Dr. Gesa Witthöft – [email protected] Anregungen zum Spannungsfeld Geschlecht – Stadtplanung – Sozialraum 1. Einleitung Sehr geehrte Damen und Herren, ich bedanke mich herzlich für die Einladung und die Gelegenheit, Ihnen in Bezug auf Ihre Aktivi‐ täten im Rahmen des Städtebauförderungsprogramms „Stadtteile mit besonderem Entwick‐ lungsbedarf – Soziale Stadt“ einige Anregungen zum Spannungsfeld Geschlecht1 – Stadtplanung – Sozialraum zur Diskussion stellen zu können. Ich beziehe mich dabei auf die Leitfragestellung dieser Tagung, wie durch einen strategischen Ansatz das Querschnittsziel einer geschlechtssensiblen Vorgangsweise in den Konzepten und Projekten der Sozialen Stadt dauerhaft verankert werden könnte. Ich werde dies entlang einiger theoretisch‐konzeptueller und methodischer Überlegungen zum Spannungsfeld Geschlecht – Stadtplanung – Sozialraum versuchen. 2. Zum Begriff Spannungsfeld Warum spreche ich in Bezug auf die drei Dimensionen Sozialraum, Stadtplanung und Geschlecht von einem Spannungsfeld? Der Begriff Spannungsfeld lässt sich natur‐, gesellschaftswissenschaftlich und auch alltagssprach‐ lich definieren. Unabhängig von der jeweiligen Ausrichtung haben diese Definitionen als Ge‐ meinsamkeit, dass ein Spannungsfeld ‚in’ sich und in Bezug auf Effekte ‚von außen’ von sowohl Bindungs‐ wie auch widerstrebenden Kräften geprägt wird. Spannungen und Spannungsfelder sind abhängig von Materialien, Ressourcen und ebenso auch von Erwartungen. Sie sind schwe‐ bend, changierend, prozessual… Dieses Bild trifft meines Erachtens auf jeder der drei genannten Dimensionen selbst zu und auch auf ihr Verhältnis zueinander: Mit anderen Worten ist die Art und Weise, wie Sozialraum, Stadt‐ planung und Geschlecht mit‐ und zueinander wirken, und auch wie sie einzeln und in ihrem Zu‐ sammenhang gedacht und behandelt werden (können), höchst spannungsvoll und facettenreich. Ich gehe demnach davon aus, dass sowohl in theoretischen Diskursen wie auch in Debatten, die im Rahmen operativen Handelns zu den drei Dimensionen geführt werden, unterschiedliche Sinnzusammenhänge gedacht werden und unterschiedliche Definitionen Anwendung finden. Insofern ist es (immer wieder) wichtig, darüber nachzudenken und zu diskutieren, ob wir auch von den gleichen Dingen sprechen, oder ob wir nur meinen, dass wir von den gleichen Dingen sprechen. 1 Im englischen Sprachgebrauch wird zwischen Gender, das soziale Geschlecht und Sex, das biologisch‐ anatomische Geschlecht unterschieden. Diese sprachliche Unterscheidung kann im Deutschen ohne Attri‐ but nicht getroffen werden. In Anlehnung an Judith Butler werde ich diese Unterscheidung aber nicht weiterführen, sondern ausschließlich von Geschlecht sprechen. Denn nach Butler wird mit der Unterschei‐ dung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht eine konzeptuelle Trennung zwischen der Körper‐ lichkeit und der mentalen Verfasstheit einer Person fortgeschrieben. Diese Trennung impliziert, dass der biologische Körper eindeutig und unhinterfragbar vorgegeben sei, und auch das soziale Geschlecht einer Person eindeutig determiniert würde und in Korrelation zum biologisch‐anatomischen stehe. Geschlecht‐ lichkeit, und damit auch die Möglichkeiten als Individuum zu leben und zu agieren, ist jedoch grundlegend eine kulturelle Errungenschaft beziehungsweise Interpretation – auch auf der Ebene der Körperlichkeit (vgl. Butler 1991 sowie meine Ausführungen im Folgenden). 