18 thema schehen auf der Bühne verläuft. Wie ein Film, der den Gemütszustand der Personen vermittelt. Ein symbolischer Bildersturm, verursacht vom ständigen Wind, wird uns in eine dreidimensionale, mal poetisch-feine, mal dramatisch-zerstörerische Gegenwelt versetzen. M&T: Apropos Zerstörung: Im dritten Akt stimmt ein bedrückendes Video das Publikum auf den grossen Auftritt des Gefangenenchores ein! Marco Carniti: In «Nabucco» spielen metaphysische Komponenten eine wichtige Rolle. Die Videos werden diese Art von Atmosphäre transportieren, etwa mit Bildern von sich verschiebenden Wolken und Dampf, wie eine kontinuierliche Reise. Das Durchziehen zweier Monde, einer weiss und einer schwarz, wird beunruhigen. Was dann folgt ist eine totale Eklipse, Finsternis, der Big Bang der Seele. Eine Weltuntergangsstimmung geht dem Hilferuf der Unterdrückten voraus. Es bleibt uns nicht erspart zuzuschauen, wie Wind und ein mysteriöser Sandsturm das ganze Volk auflösen und davontragen. Als wäre es aus Staub geboren, um wieder zu Staub zu werden. M&T: Im vierten Akt dreht der Wind: Nabucco wird vom Wahnsinn befreit und kann dank seines Glaubensbekenntnisses im letzten Moment die Hebräer befreien. Was bedeutet Ihnen persönlich dieses Finale? Marco Carniti: Nabuccos läuternder Prozess von Tod und Auferstehung widerspiegelt das menschliche Streben nach Rettung. Nabuccos Wahnsinn ist ein symbolischer, metaphorischer und halb-theatralischer Faktor. Er versinnbildlicht, wie zerbrechlich Verstand und Denkvermögen des Menschen sind. Jeden Augenblick können sie verloren gehen. Dies scheint die Hauptbotschaft Giuseppe Verdis zu sein, wenn er Nabucco mit Wahnsinn schlägt. Der Wahnsinn bringt innere Veränderung mit sich, die Seele schmort in der Vorhölle, der Geist im Fegefeuer, so lange, bis der Mensch zu seiner spirituellen Dimension zurückfindet. Dies ist die ewig gültige Moral der Geschichte! Es ist dringend nötig, dass die Kulturen zusammenfinden. Dass wir das Unterschiedliche verstehen. Dass wir uns im Leben und im Glauben helfen. Um den Schwierigkeiten und dem Negativismus etwas entgegensetzen zu können, brauchen wir spirituelle Referenzpunkte! Heute mehr denn je! M&T: Welche anderen Projekte beschäftigen Sie zurzeit? Marco Carniti: Diese Saison arbeite ich am Piccolo Teatro di Milano an einem visionären Spektakel zu Galileo Galilei. Im Rahmen des «Maggio musicale fiorentino» beschäftigt mich «Orfeo all’inferno» von Offenbach, in Rom «Riccardo III» von Shakespeare, in Bilbao «Gli innamorati» von Goldoni und ebenfalls in Spanien «La Clemenza di Tito» von Mozart. Im Übrigen schreibe ich am Drehbuch zu meinem zweiten Kinofilm, in dem die Oper eine grosse Rolle spielen wird. M&T: An welchem Ort der Welt sind Sie zu Hause? Marco Carniti: Eine schwierige Frage. Ausser meinem Elternhaus ist eigentlich die Institution Theater der Ort, an dem ich mich auf der ganzen Welt zu Hause fühlen kann. Allerdings: Auch in der Schweiz fühle ich mich ein wenig zu Hause, habe ich doch einen Teil meiner Kindheit im Engadin verbracht. M&T: Was ausser Musik interessiert Sie? Marco Carniti: Ich wollte Pianist werden, und ich bin ein grosser Liebhaber zeitgenössischer Kunst und Architektur. n Opéra Festival Avenches 5.–18. Juli 2013 Verdi: «Nabucco» Musikalische Leitung: Nir Kabaretti Regie: Marco Carniti Bühne / Video: Francesco Scandale Chorleiter: Pascal Mayer Freiburger Kammerorchester Nabucco: Sebastian Catana Ismaele: Rubens Pelizzari Zaccaria: Oren Gradus Abigaille: Maria Billeri, Mlada Khudoley Fenena: Marie Karall Gran Sacerdote: Manrico Signorini Freiburger Kammerorchester, Chor der Opéra de Lausanne Informationen und Tickets: 026 676 676 06 04 / 026 676 99 22, www.avenches.ch Des Opern-Air-Sommers jüngstes Kind Am Pfäffikersee entsteht eine neue Seebühne für Verdis «Aida» Reinmar Wagner Schon vor einem Jahr hingen Plakate im Zürcher Oberland: Pyramiden, Kamel, Sonne, blauer Himmel: Eine neue «Aida» kündigte sich