den
Körperconstituentien haftet das Leiden, sondern am
Bewußtsein, am Ich. Wie Leiden nichts ist als Bewußtsein
vom Leiden, so ist Erlösung nichts als Bewußtsein der
Erlösung. Mit Recht konnte daher der Buddha sagen: „Mich
bezichtigen, ihr Mönche, einige Asketen und Brahmanen
grundloser, nichtiger Weise, fälschlich, mit Unrecht: 'Ein
Verneiner ist der Asket Gotamo, des wirklichen Lebens
149
Zerstörung, Vernichtung, Aufhebung verkündet er.' Was ich
nicht bin, ihr Mönche, nicht rede, dessen bezichtigen mich
jene Asketen und Brahmanen. Nur eines, ihr .Mönche,
verkündige ich heute wie immerdar: Das Leiden und des
Leidens Ausrodung.―
Der Wissende sieht: Die Tür, die aus dem Gehäuse des
Leidens hinausführt, liegt in mir selber. Ich selber habe Macht
sie zu öffnen. Löse ich das Ich, so löse ich auch das Leiden
auf. Wie das Feuer aufhört, wenn nichts Brennbares mehr da
ist, so Leiden, wenn nichts von Ich mehr da ist. Als ScheinIch, als Werden, als ein Product der sechs Sinne gleich der
ganzen Außenwelt, muß es stehen -und fallen mit der Tätigkeit
dieser Sinne, muß von den Sinnen her, d. h. durch mich selber
auflösbar sein.
Ist das nicht aber ebenso, als wenn das Licht sich selber
auslöschte? — Nein! diese Auflösung entspricht nicht dem
sich selber auslöschenden, sondern dem aus Mangel an
Brennstoff ausgehenden Licht. Und dieser Mangel an
Brennstoff wird herbeigeführt lediglich durch den Übergang
des Erkennens als Nichtwissen in Erkennen als Wissen. Weil
Aufhebung des Ich gleichbedeutend ist mit dem Aufheben
einer Täuschung, darum ist Ich vom Ich aus aufhebbar. Nichts
wird zerstört, nichts wird verneint, nichts wird nicht-gewollt
außer Nichtwissen, d. h.: nur falsches Erkennen wird durch
Belehrung in richtiges Erkennen übergeführt. Ja, lassen wir
selbst falsch und richtig beiseite, sagen wir nur: Das alte
Erkennen wird durch ein neues ersetzt. Beide arbeiten in der
gleichen Weise, Erkennen hier wie da, nur die Substrate haben
sich geändert: Das alte Erkennen arbeitet auf dem Substrat
‚Ich‘ als Seiendem, das neue auf dem Substrat ‚Ich‘ als
Werdendem, als Nicht-Ich. Daher ist die Tätigkeit des ersteren
ewig Leben schaffend, die des letzteren für ewig Leben
aufhebend. Das erstere ist gleich Tat, das letztere gleich Tat,
die zur Aufhebung der Tat führt.
150
In welchem Sinn der Leib Product der sechs Sinne ist, haben
wir oben gesehen. Das Haften der Sinne ist das lebengebende
Moment. Dieses Haften aber kann in der Form der Lust (lobo),
in der Form des Hasses (doso), in der Form des Wahnes
(moho) bestehen. Sie sind des ‚Daseins tiefste Wurzel‘. Das
Feuer der Individualität ist entzündet durch Lust, Haß und
Wahn, d. h. durch die drei Arten des Wollens. An einer Stelle
heißt es: „Vier Arten der Nahrung, ihr Mönche, sind für die
Wesen vorhanden, den entstandenen zur Erhaltung, den
entstehenden zur Entwicklung; welche vier? Elementare
Nahrung, grob oder fein, zweitens Berührung, drittens
geistiges Innewerden, viertens Bewußtsein. Und wo, ihr
Mönche, ‘ wurzeln diese vier Arten der Nahrung? Sie wurzeln
in der Lebenslust.―
Wie ein Feuer immer wieder neues Feuer anzündet und dieses
immer wieder neues, so flammt aus dem einmal bestehenden
Leben immer wieder neues Leben hervor, aus diesem immer
wieder neues und so weiter in endloser Reihe. Als wenn
Zündstoff und welkes Gras zusammentreffen, so ist der
Contact der Sinne mit den Objecten. Immer wieder aufs neue
flackert aus der Berührung die Lebensflamme hoch. Und wie
ein Feuer, dem die Nahrung nicht ausgeht, ewig brennt, so
auch dieses Lebensfeuer, solange die Sinne immer neue
Nahrung schaffen. Daher leben wir ewig durch unsere Sinne.