1 Dr. Gesa Witthöft – [email protected] 3. Zur Programmatik des Begriffs Sozialraum Das Programm Soziale Stadt wurde entlang der Erkenntnis entwickelt, dass die deutschen – wie auch die meisten anderen europäischen – Gesellschaften gegenwärtig (erneut) von gravierenden Prozessen und Dynamiken sozialer Differenzierung und Hierarchisierung gekennzeichnet sind. Diese schlagen sich unter anderem in zunehmenden territorialen Disparitäten nieder. Als wesentliche Ursache für diese sowohl sozialen wie räumlichen Segregationsprozesse konnten in der Stadtforschung die abnehmende (gesellschaftliche) Integrationskraft durch Neustrukturie‐ rungen des Arbeitsmarktes und der sozialstaatlichen Ausgleichssysteme benannt werden: Die Durchsetzung der betriebswirtschaftlichen Marktlogik in nahezu allen gesellschaftspolitischen Handlungsfeldern befördert die sozio‐ökonomischen Selektionstendenzen innerhalb der Gesell‐ schaft. Diese Selektivität verstärkt „ein sozio‐ökonomisches Herunterfiltern von städtischen Teil‐ gebieten und verstärkt zudem die Konzentration bestimmter […] [sozialer Gruppen; GW] in we‐ nig attraktiven Marktsegmenten“ (Dangschat 2007, 257). Entsprechend konzentrieren die Pro‐ jekte der Sozialen Stadt in ihrer Konzeption auf als entwicklungsbedürftig eingeschätzte Stadttei‐ le und Quartiere – also als benachteiligt definierte Orte. Diese Orte werden in der Programmatik der Sozialen Stadt im Sinne relationaler Theorien des Raumes und im Rahmen des ganzheitlichen Blicks nicht als ‚Behälter’ von gebauten Funktionen, Infrastrukturen und NutzerInnen, sondern als Sozialräume, das heißt als Wohnorte und Lebens‐ räume gedacht, die durch die je verschiedenen Konstitutionsleistungen und Platzierungshand‐ lungen der Individuen entstehen (vgl. bspw. BMFSFL 2000‐2003; Läpple 1992; Löw 2001; Sturm 2000). Wie aber eine kaum mehr überschaubare Reihe von aktuellen Publikationen verdeutlicht, „[steht] der Begriff und das Konzept des Sozialraumes […] seit Jahren im Mittelpunkt sozialpoliti‐ scher, stadtplanerischer, stadtsoziologischer, sozialgeographischer und sozialpädagogischer De‐ batten“ (Kessl et al 2005, 5). Der Begriff und die Konzepte erweisen sich dabei als höchst facet‐ tenreich und werden vielfach auch unbestimmt verwendet (vgl. Riege/ Schubert 2005, 7 sowie bspw. die Beiträge in Kessl et al (Hg.) 2005; Projekt „Netzwerke im Stadtteil“ (Hg.) 2005). Eine differenzierte Darstellung dieser unterschiedlichen Zugänge und Perspektiven wäre auch in meh‐ reren Vorträgen kaum zu leisten. Eine kritische Analyse der Programmatik der Sozialen Stadt verdeutlicht meines Erachtens, dass auch hier sehr unterschiedliche Zugänge zum Begriff Sozialraum Anwendung finden. Es lassen sich jedoch einige ‚gemeinsame Nenner’ beziehungsweise gemeinsame Grundannahmen identi‐ fizieren: Â Ein Sozialraum wird in der Regel empirisch als territorial eingegrenzt konstruiert; wobei als wesentlich festgehalten wird, dass diese Eingrenzung nicht deckungsgleich mit den unterschiedlichen vorhandenen planerisch administrativen Grenzziehungen ist respekti‐ ve sein könne. Die wesentliche Zielebene ist dabei das Quartier, das so als die kleinste Ebene der Vergesellschaftung konzipiert wird. Â Die territorialen Konstruktionen fokussieren dabei auf die Lebensräume spezifischer so‐ zialer Gruppen; wobei über die unterschiedlichen Raumnutzungen und Raumwirkungen entlang des Geschlechts (vornehmlich in der dichotomen Unterscheidung ‚Frau’ und ‚Mann’), des Alters (hier vor allem Jugendliche und ältere Menschen) sowie entlang der ethnischen Herkunftskulturen die ausführlichsten Erkenntnisse vorliegen. Â Die Handlungsformen der