an, und dahinter steckt viel professionelles Know-how: George Egloff leitete den «Ticketcorner», Sergio Fontana war Gründer und bis 2010 Leiter des Opernfestivals in der römischen Arena von Avenches. Er sei kein Opernprofi, sagt George Egloff von sich selber. Aber ein Fan, der auch nach New York reist, um in der Met eine Oper zu sehen. «Ich bin Opernkonsument, aber zu wenig kompetent, um einzelne Leistungen zu beurteilen.» Aber tatkräftig genug, in seinem Wohnort Pfäffikon ZH eine Freiluftbühne an den See zu stellen und 2013 Verdis «Aida» zu spielen. Zusammen mit dem Veranstaltungs-Profi Freddy Burger gründete Egloff eine Aktiengesellschaft. Und holte Sergio Fontana als künstlerischen Leiter an Bord. «Wir kennen uns seit über 20 Jahren», sagt Egloff. «Ein schönes Mittagessen im März 2011 war der Startschuss für dieses Engagement.» Aber der erste Dämpfer kam bald danach: Das Gesuch bei der Gemeinde Pfäffikon wurde abgelehnt, zu gross schien den Verantwortlichen der Anlass für das Dorf und den See. So waren Überzeugungsarbeit und Networking gefragt. Und gute Argumente: «Wir beschaffen nach Möglich- keit alles aus der Region, das Ticket für den Zürcher Verkehrsverbund ist im Eintrittspreis inbegriffen, wir führen ein Depot für alle Gefässe ein, wir bauen nur auf der Festwiese, alles andere wird abgesperrt. Und wir errichten eine Passage für Spaziergänger und Jogger um die Tribüne herum.» Diese Argumente stachen, im August 2011 lag schliesslich die Bewilligung vor. Eines ist für Egloff klar: «So ein Anlass kann nur funktionieren, wenn das Dorf dahintersteht. Von Anfang an haben wir Politik und Tourismus einbezogen.» Und an was man alles denken muss: Kirchenglocken abstellen lassen zum Beispiel. Oder einen Sponsor ablehnen, der Snacks verteilen möchte. Bilder: Festival La Perla thema Computer-Animation der Seebühnen-Konstruktion für «Aida» am Pfäffikersee. Nichts soll das Opernerlebnis stören. Lokaltermin in Pfäffikon. Der Ort ist idyllisch: Die «Festwiese» am See, die auch schon Rockkonzerte erlebte, meistens aber als Picknickplatz für die flanierenden Spaziergänger dient, wird umringt von Naturschutzgebieten. Der Blick geht über den See gegen Westen in die untergehende Sonne und auf die fernen Spitzen von Pilatus und Co. «Der Pfäffikersee ist so schön, da muss man nichts bauen», sagt Egloff. «Je weniger, desto schöner. Wir sind hier mitten im Naturschutzgebiet, eine hochwertige, schöne Landschaft.» Ein ägyptischer Kopf wird Blickfang für das Bühnenbild sein, ägyptische Muster dienten auch als Vorbilder für die Kostüme. Auf volkstümliche Inszenierungsideen wie Pferde und Elefanten hingegen will der Regisseur Pier Francesco Maestrini verzichten. Das erklärte Vorbild für die «Aida» am Pfäffikersee ist Verona, der Klassiker unter den Freiluft-Opernfestivals. Er wundere sich, sagt Egloff, dass es in der Deutschschweiz bisher kaum Versuche gab, im Sommer unter freiem Himmel Oper vor grossem Publikum, aber ohne Verstärkung zu spielen. Sergio Fontana hat in Avenches ebenfalls nie einen Hehl aus seiner Bewunderung für Verona gemacht. Auch in Bezug auf die sängerische Ästhetik steht Fontanas Name für Italianità. Für ihn ist klar: Da müssen potente Stimmen her, sowohl für die Solisten wie für den Chor. Aushängeschild ist die auch unter opernfernen Publikumsschichten bekannte Sopranistin Noëmi Nadelmann, die ihre erste Aida in Pfäffikon singen wird. «Verdis ‹Aida›ist nicht ganz einfach, was die Besetzung betrifft», sagt Fontana. «Man braucht Sänger, die wirklich Stimmen haben. Wir haben für die Titelrolle bewusst zwei Schweizerinnen ausgewählt: Noëmi Nadelmann und die Bernerin Barbara La Faro, die in Avenches schon Donna Elvira gesungen hat. Beide haben die Aida noch nie gesungen. Nadelmann wollte einen Monat Bedenkzeit, und dann rief sie an und sagte, die Partie liege wunderbar für ihre Stimme. Einige von den anderen Sängern haben auch schon in Avenches gesungen.» Auch die übrigen Namen in Fontanas