Alfred Nordmann Ethische und gesellschaftliche Aspekte der Nanotechnologien Hanau, 16. November 2005 Ethik vor dem Hintergrund der Nanotechnikforschung Modell Medizinethik, Bioethik: Technologien der Reproduktionsmedizin, der Lebensverlängerung, usw. schaffen ein neues ethisches Problemfeld – Ethische Theorien (Aristoteles,Kant, u.a.) werden auf das neue Problemfeld angewandt. Ethische Dimensionen der Nanoforschung: Nanotechnologische Visionen behaupten eine tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft – Über die Forderung ethischer Reflektion weisen sich die Visionen als ernsthaft, gar realistisch aus – Das Phänomen einer über Visionen und Programme definierten „Nanotechnologie“ muss verstanden werden, um die für die Gegenwart relevanten ethischen Dimensionen überhaupt sichtbar zu machen. 1 1 NanoWissenschaftsPhilosophie • begann im Jahr 2000 an der University of South Carolina • auch andere Zentren (Twente, Lancaster, University of Arizona, Darmstadt) fragen zunächst: – wie lassen sich nanoskalige Phänomene technisch kontrollieren? – wie entsteht wissenschaftliche Glaubwürdigkeit in einem visionären Umfeld? – wie robust sind auf Simulationen basierende Erkenntnisse? – welche Rolle spielen Visualisierungen? – was ist der deutsche Beitrag zur Entwicklung der amerikanischen Nanotechnologie Initiative? – welchen Status hat die Materialwissenschaft innerhalb der Nanoforschung? 2 Hessen und Deutschland • TU Darmstadt: informelle Arbeitsgruppe „Theorie und Geschichte der Nanoforschung“ – „Gesellschaftliche Zusammenhänge von Nanotechnik und konvergierenden Technologien“ • Marburg: interdisziplinäre Arbeitsgruppe (Sozialethik, Chemie, Wirtschaftswissenschaft, Medientheorie, u.a.) „Integrative Innovation“ • Institut für ökologische Wirtschaftsforschung: Nachhaltigkeit durch Nanotechnologie • Karlsruhe und TAB: Arbeitsgruppen zur NanoTA und konvergierenden Technologien • Am ZIT der TU Darmstadt entsteht eine „Arbeitsstelle für interdisziplinäre Nanotechnikforschung“ • u.a. 3 2 Das Dilemma Ethische Reflektion ist doppelt gefährdet: • Angesichts fantastischer Spekulationen über die nanotechnische Zukunft und ihre schönen neuen Menschen übersehen wir womöglich die ganz banalen, darum nicht unwichtigen ethischen Probleme hier und jetzt. • Unsere Bemühung, ethische Fragen in der gegenwärtigen Situation realistisch zu verankern, verstellt womöglich den Blick für die radikalen Veränderungen in der (nicht-so?) fernen Zukunft – wir könnten die Chance verpassen, uns vorzubereiten. 4 Zeithorizonte NanoEthik beginnt damit, die Fragen verantwortlich in den ihnen angemessenen Zeithorizont zu stellen und den Bezug zur Gegenwart im Blick zu behalten: Was können und sollen wir jetzt tun? Dabei kann sich die NanoEthik aber nicht einfach auf eine unsichere Prognostik verlassen. Drei Beispiele: • Gesundheitsrisiken von Nanopartikeln • Die Verschmelzung von Organischem und Inorganischem, lebender und toter Materie, Mensch und Technik • Das Schicksal der Menschheit, z.B. ob die Zukunft uns noch braucht. 5 3 I. Nanopartikel (Eindrücke von der ecetoc Tagung, 7. bis 9. November in Barcelona) Nanopartikel haben neue Qualitäten • überqueren Blut-Gehirn-Schranke • lagern sich im zentralen Nervensystem ab • können vielleicht mit derZell-DNS interagieren • haben quantenphysikalische, optische, elektrische Eigenschaften • können funktionalisiert sein (z.B. Sensoren) • werden im medizintechnischen Zusammenhang gezielt an Organe und Zellen heran getragen Stellen diese neuen Qualtitäten ein Gesundheitsrisiko dar? Dies ist nur für Kohlenstoff Nanoröhrchen ansatzweise erwiesen. 6 I. Nanopartikel Im Fall von Asbestos gab es Warnungen schon im frühen 20. Jahrhundert. Sie wurden ignoriert. Erst epidemiologische Studien erwiesen seine Schädlichkeit. Um diesen Fehler nicht zu wiederholen, werden Warnungen über Nanopartikel sehr ernst genommen. Die Toxikologie von Nanopartikeln gilt als unmittelbares Problem, das jetzt schon wissenschaftlich behandelt werden kann. 7 4 I. Nanopartikel Aber – ein wesentlicher Charakterzug der Nanotechnologie ist technische Kontrolle an den Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten: Nanoskalige Eigenschaften sind überraschend: Wir können sie mit quantenphysikalischen und klassischen Gesetzen erklären, nicht aber vorhersagen: Es gibt keine eigenen Gesetze über Struktur- und Eigenschaftsbeziehungen im komplexen Nanobereich. Damit sind auch der Toxikologie Grenzen gesetzt: Sie kann wachsam beobachten, aber definitive Aussagen werden nur möglich, wenn größere Populationen langfristig beobachtet werden. 