untersuchten Gruppen in den Sozialräumen und deren Bewer‐ tungen der Sozialräume werden in den Programmgebieten vielfach mittels aktionsraum‐ analytischer Verfahren untersucht, wodurch sowohl individuelle Verhaltensweisen wie 2 Dr. Gesa Witthöft – [email protected] auch gesellschaftliche Verhaltensstrukturen und ‐dispositionen als relationale raum‐ zeitliche Dimensionen beschrieben und dargestellt werden können. Â Und nicht zuletzt werden lebensweltliche und soziografische Analysen integriert, die vor allem auf die Erkundung von Sinngebung und Zwecksetzung abzielen. Mit diesen Er‐ kenntnissen lassen sich folglich sowohl subjektiv‐individuelle Auffassungen wie auch (ver)objektivierte Zweckbestimmungen – und deren Überschreitungen – analysieren. Der Sozialraum einer Person lässt sich also schematisch als ‚Nutzungsgebiet’ darstellen, das sich entlang der von dieser Person frequentierten Orte eingrenzen lässt. Er ist dabei nicht statisch, sondern von zeitlichen Dynamiken sowie von dem Lebensstil, dem Alter, den finanziellen Rah‐ menbedingungen, den Dimensionen der formalen Integration der Person sowie weiteren sozia‐ len Ungleichheitskriterien abhängig. Abb. 1 Schematische Darstellung eines territorialen Rahmens eines Sozialraumes (eigene Darst.) 4. Das Spannungsfeld Sozialraum – administrativer Planungsraum Die Analysen über die Sozialräume eines Individuums und/ oder einer sozialen Gruppe erfolgen also über einen sehr komplexen methodischen Zugang. Dieser steht jedoch in einem direkten Spannungsverhältnis zum planerisch‐administrativen Zugang, der vor allem entlang ressortge‐ bunden‐funktional eingrenzbarer territorialer Untersuchungen eingegrenzt wird. Aus der Perspektive der Verwaltung respektive der öffentlichen Hand sind diese administrativen Grenzen unbestreitbar wesentlich, weil sie Geltungs‐ und Zuständigkeitsbereiche regeln: Und, weil Statistiken und Informationen über Strukturen und Prozesse in der Regel über die administ‐ rativen Einheiten aufbereitet werden (vgl. Dangschat 2006, 381). Solcherart hoheitlich‐ administrative Eingrenzungen werden aber auch im Rahmen anderer, die Planung flankierender politischer Handlungsfelder wie die Sozial‐, Jugendpolitik, Gesundheits‐ oder Steuerpolitik vor‐ genommen, sodass wir es also mit einer komplexen Überschneidung jeweils sehr unterschiedli‐ cher territorialer Einheiten zu tun haben. 3 Dr. Gesa Witthöft – [email protected] Abb. 2 Darstellung einer planungsrechtlichen Eingrenzungen am Beispiel Castrop‐Rauxel Mitte (Quelle: castrop‐rauxel.de/Stadtentwicklung/Planen_Bauen_Wohnen/Bebauungsplaene/bplan_mitte.jpg) Bereits die Überlappung der beiden (vereinfachten) Darstellungen von Sozialraum und Planungs‐ raum kann das Spannungsfeld zwischen den unterschiedlichen territorialen Eingrenzungen visu‐ ell verdeutlichen: Abb. 3 Überlappung des Sozialraumes und den planungsrechtlichen Eingrenzungen (eigene Darst.) Das Spannungsfeld zwischen den Dimensionen der Sozialraumorientierung und des Planungs‐ handelns ist folglich in mehrfacher Hinsicht bedenkenswert: Â Zum einen ist es bemerkenswert, dass dieses Spannungsfeld zwischen normativ‐ politischer Eingrenzung und Handlungsebenen sowie den hochdynamischen und relatio‐ nalen (individuellen und zielgruppenspezifischen) Sozialräumen wenig explizit themati‐ siert wird: Vorbehaltlich einer systematischeren Überprüfung erscheint mir diese Prob‐ lematik nur selten Untersuchungsgegenstand bei der Erstellung der Programme und Konzepte für die Modellvorhaben. 