Daher haben wir von Ewigkeit her durch unsere Sinne gelebt;
denn Berührung schafft Lust, Lust schafft Tat, Tat schafft
Folge, d. h. neues Leben. Hier, in unserem Wollen zum Leben,
Hängen am Leben liegt die Kraft, welche ewig jenes Spiel von
Action und Reaction unterhält. Daher: ‚Ohne Anfang, ohne
Ende ist der Samsara‘, diese Welt des Leidens. Ende, Erlösung
ist nur möglich, wenn die Sinne aufhören, der Lebensflamme
neue Nahrung zuzuführen. Wie aber ist das möglich? — Das
gewaltsame, äußerliche Abwenden der Sinne von den
Objecten genügt nicht; denn es gibt einen sechsten Sinn, das
Denken, der auch bei geschlossenen fünfen weiterarbeitet, und
„all unser Wesen hängt am Denken, das Denken ist sein
151
Edelstes.― Der Buddha selber erzählt uns an mehr als einer
Stelle, daß durch Gewaltmaßregeln keine Ruhe, keine Stille in
das Herz kommt. „Da kam mir, so erzählt er, der Gedanke:
'Wie wenn ich nun mit aufeinander gepreßten Zähnen und an
den Gaumen gehefteter Zunge durch den Willen das Gemüt
niederzwänge, niederdrückte, niederquälte. Und ich zwang
nun mit aufeinander gepreßten Zähnen und an den Gaumen
gehefteter Zunge durch den Willen das Gemüt nieder, drückte
es nieder, quälte es nieder. Gleich wie etwa, wenn ein starker
Mann einen Schwächeren beim Kopf oder bei der Schulter
ergreifend, niederzwingt, niederdrückt, niederquält, ebenso
rieselte mir da bei meinem Bemühen der Schweiß aus den
Achselhöhlen. Aber regsam war mein Körper, nicht ruhig
geworden durch diese so schmerzliche Askese, die mich
antrieb.― Gewaltsames Zurückhalten der Sinne ist nichts als
eine Art der Action, welche die entsprechende Reaction
hervorrufen muß. Wir müssen tiefer gehen, bis an die
Wurzelfasern.
Solange Sinne da sind, solange müssen sie tätig sein. Ihr
Dasein an sich ist Tätigkeit. Wäre diese Tätigkeit an sich leben
d. h. leidengebärend, so wäre Erlösung denkbar nur in der
Auflösung unseres Ich als Materie, als Elemente. Eine
derartige Auflösung ist aber unmöglich, weil wir nicht die
Entstehung der Materie, der Welt begreifen können.
Auslösbar, weil begreifbar, ist das Ich nur, so weit es ‚Name
und Form‘, Individualität ist. Das genügt aber zur Erlösung,
weil nicht an der Materie, sondern an der Form, am IchBewußtsein das Leiden haftet. — Weshalb ? — Weil erst im
Ich-Bewußtsein das Wollen entsteht. Am Wollen haftet das
Leiden, d. h. das Leben. Darum, soll Leben, d. h. Leiden
aufhören, so muß Wollen aufhören. Hört Wollen auf, so hört
das Haften der Sinne an den Objecten auf. Kühl ruhen beide
aneinander wie Stahl und Feuerstein. Es ist keine Berührung,
keine feuerschaffende Reibung, kein Wollen, keine Tat da. Ist
keine Tat da, so ist auch keine Folge der Tat, kein Entstehen,
kein gebärendes Karma. Wo kein Entstehen, ist, da ist auch
152
kein Vergehen. Wo weder Entstehen noch Vergehen ist, da ist
auch kein Geborenwerden und Sterben, keine Persönlichkeit,
kein Leiden.
„Selig des Werdens und Vergehens Ruh.“
„Die Entstehung der Persönlichkeit, die Entstehung der
Persönlichkeit, heißt es, o Ehrwürdige; was hat denn nun, o
Ehrwürdige, der Erhabene über die Entstehung der
Persönlichkeit gesagt?― so fragt jemand die gelehrte Nonne
Dhammadinna.
