Luise Rist Rosenwinkel. Über eine Straße, die in die Vergangenheit

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Luise Rist
Rosenwinkel. Über eine Straße, die in die Vergangenheit führt
Ein Theaterstück über Roma und Gadje
Uraufführung am 8. Juli 2012 in Göttingen
In der Videoperformance „My World“ der gebürtigen Roma Lita Cabellut inszeniert sich die
Künstlerin selbst als grotesk anmutender Engel auf einer Spieluhr. Die knöchernen Flügel
scheinen mit der Miniatur-Frau verwachsen zu sein, deren Körper sich von einer SoundKulisse begleitet dreht, die Assoziationen an Horrorfilme hervorruft. Cabellut hat der Puppe
ihre eigenen Züge verliehen. Die kleine Doppelgängerin bekommt im Verlauf der Sequenz
einen Kelch in die Hände, den sie hoch über den Kopf hebt und über sich ausgießt. Die
Flüssigkeit leuchtet in einem künstlichen Grün – wie Blut in einem indizierten
Computerspiel.
Die winzige Frau scheint sich selbst zu taufen, mit einem Strom aus grellem Weihwasser,
das sie erfüllt und ermächtigt. Denn im Folgenden beginnt sie, Auge in Auge mit ihrer
Schöpferin, sich aus dem Korsett des Karussells heraus zu bewegen. Die Berührung mit
der Flüssigkeit hat etwas Unheimliches und zugleich Befreiendes. Ist es ihre Geschichte,
sind es Erinnerungen, die ihr zu einer neuen selbstbewussten Identität verhelfen?
Während meiner Recherche für das Theaterstück ROSENWINKEL habe ich, gemeinsam
mit der Regisseurin Nina de la Chevallerie, viele Bilder und Performances von Künstlern
angesehen, die sich mit ihrer Herkunft als Roma beschäftigen. Die Auseinandersetzung
mit Identität, die nicht an eine Nation, sondern an eine Ethnie gebunden ist, deren
Geschichte seit mehr als sechshundert Jahren mündlich tradiert wird, führt mich beim
Schreiben in ein scheinbar unbekanntes Land. Wer sind Roma? Wie sind sie „die
anderen“ geworden? Wir tauchen ein in den Sog einer Geschichte, die von weither kommt
und deren Anfänge bis nach Indien reichen. Mit unserem Freien Theater boat people
projekt entwickeln wir seit 2009 Theaterstücke, in denen die Erinnerungen von Menschen,
die ihre Heimat verloren haben, uns zu Geschichten inspirieren. Rituale, Andenken, ein
Kleidungsstück, ein Geruch, eine Musik oder der Klang der Muttersprache generiert
Erinnerungen. Wir arbeiten mit professionellen Bühnenkünstlern sowie mit Flüchtlingen,
die ganz verschiedenen Kulturkreisen entstammen. Jedes Projekt bedeutet, sich auch der
eigenen Biografie zu nähern: was habe ich persönlich mit dem Thema zu tun? Wo treffen
sich Erfahrungen und Gefühle?
Auf Lita Cabellut bin ich gestoßen, weil mich besonders ihre weiblichen Figuren auf
Gemälden angezogen haben, die alles auf einmal zu sein scheinen: Kind, Frau und
Großmutter. Die Vergangenheit zeichnet das Kind, in dessen Gesicht ich das Alter
erahnen kann, so wie ich in der Alten das Mädchen entdecke. Ein Gesicht sieht mich an
und mit ihm seine Geschichte. Ich entdecke Spuren von Verfolgung. Was sehe ich in dich
hinein? Was sehe ich von dir? Wer erfindet wen?
Ich sehe mir Bilder von anderen Künstlerinnen an, die gebürtige Roma sind und ihre
Identität zum Thema ihrer Kunst gemacht haben. Es gibt zwar Schauspieler, die Roma
sind, aber keine zeitgenössischen Theaterstücke, die sich mit der Geschichte dieses
Volkes beschäftigen. Die Theatergeschichte kennt eher Klischees, Carmen mit roten
Röcken und folkloristische Musik.