Besetzungsliste verraten die italienische Ausrichtung: Gustavo Porta und Ernesto Grisales alternieren als Radames, Tiziana Carraro und Sanja Anastasia als Amneris und Marcello Lippi und Gianfranco Montresor als Amonasro. Der 80-köpfige Chor probt unter Fontanas Baritonkollegen Claudio Danuser bereits seit fast einem Jahr, um Fontanas Ansprüche an Stimmkraft und Klangfarbe einzutrainieren. Und das gleich gross besetzte Orchester setzt sich aus den Musikern des Symphonischen Orchesters Zürich zusammen und wird vom Schweizer Dirigenten Emmanuel Siffert einstudiert, der auch einige Vorstellungen dirigieren wird. Die musikalische Oberleitung liegt in den Händen von Enrico Reggioli, der als Assistent von Daniel Oren in Verona bereits Open-AirErfahrungen sammeln konnte. Das Engagement des Zürcher Orchesters und die Besetzung des Chors aus einheimischen Kräften zeigen ebenfalls die Bemühungen um lokale Verankerung. Nur beim Ballett musste Fontana nach Mailand ausweichen, weil sich in der Region keine Compagnie fand, die in der Lage gewesen wäre, mitzutanzen. Auf Verstärkung wird nach Möglichkeit verzichtet, was angesichts der Distanz von 39 Metern zwischen Bühne und der letzten Sitzreihe vertretbar scheint (in Verona sitzt man bis zu 150 Meter von der Bühne entfernt). Andere Open-AirArenen wie Avenches oder Orange verzichten ebenfalls weitgehend auf elektronische Verstärkungsmassnahmen (im Gegensatz zu Bregenz, das für sein ausgefeiltes Akustik-System berühmt ist). George Egloff: Opernfan mit Herzblut. Auch Maestrini, den Regisseur, kennen wir von Avenches: «Nabucco», «Trovatore» und «Lucia di Lammermoor» hat er am Murtensee bereits inszeniert. Vieles erinnert also an die Opern in der Arena von Aventicum. Ausser dass für den Grossteil der Deutschschweizer der Heimweg einfacher ist. Nach Luzern, Basel, Schaffhausen oder St. Gallen listet der Festival-Prospekt passable Verbindungen auf, die bei reibungslosem Ablauf der Vorstellung (sprich: ohne Regen-Unterbrüche) bequem erreicht werden. Sogar die ZVV-Nachtzuschläge sind im Eintrittspreis inbegriffen. Kein Grund also, mit dem eigenen Auto nach Pfäffikon zu fahren. Aber auch dafür stehen Parkplätze und Shuttlebusse bereit. 3900 Zuschauer haben pro Abend Platz in Pfäffikon. Es gibt zwischen 9. und 18. August sieben Aufführungen, eine öffentliche GP und vier Verschiebungsdaten. Um 16 Uhr wird jeweils entschieden, ob gespielt wird oder nicht. Mit «Aida» geht Egloff auf Nummer sicher: «Es ist eine sehr populäre Oper, die die MenFestival La Perla Pfäffikon 9. – 18. August 2013 Verdi: «Aida» Musikalische Leitung: Enrico Reggioli, Emmanuel Siffert Regie: Pier Francesco Maestrini Chorleitung: Claudio Danuser Symphonisches Orchester Zürich Aida: Noëmi Nadelmann, Barbara La Faro Radames: Gustavo Porta, Ernesto Grisales Amneris: Tiziana Carraro, Sanja Anastasia Amonasro: Marcello Lippi, Gianfranco Montresor Il Re: Paolo Battaglia, Manrico Signorini Ramfis: Franco de Grandis, Gregor Rozycki Karten und Informationen: www.festival-la-perla.ch 19 thema schen bewegt.» Und Fontana ergänzt: «Aida ist in Verona die meistgespielte Oper. Und sie wurde am 10. August vor genau 100 Jahren dort zum ersten Mal in der Arena gespielt. Zudem haben wir das Verdi-Jahr. Ich habe ‹Aida› in Avenches drei Mal programmiert, und jedes Mal sehr gute Erfahrungen gemacht.» Einstweilen läuft der Vorverkauf für das «Festival La Perla» nach Plan, in den letzten Monaten sogar etwas besser als erwartet. 