„Diese Lebenslust da, die Wiederdasein säende, das, hat der
Erhabene gesagt, ist Persönlichkeit.―
„Die Vernichtung der. Persönlichkeit, die Vernichtung der
Persönlichkeit, heißt es, Ehrwürdige; was hat nun wohl der
Erhabene über die Vernichtung der Persönlichkeit gesagt?―
„Eben dieser Lebenslust vollkommen restlose Vernichtung,
Abstoßung, Austreibung, Aufhebung, Verneinung, das ist
Vernichtung der Persönlichkeit, hat der Erhabene gesagt.―
An anderer Stelle spricht ein Mönch zum Buddha: „Möge der
Erhabene mir in Kürze den Kern der Lehre klar legen, so daß
ich, wenn ich so die Lehre gehört habe, einsam,
zurückgezogen, wachsam, standhaft und ernsthaft bleiben
möge.―
„Durch Haften, o Mönch, kommt man zum Entstehen; durch
Nicht-Haften kommt man nicht zum Entstehen― ist des
Buddha kurze Antwort, aber jener versteht. (SamyuttaNikayo)
Wie reimt sich hier nun Anfang und Ende? Oben ist gesagt
worden: Dieser Körper gehört mir nicht und als Argument
meine Unfähigkeit angeführt worden, irgendetwas an ihm zu
ändern. Hier aber soll ich plötzlich, die Fähigkeit haben, ihn
sogar völlig aufzulösen? —
Dieser Körper gehört mir, insofern als er mein Wollen ist, er
gehört mir nicht, insofern als er Folge, die Verkörperung
meines Wollens ist. Ebenso gehört die Stimme mir, solange sie
153
als Gedanke in meiner Brust ruht; gehört mir nicht, sobald sie
herausgetreten ist. Dieses Ich ist nichts als das, worin sich
Ursache und Wirkung vereinen. Als Wirkung gehöre ich mir
nicht mehr an, als Ursache bin ich absoluter Herr über mich.
Anders ausgedrückt: Da diese Persönlichkeit etwas
Werdendes, etwas jeden Moment neu Entstehendes, neu
Vergehendes ist, so habe ich Macht, dem Neuentstehenden
eine bestimmte Richtung zu geben, ihm Einhalt zu tun, nicht
aber das bereits Entstandene in irgend einer Weise zu
beeinflussen. Das hieße den Zeiger der Zeit in der Richtung
der Vergangenheit drehen. Der Buddha aber blickt nicht
rückwärts. Fest auf der rollenden Gegenwart stehend, blickt er
unverwandt nur auf diese, als auf den Mutterschoß unendlicher
Zukunften.
Aber noch einmal: Soll Leben, d. h. Leiden aufhören, so muß
Wollen aufhören. Wollen aber kann, ebenso wie die Tätigkeit
der Sinne, nicht gewaltsam in Nichtwollen umgedreht werden;
das gäbe nur eine neue Form des Wollens. Die Sinne müssen
arbeiten, müssen die Objecte treffen; das liegt in der Tatsache
ihres Daseins gegeben. Hilfe ist nur möglich, wenn das
Substrat der Sinne so geändert wird, daß diese nichts mehr an
den Objecten finden, woran sie haften könnten, daß jener
naturgemäße Proceß der Sinnestätigkeit, unverändert weiter
bestehend, nicht mehr Wollen und damit Leben schafft,
sondern auf dem veränderten Substrat zum Nichtwollen und
damit zur Aufhebung des Lebens führt. Sinnestätigkeit,
Erkennen sind, wie zur Lebensentstehung, so auch zur
Lebensaufhebung notwendig. Gewaltsames Abbrechen der
Sinnestätigkeit ist nicht nur nicht nutzbringend, sondern
hindert die Erlösung. Im System des Buddha wird nichts
abgebrochen, nichts unterdrückt, sondern nur das Erkennen
wird berichtigt, und mit diesem berichtigten Erkennen weiter
gearbeitet.
Wie wird nun aber das Substrat der Sinne so geändert, daß
diese nichts mehr zu haften finden? — Eben durch diese
Änderung, die mit dem Erkennen vorgeht, durch den
154
Übergang des Nichtwissens in Wissen. Wer Leben, Welt, Ich
als Werdendes, in seiner leidvollen Vergänglichkeit erkannt
hat, der findet nirgends mehr etwas, woran er haften könnte.