4 Dr. Gesa Witthöft – [email protected] Ich möchte also hier die – sicherlich etwas provokante – These zur Diskussion stellen, dass viele AkteurInnen im Rahmen des Programms mit beiden unterschiedlichen Kon‐ zeptionen zugleich agieren, wobei unklar bleibt, auf welchen der räumlichen Kontexte Bezug genommen wird. Â Vorbehaltlich einer systematischeren Überprüfung als ich dies für diesen Vortrag habe vornehmen können, scheint mir in diesem Zusammenhang undeutlicher normativer Ein‐ grenzungen zudem die Dimension der Regulation weitgehend unbeleuchtet; das heißt die systematische Untersuchung der Effekte und Wirkungen der normativ‐formalen Rah‐ menbedingungen auf den Sozialraum und deren Beeinflussung durch die subjektiven und individuellen Möglichkeiten der AkteurInnen selbst. Folglich wird das Spannungsfeld von Subjektivität und den Bedeutungen einzelner, akti‐ ver Personen einerseits und fachlichen respektive sachlichen Verobjektivierungen ande‐ rerseits, welches Ihnen als PraktikerInnen aus Ihren Arbeitserfahrungen deutlich bekannt sein dürfte, kaum berücksichtigt.2 Â Als fast schon Paradoxon lässt sich meines Erachtens in diesem Spannungsfeld von Sozi‐ alraumorientierung und planerischer Logik zudem anführen, dass als Ausgangspunkt für die Förderungen eines Gebietes eine dichte Problemlage und „Benachteiligungsmasse“ (Dangschat 2007, 257) im Sinne vieler wenig privilegierter BewohnerInnen, eine geringe‐ re infrastrukturelle Ausstattung und andere planerische Defizitkriterien mehr vorhanden sein müssen. Die Wiederbelebung selbst soll jedoch vor allem mit Hilfe der endogenen Potenziale und Netzwerkbildung erfolgen, das heißt von den weniger privilegierten oder gar überforderten Quartiersgesellschaften selbst geleistet werden. Und dies bei weiter‐ hin fortschreitender Privatisierung staatlicher Aufgaben. Â Zudem erscheint es mir bedenklich, dass an das kommunale Planungshandeln trotz die‐ ser Wissenslücken zugleich ein hoher sozial(politisch)er Anspruch gestellt wird, dass nämlich durch ‚gute Planung’ eine ‚gute Gesellschaftsentwicklung’ möglich sei. Die Fra‐ ge, was aber eine ‚gute’ Entwicklung ist oder sein kann, wird angesichts der oben skiz‐ zierten Segregations‐ und Diversifikationstendenzen in den Gesellschaften immer schwieriger zu beantworten. Diese übergeordnete planungspolitische Zielebene findet sich auch im Programm der Sozialen Stadt, und ‚spießt’ sich meines Erachtens mit dem operativen Rahmen im Lokalen, der im Schwerpunkt vor allem Instrumente dafür bietet, mit investiven Mitteln bauliche Maßnahmen zu realisieren – auch wenn es eine Reihe von Bestrebungen gibt, diese Spannungsdimension differenziert zu bedenken3. 5. Der Spannungspol Geschlecht im Kontext von Sozialraum und planerischer Programmatik Damit komme ich zum dritten Spannungspol in der Trias meiner Überlegungen, der Kategorie Geschlecht. Die Strukturierung des Planungshandelns als (gesellschafts)politisches Querschnitts‐ feld, der ganzheitlich sozialräumliche Anspruch des Konzeptes Soziale Stadt und die Zielvorgabe, 2 Einen empirischen Beleg für die (unerwartet) hohe Bedeutung individueller und subjektiver Interessens‐ ziele, Gelegenheitsstrukturen und Zufälligkeiten innerhalb des systematischen planerisch‐formalen Han‐ delns habe ich für das Handlungsfeld der Innenentwicklung im Rahmen meiner Dissertation erarbeitet (vgl. Witthöft 2010). 