8 I. Nanopartikel Das „pharmakologische Ideal“ ist unerreichbar: Experimentelle Prüfung, klinische Versuche – erst nach Feststellung von Effektivität und Sicherheit kommt der öffentliche Gebrauch. Stattdessen – wie bei vielen neuen Technologien, chemischen Wirkstoffen – wird die Gesellschaft zur Versuchsanstalt: Erst im Gebrauch kann die soziale und gesundheitliche Verträglichkeit definitiv ermittelt werden. 9 5 Zwischenbilanz Das kurzfristig-unmittelbare Problem, dem wir uns jetzt schon zuwenden, verpflichtet uns auf unbestimmte Zeit. Das heißt: • Nanotoxikologische Forschungsprogramme müssen jetzt gefördert werden – das geschieht auch. • Das Restrisiko kann gemeinsam getragen werden – dazu bedarf es eines gesellschaftlichen Dialogs über den spezifischen Nutzen nanotechnologischer Forschung. Umgekehrt gibt es Problemstellungen, die sehr „zukünftig“ aussehen, uns aber heute schon fordern. 10 II. Zellen und Maschinen Auf der Nanoskala sehen wir nur noch Moleküle: Organisches und Inorganisches, Sensoren und Nervenzellen lassen sich im Prinzip miteinander kombinieren. Nach dem kosmologischen „big bang“ der nanotechnologische „little BANG (Bits, Atoms, Neurons, Genes)“? Die Natur wird als Ingenieur angesehen, die Zelle als Fabrik mit Nanomaschinerie das Gehirn als Beweis dafür, dass Computer organisch produziert werden können… 11 6 II. Zellen und Maschinen Auf dieser Grundlage entfalten sich spekulative Szenarien, die in ferner Zukunft angesiedelt sind: • Unsterblichkeit (die Zellmaschinerie wird von Nanorobotern repariert) • Erweiterte physische und geistige Fähigkeiten (neue Speicherkapazitäten, Wahrnehmungsfähigkeiten im Gehirn) Aber wie zukünftig sind diese Szenarien wirklich? 12 II. Zellen und Maschinen Heute schon reden wir über die Zelle als eine Nanofabrik. Heute schon setzen Forschungsprogramme implizit voraus, dass Alterungsprozesse „heilbar“ sind – sie definieren das Altern als eine Krankheit. Heute schon sollten wir also fragen, ob es hier nicht einen wichtigen Unterschied gibt: • Forschung für ein gesundes Leben und öffentliche Gesundheit (erhöhte Lebenserwartung ist ein Nebeneffekt) • Forschung zur Lebensverlängerung 13 7 III. Schicksal der Menschheit Die ganz langfristige Frage hat Bill Joy im Jahr 2000 gestellt: „Why the future doesn‘t need us“ Gegen Joys Methode wendet der Chemiker George Whitesides ein: „The process of starting with current science, extrapolating it into the future, and then guessing how society will use or abuse this future science is so uncertain that it will probably fail.“ Ethische Reflektion darf nicht spekulativ, leichtgläubig, dem visionären Denken verfallen sein. 14 III. Schicksal der Menschheit Aber die gegenwärtige Programmatik der Wissenschaften ist bereits eingebettet in die Frage nach unserer technischen Zukunft. „Was wird aus uns werden?“ ist immer auch die Frage „Wer sind wir und was sollen wir sein?“ George Whitesides fährt fort: „I propose that we begin by identifying the assumptions that our society makes, and then ask about the vulnerability of these assumptions in the face of plausible science.“ 15 8 III. Schicksal der Menschheit Nicht mehr selbstverständlich? • • • • • • • • • We are mortal Only living creatures think; we think best Animals and machines are different Human life is invaluable All are born equal We are individuals, and privacy is important Experts know best; doctors control the medical system Earth will remain habitable Nations are the most powerful human organizations 16 Bilanz Die neun Grundannahmen sind nicht mehr selbstverständlich. • Der Grund dafür ist nicht, dass sie von der wissenschaftlich-technischen Entwicklung überholt werden. (Das wissen wir nicht, das traut der Wissenschaft und Technik zu viel zu, das ist eine ferne Zukunft, die sich auch noch verhindern ließe.) • Der Grund dafür ist aber, dass technische Visionen immer wieder als Vorwand dienen, uns in Frage zu stellen, über uns und unsere Zukunft nachzudenken. (Und das ist gut so.) 17 9 Bilanz Für die ethischen und gesellschaftlichen Dimensionen der Nanotechnologie heißt dies: • Es gibt die „Nanotechnologie“ (im Singular) – damit verbinden sich keine konkreten Vorstellungen, sie dient aber als Folie für kollektives Träumen, Spekulieren, Nachdenken über unsere technische Zukunft und wer wir heute sind. • Dann gibt es viele einzelne „Nanotechnologien“, die jede für sich betrachtet werden muss. Einige davon produzieren Nanopartikel und müssen sich über ihren Nutzen rechtfertigen. Andere setzen voraus, dass die alterne Zelle aus reparablen Maschinen besteht, und muss konkret hinterfragt werden. Andere wiederum… 18 10