Denn woran soll er haften, wenn er weiß, daß in Wahrheit kein
‚Selbst‘ da ist, das da haften könnte und kein ‚Anderes‘, an
dem es haften könnte; daß alles in dieser ‚Daseinsschwangern
Wandelwelt der Geburten‘ nur ein sich ständig wandelndes
Conglomerat von Gestaltungen ist, ein Haufe Sankhara, durch
den Haken der Lebenslust zur Form aufgespießt. Wie Ameisen
um eine Beute sich sammeln und so einen Ameisenkörper
bilden, so ballen sich diese fünf Khandhas zur Scheinform
dieses Leibes zusammen, der gezeugt ist von der Lebenslust
und geboren ist vom Kammam. Daher: „Durch Egoismus
entstanden ist diese Körperlichkeit.―
Der so Erkennende, der findet nichts mehr zu haften. Wo
nichts mehr zu haften ist, da ist nicht nur kein Wollen, sondern
auch keine Möglichkeit zum Wollen. Das meinte der Buddha,
als er zu seinen Jüngern sprach: „Als ich so erkannte, o ihr
Jünger, da ging aller Lebensmut in mir unter.― Wo keine
Möglichkeit zum Wollen, da keine Möglichkeit zur Tat und
ihrer Folge, da kein Leben, da kein Leiden. „Durch die
Auflösung jenes Haftens wird der Lebenstrieb aufgelöst, durch
die Auflösung des Lebenstriebes das Sein, durch die
Auflösung des Seins die Geburt, durch die Auflösung der
Geburt werden Altern und Sterben, Wehe, Jammer, Leiden,
Gram und Verzweiflung aufgelöst.―
Mit der Hebung des Lebenstriebes, des Wollens hat das
endlose Spiel des Sich-Zusammenschließens der Khandhas zu
neuer Form ein Ende. Die Balken, die Materie sind da, aber es
fehlt der Baumeister, das Kammam. Wie die Flamme nicht
entsteht, wenn Kiesel und Stahl nebeneinander liegen, sondern
nur, wenn sie sich aneinander reiben, so entsteht diese
Lebensflamme, nur, so lange das Feuer der Lust, des Hasses,
des Wahnes da ist. Ist dieses im wahren Wissen zu Grunde
gegangen, ist jene Sattigkeit des Erkennens eingetreten, das
von der ganzen Welt sagt: „Ich mag nicht,― eben weil es sie
155
erkannt hat, so mögen die Sinne immerhin auf die Objecte
treffen: kühl und still gleiten sie hier ab, wie der
Wassertropfen vom Lotusblatt, ohne es zu benetzen, wie das
Sesamkorn von der Spitze der Nadel, ohne zu haften. Und wie
die in der Luft sich drehende Schraube das Schiff nicht
vorwärts treibt, wie die sich nicht berührenden Mühlsteine das
Korn nicht mahlen, so schaffen die ohne Wollen arbeitenden
Sinne kein Leben. Das ist das wahre, einzige, endgültige Ende,
das Ende der ‚Anhaftungen‘, wenn die Sonderheit
Wahrnehmungen, wodurch auch immer bedingt, an den
Menschen der Reihe nach herantreten und da kein Entzücken,
kein Entsprechen, keinen Halt finden. Und so wird Leidenwissen gleichbedeutend mit Erlösung.
Wie Nichtwissen und Wollen, so bedingen sich Wissen und
Nichtwollen, sind ineinander geschlungen, aneinander
gebunden, wie in der Flamme Licht und Wärme. Und wie man
von den Füßen des Laufenden nicht sagen kann: Der Linke ist
der vordere oder Rechte —, so kann man auch, hier nicht
sagen: Wissen ist das Primäre oder Nichtwollen.
