Ist die Ethik Kants ontologisch unschuldig? 107 BERICHTE UND DISKUSSIONEN Ist die Ethik Kants ontologisch unschuldig? von Dirk Greimann, Santa Maria Der Gebrauch von Theorien ist gewöhnlich mit ontologischen Verpflichtungen verbunden, die sich daraus ergeben, dass die Wahrheit der Aussagen einer Theorie die Existenz der Gegenstände voraussetzt, auf die sich die Aussagen beziehen. Am deutlichsten ist dies vielleicht im Fall der Mathematik. Macht man sich ihre Dienste zunutze, etwa zu Zwecken des Aufbaus der Physik, dann hat man eine ontologische Rechnung zu begleichen: Man ist aus Gründen der Kohärenz verpflichtet, die Existenz derjenigen Entitäten und Strukturen anzuerkennen, die von der Wahrheit der mathematischen Sätze vorausgesetzt wird. Unter einer „ontologisch unschuldigen“ Theorie verstehe ich wie üblich eine solche, deren Gebrauch bzw. deren Aufbau keine Erweiterung der Ontologie erforderlich macht. Beispiele dafür sind die virtuelle Mengentheorie Quines und die Theorie der Teil-Ganzes-Beziehungen (Mereologie). Im folgenden möchte ich der Frage nachgehen, ob die Ethik Kants ontologisch unschuldig ist oder ob der Gebrauch ihrer Sprache nur um den Preis der Anerkennung einer besonders obskuren Sorte platonischer Entitäten, sog. objektiver Werte und Werttatsachen zu haben ist. Diese Frage ist, wie mir scheint, noch nicht ausreichend geklärt worden. Nach Meinung von Mackie z.B. ist die Existenz dieser von ihm als „absonderlich“ bezeichneten Entitäten eine Bedingung der Geltung kategorischer Normen.1 Dies hätte zur Konsequenz, dass die Ethik Kants spätestens beim Übergang von der inhaltlichen Bestimmung des kategorischen Imperativs zur Behauptung seiner Geltung ihre ontologische Unschuld verliert. Habermas nimmt dagegen an, dass dem Geltungsbegriff Kants jegliche ontologische Konnotationen fehlen, die für die Wahrheitsbehauptung deskriptiver Sätze charakteristisch sind. Seiner Auffassung nach ist die Ethik Kants eine ontologiefreie Ethik, in der zwischen den Bereichen des Seins und des Sollens, der Tatsachen und der Normen, der theoretischen und der praktischen Vernunft usw. eine strikte Trennlinie gezogen wird.2 Eine dritte Auffassung wird schließlich von Rawls vertreten: Er schreibt der Ethik Kants eine konstruktivistische Ontologie zu, die eine Mittelposition zwischen dem ethischen Platonismus und dem Nicht-Faktualismus einnimmt.3 1 2 3 Vgl. Mackie (1981), 28ff., und 43 ff. Vgl. Habermas (1999), 271ff. Vgl. Rawls (1989), 97, und (1980), 558f., 564, 519, 554. Sowohl Rawls als auch Habermas schwanken zwischen einer konstruktivistischen und einer nicht-faktualistischen Interpreta- Kant-Studien 95. Jahrg., S. 107–127 © Walter de Gruyter 2004 ISSN 0022-8877 Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 108 Dirk Greimann Die Arbeit untergliedert sich in fünf Abschnitte. In Abschnitt 1 wird ein Kriterium der ontologischen Verpflichtung für normative Ethiken dargelegt. Auf dieser Basis wird in Abschnitt 2 der Begriff der ontologischen Unschuld näher erläutert. Abschnitt 3 und 4 haben die Pragmatik und die Semantik der ethischen Sprache Kants zum Gegenstand. Ich versuche zu zeigen, dass diese Sprache insofern einen „realistischen Grundton“ hat, als die Geltung ihrer Sätze die Existenz von Werten voraussetzt, die nicht durch subjektive Interessen konstituiert werden. In Abschnitt 5 wird die Ontologie der Ethik Kants untersucht, insbesondere ihr Kernstück, die Theorie der Konstitution objektiver Werte und kategorischer Normen durch die Selbstgesetzgebung des handelnden Subjekts. Das Ergebnis der Untersuchungen ist, dass Kants Ethik zwar ihrer Intention nach ontologisch unschuldig ist – das Prinzip der Autonomie verlangt, dass die Gegenstände der platonistischen Wertontologie als entia non grata zurückgewiesen werden –, dass sie aber faktisch auf die Anerkennung solcher Gegenstände verpflichtet ist, weil die Wertschöpfungen des Willens durch seine freien Selbstnormierungen für sich genommen nicht ausreichen, um ethischen Normen kategorische Verbindlichkeit zu verleihen. 1. Ontologische Verpflichtung in der normativen Ethik Eine normative Ethik ist ein System ethischer Normen, für die eine bestimmte Art der „Geltung“ oder „Verbindlichkeit“ beansprucht wird. Die ontologischen Verpflichtungen eines solchen Systems ergeben sich aus dem folgenden Verbindlichkeitsstifter-Prinzip: Damit eine Norm gilt, muss es irgend etwas geben, was ihr Verbindlichkeit verleiht, seien dies nun gesellschaftliche Konventionen, illokutionäre Akte wie das Abschließen eines Vertrages oder das Abgeben eines Versprechens, subjektive Präferenzen und Interessen, das Bestehen gewisser Zweck-Mittel-Relationen, die Existenz einer platonischen Wertordnung, usw. Der Verbindlichkeitsstifter einer Norm ist dasjenige, was ihre Verbindlichkeit „konstituiert“, was ihr Verbindlichkeit „verleiht“. Welche Entitäten oder Strukturen dies konkret sind, hängt davon ab, ob es sich um eine positive, eine hypothetische oder eine kategorische Norm handelt.4 1. Positive Normen sind Soll-Zustände, die durch soziale Interaktionen konstituiert werden. Positiv sind solche Normen in dem Sinn, dass ihre Geltung durch die implizite oder explizite Setzung von Soll-Zuständen konstituiert wird. Wenn z. B. ein Offizier einem Untergebenen befiehlt: „Sie sollen den Gefangenen töten“, dann wird durch diesen Sprechakt das Sollen konstituiert, dass der Untergebene den Gefangenen töten soll. Hierbei handelt es sich aber nicht um das moralische Gesolltsein einer Handlung, sondern um das positive. Dass der Untergebene den Gefange- 4 tion Kants; vgl. dazu z.B. Rawls (1980), 519, 554 und Habermas (1999), 300f., 304. Zu der Frage, ob Rawls „Kantian Constructivism“ kohärent ist, vgl. Brink (1989), 303–321. Die folgenden Ausführungen lehnen sich an die ausführliche Darstellung in Greimann (2000) an. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 Ist die Ethik Kants ontologisch unschuldig? 109 nen töten soll, heisst nicht, dass er dazu moralisch verpflichtet ist, sondern nur, dass an ihn von einer weisungsberechtigten Person der entsprechende Befehl ergangen ist. Nicht alle positiven Normen werden durch Sprechakte konstituiert. Die Verhaltensregel z. B., dass man mit vollem Mund nicht sprechen soll, ist eine positive Norm, deren Verbindlichkeitsstifter gesellschaftliche Konventionen sind. Der SollZustand wird in diesem Fall durch Erwartungshaltungen konstituiert, die einen gewissen Konformitätsdruck erzeugen und die ihre Basis in den gesellschaftsweit praktizierten Gepflogenheiten und Bräuchen haben. Die Existenz einer ewigen und unveränderlichen Wertordnung ist offensichtlich keine Bedingung der positiven Geltung einer Norm. Dass durch den Befehl des Offiziers ein positives Sollen tatsächlich konstituiert wird, setzt lediglich die Existenz sozialer Hierarchien, militärischer Einrichtungen und gewisser sprachlicher Konventionen voraus. Die ontologischen Verpflichtungen einer normativen Ethik, die sich darauf beschränkt, für ihre Normen den Geltungsanspruch der positiven Geltung zu beanspruchen, beschränken sich folglich auf die Existenz entsprechender sozialer Institutionen. Ein Beispiel dafür ist der ethische Konventionalismus, dem zufolge die moralischen Normen durch die Schaffung der sozialen Welt konstituiert werden.5 2. Die Norm, dass man in der Jugend für das Alter sparen soll, ist keine positive, sondern eine hypothetische Norm. Ihre Verbindlichkeit wird nicht durch soziale Interaktionen konstituiert, sondern durch die Existenz gewisser Interessen im Verbund mit dem Bestehen entsprechender Zweck-Mittel-Relationen. Der Begriff des Sollens, der hier im Spiel ist, ist nicht der positive, sondern der