Patientin Menschenwürde - Würzburger Philosophicum

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Symposum „Menschenwürde“ – Würzburger Philosophicum für Mediziner
5. und 12. Dezember 2012, HS Zentrum Operative Medizin, Universitätsklinikum Würzburg
PD Dr. med. T. Bohrer, M.A.; Prof. Dr. med. M. Schmidt; Prof. Dr. phil. J. Königshausen
Patientin Menschenwürde
Anamnese, Diagnose und Therapie eines normativ überforderten Begriffs
Dr. Heike Baranzke, PTH Vallendar
Völlig ausgebrannt steht sie da. Ein Schatten ihrer selbst. Zwischen die Fronten geraten,
zwischen Politischer Philosophie und Medizinethik hat sich die Menschenwürde für die
Patienten, die „moral patients“ verausgabt, ohne auf sich selbst, die Akteurin, acht zu geben.
Höchste Zeit innezuhalten, bevor es zu spät ist!
Ich werde im Folgenden zunächst die Symptomatik der Krise der Menschenwürde darstellen,
um dann nach klassischer ärztlicher Methode eine Anamnese zu erheben, die Diagnose zu
stellen und einen Therapievorschlag zu machen. Am Ende will ich dann kurz andeuten,
warum die zunächst weitläufig anmutende Analyse auch für den medizinischen Alltag
relevant ist.
1. Symptomatik
Fast zwei Jahrtausende fristete die Menschenwürde ein eher beschauliches Dasein im
Hintergrund der Moralphilosophie. Im 19. Jahrhundert näherte sie sich zaghaft den sozialen
Belangen der Arbeiterschicht, seit Immanuel Kant sie im ausgehenden 18. Jh. vorsichtig in
die Nähe eines neuen Sterns am politischen Ideenhimmel, nämlich der vom Staat seinen
Bürgern zu garantierenden unverletzlichen Menschenrechte, gerückt hatte. Aber erst nach der
Erfahrung unvorstellbarer Gräueltaten von Menschen an Menschen im Zweiten Weltkrieg
beschworen die Völker der Erde die Menschenwürde als rettendes Fundament, als letzte
Hoffnung auf einen Neubeginn mit menschlichem Antlitz. Seit der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen im Jahr 1948 wird die angeborene, d.h.
einem Menschen von Niemandem zu bestreitende Menschenwürde als universales Fundament
und Begründung der Menschenrechte bekannt, deren Anerkennung „die Grundlage der
Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ (AEMR Präambel).
Als dieser von einem jeden Staat anzuerkennende Grund der Menschen- und Grundrechte
bestimmt sie seit 1949 die Architektur von Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche Volk bekennt sich darum zu
unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen
Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die nachfolgenden
Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar
geltendes Recht.“ (Art. 1 GG)
Diesem von der Völkergemeinschaft Mitte des 20. Jahrhunderts initiierten Pfad eines
Menschen- und Grundrechte begründenden universalen und vorpositiven Prinzip sind seither
viele nationale Verfassung und internationale Vereinbarungen gefolgt (vgl. Tiedemann,
Rensmann). So wurde die Menschenwürde, keineswegs ein deutscher Sonderweg, zu einer
politisch-völkerrechtlichen Idee und einem verfassungsrechtlichen Prinzip, das seither – sei es
als
geschriebener
oder
ungeschriebener
Verfassungsgrundsatz
–
den
obersten
menschenrechtlichen Maßstab für nationale Rechtsordnungen bildet, die diesen Namen
verdienen.
Die Verbindung zu den Menschenrechten ist seither so eng, dass so manchem
Gegenwartsphilosophen die eigenständige Bedeutung der Menschenwürde, nämlich
Begründung der Menschen- bzw. Grundrechte zu sein, gar nicht mehr einleuchtet.
Folgerichtig wird der Menschenwürdebegriff in der politisch-philosophischen Debatte als
entbehrliche Doppelung zum Menschenrechtsbegriff empfunden. Die Rede ist von einer
„Leerformel“ (N. Hoerster), freundlicher von einem „Ensemble“-Begriff (E. Hilgendorf), der
die Menschenrechte lediglich zusammenfasse, aber keinen semantischen Mehrwert aufweise.