Ein Nichtwissender, ein von Lebenslust Getriebener, ist wie
einer, der, auf eilendem Wagen dahinsausend, auf die Räder
hinabblickt, die ihm in der Hast ihres Drehens das Bild der
geschlossenen Scheibe vortäuschen. Der denkende Geist aber,
der im Denken den Lebenstrieb schwächt, der ist wie einer,
der Peitsche und Stachel ruhen und die Rosse langsamer gehen
läßt. Ein solcher fühlt nicht nur die Süßigkeit der Ruhe,
sondern, hinabblickend auf die Räder, sieht er mit Staunen,
was ihm bisher als volle Scheibe erschienen war, als wirbelnde
Speichen wieder. Und je langsamer die Sinnesrosse gehen, je
klarer erkennt er, je stärker schmeckt er „den Geschmack der
Wahrheit, den Geschmack der Lehre, den Geschmack der
Erlösung.― Und je klarer er erkennt, je stärker er schmeckt, um
so langsamer fährt er, bis er schließlich still steht. Im
nachdenklichen Staunen über das große Wunder des Werdens
vergeht ihm all Wollen, all Tun. Jener alte Philosoph nannte
das Staunen den Beginn aller Philosophie. Alle wahre
156
Philosophie, alle Philosophie, die lediglich auf dem Staunen,
dem Grübeln beruht, ist Lebenauflösend. Des Buddha Lehre
ist ihrer einen Hälfte nach reinste Philosophie, ihrer andern
Hälfte nach, ist sie Sittenlehre. Zur Religion wird sie dadurch,
daß beide Hälften untrennbar sich ineinanderschlingen. Wie
bei einem auf beiden Seiten beschriebenen Blatt eine Seite
nicht von der andern trennbar ist, so im System des Buddha
Moral und Wissen. Moral aber ist nichts als das in bestimmte
Formen gebrachte Wollen (Nicht-wollen). Ohne Moral kein
Wissen, ohne Wissen keine Moral. Mit der Moral steigt das
Wissen, mit dem Wissen steigt die Moral. „Wie man mit der
Hand die Hand und mit dem Fuß den Fuß wäscht, so wird
auch Rechtschaffenheit durch Weisheit geläutert, und Weisheit
durch Rechtschaffenheit." Wie ein Mann, der einen Handel
anfängt und durch Geschick und Anleitung einen Überschuß
erzielt, mit diesem Überschuß den Handel vergrößert und
damit wieder den Überschuß usw., so wächst im Zügeln der
Sinne das Erkennen und im Erkennen die Neigung und Kraft
zum Zügeln der Sinne.
So muß aber doch schließlich ein erster Anstoß da sein, der
den Geist auf diesen Weg hinführt? — Ja, es ist das Beispiel,
die Belehrung anderer.
Daher ist der Buddha der Erwachte, der Selbst-Belehrte, der
Lehrerlose, weil in ihm dieser Gedankengang spontan
entstanden ist. Wir hätten hier die wahre Weltentstehung, das
Einsetzen aus Nichts, wenn nicht der Buddha, wie die
Anfangslosigkeit der Welt, so auch die Anfangslosigkeit der
Wahrheit und der die Wahrheit verkündenden Buddhas lehrte.
Zahllos wie der Sand am Ganges sind die Buddhas, die vor
diesem Gautama gekommen sind und nach ihm kommen
werden. Das Samenkorn, das in diesem Gautama aufging, ist
vor zahllosen Existenzen von einem der früheren Buddhas
oder einem durch sie Belehrten gepflanzt worden; und
nachdem es zahlloser Leben zu seiner Entwicklung gebraucht
hat, ist es in dieser Existenz gereift und fruchttragend
geworden. Selbst die Entstehung des Buddha-Gedankens hat
157
nichts mit übernatürlicher Erleuchtung zu tun, sondern ist nur
Folge früheren Grundes. Selbst hier werden wir von den
Wellen dieses allgültigen Naturgesetzes überflutet. Und wie
die Frage nach der Entstehung der Welt, so wird auch diese
Frage der Unendlichkeit des Satzes vom Grunde unterstellt.
Wenn nun aber ‚Ich‘ Täuschung ist, wenn kein Ich da ist, wie
kann ich dann auf dem in dieser Existenz erworbenen Wissen
in der nächsten weiterbauen, um so endlich Nirvana zu
erreichen? Denn der Weg zum Nirvana ist lang und geht über
viele Existenzen hin. Habe ich mit dem Ich nicht auch die
Basis für mein Bauwerk fortgezogen und baue Luftschlösser?
Wenn kein Ich da ist, fange ich dann nicht in jeder neuen
Existenz immer wieder neu in meinem Streben zum Höchsten
an, nicht unterstützt durch die Anhaftungen und
Errungenschaften des vorigen Lebens? — O nein! Dadurch
daß Avijja (Unwissenheit) gehoben wird, daß die Täuschung
der Individualität verloren geht, jener auf dem Ich-Bewußtsein
ruhende Wahn von Täter, Tat und Folge, wird Individualität in
toto als Grund-Folge erkannt. Ist kein Täter da, so begehe ich
nicht die Tat, sondern ich bin die Tat. Bin ich aber die Tat, so
bin ich auch die Folge der Tat, in dem Sinne wie Reaction
gleich Action, Eis gleich Wasser ist. ‚Ich‘ als Folge der Tat ist
aber nichts als ein anderer Ausdruck für das Ich als wollendes.