3 Ich möchte trotzdem deutlich festhalten, dass im Programm Soziale Stadt ein vergleichsweise großes Budget für Beteiligung vorhanden ist. Und dass die genuin planerischen Maßnahmen selbstverständlich – dies liegt in der bundesdeutschen wie auch westeuropäischen Auslegung des Querschnittsfeldes politisch legitimierter Planung begründet – von Maßnahmen anderer (sozial‐)politischer Handlungsfelder flankiert, unterstützt und unterfüttert werden. 5 Dr. Gesa Witthöft – [email protected] dass Planung in Deutschlang für die ganze Gesellschaft – für ‚alle’?! – gemacht wird respektive werden soll, ‚erzwingen’ geradezu die Einbindung der Wünsche und Bedürfnisse eben dieser ‚aller’ und machen eigentlich zwangsläufig einen differenzierten (und auch beteiligungsorientier‐ ten) Handlungs‐ und Umsetzungsmodus erforderlich. Weil wir wissen, dass die Gesellschaft asymmetrisch hierarchisiert ist – und sich wie eingangs skizziert zunehmend weiter hierarchisiert –, und weil wir wissen, dass einer dieser Hierarchisie‐ rungsprozesse sich entlang der Geschlechtlichkeit von Personen konstituiert, konstruiert und manifestiert, wird sinnvoller Weise mit dem Programm Soziale Stadt die emanzipatorische Ziel‐ setzung verfolgt, im Rahmen der Projekte die Gleichstellung von ‚Frauen’ und ‚Männern’4 zu befördern. Dieser politische emanzipatorische Ansatz ist grundlegend in dem lokalen Sozial‐ raumansatz und der Strategie der Förderung von sozialen und zivilgesellschaftlichen Netzwerken verankert. Aber auch hier haben wir es mit sehr unterschiedlichen Begriffsverwendungen, Zielsetzungen und Erwartungen zu tun. Meines Erachtens geht es im Rahmen des Programms vor allem darum, informelle nachbarschaftliche Formen der Vergemeinschaftung zu etablieren, die es den invol‐ vierten Personen und Gruppen erlauben, neue Verhaltens‐, Handlungs‐ wie auch Raumnut‐ zungsoptionen und ‐muster zu entwickeln. Somit soll darüber hinausgehend Einfluss nicht nur auf die Formen der Vergemeinschaftung, sondern auch auf die Formen der Vergesellschaftung genommen werden. Hintergrund für diese Zielsetzung ist der empirisch bestätigte soziologische Befund, dass Personen sich stets in einer vernetzten Struktur als Individuen, als Teil sozialer Ge‐ meinschaften und als Teil der Gesellschaft zugleich bewegen und agieren (siehe bspw. Elias 1996; Treibel 2004). Die Einbettung und Vernetzung von Individuen als Teil von Gemeinschaften und der Gesellschaft kann wie folgt schematisch dargestellt werden. Abb. 4 Schematische Darstellung des Verhältnisses von Individuum – Gemeinschaft – Gesell‐ schaft (eigene Darst.) 4 Wie bereits in der Fußnote 1 skizziert, wird die dichotome Unterscheidung zwischen ‚Frau’ und ‚Mann’ von mir grundlegend als unterkomplexe Konstruktion bewertet. Geschlechtlichkeit bildet vielmehr sehr unterschiedliche Variablen aus und stellt sich immer als kulturelle Konstruktion dar. Mit den Begriffen und Bildern von ‚Frau’ und ‚Mann’ werden folglich polarisierende Zuschreibungen konstruiert, die gesellschaft‐ lich ‚gemacht’ und individuell mitvollzogen werden (vgl. Butler 1991, Treibel 2004a sowie die Ausführun‐ gen im Folgenden). 6 Dr. Gesa Witthöft – [email protected] Zugleich sollen die Personen und sozialen Gruppen jedoch ihre individuellen und gruppenbezo‐ genen Wertvorstellungen beibehalten können, um die sozialen Bindungskräfte der Vergesell‐ schaftung, wie Zugehörigkeit(sgefühl), Identifikation, Vertrauen und Verhaltenssicherheit nicht zu gefährden oder gar zu zerstören. Hier wird jedoch als Spannungsverhältnis die Tatsache wirk‐ sam, dass Individuen in ihrem ‚eigenen’ Verhalten zwar sehr wohl emanzipatorisch gesell‐ schaftsverändernd handeln (können), sie die gesellschaftliche Verhältnisse durch das Eingebun‐ densein in