Der rechtsphilosophischen Erhellung, worin der Begründungscharakter der Menschenwürde
bestehe, stand in der Bundesrepublik Deutschland der berühmte Satz des ersten
Bundespräsidenten Theodor Heuss entgegen, die Menschenwürde sei „eine nicht interpretierte
These“. Grund für diese Äußerung war die Pflicht des Staates zu weltanschaulicher
Neutralität. Der Begründungscharakter der Menschenwürde für die Menschenrechte wird
zudem durch die verfassungsrechtliche Entwicklung verdunkelt, nach der die Menschenwürde
nun nicht mehr nur als ein objektives Verfassungsprinzip, sondern immer stärker auch selbst
als ein subjektives Grundrecht interpretiert wird. In dieser Funktion unterscheidet die
Menschenwürde sich von den anderen Grundrechten nicht mehr und kann so im Konfliktfall
mit den anderen Verfassungsgütern, z.B. mit dem Grundrecht auf Forschungsfreiheit
abgewogen werden (M. Herdegen). Seither wird die einstige Herrin der Rechtstaatlichkeit und
2
Garantin der Grundrechte „als kleine Münze“ (Dreier) in den Dienst aller möglichen
individuellen Ansprüche gestellt.
Auf dem Höhepunkt ihrer menschen- und grundrechtlichen Verankerung geriet die
Menschenwürde
zudem
Auseinandersetzungen.
zwischen
Neue
die
Fronten
medizinisch-technologische
medizin-
und
bioethischer
Entwicklungen
führten
zu
neuartigen Entscheidungssituationen insbesondere an den Grenzen und in Grenzsituationen
menschlichen Lebens: Die Entwicklung der Herz-Lungen-Maschine verschob das
Todeskriterium vom Herz- zum Hirntod und erlaubte die Entnahme lebensfrischer Organe zu
Transplantationszwecken, die Erfolge der Rettungs- und Intensivmedizin brachte nicht nur
neuartige irreversible Krankheitsbilder wie Wachkoma, Locked-in-Syndrom u.ä.m. hervor,
sondern führte auch zu einer erheblichen Verlängerung der Lebensspanne schwerkranker
Menschen mit der Folge oft belastender Symptome, die Reproduktionsmedizin produzierte
neuartige Formen menschlichen Lebens wie Embryonen in vitro etc. Im Bemühen um die
immer noch anhaltende lebensweltliche Einordnung sowie um die normativ ethische und
rechtliche Klärung im Umgang mit diesen neuen Situationen und Daseinsformen des
Menschen stehen Begriffe wie Menschenwürde oder Person im Zentrum der oft erbittert
geführten Diskussionen. Die Tatsache, dass sich in den Debatten über Euthanasie, assistiertem
Suizid, PID oder embryonaler Stammzellforschung sowohl Befürworter als auch Kritiker auf
die Menschenwürde berufen, bringt der Menschenwürde erneut den Vorwurf semantischer
Leere und fehlender normativer Leistungsfähigkeit ein. Außerdem ist umstritten, ob
Embryonen
in
vitro,
irreversibel
Komatöse
oder
Hirntote
noch
staatlichen
Menschenwürdeschutz genießen oder nicht.
Insbesondere diese letzte Frage stellt nun Grundbestimmungen des Menschenwürdebegriffs
radikal in Frage, nämlich ihre Universalität und Egalität. Damit ist die für die
Menschenrechtsphilosophie grundlegende Überzeugung betroffen, dass allen Menschen
gleichermaßen Menschenwürde zukommt, die an keine weitere Voraussetzung als das Faktum
ihres Menschseins gebunden ist. Diese Voraussetzung wird wiederum von Seiten der
Tierrechtsbewegung als „Speziesismus“ angegriffen, d.h. als unberechtigte Vorteilsnahme des
Menschen gegenüber „anderen Tieren“ – denn warum sollte ein empfindungsfähiges Schwein
oder ein aufgeweckter Menschenaffe wissenschaftlichen Experimenten zugeführt werden,
menschliche Embryonen oder Komapatienten aber nicht? Diese die Menschenwürde in ihren
Grundfesten
erschütternde
bioethische
Anfrage
Menschenrechtsphilosophen
entweder
einen
führt
dazu,
ureigenen
dass
immer
mehr
„menschenrechtlichen
Menschenwürdebegriff“ für sich veranschlagen und damit die Menschenwürdediskussion
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spalten oder aber in Übereinstimmung mit naturwissenschaftlich-empirisch ausgerichteten
Bioethikern den Menschenwürdebegriff wegen mangelnder analytischer und normativer
Leistungsfähigkeit ganz aufgeben wollen. Angesichts dieser Situation ist zu fragen: Ist die
Menschenwürde noch zu retten? Ist ihre Einheit noch zu retten? Wozu brauchen wir sie
überhaupt?