Der Gedanke: Ich bin nicht Täter sondern Tat, schließt den
andern ein: Ich bin nichts als Tat, bin in toto Tat. Bin ich in
toto Tat, so bin ich auch in toto Folge der Tat. Das heißt: Ich
bin kein Woller, sondern ich bin Wollen. „Ich bin Wollen―
heißt aber: Ich bin nichts als Wollen. Wollen und tun werden
hier gleich, etwa wie ‚denken‘ und ‚zu sich selber sprechen‘.
Der Buddha selber sagt: „Es ist Cetana (Wollen), das ich
Kammam (Tat) nenne.― Erst im Eins-werden beider wird jene
absolute Höhe der Moral erreicht, wie sie mit einem die Tat
begehenden Ich, einem Ich, das nach Belieben sein Wollen zur
Tat werden lassen kann, d. h. einer Seele und einem zu ihr
gehörigen Gott unvereinbar ist. Im Gott- und Seele-Begriff
liegt eine Abschwächung der Moral. Werden aber Tat und
158
Wollen gleich, so kann ich nicht nur sagen: Ich ‚erlebe‘ meine
Tat, sondern: Ich ‚erlebe‘ mein Wollen, bin Creatur meines
Wollens. Gleichzeitig wird aber Wollen begreifbar (weil Tat
begreifbar ist). Nur dadurch, daß ich mich ganz als Wollen
erkenne, ohne ein Ich, das da will und nicht will, nur dadurch
werde ich Herr des Wollens. Nur in der Vollständigkeit dieser
Erkenntnis liegt ihre Frucht. Denn nur in der Vollständigkeit
dieser Erkenntnis werden Tun und Wollen gleich. Nur wo sie
gleich werden, wird Wollen bedingt und damit, wie alles
Bedingte, der Erkenntnis zugänglich. Wollen und Erkennen im
System des Buddha bedingen sich gegenseitig. Wie mein
Erkennen beschaffen ist, dem entsprechend wird auch mein
Wollen beschaffen sein. Je mehr aber mein Erkennen vom
Nichtwissen her sich dem Wissen nähert, umso reiner, klarer,
verständiger wird auch mein Wollen sein. Die Höhe meines
Wissens verwirklicht sich in meinem Wollen und mein Wollen
bedingt meine nächste Wiedergeburt. War mein Wollen gut,
wird auch meine Wiedergeburt eine gute sein, d. h. eine
solche, in welcher der Geist schon frühzeitig sich vom
Wünschen und Verlangen weg zum Nachdenken über die
Vergänglichkeit wendet. In diese Form kleidet sich der Lohn
für die Reinheit meines Wollens, und insofern ist das in einer
Existenz erlangte Wissen für die nächste nicht verloren.
Nun aber ferner: Wird das Ich zur Täuschung, so muß auch
das Product dieses Ich, die Kraft, welche aus einer Existenz
die nächste hervorgehen läßt, Täuschung sein. Ist kein Täter
mehr, so ist auch kein Karma, kein Weltrichter mehr, und
Lohn und Strafe haben aufgehört. So würde Moralität ein
leeres Wort werden, und ich mich frei am andern versündigen
können. — Welches ‚Ich‘, welcher ‚Andere‘, was für ein
‚Frei‘. Solange ich Taten tue, Wollen habe, solange ist ein Ich
da, solange trifft mit eherner Notwendigkeit die Folge der
Taten, mag ich zehnmal gelernt haben: „Es ist kein Ich und
Karma eine Posse.― Ist aber wirklich kein Ich mehr da, nun wo
ist denn da der Andere, das Andere? Hat sich nicht mit dem
Ich alles andere aufgelöst, mit dem Täter der Betatete? Es ist
159
ja niemand da, an dem mein Wollen sich betätigen kann, d. h.
mit dem Ich fällt die Möglichkeit des Wollens, des guten wie
des bösen. Eben weil Individualität hier in toto Grund-Folge
ist, ohne Ewiges, ohne Seele, eben darum wird hier jenes
‚Jenseits von Gut und Böse‘, wie es dem Wissen im Vedanta
mit seinem über alle Taten erhabenen Atman droht, zunichte.