hypothetische. Dass eine Person einer Verhaltensregel R folgen soll, heißt hier, dass es der Person angesichts ihrer Interessenlage geboten ist, R zu folgen. Die ontologischen Verpflichtungen einer normativen Ethik, in der die moralischen Normen als hypothetische Normen konzipiert werden, beschränken sich entsprechend auf die Anerkennung der Existenz von Interessen und Zweck-Mittel-Relationen. Beispiele dafür sind alle Formen des ethischen Subjektivismus wie der Utilitarismus, der Altruismus, der (ethische) Egoismus, usw.6 3. Die Norm, dass man jede Person als Zweck an sich selbst behandeln soll, und nicht als ein bloßes Mittel für die eigenen Zwecke, ist, zumindest nach Auffassung Kants, weder eine positive noch eine hypothetische, sondern eine kategorische Norm. Das Kennzeichen solcher Normen ist ihre Apriorität im Sinn der Allgemeinheit und der Unbedingtheit (Notwendigkeit) ihrer Verbindlichkeit. Während eine hypothetische Norm für eine Person nur unter der Bedingung verbindlich ist, dass die Person das im Antezedens genannte Interesse hat, sind kategorische Normen für eine Person unabhängig von ihren Interessen verbindlich. Und während hypotheti5 6 Der ethische Konventionalismus ist durch das Vorgehen gekennzeichnet, das moralische Sollen aus den gesellschaftlichen Konventionen abzuleiten. Das Kennzeichen der subjektivistischen Ansätze ist die Ableitung des moralischen Sollens aus den subjektiven Interessen und Präferenzen von Personen. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 110 Dirk Greimann sche Normen ausschließlich für diejenigen Personen verbindlich sind, die das entsprechende Interesse haben, gelten kategorische Normen für alle Personen schlechthin. Aufgrund der Unbedingtheit ihrer Verbindlichkeit sind kategorische Normen „oberste“ Normen, d. h. ihnen sind in der normativen Hierarchie alle anderen Normen untergeordnet: Wenn A eine absolut verbindliche Norm ist, dann gilt für alle weiteren Normen B, dass es nur dann erlaubt ist, B zu folgen, wenn A dadurch nicht verletzt wird. So ist z. B. die (moralische) Norm, Unrecht zu verhindern, der (gesellschaftlichen) Norm übergeordnet, charmant und taktvoll zu sein, weil die zweite Norm nur dann erfüllt werden darf, wenn dadurch die erste nicht verletzt wird. Was einer kategorischen Norm Verbindlichkeit verleiht, muss einen objektiven und unbedingten Wert haben, der als solcher nicht durch Interessen konstituiert werden kann, und dem in der Hierarchie der Güter kein anderer Wert übergeordnet ist. Es besteht also die folgende Äquivalenz zwischen absoluten Werten und kategorischen Geboten: (Ä) Es ist kategorisch geboten, der Verhaltensregel R zu folgen dann und nur dann, wenn das Befolgen von R einen unbedingten Wert hat. Dass auch Kant diese Äquivalenz vor Augen hat, wenn er von der valuativen Redeweise in die deontische wechselt und umgekehrt,7 wird durch die folgende Passage belegt: Die Zwecke, die sich ein vernünftiges Wesen als Wirkungen seiner Handlung nach Belieben vorsetzt, (materiale Zwecke) sind insgesammt nur relativ; denn nur bloß ihr Verhältniß auf ein besonders geartetes Begehrungsvermögen des Subjects gibt ihnen den Werth, […]. Daher sind alle diese relative Zwecke nur der Grund von hypothetischen Imperativen. Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Werth hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d.i. praktischen Gesetzes, liegen. Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existirt als Zweck an sich selbst […]. (GMS, 427f.)8 Im Fall deskriptiver Aussagen ist zwischen epistemischen und ontologischen Gründen zu unterscheiden. Epistemische Gründe sind Gründe des Für-wahr-Haltens einer Aussage; sie sind Belege (Evidenzen), mit denen die Annahme der Wahrheit einer Aussage gerechtfertigt werden kann. Der ontologische Grund der Wahrheit einer Aussage ist dagegen der Wahrheitsstifter (truthmaker) der Aussage, d. h. dasjenige, dem die Aussage ihr Wahrsein verdankt. So ist die Aussage ‚Schnee ist weiß‘ z. B. wahr „aufgrund“ oder „dank“ der Tatsache, dass Schnee weiß ist. Im Fall normativer Sätze ist zwischen drei Arten von Gründen zu unterscheiden: psychologischen, epistemischen und ontologischen. Psychologische Gründe sind 7 8 Im ersten Abschnitt der GMS bedient sich Kant überwiegend der valuativen Redeweise (von „Werten“), und im zweiten Abschnitt der deontischen Redeweise (von „Imperativen“). In diesem Beitrag wird aus der Akademieausgabe zitiert und dafür die in den Kant-Studien üblichen Siglen verwendet. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 Ist die Ethik Kants ontologisch unschuldig? 111 Handlungsmotive, die von Kant „Bestimmungsgründe“ des Willens genannt werden. Wenn ich z. B. Durst habe, dann habe ich auch einen Grund, etwas zu trinken, nämlich das Motiv, den Durst zu stillen. Kant nimmt an, dass nicht nur Wünsche und Interessen, sondern auch moralische Überzeugungen Bestimmungsgründe des Willens sein können. Dieser Fall liegt z.B. dann vor, wenn jemand aus der „Einsicht“ heraus aufrichtig ist, dass er nicht lügen soll. Die ontologischen Gründe der Verbindlichkeit von Normen sind die Gegenstücke zu den Wahrheitsstiftern im Fall der deskriptiven Sätze. Sie sind dasjenige, dem sich die Verbindlichkeit von Normen verdankt, also die Verbindlichkeitsstifter im bereits erläuterten Sinn. Die epistemischen Gründe der Verbindlichkeit von Normen sind Gründe des Für-verbindlichHaltens einer Norm. Hierbei handelt es sich um Evidenzen, mit deren Hilfe sich die Annahme der Verbindlichkeit einer Norm rechtfertigen lässt.9 Es ist nun unmittelbar evident, dass es zu jeder geltenden Norm etwas geben muss, was ihr Verbindlichkeit verleiht, so wie es auch zu jeder wahren Aussage etwas geben muss, das sie wahr macht.10 Auf diesem Zusammenhang basiert das folgende Kriterium der ontologischen Verpflichtung für normative Ethiken: Eine normative Ethik ist zur ontologischen Anerkennung genau derjenigen Entitäten und Strukturen verpflichtet, deren Existenz von der Verbindlichkeit ihrer Normen vorausgesetzt werden. Kant wird dieser Kohärenzforderung gerecht, indem er die Existenz absoluter Werte als „Grund eines möglichen kategorischen Imperativs“ postuliert. 2. Ontologische Unschuld In der ethischen Ontologie stehen sich seit jeher zwei Grundpositionen gegenüber: der ethische Realismus und der Anti-Realismus.11 Der Realismus behauptet, dass die Struktur der Welt ein Gefüge objektiver Werte enthält, das von unseren subjektiven Präferenzen, Gefühlen und Überzeugungen unabhängig ist, und das durch entsprechende objektive Werttatsachen konstituiert wird. Das ontologische Mobiliar der Welt enthält dieser Auffassung nach nicht nur physikalische Gegenstände und Strukturen, sondern auch objektive Werte und Werttatsachen, also gewisse präskriptiv wirksame Strukturen, deren Existenz kategorischen Normen wie dem Gebot zur unbedingten Aufrichtigkeit ihre normative Kraft verleihen. Der Anti-Realismus behauptet dagegen, dass die Welt an sich selbst wertneutral ist. Die moralischen Werte sind dieser Auffassung nach Produkte des menschlichen Wollens und Fühlens, und der Eindruck ihrer scheinbaren Objektivität beruht auf 9 10 11 Dafür kommt z. B. die ethische Werterfahrung in Frage, oder auch die unmittelbare Einsichtigkeit ethischer Axiome. Dieses Wahrmacher-Prinzip lautet in der Formulierung von Quine (1970), 10: „[…] truth should hinge on reality, and it does. No sentence is true but reality makes it so. The sentence ‚snow is white‘ is true, as Tarski has taught us, if and only if real snow is really white.“ Epikur, Hobbes, Hume, Bentham und Mill gehören z.B. zur anti-realistischen Tradition, und zur realistischen Tradition gehören Plato, Thomas von Aquin und George E. Moore. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 112 Dirk Greimann der Projektion subjektiver Einstellungen in die Dinge selbst. Ethische Aussagen haben demnach kein Fundament in der Welt, sondern nur in uns selbst. Aufgrund dieser Restriktion ist der Anti-Realismus gezwungen, die moralischen Verpflichtungen entweder aus den Zweck-Mittel-Relationen oder aus den gesellschaftlichen Konventionen abzuleiten.12 Der hauptsächliche Vorteil des Anti-Realismus gegenüber der realistischen Alternative liegt in seiner ontologischen Unschuld.13 Da z. B. die subjektiven Werte durch Interessen konstituiert werden und diese wiederum durch die Tatsachen der psychologischen Welt, braucht die gewöhnliche Ontologie nicht erweitert zu werden, um normative Ethik im Sinn des Subjektivismus betreiben zu können. Anders verhält es sich im Fall der Ethiken, die kategorische Normen aufstellen. Da aus der psychologischen Welt der Wünsche und Präferenzen lediglich subjektive Werte kommen, und da ferner aus der physikalischen Welt überhaupt keine Werte kommen, scheinen diese Ethiken die Existenz einer platonischen „Welt 3“ präskriptiver Entitäten postulieren zu müssen, aus der kategorische Handlungsanweisungen für den menschlichen Willen ergehen. Eine solche Erweiterung der Ontologie wäre jedoch wenig attraktiv, weil eine Welt 3 präskriptiver Entitäten eine ontologische Monstrosität darstellt, deren Anerkennung gegen alle Regeln der ontologischen Nüchternheit verstößt.14 Demnach können wir das folgende Kriterium der ontologischen Unschuld für normative Ethiken aufstellen: Eine Ethik ist genau dann ontologisch unschuldig, wenn die Geltung ihrer Normen die Existenz einer Welt 3 nicht voraussetzt. Der hauptsächliche Nachteil des Anti-Realismus liegt in seiner semantischen Inadäquatheit. Er muss aufgrund seiner ontologischen Restriktionen die ethischen Sätze als Aussagen über hypothetische oder positive Normen konstruieren, obwohl sich diese Sätze ihrem Sinn nach auf kategorische Normen beziehen. Nimmt man die Vor- und Nachteile des Realismus und des Anti-Realismus zusammen, dann steht man vor dem folgenden Dilemma: Die realistische Interpretation ethischer Sätze ist ontologisch nicht akzeptabel, weil sie zu verqueren ontologischen Verpflichtungen führt, und die anti-realistische Interpretation ist semantisch nicht akzeptabel, weil sie den Sinn dieser Sätze entstellt.15 Um das Dilemma aufzulösen, müsste man eine ontologisch unschuldige Ethik aufbauen, die zugleich semantisch adäquat ist. Dazu hat Kant einen originellen Ansatz beigesteuert, der grob gesagt darin besteht, die „Form des Wollens“ als den Generator objektiver Werte bzw. als 12 13 14 15 Ein Beispiel ist Hume. Ihm zufolge besteht das folgende Verhältnis von moralischen Verpflichtungen und subjektiven Werten (1984, 127): „[…] die moralische Verpflichtung steht im direkten Verhältnis zum Nutzen. Alle Politiker und die meisten Philosophen werden zugeben, dass die Staatsräson in besonderen Notfällen die Regeln der Gerechtigkeit aufheben und jeden Vertrag oder jedes Bündnis außer Kraft setzen kann, wenn dessen strikte Einhaltung für einen der beiden Vertragspartner einen erheblichen Nachteil mit sich brächte. Aber nur die äußerste Notlage kann bei Individuen, wie allgemein anerkannt wird, den Bruch eines Versprechens oder einen Eingriff in fremdes Eigentum rechtfertigen.“ Vgl. dazu auch v. Kutschera (1994), 250f., 255. Vgl. v. Kutschera (1999), 243ff., und Mackie (1981), 43ff. Vgl. Darwall (1998), 25f., und Greimann (2000). Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 Ist die Ethik Kants ontologisch unschuldig? 113 den Verbindlichkeitsstifter kategorischer Normen aufzufassen. Diese konstruktivistische Position stimmt mit dem Realismus in der Anerkennung der Existenz absoluter Werte überein, und mit dem Anti-Realismus in der Ablehnung einer platonischen Welt 3 präskriptiver Entitäten. 3. Die Pragmatik der ethischen Sprache Kants Um die ontologischen Verpflichtungen einer gegebenen Ethik zu bestimmen, muss in einem ersten Schritt untersucht werden, welche Geltungsansprüche mit der Äußerung ihrer Sätze erhoben werden. Für unsere Zwecke ist es von Vorteil, die unterschiedlichen Standpunkte wie folgt zu gruppieren. Die kognitivistischen Ansätze nehmen an, dass mit der Äußerung ethischer Sätze ein kognitiver, d. h. ein argumentativ einzulösender Geltungsanspruch erhoben wird – eine Annahme, die gemacht werden muss, wenn normative Ethik als Wissenschaft überhaupt möglich sein soll. Die nicht-kognitivistischen Positionen behaupten dagegen, dass mit der Äußerung ethischer Sätze ein völlig anderer Sprechakt vollzogen wird, etwa ein evokativer Akt des Aufforderns (‚Würden Sie bitte das Rauchen unterlassen‘) oder ein expressiver Sprechakt der Kundgabe einer emotionalen Reaktion auf einen Sachverhalt (‚Dass du gelogen hast, widert mich an‘). Die kognitivistischen Ansätze unterteilen sich weiter in die faktualistischen und die epistemischen Ansätze.16 Erstere nehmen an, dass ethische Sätze ihrer pragmatischen Kategorie nach Behauptungssätze sind, mit deren Äußerung das Bestehen normativer Sachverhalte behauptet wird. Hieraus ergibt sich, dass die faktualistischen Ansätze massive ontologische Implikationen haben: Wer mit Sätzen der Form ‚Es ist moralisch richtig, der Verhaltensregel R zu folgen‘ eine Tatsachenbehauptung aufstellt, verpflichtet sich auf die Anerkennung der Existenz ethischer Tatsachen. Vom Standpunkt der nicht-kognitivistischen Ansätze aus involviert das Postulieren solcher Tatsachen hingegen einen sprachlichen Schnitzer: Wendungen der Form ‚Die Tatsache, dass das Befolgen der Regel R moralisch richtig ist‘ sind diesem Standpunkt nach sprachliche Fehlkonstruktionen, da der Tatsachen-Operator auf expressive und evokative Sätze nicht anwendbar ist.17 Die epistemischen Ansätze nehmen eine Mittelposition zwischen den faktualistischen und den nicht-kognitiven Ansätzen ein. Sie behaupten, dass die faktualistischen Ansätze eine ontologisierende Angleichung der Soll-Sätze an die Ist-Sätze beinhalten, da mit Soll-Sätzen nicht der Geltungsanspruch des Bestehens normativer Sachverhalte erhoben wird, sondern der Anspruch der Anerkennungswürdigkeit von Normen. Diese Ansätze sind kognitivistisch, insofern sie annehmen, dass der 16 17 Die Einführung dieser termini technici hat teilweise stipulativen Charakter. Bedauerlicherweise werden die Terme ‚Kognitivismus‘, ‚Faktualismus‘, usw. in der Metaethik uneinheitlich verwendet. Ausdrücke wie ‚Es ist eine Tatsache, dass würden Sie bitte das Rauchen unterlassen‘ sind schlechterdings ungrammatisch. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 114 Dirk Greimann Geltungsanspruch der Anerkennungswürdigkeit einer Norm argumentativ eingelöst werden muss, und sie unterscheiden sich von den faktualistischen Ansätzen durch die Ablehnung der ontologischen Anerkennung normativer Tatsachen. So sehr die Unterscheidung zwischen den faktualischen und den epistemischen Ansätzen intuitiv zunächst einleuchtet, so sehr widersetzt sie sich auch dem Versuch einer Explikation. Nimmt man den Nicht-Faktualismus ernst, dann folgt aus ihm unmittelbar, dass die ethischen Sätze nicht an den Argumentstellen der wahrheitsfunktionalen Junktoren wie ‚und‘ oder ‚wenn … dann‘ zugelassen werden dürfen.18 Ein Satz wie das Kantische Generalisierungsprinzip (G) Wenn es einer Person x geboten ist, der Verhaltensregel R zu folgen, dann ist dies auch jeder anderen Person y geboten wäre folglich weder wahr noch falsch, weil weder das Antezedens noch das Konsequens einen Wahrheitswert hätte. Ferner impliziert die Ablehnung der Existenz ethischer Tatsachen unmittelbar den normativen Nihilismus, nach dem die Extension aller ethischen Prädikate leer ist: Wenn es keine ethischen Tatsachen gibt, dann gilt für alle Verhaltensregeln R und für alle Personen x: es ist nicht der Fall (keine Tatsache), dass es der Person x geboten (oder erlaubt) ist, der Regel R zu folgen. Wer die Existenz ethischer Tatsachen leugnet, ist folglich aus Gründen der Kohärenz verpflichtet, darauf zu verzichten, ethische Prädikationen vorzunehmen. Diese Konsequenz ist vom Nicht-Faktualismus aber nicht intendiert, und um dem Rechnung zu tragen, muss man, wie mir scheint, zwischen zwei Sorten von Tatsachen unterscheiden: weltbezogenen und epistemischen Tatsachen. Die epistemischen Ansätze sind dann nicht so zu verstehen, dass sie die Existenz ethischer Tatsachen bestreiten, sondern so, dass sie die ethischen Tatsachen auf die epistemischen beschränken. Ob es geboten ist oder nicht, der Regel R zu folgen, ist dieser moderaten Form des NichtFaktualismus nach zwar als eine Tatsachenfrage anzuerkennen, aber als eine solche, deren Antwort ausschließlich von epistemischen Tatsachen abhängt. Aus dieser Beschränkung folgt, dass die Sätze der normativen Ethik nicht durch die Tatsachen der Welt „falsch gemacht“ oder „widerlegt“ werden können, so wie dies für die Sätze der deskriptiven Wissenschaften gilt. Daraus folgt aber nicht, dass es überhaupt keine ethischen Tatsachen gibt; diese radikale Form des Nicht-Faktualismus ist den Positionen des Nicht-Kognitivismus vorbehalten. Es steht nun außer Frage, dass die Sprache der Ethik Kants ihrer Pragmatik nach dem Kognitivismus zuzuordnen ist – schließlich unternimmt Kant den Versuch, die Geltungsansprüche seiner normativen Ethik argumentativ einzulösen. Zudem spricht Kant explizit von der „Wahrheit“ und dem „Stattfinden“ des kategorischen Imperativs.19 Ob er der epistemischen Richtung des Kognitivismus zuzuordnen ist, muss die Analyse der Semantik seiner ethischen Sprache zeigen. 18 19 Dieses Problem wird in Unwin (1999) diskutiert. Vgl. GMS, 445, 425. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 Ist die Ethik Kants ontologisch unschuldig? 115 4. Die Semantik der Ethischen Sprache Kants Die ethische Semantik zielt darauf ab, den semantischen Inhalt ethischer Sätze und des ethischen Vokabulars zu explizieren. Sie geht von der Voraussetzung aus, dass ethische Prädikate wie ‚ist moralisch geboten‘ und ‚ethisch gut‘ genuine Prädikate sind, die dem illokutionären Zweck dienen, Handlungen oder Personen moralische Eigenschaften zuzuschreiben. Um den semantischen Inhalt eines ethischen Prädikats zu bestimmen, muss man die Bedingungen explizieren, von denen es abhängt, dass es auf eine gegebene Handlung oder Person zutrifft, d.h. man muss die Wahrheitsbedingungen der Sätze explizieren, in denen das Prädikat vorkommt. Dieses Programm führt zu der notorischen Schwierigkeit, dass Explikationen der Form (F) Die Handlung(sweise) H ist ethisch gut genau dann, wenn H die Eigenschaft E hat grundsätzlich zweideutig sind, da sie sowohl intensional als auch extensional gedeutet werden können. Im ersten Fall wäre eine solche Explikation als eine Antwort auf die semantische Frage zu verstehen, was es heißt, dass eine Handlung moralisch gut ist, und im zweiten Fall als eine Antwort auf die normative Frage, welche Handlungen ethisch gut sind. Wenn man z. B. Kants Explikation des „Richtmaßes für Moralität“ in der GMS durch Es ist der Person x genau dann erlaubt, der Regel R zu folgen, wenn es möglich ist, (dass sie wollen kann), dass alle Personen R folgen20 als eine inhaltliche Explikation des Begriffs des Erlaubtseins auffasst, dann involviert diese Explikation eine Reduktion der moralischen Begriffe auf den modalen Begriff der Möglichkeit. Der Grundbegriff der Ethik Kants wäre in diesem Fall der modale Begriff der Möglichkeit, und mit seiner Hilfe würden die ethischen Begriffe des Erlaubtseins, des Gebotenseins, des ethisch Guten usw. definiert. Deutet man Kants Explikation des Richtmaßes hingegen extensional, dann ist sie als eine Antwort auf die normative Frage zu verstehen, welche Handlungsweisen erlaubt sind, und welche nicht.21 Die Kernfrage der ethischen Semantik ist nun, ob sich die ethischen Prädikate ihrem Sinn nach (intensional) auf subjektive Interessen, gesellschaftliche Konventionen, objektive Werttatsachen oder auf epistemische Tatsachen beziehen.22 An dieser 20 21 22 Ich lehne mich hier an die Rekonstruktion des kategorischen Imperativs in v. Kutschera (1999), 330 ff. an. Die semantische Frage nach den Wahrheitsbedingungen ist auch von der metaphysischen Frage zu unterscheiden, ob ethische Sätze für Menschen oder für einen anderen Personenkreis tatsächlich gelten. Die metaphysische Frage wird von Kant unter dem Stichwort ‚objektive Realität‘ oder ‚objektive Gültigkeit‘ des kategorischen Imperativs in der KpV behandelt und steht in engem Zusammenhang mit dem Freiheitsproblem, insbesondere mit der dritten Antinomie in der KrV. Vgl. dazu auch Sayre-McCord (1988), 14ff. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 116 Dirk Greimann Frage unterscheiden sich die Grundpositionen des Subjektivismus, des Konventionalismus, des Objektivismus, und des Rationalismus. In den folgenden Abschnitten versuche ich zunächst zu zeigen, dass weder eine dieser Grundpositionen noch Mischformen daraus der Semantik Kants entsprechen, und gehe dann dazu über, diese Semantik positiv zu charakterisieren. 1. Aus Sicht des Subjektivismus können Sätze der Form (1) Es ist moralisch geboten (oder „richtig“ oder „gut“), der Regel R zu folgen oder (2) Die Norm, der Regel R zu folgen, ist moralisch gültig (oder „richtig“) unter Wahrung ihres Sinns in Aussagen über subjektive Präferenzen übersetzt werden, etwa in Aussagen des Typs: (S) Es stimmt mit den subjektiven Präferenzen der beteiligten Personen überein, dass die Regel R befolgt wird. Diese Explikation des Sinns ethischer Sätze involviert eine Reduktion des Begriffs des ethischen Gutseins auf den Begriff der Nützlichkeit (des Für-etwas-Gutseins).23 Kant lehnt diese Interpretation der ethischen Begriffe ab, und zwar mit der Begründung, dass sie den Sinn ethischer Sätze entstellt. Seiner Auffassung nach ist es schon dem „Sprachgebrauche zuwider“, den Begriff des ethisch Guten mit dem des Wohls bzw. des Angenehmen zu identifizieren.24 Er schreibt mit Bezug auf die Zweideutigkeit der lateinischen Ausdrücke ‚bonum‘ und ‚malum‘: „Die deutsche Sprache hat das Glück, die Ausdrücke zu besitzen, welche diese Verschiedenheit nicht übersehen lassen. Für das, was die Lateiner mit einem einzigen Worte bonum benennen, hat sie zwei sehr verschiedene Begriffe und auch ebenso verschiedene Ausdrücke: für bonum das Gute und das Wohl, für malum das Böse und das Übel (oder Weh); sodaß es zwei ganz verschiedene Beurtheilungen sind, ob wir bei einer Handlung das Gute und Böse derselben oder unser Wohl und Weh (Übel) in Betrachtung ziehen.“ (KPV, 59 f.) Diese Unterscheidung ist nach Kant keine „bloße Wortklauberei“, sondern im Gegenteil eine Unterscheidung von größter Wichtigkeit und einer immensen Tragweite für den Aufbau der Ethik.25 Werden nämlich die ethischen Sätze subjektivistisch interpretiert, dann erhält man aufgrund der daraus resultierenden Umdeutung ihrer Sätze eine ganz neue Wissenschaft, die mit Ethik im eigentlichen und ursprünglichen Sinn nur noch wenig zu tun hat, nämlich eine bloße Klugheitslehre, die 23 24 25 Eine subjektivistische Interpretation wurde z.B. von Bentham vertreten. Er schreibt (1992, 58): „Von einer Handlung, die mit dem Prinzip der Nützlichkeit übereinstimmt, kann man stets entweder sagen, sie sei eine Handlung, die getan werden soll, oder zum mindesten, sie sei keine Handlung, die nicht getan werden sollte. […] So verstanden haben die Wörter sollen, richtig und falsch sowie andere Wörter dieser Art einen Sinn; werden sie anders verstanden, haben sie keinen Sinn.