2. Anamnese
Um diese Fragen zu beantworten, muss nach der Schilderung der Symptome zunächst die
Familiengeschichte der Patientin Menschenwürde soweit erhoben werden, damit die
Diagnose, woran die Menschenwürdediskussion eigentlich krankt, gestellt werden kann.
Das Abendland ging mit der Idee universaler und egalitärer Menschenwürde seit dem
Zeitalter des Hellenismus schwanger. Als die griechischen Stadtstaaten zerbrachen und ihren
Bürgern keine verlässliche Identität mehr boten, antwortete der kynische Philosoph in der
Tonne, Diogenes von Sinope, auf die Frage Alexanders des Großen, in welcher Stadt er
beheimatet sei, er sei Bürger der Kosmos, also Kosmopolit. Diese Tatsache teilte er nun
tatsächlich in gleicher Weise mit allen Menschen. Auch die hellenistische Philosophie der
Stoa bezog sich in ihrer Ethik grundlegend auf den Kosmos und begründete das
abendländische antike Naturrechtsdenken (ius naturale), das später zur Grundlage des
römischen Völkerrechts (ius gentium) wurde. Von Natur aus mit einer Vernunftseele begabt
und dadurch in ihrer Stellung im Kosmos von Tieren und Pflanzen prinzipiell unterschieden
waren alle Menschen dazu verpflichtet, ihrer Vernunftnatur gemäß zu leben. Diese Gedanken
der kosmologisch begründeten Verpflichtung des Menschen gegenüber seiner eigenen
Vernunftnatur griff der römische Politiker und Philosoph Cicero in seiner Pflichtenlehre auf
und verband ihn mit dem altrömischen Begriff der gesellschaftspolitischen dignitas
differierender Amts- und Adelswürde zum nun an alle Menschen gleichermaßen ergehenden
tugendethischen Anspruch der dignitas humanae. Damit war die abendländische Idee der
universalen und egalitären Menschenwürde auf ihren Begriff gebracht. Pikanterweise führte
die stoisch-ciceronische Idee der Menschenwürde nur zur Vorstellung der inneren
tugendethischen Vernunftfreiheit gegenüber der lauernden Versklavung durch die eigenen
Affekte und Leidenschaften, nicht aber zu dem politisch-rechtlichen Anspruch äußerer
Freiheit und der Infragestellung der Sklaverei als gesellschaftlicher Institution. Cicero sah
sich durch die Formulierung kosmologisch basierter universaler Menschenwürde als
Sklavenhalter gar nicht angefragt. Dieser politisch-rechtliche Gedanke brach sich erst im
Verlauf der Neuzeit Bahn.
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Die Vermittlung zwischen der Idee der Menschenwürde als Selbstverpflichtung und einem
daraus resultierenden Menschenrecht auf äußere Handlungsfreiheit stellte erst der
Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant im ausgehenden 18. Jahrhundert her. In Anbetracht
eines naturwissenschaftlich wertentleerten Naturbegriffs, der das Naturrechtsdenken
nachhaltig schwächte, musste die alte Idee universaler Menschenwürde auf eine andere Basis
gestellt werden. Nicht mehr die Stellung des Menschen im Kosmos vermochte die
Verpflichtung des Menschen auf seine Vernunftnatur zu definieren, sondern Autonomie als
moralische Möglichkeit zur vernünftigen Bestimmung seines Willens. Autonomie im Sinne
der prinzipiellen Möglichkeit zu vernünftiger Selbstgesetzgebung ist nun „der Grund der
Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“. Wichtig für unseren weiteren
Gedankengang ist nun, dass Kant im Begriff der Menschenwürde den Gedanken der
Selbstverpflichtung des Akteurs festhält und von dort her die Brücke zu vorpositiven
Rechtsansprüchen schlägt. Der Grundgedanke ist dabei, dass nur auf Wesen, die
verpflichtungsfähig sind und sich der Möglichkeit ihrer willentlichen Selbstbestimmung
jenseits von naturgesetzlicher Determination durch hormongesteuerte Triebe und Affekte
bewusst werden können, auch der Begriff eines Rechtsanspruchs sinnvoll anzuwenden ist.