strukturelle soziokulturelle Rahmenbedingungen jedoch zugleich reproduzieren. Gerade Geschlecht ist, neben nationalen, kulturellen, sozialen und herkunftsbezogenen eine der dominantesten und grundlegendsten Hierarchisierungslinien der Gesellschaft. Dies ist im Rah‐ men der Frauen‐, Geschlechter‐ und Geschlechterverhältnisforschung empirisch umfangreich nachgewiesen worden: Die bundesdeutsche Gesellschaft stellt sich demnach als grundlegend arbeitsteilig entlang des Geschlechts strukturiert dar (siehe bspw. Zibell 2008). Dieser strukturel‐ le Zusammenhang wird bedauerlicherweise immer noch sehr ideologisch rezipiert und bewertet – dass dem so ist, ist aber nicht verwunderlich, sondern verdeutlicht vielmehr genau die Proble‐ matik normativer Konstruktionen und die Prinzipien der Reproduktion hierarchisierender bipola‐ rer Denkmuster, wie sie im Rahmen des oben kritisierten Gleichstellungsdiskurses immer wieder ‚hergestellt’ werden. Die Begriffe und Konzeptionen von Geschlecht erweisen sich folglich als ebenso komplex und facettenreich wie die des Sozialraumes. Auffallend ist, dass gegenwärtig (nicht nur) im Kontext planerischer Handlungsfelder die Begriffsbestimmung zu Geschlecht gemessen an dem theoreti‐ schen Wissen der Geschlechterforschungen sehr unbestimmt verwendet wird, und dass in Folge in der Regel zum Begriff Geschlecht ‚Frau’ und ‚Mann’ gedacht wird; auch wenn dies nur eine, zudem sehr normative Konzeptualisierung von Geschlecht ist.5 Um Geschlecht im hier diskutierten umsetzungsorientierten Zusammenhang dennoch als strate‐ gische emanzipatorische Dimension etablieren zu können, möchte ich vorschlagen, zumindest zwei Ebenen präzise zu unterscheiden: Zum einen ist Geschlecht nicht mehr oder weniger als ein sozialstrukturanalytisches Unterschei‐ dungskriterium. Es ist für das Verständnis der Strukturen der Sozialräume nur insofern relevant, als dass in der Raumanalyse festgestellt werden kann, wie viele Personen, die dieses Kriterium aufweisen, sich in dem festgelegten Territorium in jeweils einer funktionalen Hinsicht aufhalten, also: wie viele ‚Frauen’ und ‚Männer’ dort wohnen oder arbeiten oder anderen Tätigkeiten nach‐ gehen. Diese Erkenntnis gibt uns jedoch keine Informationen über die Raumnutzungsmuster und ‐ anforderungen, die Qualitäten und Bewertungen der jeweiligen Sozialräume. Denn menschliches Verhalten wird immer durch das Setting aller gesellschaftsbildenden Kriterien geprägt, mit dem sich diese Person von anderen unterscheiden lässt. Das heißt: Anforderungen an räumliche Strukturen und deren Ausstattungen werden von Personen stets auf der Basis von komplex ver‐ wobenen Kriterien wie Alter, Geschlecht, der mentalen und körperlichen Verfasstheit sowie ih‐ rer gesellschaftlich strukturierten Kriterien wie Bildung, Einkommen, Ethnie und Klasse/ Milieu entwickelt. Das heißt, Geschlecht lässt sich nie isoliert betrachten, sondern muss immer in seiner Verwobenheit mit den genannten anderen Kriterien sozialer Ungleichheit betrachtet werden (vgl. Hertzsch 2010 und 2010 a; Witthöft 2005) Dieser Zusammenhang ist höchst komplex und erfordert viel konzeptuelle und methodische Feinarbeit. Um Geschlechtergerechtigkeit auch im Rahmen planerischen Handelns ‚herstellen’ zu können, müsste diese geleistet werden (können). 