55 Prozent Auslastung ist die Schallmauer, die sich Egloff gesetzt hat, um in zwei Jahren an ein weiteres Opernfestival am Pfäffikersee zu denken. Was gespielt werden könnte, steht noch in den Sternen, aber auch ohne Verdi-Jahr dürfte es tendenziell eine italienische Oper sein: «Unser Ziel ist, alle zwei Jahre zu spielen. Im Moment haben wir die Bewilligung für dieses Jahr, aber wir werden alles daran setzen, eine neue Produktion in zwei Jahren wieder realisieren zu können. Es steckt viel Herzblut in diesem Projekt.»n Bregenz: Die «Zauberflöte» auf dem See Reinmar Wagner David Pountney, Regisseur und Intendant in Bregenz, wagt sich mit Mozarts «Zauberflöte» nach 17 Jahren wieder auf die Seebühne. Und versucht, mit der Wiederentdeckung des Komponisten André Tchaikowsky die WeinbergErfolgsgeschichte zu wiederholen. M&T: David Pountney, 1996 haben Sie mit «Fidelio» zum letzten Mal auf der Bregenzer Seebühne inszeniert. Jetzt machen Sie die «Zauberflöte», und damit ein einerseits einfaches, weil extrem populäres, von der Thematik her aber auch schwieriges Stück. Was sind Ihre Ideen? David Pountney: Dem Licht entgegen. Wir haben als Logo einen Mann und eine Frau gewählt, die der Sonne entgegenschreiten. Es gibt natürlich viele Debatten über die Bedeutung dieses Stücks. Für mich war die «Zauberflöte» immer verbunden mit einer Aufklärungsidee. Ich verstehe diese Oper als die Reise eines Paars in die Zukunft, als Ausarbeitung eines humanistischen Prinzips, das zum Ziel hat, innerhalb des Stücks das ideale Paar für diese Reise zu finden. Wenn man das so sieht, dann lösen sich eigentlich alle Widersprüche und Probleme von selbst. Denn am Ende sind die beiden Machtfiguren nicht mehr relevant, also sowohl die Königin der Nacht wie Sarastro haben ihre Aufgaben erfüllt und können abtreten. Die neue Welt findet ohne sie statt. M&T: Beide wären demnach Verlierer? David Pountney: Wir haben zwei dynastische Mächte, die versuchen die Zukunft zu kontrollieren. Die Königin erscheint als hysterische Frau, Sarastro als schön sprechende Weisheit. Glaubt man jedem, der schön spricht? Das haben wir aus politisch-gesellschaftlicher Erfahrung oft mit Nein beantworten können. Sobald man denkt, dass Sarastro nicht einfach nur gut ist, lösen sich die Widersprüche. Und dann ist auch das Problem des Rassismus weg, weil Monostatos dann zu verstehen ist als die schlechte Bild: Anja Köhler / Bregenzer Festspiele 20 David Pountney: «Eine gute Oper muss nicht immer hundert Prozent logisch sein.» Seite von Sarastro selbst und nicht einfach als ein böser schwarzer Wilder. So gesehen ist das Stück eigentlich logisch genug. Und abgesehen davon muss eine gute Oper auch nicht immer hundert Prozent logisch sein. M&T: Mit Papageno haben wir auch eine sehr lustige Figur. David Pountney: Es gibt in der «Zauberflöte» neben diesen ernsten Figuren einen ganzen Haufen anderer Geschichten, die voll Fantasie und Witz und Leichtigkeit sind. Gerade auf der Seebühne ist es meine Aufgabe als Intendant wie als Regisseur, die Balance zwischen Unterhaltung und Ernsthaftigkeit zu wahren. M&T: Im Festspielhaus präsentieren Sie die Uraufführung des «Kaufmann von Venedig» einer Shakespeare-Oper von André Tchaikowsky. Wie kamen Sie darauf? David Pountney: Wenn man offen bleibt, dann kommen die Sachen von selbst zu einem. Und so wie die Weinberg-Geschichte mit der Wiederentdeckung der «Passagierin» auf mich zu gekommen ist, so ging es auch mit André Tchaikows- ky. Wir wollten in diesem Jahr eigentlich unser drittes Auftragswerk nach «Achterbahn» von Judith Weir und «Solaris» von Detlef Glanert zur Uraufführung bringen. Aber der Komponist HK Gruber braucht etwas mehr Zeit, so dass wir sein Stück auf 2014 verschoben haben. Kurz nacheinander haben mich zwei verschiedene Menschen auf André Tchaikowsky angesprochen, der als Pianist eine gewisse Berühmtheit erlangte, von dem eben diese Oper noch immer auf eine Uraufführung wartet. Ironischerweise bin ich Tchaikowsky in London in meinen ersten Monaten bei der English National Opera begegnet. Unser Intendant hatte ihn eingeladen, sein Stück vorzustellen. Diese erstaunliche Figur hat vor uns seine Oper gespielt mit unglaublicher Virtuosität auf dem Klavier und grosser Leidenschaft. Unser Intendant aber wollte die Oper nicht aufs Programm setzen, und ehrlich gesagt, ich hatte das total vergessen. M&T: Er hat eine sehr bewegte Lebensgeschichte. David Pountney: Er wurde 1935 als Ro-