Hier bleibt die gute Tat stets gut, die böse Tat stets böse. Hier
ist die Tat stets etwas Wirkliches. Solange Taten geschehen,
solange ist Karma. Freiheit vom Karma ist erst da, wenn die
Möglichkeit der Tat resp. des Wollens fällt. Erst wo kein ‚Ich‘
mehr ist, da ist auch kein Karma mehr, da ist aber auch kein
‚Du‘ mehr. Und damit zerfließen jene fürchterlich drohenden
Folgen eines Lebens, welches sich im Wissen von aller Moral
befreit, in nichts, wie eine Spukgestalt bei Tageslicht.
So stürzt mit der Herausnahme des Ich-Selbst diese künstliche
Zweiheit von Subject und Object, Woller und Gewolltem,
Täter und Betatetem, diese Wandelwelt in die unbewegliche
Einheit zusammen. Der Woller wie das Gewollte, der
Erkenner wie das Erkannte, die Tat und ihre Folge, das Vorund Nacheinander, sie schnellen mit der Herausnahme des Ich,
welches solange diese künstliche Trennung erhalten hat,
zusammen, im Berühren sich zu jenem auflösend, das weder
‚Nichts‘ noch ‚Nicht-Nichts‘ ist. Nichts bleibt als, wie bei der
gelösten mathematischen Aufgabe: Die Restlosigkeit.
Tatsächlich weht uns etwas von der Kälte der Mathematik aus
diesem System entgegen; aber anderseits lebt in ihm jene
reinste, höchste Schönheit, jene ungefärbte Schönheit, wie sie
nur der Mathematik eigen ist. Und etwas einer
mathematischen Formel Ähnliches hat jener constante
Schlußpassus, der als Ausdruck für den Besitz des höchsten
Wissens dient: „Im Erlösten ist die Erlösung, diese Erkenntnis
geht auf. — Vernichtet ist die Geburt, vollendet das
Asketenleben, getan was zu tun war: nicht mehr ist diese
Welt.―
160
Einer, der nach den Anweisungen des Buddha nachzudenken
beginnt und im Wissen die Moralität und in der Moralität das
Wissen stärkt, der ist gleich einem Pilger, der rüstig Schritt für
Schritt der Heimat zuwandert. Und wie dieser, am Ziel
angelangt, nicht mehr Pilger ist, nicht mehr in seiner
Eigenschaft als Pilger existiert, so der zum Abschluß des
Wissens Gelangte nicht mehr als Persönlichkeit, als
Individualität. — Als was denn aber? — Darauf antwortet der
Buddha nicht. Der Buddha zeigt nur den Weg zur Erlösung, er
zeigt die Erlösung selber, aber nicht was nachher folgt. Und es
ist das Kennzeichen des wahrhaft, ernsthaft Strebenden, daß
alles, was nicht zur Erreichung seines Zieles gehört, kein
Interesse für ihn hat.
Auch jene andere Frage beantwortet der Buddha nicht: Woher
ist nur zum ersten Mal jene auf der Unwissenheit beruhende
Umwandlung von Grund-Folge in Täter, Tat und Folge
eingetreten? Anders ausgedrückt: Woher stammt Avijja, dieses
Ding, das Unwissenheit und Täuschung zugleich ist? — Die
Antwort hier ist: Avijja setzt Individualität voraus, ist selber
Individualität. Etwas vor der Individualität Stehendes gibt es
nicht. Diese Welt, dieses ewig Werdende setzt die Sinne
voraus, welche, betrogene Betrüger, den Schein des Seienden
daraus machen. Die Sinne ihrerseits setzen diese Welt voraus,
d. h. diese Körperlichkeit; denn Welt im buddhistischen Sinn
ist nichts als die Gesamtsumme der leidenden und zu
erlösenden Wesen. So laufen wir ständig an dieser Grenzlinie
hin, an der Subjectives und Objectives zusammenfließen, und
können hier ebensowenig ein Ende erreichen, wie der Eilende
den Horizont erreichen kann. Jeden Augenblick meinen wir
hinübergreifen zu können, aber wir haben das, was wir
begreifen wollten, nur vor uns her geschoben.
Aber auch das ist keine Lücke im System. Diese in immer
neuen Verkleidungen auftretende Frage nach dem Anfang des
Anfangs, nach dem realen ‚Eins‘ gehört nicht zum Programm
des Buddha. Ganz offen, ganz ehrlich hat er die Welt mit ihren
Entstehungsrätseln als gegebene Größe angenommen. Kein
161
Wunder, daß wir auch hier auf Unlösbares stoßen, sobald wir
den Weg, der geradeaus zur Verneinung, zum Austritt, zur
Erlösung führt, verlassen. Lobo, doso, moho (Lust, Haß und
Wahn), die drei Formen des Wollens, d. h. der Unwissenheit,
sie sind die drei Daten, mit denen das Rechenexempel des
Buddha angesetzt ist. Sie sollen nicht erklärt, sondern
ausgerechnet d. h. im richtigen Rechnen aufgelöst werden.