“ Vgl. KpV, 58. Vgl. ebd., 26. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 Ist die Ethik Kants ontologisch unschuldig? 117 keine moralischen Gesetze, sondern bloße „Anratungen zum Behuf unserer Begierden“ gibt.26 2. Der semantische Konventionalismus ist die Doktrin, dass sich die Sätze der Ethik ihrem Sinn nach auf positive Normen, genauer auf gesellschaftliche Konventionen beziehen, so dass Sätze der Form (1) und (2) in Sätze der Form (K) Die Mitglieder der Gesellschaft haben sich darauf verständigt, der Regel R zu folgen übersetzt werden können. Diese Interpretation wird zunächst durch die etymologische Tatsache gestützt, dass sich das Wort ‚Ethik‘ von ‚Ethos‘ im Sinn von ‚Gewohnheit‘, ‚Sitte‘, ‚Brauch‘ herleitet. Vom Standpunkt Kants aus ist sie jedoch aus zwei Gründen nicht akzeptabel. Erstens ist (K) eine empirische Aussage, nicht eine ethisch-apriorische, und zweitens ist die Interpretation mit der Auffassung Kants unvereinbar, dass moralische Gesetze eine unwandelbare und von empirischen Faktoren unabhängige Art der Geltung haben. 3. Der semantische Rationalismus behauptet, dass sich ethische Sätze ihrem Sinn nach auf epistemische Tatsachen beziehen. Seine Kernthese lautet in der von Habermas vertretenen Version: „Ideal gerechtfertigte Behauptbarkeit ist das, was wir mit moralischer Geltung meinen“.27 Diese Reduktion der moralischen auf die epistemischen Begriffe impliziert, dass Sätze der Form (1) und (2) in Sätze der Form (R) Es gibt hinreichende epistemische Gründe, der Regel R zu folgen übersetzt werden können. Die Pointe dieser Konzeption liegt in ihrer ontologischen Konsequenz, dass die Gültigkeit einer Norm nicht als das Bestehen eines normativen Sachverhalts zu verstehen ist, sondern als die „Anerkennungswürdigkeit einer entsprechenden Norm, die wir unserer Praxis zugrunde legen sollen“.28 Demnach wird die normative Kraft moralischer Gebote durch die Überzeugungskraft der epistemischen Gründe konstituiert, die zugunsten der Anerkennungswürdigkeit des Gebots ins Feld geführt werden können, und die Verbindlichkeitsstifter kategorischer Normen sind folglich diejenigen Überzeugungen, die aufgrund ihrer argumentativen Kraft den Willen nötigen (motivieren oder überzeugen), der Norm zu folgen. Dementsprechend nimmt Habermas an, wir bräuchten nicht „den Kontakt zu einer Welt jenseits des Horizonts unserer Rechtfertigungen“ aufzunehmen, um uns der kategorischen Verbindlichkeit moralischer Gebote zu vergewissern.29 Vom Standpunkt Kants aus wäre dieser epistemisierenden Auffassung der Ethik aber entgegenzuhalten, dass auch sie den Sinn der ethischen Sätze entstellt. Der deontische Begriff der moralischen Geltung steht Kants Auffassung nach in engstem Zusammenhang mit den valuativen Begriffen des Guten und des Bösen, und da dies für den epistemischen Begriff der gerechtfertigten Anerkennbarkeit nicht gilt – ihm 26 27 28 29 Vgl. ebd. Habermas (1999), 297. Vgl.ebd., 297. Vgl. ebd., 313. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 118 Dirk Greimann fehlen die deontischen Konnotationen, die für moralische Begriffe charakteristisch sind – wird durch ihn das Wesentliche des Begriffs der moralischen Geltung gerade nicht erfasst. Zwar kann man Kant so interpretieren, dass seiner Auffassung nach die Extension des Begriffs der moralisch gültigen Norm mit der Extension des Begriffs der rational akzeptierbaren Norm zusammenfällt; eine intensionale Gleichheit dieser Begriffe wird von ihm aber sicherlich nicht angenommen, da er die deontischen Begriffe als irreduzible Grundbegriffe behandelt.30 4. Nach Auffassung des semantischen Objektivismus beschreiben ethische Sätze objektive Werttatsachen, die durch eine ewige und unveränderlich Ordnung objektiver Werte konstituiert werden und die vom Menschen zwar „entdeckt“, aber nicht „geschaffen“ wird. Aussagen der Form (1) und (2) sind dieser Interpretation nach Beschreibungen der ethischen Struktur der objektiven Welt und können in Aussagen der Form (O) Es ist eine weltbezogene Tatsache, dass es moralisch gut ist, der Regel R zu folgen übersetzt werden. Aber auch diese Auffassung ist vom Standpunkt Kants aus abzulehnen, weil sie, wie unten weiter ausgeführt wird, mit dem Prinzip der Autonomie unvereinbar ist. 5. Rawls, der sich selbst als Kantianer bezeichnet, scheint eine Mischform aus dem semantischen Subjektivismus, Konventionalismus und Rationalismus zu vertreten, nach dem sich ethische Sätze ihrem Sinn nach auf diejenigen konventionellen Verhaltensregelungen beziehen, die sich Personen in der Situation des Nicht-Wissens selbst geben würden, wenn sie auf völlig rationale Weise ihre Eigeninteressen wahrnehmen würden.31 Da Kants kategorischer Imperativ eine Norm zweiter Stufe ist, durch die geregelt wird, wann es erlaubt ist, einer hypothetischen Norm zu folgen, könnte man versuchsweise annehmen, dass Kant unter den moralischen Normen diejenigen positiven Normen versteht, die jede rationale Person akzeptieren müsste, wenn sie das Ziel verfolgt, ihre Eigeninteressen wahrzunehmen. Hier wäre die Objektivität bzw. Kategorizität des kateorischen Imperativs insofern gewahrt, als er unabhängig davon, welche konkreten Interessen eine Person hat, für sie verbindlich ist. Sätze der Form (1) und (2) könnten demnach in Sätze der Form (S/K/R) R ist eine Norm, die rationale Personen akzeptieren würden, um ihre Eigeninteressen in für alle vorteilhafter Weise miteinander abzustimmen übersetzt werden. Vom Standpunkt Kants aus wäre aber auch diese Interpretation nicht haltbar: Der kategorische Imperativ wäre in diesem Fall eine hypothetische Norm zweiter Stufe, deren Verbindlichkeit durch subjektive Interessen konstituiert würde, und deren Befolgung daher heteronomes, nicht autonomes Handeln wäre. 30 31 Dies schließt nicht aus, dass Kants Begriff der moralischen Verpflichtung epistemische Komponenten hat. Vgl. dazu Darwall (1998), 144. Ich schließe mich hier der Interpretation in Sayre-McCord (1988), 19 an. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 Ist die Ethik Kants ontologisch unschuldig? 119 6. Da nun keine der genannten Standardinterpretationen ethischer Sätze der Semantik der ethischen Sprache Kants entspricht, müssen alternative Interpretationen in Erwägung gezogen werden. Welche die von Kant intendierte Interpretation ist, hängt im Wesentlichen davon ab, wie sein Begriff der Sittlichkeit zu explizieren ist. Folgt man Höffe, dann setzt Kant in der GMS stillschweigend voraus, ‚sittlich gut‘ heiße ‚ohne Einschränkung gut‘. Ein Beispiel dafür ist die Aussage über den guten Willen, mit der Kant den ersten Abschnitt der GMS beginnt. Sie lautet: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ (GMS, 393) Lässt man sich von der Oberflächengrammatik dieser Aussage leiten, dann ist sie als eine ethische Aussage erster Ordnung zu verstehen, genauer als eine valuative Aussage des Inhalts, dass für alle x gilt: wenn es möglich ist, dass x ohne Einschränkung gut ist, dann ist x = der gute Wille. Nach Höffe enthält Kants Aussage jedoch die „versteckte Behauptung, ‚sittlich gut‘ heiße ‚ohne Einschränkung gut‘“32. Er deutet die Aussage vorrangig als eine Aussage zweiter Ordnung, die dem Zweck dient, den Begriff des Sittlichen zu bestimmen und ihn von allen anderen Begriffen des Guten zu unterscheiden. Wie Höffe nebenbei bemerkt, müsste hier eine gründliche Verteidigung oder Kritik der Kantischen Ethik ansetzen.33 Kants Begriff des moralischen Werts ist dieser Auffassung nach durch seine Stellung