Anders gesagt: Begriffe wie Pflicht, Recht oder Freiheit sind naturwissenschaftlich nicht zu
definieren. Sie gehören einer anderen, unsichtbaren Bedeutungssphäre an, nämlich der der
Selbsterfahrung eines zurechnungsfähigen, frei handelnden Akteurs.
Die Anamnese dieser Vorgeschichte ermöglicht uns nun, die Diagnose für die Ursache der
Krise des Menschenwürdebegriffs zu stellen und Therapiemöglichkeiten vorzuschlagen.
Dabei sollen auch Konsequenzen für den medizinisch-pflegerischen Alltag angedeutet
werden.
3. Diagnose
Auffällig ist, dass die aktuell geführten Menschenwürde-Debatten nicht auf ihren
ursprünglichen Selbstverpflichtungskern rekurrieren. Sowohl die menschen-rechtlichen als
auch die biomedizinethischen Menschenwürdediskussionen operieren allein mit dem Begriff
bedürfnis- oder interessenbasierter Rechtsansprüche anderer Menschen, der sog. „moral
patients“. Dadurch bleibt in der Menschenrechtsphilosophie unklar, worin sich der
Menschenwürdebegriff von dem Begriff der Menschenrechte unterscheidet und auf welche
Weise
Menschenwürde
Menschenrechtsansprüche
begründen
kann.
Da
in
der
biomedizinethischen Diskussion zudem die lebensweltliche Selbstverständlichkeit darüber,
wer ein Mensch mit Grundrechtsansprüchen, also ein Menschenwürdeträger ist, unklar
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geworden ist, dominiert hier die Suche nach empirischen Leistungskriterien, die ein Mensch
zu erfüllen hat, um sich als Menschenwürdeträger auszuweisen. Die Liste der Vorschläge
dieses empirischen Eigenschafts- oder Fähigkeitenprofils reicht von der messbaren Fähigkeit,
(zukunftsbezogene) Interessen zu haben bis zur Empfindungsfähigkeit. Das bloße Menschsein
wird als speziesistisches Vorurteil tierrechtlich desavouiert und der eigene Standpunkt im
lebensweltlichen Horizont menschlicher Selbsterfahrung, von dem aus das Gegenüber
beurteilt wird, wird zugunsten einer ortlosen szientistischen Scheinobjektivität ausgeblendet.
Somit lautet die Diagnose: Der Menschenwürdebegriff leidet an substantieller Auszehrung
seines ursprünglichen Bedeutungskerns, nämlich der naturwissenschaftlich nicht abbildbaren
akteurbezogenen Selbsterfahrung der Selbstverpflichtungsfähigkeit.
4. Therapie
Damit ist die Therapiemöglichkeit angedeutet. Sie besteht in der Besinnung auf die
Ursprungsbedeutung der Menschenwürdeidee als Name für den Beginn des menschheitlichen
Bewusstwerdens der Freiheit gegenüber einer naturalen Triebsteuerung, die eine
Verantwortungsübernahme für die vernünftige und intersubjektiv vermittelte Gestaltung des
eigenen Lebens wie eines gleichberechtigten mitmenschlichen Zusammenlebens erst eröffnet.
Durch die Rückgewinnung der menschlichen Akteurperspektive kennzeichnet der
Menschenwürdebegriff den unhintergehbaren Startpunkt einer Ethik des gelingenden Lebens,
den „moralischen Standpunkt“ eines moralischen Akteurs, von dem aus im gleichberechtigten
respektvollen Miteinander allerdings weitergehende moralische und rechtliche Normen erst
entwickelt
werden
müssen.