Jener Mechanismus, welcher statt der Grund-Folge den Täter
samt Tat und Folge vortäuscht, wird als gegeben
vorausgesetzt. Der Buddha führt uns die Welt unter dem Bilde
eines in vollem Lauf befindlichen Menschen vor, der zum Ziel
rennt. Wir finden jenes unergründliche Wechselspiel zwischen
Subject und Object bereits in vollem Gange. Wir ahnen auf
Schritt und Tritt, daß jenseits dieser Zweiheit eine Einheit
stehen muß, aber wir sind nicht fähig, dieselbe nach außen zu
projicieren. Das wäre der Gott, der nur geglaubt, nicht
begriffen werden kann. Versuchen wir aber, die Zweiheit nach
innen zu, in uns zur Einheit zusammenfallen zu lassen, so
stoßen wir auf das Selbstbewußtsein als den ersten
Ansatzpunkt der Individualität. ‚Selbst‘ aber das ist ja eben die
Täuschung aller Täuschungen, die zu heben der Buddha in der
Welt erschienen ist. So entgleitet, was wir mühsam errungen
zu haben, glauben, unsern Händen und verzweifelnd geben wir
den Kampf auf.
Wer freilich über solche Fragen grübelt, der ist wie einer, der
über den Anfang der Welt grübelt. Und wie dieser nur den
Abschluß finden kann dadurch, daß er den Gott statuiert, so
müßte auch jener Grübler zu demselben Schluß kommen.
Damit wäre er aber „in der Lebenslust gewaltiges Netz
verstrickt.― Denn wer Gott glaubt, sehnt sich nach ihm; diese
Sehnsucht aber ist die sublimste Form des Lebenstriebes.
Damit wäre ein solcher für ewig ans Leben geschmiedet, der
Weg zum Austritt ihm auf ewig versperrt. Freilich wo ein Gott
ist, da ist Leben kein Leiden mehr. Ist Leben kein Leiden
mehr, so ist es auch nicht mehr zu verneinen. Somit wäre auch
die Anleitung zum Verneinen und somit der Tathagata
162
überflüssig. Aber wohl gemerkt: Gott muß geglaubt, und nicht
mit dem Verstand ergrübelt werden. Dieser Gott, der
ergrübelte, ist nichts als ein Product von mir und wird mir nie
das Lebens-Leid in Lebens-Wonne verwandeln. Darum sei
jeder auf der Hut, daß er nicht aus der auflösbaren Täuschung
in die unauflösbare verfalle. Klar hat der Tathagata den Weg
vorgezeigt; ihm folge der Verständige und bleibe in den
angewiesenen Grenzen; ihm folge der Verständige und lasse
sich mit jener Ansicht genügen „der heiligen, ausreichenden,
die dem Denker zur völligen Leidensvernichtung ausreicht.―
Wer sich so lenken läßt, wer so auf der gegebenen Basis
verharrt, für den gibt es im System des Buddha nichts
Unklares, Ungelöstes, Unvollkommenes. Vom ersten bis zum
letzten Schritt liegt alles innerhalb unserer Individualität, ist
von den Kräften, wie diese Individualität sie gibt, zu meistern
ohne göttliche Gnade, allein durch Verstehen und Moralität.
Darum ist diese Lehre, wie sie die einzige in der Negation
auslaufende unter allen religiösen Lehren ist, so auch die
einzige, die vom ersten bis zum letzten Schritt klar und
greifbar dargelegt werden kann. Weil diese Aufgabe vom
Buddha in vollkommener Weise gelöst worden war, darum
konnte er mit Recht sagen: „Komm, o Bhikkhu! wohl
verkündet ist die Lehre― und mit Recht konnte er seine Lehre
diejenige nennen, die da ist „im Anfang vollkommen, in der
Mitte vollkommen, im Ende vollkommen.― Denn wie
Unwissenheit in diesem System gleichzeitig Täuschung ist, so
ist Wissen in diesem System gleichzeitig Wahrheit, ein Ding,
das den Beweis seiner Richtigkeit in sich selber trägt.
163
.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.
(Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a/S.)
.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-
164
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