Ich passe auf
Wenn jemand durch mich hindurch
Und auf mich herab sieht
Er sieht das Bild
Das er sich von mir gemacht hat
Auf meine Stirn schreibt er:
„Zigeuner“
Wir sind Roma
Rom heißt Mensch
Unsere Sprache ist indogermanisch
Und kommt aus dem Sanskrit
Beim Schreiben sehe ich die stolzen und von ihrer Geschichte geprägten Gesichter auf
großer Leinwand von Lita Cabellut. In der Realität treffen wir Kinder, die nicht in die Schule
gehen wollen, weil sie nicht wissen, ob sie in Deutschland bleiben dürfen, und Väter, die
starre Rituale durchführen und womöglich vergessen haben, was sie bedeuten. Daneben
verschämte Mütter. Beim Näherkommen entdecken wir dann doch Stolz und ein Wissen,
das sie nicht mit uns teilen. Sie waschen Teppiche und bieten uns Gastfreundschaft an. In
ihren Gesichtern steckt mehr als sie sagen können. Theater spielen wollen oder dürfen
die Frauen nicht, doch eine ihrer Töchter gesellt sich zu uns und bleibt bei den Proben
dabei. Mit ihr zwei Männer, die getrieben sind von dem Wunsch, sich an ihr Volk zu
erinnern und sich ihrer Zugehörigkeit zu vergewissern. Während der Probenzeit reisen sie
auf den Spuren ihrer Vorfahren in die Ukraine und nach Polen.
All dies fließt in das Stück ein. Wir gießen uns die fremden Erinnerungen über, versuchen
uns zu identifizieren, verstehen mal gut, mal gar nicht und gehen über Widerstände.
Manchmal drehen wir uns im Kreis, dann wieder passiert ein Aufbruch beim Schreiben und
beim Inszenieren des Geschriebenen; ab und zu erreicht uns ein Blick, ein Satz, eine
Geste – etwas blitzt auf.
Vorsichtig gesagt: etwas Pures. Pur nicht im Sinne von heil. Pur: ohne Umschweife, tief,
und insofern rein, als sich jemand ganz zeigt. Er gibt auch das Dunkle preis, aber der
Duktus des Zeigens ist ein unschuldiger. Man kann ahnen, was es heißt, wenn Levinas
schreibt, dass im „Antlitz“ das unsichtbare Innerste zum Ausdruck kommt. Wir erkennen
etwas voneinander und schenken uns Vertrauen.
Im Theaterbetrieb – zumal im deutschen Regietheater – kommt schnell die Sorge auf,
dass etwas zu heil oder gar heilig dargestellt werden könnte. Die Sorge ist berechtigt,
wenn das Heile hohl ist, wenn Abziehbilder der Wirklichkeit inszeniert werden,
eindimensional. Aus der Angst vor Kitsch bleibt man allerdings häufig auf der Strecke und
traut sich nicht, das Existenzielle mit zu erzählen.
Saj te duranav e moinusen!
Ich kann zaubern! in der Sprache Romanes
Meines Erachtens darf man im Theater brüskieren, wenn man eine Haltung hat,
blasphemisch sein, wenn man den inneren Antrieb dazu verspürt. Was boat people projekt
aber vielleicht ein bisschen abhebt von manchen Theaterschaffenden ist unsere
überzeugte Ablehnung einer lässigen Attitüde im Umgang mit religiösen Gefühlen und
Symbolen. Navid Kermani schreibt am 1. Juli 2012 in der Süddeutschen Zeitung in Bezug
auf die von Martin Mosebach aufgeworfene Debatte um Blasphemie von einer „frappanten
Verständnislosigkeit für alles, was sich aus anderen als diesseitigen Beweggründen
herleitet“, von einer „religiösen Unmusikalität, die in der Regel mit einer Unkenntnis der je
eigenen Tradition einhergeht“.
Während des künstlerischen Prozesses stellen wir uns auf die „religiöse Musikalität“ der
Menschen ein, mit denen wir in Kontakt kommen und für die Spiritualität oftmals eine
große Rolle spielt. Wir haben keine Berührungsängste. Und wir lassen uns gerne
verzaubern.
In der Zeit der gemeinsamen Arbeit ereignen sich berufliche und private Dinge,
Lebensumstände ändern sich, jemand zieht um, ein Angehöriger heiratet, bekommt ein
Kind, jemand stirbt. Als ich noch als Dramaturgin an Stadttheatern gearbeitet habe, war
kein Raum für Lebensumstände außerhalb des Kosmos Theater, eine Geburt oder eine
Beerdigung figurieren hier als Störfälle.
Heute ist meine Arbeit geprägt von vielen neuen Lebensumständen, mit denen uns unsere
Ensemblemitglieder konfrontieren. Während des Schreibens kommt mir Familiäres ins
Gedächtnis. Manchmal rufe ich schnell meine Mutter an, um mich zu vergewissern, dass
sie noch da ist. Nichts ist selbstverständlich.