5 Hierauf differenziert einzugehen, würde den Rahmen dieses Beitrags weit überschreiten. Ein kompakter Überblick über die unterschiedlichen Denkmodelle von Geschlecht findet sich bspw. in Treibel 2004a. 7 Dr. Gesa Witthöft – [email protected] Entsprechend bezieht sich die zweite Ebene meiner Anregung dezidiert auf die politische Dimen‐ sion von Geschlecht respektive sozialer Ungleichheit: Nämlich auf die Frage der (wie auch immer gerechten) Verteilung der vorhandenen Güter und Ressourcen. Politik ist nach meiner Auffas‐ sung – wie auch das planerische Handeln – vor allem ein zielgerichtetes Handeln, bei dem es um die Ausgestaltung und Umsetzung von Forderungen und Zielsetzungen in öffentlichen wie priva‐ ten Belangen geht. Das heißt, es geht auch um die Frage, was eine gerechte Verteilung von Res‐ sourcen ist oder sein kann. Wer dann über welche Ressourcen – im planerischen Kontext: Flä‐ chen, Infrastrukturen und Mittel zu deren Benutzung – wie verfügen und sie für welche Funktio‐ nen und Zwecke benutzen kann, ist Folge dieses Aushandlungsprozesses. Im Rahmen dieser Verteilung greift meines Erachtens die Problematik, dass die Ziel‐ und Hand‐ lungsebenen und ‐möglichkeiten aller drei hier behandelten Dimensionen Geschlecht, Stadtpla‐ nung und Sozialraum sehr unterschiedlich, und zugleich sehr vielfältig und komplex miteinander verwoben sind: Die Sozialräume im Lokalen sind Analyse‐ und Zielebene zugleich. Auch eine prä‐ zise planungswissenschaftliche Analyse ist immer eine Reduktion komplexer Wirklichkeiten un‐ ter der spezifischen fachlichen Perspektive und kann in der Regel nur einen Ist‐Zustand erheben. Als Lebensräume sind die Sozialräume jedoch ebenso dynamisch und veränderlich wie die Men‐ schen und deren Anforderungen an diese Räume. Die Planung hat als ordnungspolitisches In‐ strument einen grundlegend normativen und generalisierenden Charakter, setzt sich jedoch mit der Forderung für ‚alle’ gut zu sein, ein sehr komplexes Ziel, dass angesichts der zunehmenden Differenzierung der gesellschaftlichen Anforderungen immer schwerer umzusetzen ist. Im Rahmen politischer Zielsetzungen ist es demnach unabdingbar, dass die handelnden Perso‐ nen das Ziel, was Gerechtigkeit vor Ort überhaupt sein kann, dezidiert aushandeln und deutlich formulieren. 6. Das Spannungsverhältnis Sozialraum – Stadtplanung – Geschlecht Die Dimensionen Geschlecht, Stadtplanung und Sozialraum befinden sich also in einem komplex verwobenen Spannungsverhältnis, welches sich schematisiert wie folgt verdeutlichen lässt. Abb. 5 Das Spannungsfeld Sozialraum – Stadtplanung – Geschlecht (eigene Darst.) 8 Dr. Gesa Witthöft – [email protected] Dieses Spannungsverhältnis stellt sowohl die strategisch‐konzeptuelle wie auch die konkrete umsetzungsorientierte Arbeit im Rahmen des Programms vor große Herausforderungen. Folgende Aspekte sollten beachtet werden, um sich diesen Herausforderungen stellen zu kön‐ nen: Â Zum einen erscheint es sinnvoll, die vielfach unbestimmte Verwendung der facettenrei‐ chen und vielfältigen Konzepte zu reflektieren und zu differenzieren – dies vor allem (aber nicht nur!) in der Praxis, in der es unter Zeitdruck und Mittelknappheit um eine möglichst zeitnahe Umsetzung von Maßnahmen geht respektive gehen muss. Wenn die Sozialraumorientierung des Programms weiterhin als sinnvolle Zielebene ge‐ sehen wird, erscheint mir demnach geboten, die jeweilig verwendeten Konstruktion und Konzepte kritisch zu hinterfragen und das jeweilige analytische Instrumentarium ent‐ sprechend zu präzisieren. Konkret bedeutet dies, dass das Programm und die einzelnen Projekte mit ausreichenden – mehr! – Mitteln und Zeit zur Gewinnung eines differenzier‐ ten Verständnisses der jeweiligen Sozialräume ausgestattet werden sollten. Â Und zum zweiten stellt sich mit der