Handlungsregeln
können
aber
auch
erst
aus
der
Akteursperspektive verpflichtungsfähiger Verantwortungssubjekte entwickelt werden, die
sich selbst im Bewusstsein der Menschenwürde als verpflichtungsfähige Subjekte mit dieser
Aufgabe betraut sehen. Aus diesem Blickwinkel wird verständlich, dass die Menschenwürde
kein Reservoir fertiger Rechtsnormen darstellt, sondern den Horizont moralischer
menschlicher Selbstauslegung markiert, vor dem ein menschlicher Akteur sich selbst in die
Pflicht nimmt, die Idee der Menschheit in seiner und einer jeden andern Person nach bestem
Wissen und Gewissen zu ehren.
4. Medizin- und pflegeethischer Ausblick auf die mögliche
Leistungsfähigkeit der Menschenwürde nach ihrer Genesung
Worin
liegt
der
Mehrwert
dieses
Therapievorschlags?
Abgesehen
1.
von
der
begründungstheoretischen Klärung im Verhältnis zur Menschenrechtsidee, 2. der Erhaltung
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der universalen und egalitären Dimension der Menschenwürdeidee um der universalen,
egalitären und kategorischen Geltung der Menschenrechte willen (Jörn Müller) und 3. der
Bewahrung eines einheitlichen Menschenwürdebegriffs im politisch-philosophischen und
biomedizinethischen Bereich (dazu kritisch C. Horn) möchte ich zuletzt auf einen spezifisch
anwendungsethischen Aspekt hinweisen. Menschenwürde als Name für das Bewusstsein der
eigenen Selbstverpflichtungsfähigkeit ist ein Adelstitel, der verpflichtet. Er verpflichtet auch
dort, wo kein Gesetzgeber und kein Vorgesetzter mehr kontrollieren kann, nämlich zu einem
Denken, Sprechen und Handeln, das meiner eigenen Würde wie auch der Würde eines jeden
anderen Menschen gerecht wird. Das ist mehr als ein in bester Absicht formuliertes Gesetz
erzwingen kann. Diese den Buchstaben des geltenden Rechts erst inspirierende
haltungsethische Dimension und die Bereitschaft, sich einem jeden Menschen, unabhängig
von
dessen
aktuellem
Fähigkeitenprofil
im
miteinander
geteilten
Horizont
der
Menschenwürde zu öffnen, ist insbesondere in solchen Praxisbereichen höchst relevant, die
vom Umgang mit einem schwachen, verletzlichen, wehrlosen Gegenüber bestimmt sind. Dazu
gehören die sozialen, medizinischen und pflegerischen Berufe in einem besonderen Ausmaß.
Der radikal verrechtlichte Menschenwürdebegriff der Moderne hat diese Dimension einer
Kultur der Selbstverpflichtung, Gewissensbildung und Haltungsethik abgeschnitten und ist
bei der Frage gelandet, wer sich denn als Träger von Menschenwürde mit Rechtsanspruch
ausweisen könne. Diese Frage aber ist das Symptom einer letztlich letalen Auszehrung der
Menschenwürdeidee. Menschenwürde als Idee des Humanum der Ärztin und des Pflegers
muss sich daher auf jene historischen Wurzeln der Menschenwürdeidee zurückbesinnen, in
denen ihr Bedeutungskern als moralisches Selbstbewusstsein eines verpflichtungs- und
verantwortungsfähigen Akteurs grundgelegt sind, von dem aus die interpersonalen
normativen Konsequenzen in Moral und Recht erst verantwortlich entwickelt werden können.
Ausführlicher und mit Literaturangaben:
Heike Baranzke: Die Würde des Akteurs: In: Heike Baranzke, Gunnar Duttge (Hg.):
Menschenwürde und Autonomie als Leitprinzipien in Bioethik und Medizinrecht.
Königshausen & Neumann. Würzburg 2013 (i.E.).
Heike Baranzke: Menschenwürde in der Pflegebeziehung. Sondierungen auf der Grenze
zwischen Ausschluss und Vereinnahmung. In: Jan C. Joerden, Eric Hilgendorf, Natalia
Petrillo, Felix Thiele (Hg.): Menschenwürde in der Medizin. Quo vadis? Nomos. BadenBaden 2012, 95–113.
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