Indem ich den Spielern Texte auf den Leib schreibe, die etwas mit ihnen und ihrer
Vergangenheit zu tun haben, gerät etwas in Bewegung. Wer ist derjenige, der vor mir
steht, was habe ich mit ihm zu tun?
MUTTER
Mach die Schminke ab!
MÄDCHEN
Das ist keine Schminke!
MUTTER
Dann nimm die Maske ab!
MÄDCHEN
Das ist keine Maske. Das ist mein Gesicht.
Unsere Stücke handeln vom Aufbruch aus Afrika ins vermeintliche Paradies Europa, von
Flüchtlingen aus Afghanistan oder Syrien, und aktuell sind es Roma, denen wir uns
annähern. Sie sind 1999 aus dem Kosovo geflohen und in Göttingen, in einer Straße am
Stadtrand mit dem schönen Namen Rosenwinkel untergekommen. Übergangsweise Die jüngste Spielerin, Anita Osmani, die in Deutschland aufgewachsen ist, lasse ich in
einer Szene sagen, dass sie von ihrer Vergangenheit nichts wissen will, da sie ja, als ihre
Eltern fliehen mussten, noch nicht geboren war.
MÄDCHEN
Die Straße ist frei.
BUSFAHRER
Das denkst du nur. Wenn du genau hinsiehst, kannst du sie sehen.
MÄDCHEN
Wen?
BUSFAHRER
Auf dieser Straße sind Viele gestorben.
MÄDCHEN
Ich war hier noch nie.
BUSFAHRER
Ich weiß. Aber wir müssen trotzdem hier lang.
Das Mädchen ist in einen Bus gestiegen und an einer Haltestelle ausgestiegen, die
es gar nicht gibt. Hier kommt es zur Überschneidung zwischen den Zeiten und den
Welten.
Die Kleine kann die Toten des Krieges nicht gesehen haben. Aber es gibt etwas in
ihr, das trotzdem mit diesem Wissen über die Toten in Kontakt ist. Der Busfahrer ist
ein Fährmann, der sie sicher auf die andere Straßenseite gebracht hat. Durch ihn
gelangt sie in den Kosovo, der auf einmal mitten in Göttingen liegt. Wer weiß schon
so genau, was 1999 geschah? Die Kleine möchte von der Geschichte nichts wissen,
muss aber durch die Vergangenheit gehen, um in der Gegenwart anzukommen.
Geschichte und Gegenwart überlagern sich. Uns interessieren die Spuren des
Gelebten, die sich bis in die Generation der Kinder und Enkel und darüber hinaus
fortschreiben. Theater als Ort, an dem sich Bruchstücke sammeln und zusammen
setzen.
Im Theaterstück ROSENWINKEL fragt sich die deutsche Frau, warum sie das alles nicht
gewusst hat, warum sie nicht ahnte, welche Biografien sich in der Straße am Stadtrand
verbergen. Ihre Erinnerungen beginnen sich mit den Bildern der Roma-Familie, mit denen sie
im Bus sitzt, zu vermischen. Sie, die Deutsche – in der Sprache der Roma eine „Gadje“ –
versteht, warum sie den ersten Schritt machen muss.
Ich bin wie du. Für einen Moment bin ich wie Ihr. Roma. Meine Oma sammelt Kräuter und liest
aus der Hand. Der Busfahrer hält an. Der Krieg auf dem Balkan ist erst dreizehn Jahre her.
Zerbombte Häuser. Und ich? Ende der neunziger Jahre habe ich in Berlin Techno getanzt.
Der Busfahrer hält an. Am Waldrand lagern Menschen im Gras, ein Feuer brennt. Das Schaf
hatte hoffentlich ein gutes Leben.
Um die zehntausend Roma sollen in diesem Jahr in ihre Heimat abgeschoben werden. Die
„Rückführungen“ haben längst begonnen. Was ist die Heimat der Roma? Im Kosovo sind
ihre Häuser oder Mahalas zerstört, rückkehrende Roma werden dramatisch ausgegrenzt.
Wir versuchen, Berührungen zwischen den Kulturen selbst zu erfahren und den Zuschauern
weiter zu geben. Nach mehr als sechshundert Jahren hat das Volk der Roma Sehnsucht
danach, anzukommen. Gemeinsam mit ihnen hoffen wir auf ein Ende der Ausgrenzung und ein
Aufeinanderzugehen über die Bewegung des Erinnerns.
Was wollt Ihr denn?
Wir haben keine Angst
Ihr habt Angst
Vor dem, was Ihr nicht seid
Vor dem, was wir für Euch sein sollen
Wir lassen uns nicht
Erfinden
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