in der Hierarchie aller Werte definiert. Der Ausgangspunkt bei Kant wäre dann ein allgemeiner und unspezifischer Begriff des Guten, mit dessen Hilfe der Begriff des sittlich Guten eingeführt würde, und zwar dadurch, dass die Struktureigenschaften des intendierten Begriffs des sittlich Guten expliziert werden. Diese Eigenschaften sind: – – – – – wenn wenn wenn wenn wenn x x x x x sittlich gut ist, dann ist x ohne Einschränkung gut; ohne Einschränkung gut ist, dann ist x sittlich gut; sittlich gut ist, dann hat x einen obersten Wert; sittlich gut ist, dann hat x einen unbedingten Wert; sittlich gut ist, dann hat x einen inneren Wert. Modern gesprochen sind diese Bestimmungen „Bedeutungspostulate“ oder „implizite Definitionen“, die im Unterschied zu expliziten Definitionen das zu Definierende als einen irreduziblen Grundbegriff behandeln. Dass x moralisch gut ist, heißt dieser Explikation nach, dass x unter allen Umständen gut ist, und dass es nichts gibt, was einen höheren Wert hat. Aufgrund der Äquivalenz (Ä) wären Sätze der Form ‚Es ist moralisch geboten, der Regel R zu folgen‘ dementsprechend zu übersetzen in Sätze der Form: 32 33 Höffe (1992), 176. Vgl. ebd. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 120 Dirk Greimann (E) 1. R ist eine oberste Norm, d.h. es gilt für alle Normen R*: das Befolgen von R* ist nur dann erlaubt, wenn R dadurch nicht verletzt wird; 2. R ist eine allgemeingültige Norm, d. h. sie muss von allen Personen befolgt werden; und 3. R ist eine notwendige Norm, d.h. sie kann nicht dadurch außer Kraft gesetzt werden, dass man ein Interesse aufgibt. Dass diese Rekonstruktion die Intentionen Kants trifft, wird auch dadurch gestützt, dass sie mit seiner Einteilung der ethischen Disziplinen übereinstimmt. Grundlegend für diese Einteilung ist die Unterscheidung von Naturlehre und Sittenlehre, die wiederum auf der Unterscheidung von Sein und Sollen aufbaut: Die „Naturlehre“ bestimmt Kant als die Wissenschaft von den Gesetzen, nach denen alles geschieht, und die „Sittenlehre“ als die Wissenschaft von den Gesetzen, nach denen alles geschehen soll.34 Sowohl die Naturlehre als auch die Sittenlehre unterteilt sich nach Kant in einen „empirischen“ und einen „apriorischen“ Teil. Den apriorischen Teil der Naturlehre nennt Kant „Metaphysik der Natur“, und den apriorischen Teil der Sittenlehre entsprechend „Metaphysik der Sitten“ oder auch „reine Moralphilosophie“. Die Metaphysik der Natur ist die Wissenschaft von den apriorischen Prinzipien der Natur. Diese Prinzipien unterscheiden sich von den empirischen vor allem durch zwei Merkmale: Sie sind erstens allgemeingültig, d.h. sie verstatten keine Ausnahme, und sie sind zweitens notwendig, d.h. ihre Geltung ist apodiktisch gewiss. Die Metaphysik der Sitten ist entsprechend die Wissenschaft von den apriorischen moralischen Prinzipien, die sich analog durch Allgemeinheit und Unbedingtheit auszeichnen.35 Die eigentliche Ethik identifiziert Kant mit dem apriorischen Teil der Sittenlehre, also mit der Metaphysik der Sitten, verstanden als die Wissenschaft von den allgemeingültigen und absolut verbindlichen Normen der Moralität, und den empirischen Teil mit der Klugheitslehre. Diese Konzeption impliziert, dass der in (E) explizierte Begriff des moralischen Gebots und der ihm entsprechende Begriff des Ohne-Einschränkung-Gutseins als die Hauptbegriffe der eigentlichen Ethik aufgefasst werden müssen. Wenn diese Rekonstruktion korrekt ist – und davon gehe ich im folgenden aus –, dann verpflichtet der Gebrauch der ethischen Sprache Kants auf die Anerkennung der Existenz absoluter Werte, da ihre Existenz eine Bedingung der Geltung kategorischer Imperative ist. 5. Die Ontologie der Ethik Kants Die Hauptfrage der ethischen Ontologie lautet: Welche ethischen Strukturen gibt es, und wie werden sie konstituiert? Kant ist aufgrund seines Prinzips der Autonomie an die konstruktivistische Position gebunden, die ethischen Normen als gesetzte (positive) Normen und die ethischen Werte als durch den Willen erzeugte oder verliehene Werte aufzufassen. Gäbe es eine dem Handeln gegenüber prä-existente Ord34 35 Vgl. GMS, 387 f. Vgl. ebd, 420. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 Ist die Ethik Kants ontologisch unschuldig? 121 nung moralischer Normen, die über den menschlichen Willen die moralische Befehlsgewalt hätte, dann wäre der moralische Raum wie eine Mietskaserne, deren Hausordnung die Bewohner bei ihrem Einzug passiv unterworfen werden. Autonom handelnde Personen sind dagegen solche, die bei ihrem Einzug die Hausordnung selbst schreiben, d.h. autonome Personen können sich als der Gesetzgeber der Normen begreifen, denen sie unterworfen sind. Die Gegenstände der platonischen Wertontologie sind folglich vom Standpunkt Kants aus als entia non grata zurückweisen.36 Da Kant aber aufgrund der Semantik seiner ethischen Sprache auf die Anerkennung der Existenz objektiver Werte verpflichtet ist, kann er sich nicht, wie z.B. Hume, auf die Anerkennung der Existenz subjektiver Werte beschränken. Tatsächlich nimmt Kant an, zumindest als Postulat, dass es objektive Werte gibt: Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Werth hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d.i. praktischen Gesetzes, liegen. Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existirt als Zweck an sich selbst […].“ (GMS, 427f.) Der Wert des Menschen wird demnach nicht durch Interessen konstituiert, sondern er ist ein Wert an sich selbst. Handelt es sich hierbei also um eine platonische Werttatsache, die in der ontologischen Natur des Menschen verankert ist? Kant muss diese Frage verneinen: Würde der absolute Wert des Menschen zu seiner ontologischen Natur gehören, dann würden diese Werte eine dem Handeln gegenüber prä-existente Ordnung ethischer Normen konstituieren, die autonomes Handeln unmöglich machen. Dementsprechend nimmt Kant an, dass das Reich der Zwecke nicht dem Handeln gegenüber prä-existent ist, sondern durch das Handeln selbst konstituiert wird: „Ein solches Reich der Zwecke würde nun durch Maximen, deren Regel der kategorische Imperativ vorschreibt, wirklich zu Stande kommen, wenn sie allgemein befolgt würden.“ (GMS, 438) Kant steht folglich vor dem Problem, erklären zu müssen, wie objektive Werte durch menschliches Handeln konstituiert werden können. Für die Lösung dieses Problems finden sich in seinen Schriften zwei Ansätze: der erste entspricht der Vertragstheorie, und der zweite stellt einen originellen Lösungsansatz dar, der Kants kopernikanischer Wende in der theoretischen Philosophie analog ist. [i] Im zweiten Abschnitt der GMS scheint Kant eine Position zu skizzieren, nach der die moralischen Verpflichtungen durch die soziale Interaktion handelnder Personen konstituiert wird, beispielsweise durch das Schließen von Verträgen, das Abgeben von Versprechen, usw. Der zugrundeliegende ontologische Mechanismus der Konstitution ließe sich dann wie folgt explizieren. Wenn eine Person x einer Person y verspricht, die Handlung H zu tun, dann verpflichtet sich x, das Versprochene auch zu tun, und Analoges gilt für den Sprechakt des Abschließens von Verträgen zwischen x und y. Die Verpflichtung wird in diesem 36 Vgl. dazu auch Rawls (1980), 559, und Rawls (1989), 95ff. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 122 Dirk Greimann Fall durch eine Handlung erzeugt, durch die sich der Handelnde selbst bindet, und ohne diese Handlung würde die Verpflichtung nicht zustande kommen. Hier scheint also die Situation vorzuliegen, dass Personen durch den Vollzug von Sprechakten moralische Tatsachen erzeugen: solange keine Versprechungen abgegeben werden und keine Vereinbarungen getroffen werden, gibt es keine moralischen Tatsachen; diese entstehen erst mit dem Vollzug der Sprechakte. Die Verbindlichkeitsstifter der kategorischen Normen wären dann Handlungen wie das Schließen von Verträgen, die auch stillschweigend vorgenommen werden können, etwa durch die Teilnahme am sozialen Leben. Wenn diese Rekonstruktion die Intentionen Kants träfe – wäre seine Position dann akzeptabel? Dass die Frage zu verneinen ist, lässt sich anhand von Searles Ableitung eines Soll-Satzes aus Ist-Sätzen zeigen. Sie besteht aus der folgenden Schlusskette:37 1. 2. 3. 4. 5. Jones Jones Jones Jones Jones äußerte die Wörter „Hiermit verspreche ich Dir, Smith, fünf Dollar zu zahlen“. versprach Smith, fünf Dollar zu zahlen. übernahm die Verpflichtung, Smith fünf Dollar zu zahlen. ist verpflichtet, Smith fünf Dollar zu zahlen. sollte Smith fünf Dollar zahlen. Dieser Ableitung liegt eine Äquivokation des Begriffs der Verpflichtung bzw. des Sollens zugrunde: Man kann daraus, dass Jones sich im illokutionären Sinn verpflichtet hat, Smith fünf Dollar zu zahlen, nicht ableiten, dass er dazu auch im moralischen Sinn verpflichtet ist. Damit die Ableitung korrekt wäre, müssten die Prämissen durch das Sein-Sollen-Brückenprinzip vervollständigt werden, dass Personen moralisch verpflichtet sind, gegebene Versprechen auch einzuhalten. Anders gesagt führen illokutionäre Akte nur unter der Voraussetzung zu moralischen Verpflichtungen, dass dieses Brückenprinzip eine normative Tatsache ist. Daraus folgt aber, dass die moralischen Tatsachen durch soziale Interaktionen allein nicht konstituiert werden können. [ii] Mackie geht davon aus, dass die Annahme der Geltung kategorischer Normen auf die Annahme der Existenz objektiver Werte im Sinn platonischer Wesenheiten verpflichtet.38 Die Möglichkeit, dass der Wille das ontologische Potential hat, nicht nur subjektive, sondern auch objektive Werte zu konstituieren, wird von ihm nicht in Betracht gezogen. Hierauf beruht aber gerade die Strategie, die Kant verfolgt oder zu verfolgen scheint, um einerseits auf die platonistische Wertontologie verzichten zu können, ohne andererseits den moralischen Normen ihre kategorische Verbindlichkeit absprechen zu müssen. Folgt man diesem Interpretationsansatz, dann basiert der Wertobjektivismus Kants auf einer Theorie der Konstitution objektiver Werte, die das praktische Gegenstück zu seiner Theorie der Konstitution der Gegenstände der Erfahrung darstellt. Der Konstitutionsmechanismus ist hier der folgende: So wie das Anschauungsvermögen dem phänomenalen Raum seine geometrische 37 38 Vgl. Searle (1969), 177. Vgl. Mackie (1981), 43ff. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 Ist die Ethik Kants ontologisch unschuldig? 123 Struktur vorschreibt, so schreibt auch der Wille dem moralischen Raum seine allgemeine Struktur vor. Der Verbindlichkeitsstifter kategorischer Normen ist in diesem Fall die Form des Wollens, nicht die soziale Interaktion. Hierin liegt, wie mir scheint, das Originelle des ethischen Konstruktivismus Kants: Der Wille ist seiner Auffassung nach keine normative tabula rasa, sondern er ist im Gegenteil der Generator kategorischer Normen und absoluter Werte. Dieser Ansatz basiert auf Kants kopernikanischer Wende in der Ethik,39 und um dies näher auszuführen, muss ich kurz auf die „regressive Methode“ zu sprechen kommen, die Kant sowohl in den Prolegomena als auch in der GMS anwendet. Allgemein gesagt besteht diese Methode darin, dass man „von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben wäre, ausgeht und zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich ist“.40 Kant stellt sich z. B. in der theoretischen Philosophie die Frage, wie die synthetischen Urteile a priori der Geometrie möglich sind. Dabei geht er von der Annahme aus, dass gewisse Sätze der Geometrie, wie z.B. der Satz ‚Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die Gerade‘, tatsächlich synthetische Urteile a priori sind, d.h. dass diesen Sätzen tatsächlich apriorische Geltung zukommt. Die regressive Methode besteht nun darin, dass man von dieser Annahme ausgehend erklärt, wie es möglich ist, dass diesen Sätzen apriorische Geltung zukommt. Da aus der Erfahrung nur kontingentes Wissen über Gegenstände gewonnen werden kann, stellt sich insbesondere das Problem, zu erklären, wie notwendiges Wissen über diese Gegenstände möglich ist. Für die Lösung dieses Problem hat Kant einen originellen Lösungsansatz entwickelt, der, allgemein gesagt, in seiner kopernikanischen Wende besteht. Das Herzstück dieser Lösung besteht in der folgenden Neuinterpretation des Verhältnisses des erkennenden Subjekts zur Objektivität. Um die apriorische Geltung des geometrischen Wissens verständlich zu machen, muss angenommen werden, dass sich die Gegenstände der Anschauung nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens richten, und nicht umgekehrt. Auf dieser Basis lässt sich die apriorische Geltung weiter dadurch erklären, dass die geometrischen Sätze sich inhaltlich nur auf die Form des Raumes beziehen, und dass dem Raum seine Form durch das Anschauungsvermögen vorgeschrieben wird.41 Da sich nun die Gegenstände der Anschauung nach dieser Form richten müssen, um überhaupt Gegenstände der Anschauung werden zu können, müssen sie notwendig mit den Sätzen der Geometrie nach aller Pünktlichkeit übereinstimmen.42 Anders gesagt macht die Form der Anschauung die Gegenstände der Erfahrung allererst möglich, und dies erklärt die apriorische Geltung der geometrischen Sätze.43 In der praktischen Philosophie nimmt Kant nun eine analoge kopernikanische Wende vor, die zu einer Neuinterpretation des Verhältnisses des Subjekts zum unbe39 40 41 42 43 Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. dazu Rawls (1989), 93. Prol, 276. ebd., 282. ebd., 287. ebd. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 124 Dirk Greimann dingten Sollen führt. Der Kerngedanke, so wie ich ihn verstehe, ist hier das Prinzip der Autonomie, nach dem das handelnde Subjekt nur solchen moralischen Gesetzen unterworfen ist, die es sich selbst vorschreibt. Den Ausgangspunkt bildet hier die Annahme, dass den Normen der Metaphysik der Sitten apriorische (kategorische) Geltung zukommt. Es wird also das System der kategorischen Normen als gegeben vorausgesetzt, um dann mit Hilfe der regressiven Methode den Grund der kategorischen Geltung dieser Normen aufzudecken. Die Aufgabenstellung ist hier, zu erklären, wie es möglich ist, dass eine Norm für eine Person, unabhängig von ihren Interessen, absolute Verbindlichkeit hat. Kants Ansatz zur Lösung des Problems folgt dem Schema seiner theoretischen Philosophie. Die Schritte der Argumentation sind: 1. Um die apriorische Geltung moralischer Normen zu erklären, muss angenommen werden, dass der Inhalt dieser Normen lediglich die Form des Wollens betrifft, und nicht die Gegenstände (Materie) des Wollens.44 Denn die Gegenstände verleihen einer Norm lediglich eine kontingente Art der Verbindlichkeit, d. h. sie begründen lediglich die Geltung hypothetischer Imperative.45 Es besteht hier die folgende Parallele zur theoretischen Philosophie Kants: So wie sich die apriorischen Sätze der Mathematik und der Naturwissenschaften inhaltlich bloß auf die Form der Anschauung bzw. des Denkens beziehen, so beziehen sich auch die apriorischen Normen der Ethik lediglich auf die Form des Wollens, und nicht auf die Materie der Maximen, denen der Wille folgt.46 2. Die apriorische Geltung moralischer Normen hat zur Voraussetzung, dass der Wille autonom ist, sich also diese Gesetze selbst vorschreibt. Hier besteht die folgende Parallele: So wie wir von den Gegenständen der Erfahrung nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie hineinlegen,47 so sind wir auch nur denjenigen Normen unterworfen, die wir uns selbst vorschreiben. Moralisches Sollen ist, wie Kant bemerkt, eigentlich nichts anderes als eigenes notwendiges Wollen.48 Gegen diese Erklärung möchte ich abschließend den folgenden Kritikpunkt vorbringen. Um die apriorische Geltung geometrischer Sätze zu erklären, ist es durchaus plausibel, auf die Form der Anschauung zu rekurrieren. Dieses Vorgehen ist aber auf die Erklärung der Geltung apriorischer Normen nicht übertragbar. Denn es besteht die folgende Asymmetrie: Wenn man im Fall der Anschauung von allem Inhaltlichen abstrahiert, dann bleibt eine Form zurück, nämlich der phänomenale Raum, verstanden als die Form der Anschauung. Wenn man dagegen im Fall des Wollens von allem Inhaltlichen abstrahiert, dann bleibt nichts zurück, weil das Wollen keine Form hat. Zumindest ist Kant auf die Frage, was man unter der Form des Wollens zu verstehen habe, eine schlüssige Antwort schuldig geblieben, und als Folge davon bleibt bei ihm auch offen, von woher ein unbedingtes Sollen verbindet, was der Grund seiner Verbindlichkeit ist. 44 45 46 47 48 Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. KpV, 24, 27, und GMS, 445. GMS, 416, 420. KpV, 27 und GMS, 444. KrV, B, XVIII. GMS, 455, 449. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 Ist die Ethik Kants ontologisch unschuldig? 125 Der ethische Theismus löst dieses Problem, indem er die Verbindlichkeit kategorischer Normen aus dem Willen Gottes ableitet. Dieser Weg steht Kant aber nicht offen, weil die Annahme eines absoluten Befehlshabers mit dem Prinzip der Selbstgesetzgebung unvereinbar ist: Kant muss das handelnde Subjekt selbst als den Verbindlichkeitsstifter ethischer Normen auffassen. Wie aber das handelnde Subjekt aus sich selbst heraus einen Wert schaffen soll, der von seinen Interessen und Wertschätzungen unabhängig sind, und der für andere Subjekte moralische Verpflichtungen konstituiert, wird von Kant nicht erklärt. Dieses Defizit manifestiert sich auch darin, dass die Stufenfolge seiner Theorie der Konstitution absoluter Werte und kategorischer Normen eine Lücke enthält: Damit die positiven Normen, die sich der Wille selbst vorschreibt, für ihn auch moralisch verbindlich sind, muss angenommen werden, dass das Sein-Sollen-Brückenprinzip „Der Wille ist moralisch verpflichtet, die von ihm gesetzten Normen zu erfüllen“ eine prä-existente normative Tatsache ist. Anders gesagt enthält Kants Theorie der Konstitution einen Sein-Sollen-Fehler: so wie aus den positiven Normen der faktischen Rechtsprechung nur unter Voraussetzung entsprechender Brückenprinzipien ein moralisches Sollen abgeleitet werden kann, so gilt dasselbe auch für die normativen Setzungen oder „Selbstbindungen“ des Willens. Kant ist folglich darauf festgelegt, die Existenz eines vorgegebenen absoluten Werts zu postulieren, um die Verbindlichkeit kategorischer Normen erklären zu können, etwa den Wert des menschlichen Lebens.49 Dieser Wert, den Kant auch explizit anerkennt, muss aber als ein gegebener, dem moralischen Handeln gegenüber prä-existenter Wert aufgefasst werden, der nicht erst durch das Handeln konstituiert wird. In der Literatur wird Kant häufig so verstanden, dass die Verbindlichkeit kategorischer Normen seiner Auffassung nach auf der Rationalität moralischen Handelns beruht. Der tragende Gedanke der Lehre vom kategorischen Imperativ liegt dieser Interpretation nach darin, dass es für Personen vernünftig ist, moralischen Gesetzen zu folgen, um ihre Absichten miteinander verträglich zu machen, weil andernfalls ein chaotischer Zustand herrschen würde, den eigentlich niemand wollen kann.50 Dieser Interpretationsansatz rückt die Ethik Kants in die Nähe des Subjektivismus, der auf dem folgenden Vorverständnis der ethischen Normen basiert. Ein Verkehrsteilnehmer, der sich an die Normen der Straßenverkehrsordnung hält, muss gewisse Nachteile in Kauf nehmen, z. B. den Zeitverlust beim Halten an einer roten Ampel. Dennoch ist es im Interesse aller Verkehrsteilnehmer, dass es solche Normen gibt, und dass sie allgemein befolgt werden, weil andernfalls auf den Straßen ein für alle unerträgliches Chaos herrschen würde. Der Subjektivismus hat nun ein analoges Verständnis der ethischen Normen, dem zufolge ihre Funktion in der Koordination der Interessen der Mitglieder der Gesellschaft liegt.51 Ein Beispiel da49 50 51 Vgl. dazu auch Mackie (1981), 28ff. Vgl. z. B. Patzig (1983), 157f. Das gilt insbesondere für den sog. „rationalistischen Subjektivismus“. Vgl. dazu v. Kutschera (1999), 122 f. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 126 Dirk Greimann für ist die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, in der die Gerechtigkeitsprinzipien als das Resultat einer strategischen Berechnung des Eigennutzens rekonstruiert werden.52 Kant geht dagegen von einem grundsätzlich anderen Vorverständnis der ethischen Normen aus. Seiner Auffassung nach stehen diese Normen nicht im Dienst der Wahrnehmung und der Koordination von Eigeninteressen, sondern sie dienen dem sehr viel edleren Zweck, einen über alle subjektiven Werte erhabenen Wert sui generis hervorzubringen, eben den der Moralität bzw. der menschlichen Würde. Damit stellt sich aber die ontologische Frage, wie diese Werte konstituiert werden. Kant ist auf die Antwort festgelegt: Der Wille nötigt sich selbst, und er erzeugt dadurch einen Wert, der die kategorische Verbindlichkeit seiner Selbstnormierungen konstituiert. Da aber dieses „Münchhausen-Prinzip“, wie man es nennen könnte, nicht verständlich gemacht werden kann, muss Kants Versuch, die apriorische Geltung von Normen mit Hilfe der Annahme zu erklären, dass der Wille eine normativ gehaltvolle „Form“ hat, die dem moralischen Raum seine Struktur vorschreibt, als gescheitert betrachtet werden. Der erste, der dies gesehen hat, war Kant selbst. Die Frage, „woher das moralische Gesetz verbinde“, und worauf wir den Wert „gründen“, so zu handeln, wie es das Gesetz fordert,53 bleibt in der GMS unbeantwortet. So lautet Kants Fazit am Ende seiner Untersuchungen: „Und so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Nothwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit […].“ (GMS, 463) Sieht man den Tatsachen ins Auge, dann müsste man dieses Ergebnis als eine reductio ad absurdum der Ausgangsannahme bei der Anwendung der regressiven Methode werten, es gebe geltende kategorische Normen bzw. etwas ohne Einschränkung Gutes. Aber anstatt die Flinte ins Korn zu werfen, hat Kant in der Kritik der praktischen Vernunft mit seiner Lehre vom „Faktum der Vernunft“ die Flucht nach vorn angetreten. Diese Lehre ist jedoch nicht in der Lage, die ontologische Lücke in seinem System zu schließen: Sie wirft kein neues Licht auf die Frage, wie der Wille aus sich selbst heraus Werte hervorbringt, die kategorischen Normen Geltung verleihen. Um die Lücke zu schließen, scheint Kant folglich doch auf die Anerkennung der platonistischen Wertontologie angewiesen zu sein. Das im Einzelnen zu zeigen, muss jedoch einer eigenständigen Arbeit vorbehalten bleiben.* 52 53 Ich schliesse mich hier der Rekonstruktion in Höffe (1979), 175 an. Vgl. GMS, 449 f. * Für wertvolle Hinweise bin ich dem anonymen Gutachter der Kant-Studien zu Dank verpflichtet. Bereitgestellt von | Vienna University Library/Universitaet Wien Angemeldet | 131.130.49.184 Heruntergeladen am | 29.11.13 15:53 Ist die Ethik Kants ontologisch unschuldig? 127 Literatur Bentham, J.: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung. In: Einführung in die utilitaristische Ethik. Hrsg. von Otfried Höffe. 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