Zielsetzung einer explizit auf eine gesellschaftliche Hierarchiedimension, die Geschlechtergerechtigkeit, gerichteten Programmatik eine Reihe von Fragen, die meines Erachtens im Rahmen des oben skizzierten Aushandlungs‐ prozesses beantwortet werden sollten: Ö Wie kann im Rahmen planerischen Handelns Gerechtigkeit ‚hergestellt’ werden, wo wir doch vor der Herausforderung stehen, dass materiale Güter ‚einen Platz’ brau‐ chen, der dann ‚besetzt’ ist, und der, wenn er funktional eindeutig ausgestaltet ist, auch nur so genutzt werden kann? Ö Wie kann Gerechtigkeit ‚hergestellt’ werden, ohne dabei Ressourcen in Anspruch zu nehmen, die an anderer Stelle Ungerechtigkeit produzieren? Ö Was ist überhaupt gerecht – ist nicht die eine Ausstattung für eine Person ‚gerecht’, ‚schön’ oder ‚sinnvoll’, kann aber den Ansprüchen einer anderen nicht genügen? Ö Haben wir eigentlich ‚alle’ mitgedacht, oder grenzen wir von Anbeginn bestimmte Personen und ihre Bedürfnisse und Anforderungen aus, weil wir in der Analyse nicht ‚gesehen’ haben? Ö Haben wir eigentlich alle AkteurInnen ‚im Boot’, um diese politische Zielsetzung um‐ zusetzen? Ich denke hier insbesondere an die Problemstellung, dass wir uns pro‐ grammatisch auf die sogenannten Betroffenen konzentrieren, die Praxis jedoch lei‐ der zeigt, dass wesentliche gestaltungsmächtige AkteurInnengruppen – und das sind derzeit vor allem diejenigen mit Geld und Verfügungsgewalt über weitere Ressour‐ cen – nur schwer zu planerischen Kooperationen zu gewinnen sind, vor allem weil ih‐ re Handlungsfelder scheinbar (!) die sozialorientierten Zielebenen nicht berühren? Ö Und nicht zuletzt ist gerade in Bezug auf die oben kritisierte, latent unterkomplexe Konzeption einer binären und heteronormativ konzipierten Geschlechtergerechtig‐ keit zu fragen: Muss Gerechtigkeit an der derzeit vereinbarten, viele ausschließen‐ den Norm gemessen werden? Welche neuen Konzepte können entwickelt werden, und vor allem wie? Â Zum dritten zielen planerische Interventionen stets darauf ab, Güter und Orte neu in Wert zu setzen. Die emanzipatorisch‐politischen Zielsetzungen des Programms sollen darüber hinausreichend dazu beitragen, auch neue Werte und Haltungen zur Gesell‐ schaft und zum Leben zu initiieren und zu etablieren. Neues weckt jedoch immer auch Ängste und Befürchtungen. Und diesen kann meines Erachtens vor allem mit Wissens‐ bildungsprozessen begegnet werden. 9 Dr. Gesa Witthöft – [email protected] Und nicht zuletzt geht es im planerischen Handeln grundlegend um Verteilungsfragen. Planung ist ein politischer Prozess, bei dem die jeweils unterschiedlichen AkteurInnen je unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten haben. Dieses Aushandlungsfeld muss geklärt und in eine entsprechende Prozessarchitektur überführt werden. Daraus folgt, dass es bei den konkreten Projekten nicht mehr nur um Beteiligung und Kooperation gehen kann, sondern dass verstärkt Wissensbildungsprozesse innerhalb der planerischen Aushandlung etabliert werden sollten. Dieses gilt nicht nur für die soge‐ nannten Laien oder AlltagsexpertInnen, sondern auch für die professionellen AkteurIn‐ nen. 7. Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BMFSFL 2000‐2003. Wissenschaft‐ liche Begleitung des Programms „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“. Deutsches Jugendinstitut. Butler, Judith 1991. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Dangschat 2007. Wohnquartiere als Ausgangspunkt sozialer Integrationsprozesse. 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