PRODUKTION Der Kampf mit den Keimen Expertenrunde. Die Branche diskutiert derzeit über Möglichkeiten einer sterilen Herstellung von Medizinprodukten aus Kunststoff. In einer Expertenrunde, die sich am Lehrstuhl für Medizintechnik der Technischen Universität München traf, stand dieses Thema im Mittelpunkt und wurde aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Der Artikel basiert auf den Diskussionsbeiträgen der Teilnehmer. s liegt in der Natur der Sache: Medizinprodukte, Verpackungen und besonders Implantate müssen steril sein, wenn sie am oder im menschlichen Körper zum Einsatz kommen. Nach Definition ist ein Produkt steril, wenn es frei von Mikroorganismen ist, die zur Vermehrung oder zur Weitergabe von genetischem Material fähig sind. E Sterilisation nach dem Formen Zur Sterilisation von Medizinprodukten aus den traditionellen Werkstoffen Titan, Keramik oder Glas haben sich Verfahren etabliert, die nicht ohne Weiteres auf jedes Kunststoffprodukt übertragbar sind. Die Heißdampfsterilisation zum Beispiel kann die mechanischen Eigenschaften einiger Kunststoffe beträchtlich verringern. Aber auch der Einsatz von Gamma- oder Elektronenstrahlen kann zum Abbau der Polymermatrix führen. Unproblematischer unter dem Aspekt der physikalischen Eigenschaften scheint dagegen der Einsatz von Ethylenoxid, Formaldehyd oder von sehr kurzen UltraviolettstrahARTIKEL ALS PDF unter www.kunststoffe.de Dokumenten-Nummer KU110331 len (UV-C-Bestrahlung) sowie die Plasmasterilisation zu sein. Ethylenoxid allerdings hinterlässt Rückstände auf Polymeroberfläche, und das Plasma dringt nicht in alle Winkel eines Bauteils ein und eignet sich nicht für komplexere Geometrien. Besonders herausgestellt wurde, dass bei allen Verfahren immer, die Materialdaten der Rohstoffhersteller zu beachten sind , die für ihr Produktportfolio Richtwerte und Sterilisationsverfahren als Hilfestellung vorgeben.Artikel, die in der Re- i Zum Thema Filmbeitrag Das komplette Expertengespräch zum Thema „Sterile Herstellung von Medizinprodukten aus Kunststoff“ sehen Sie im Web-TV des Carl Hanser Verlags. www.kunststoffe.tv/medizintechnik09 Fachtagung Kunststoffe medical 10. und 11.03.2010 in Ulm Tagungsleiter: PD Dr. Andreas E. Guber, IMT www.hanser-tagungen.de 60 W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen gel unter Reinraumbedingungen hergestellt wurden, lassen sich dann zuverlässig und wirtschaftlich sterilisieren. Wesentlich für die Auswahl eines Verfahrens ist auch der Verwendungszweck des medizinischen Artikels. Beim einmaligen Gebrauch, zum Beispiel von Einwegspritzen, kann dem Kunststoff weit mehr zugemutet werden als bei immer wiederkehrendem Einsatz und entsprechender Häufigkeit des Sterilisationsprozesses. Weitere wichtige Kriterien sind die Größe und die Geometrie eines Produkts. Unbestritten werden filigrane Mikrobauteile weit mehr durch die herkömmlichen Verfahren belastet als gewöhnliche Bauteile. Das liegt einmal daran, dass kleine Bauteile in Relation zum Volumen eine große Oberfläche aufweisen, die es zu sterilisieren gilt. Andererseits verfügen kleine Bauteile kaum über Reserven bei den mechanischen Eigenschaften, und diese dürfen nicht über eine Versprödung oder Kettenabbau reduziert werden. Steril aus der Schmelze Als Alternative zur Sterilisation nach der Herstellung bietet sich in der Kunststoffverarbeitung die sterile Produktion aus der © Carl Hanser Verlag, München www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv Kunststoffe 2/2010 Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern PRODUKTION Schmelze an. Denn das Temperaturniveau der gängigen Formgebungsverfahren Spritzgießen oder Blasformen tötet zuverlässig alle relevanten Keime ab.Es muss nur sichergestellt werden,dass die steril erzeugten Produkte auch steril verpackt werden, ohne dass sie mit der Umgebung in Kontakt kommen. Hierbei gilt es, das Nachfolgehandling abzuschirmen oder auch die Druckluft für den Blasformprozess zu sterilisieren, was recht aufwendig ist. Eine größere Barriere dieser Produktionsform liegt auch im hohen Mess- und Kontrollaufwand sowie in der Beweisführung, dass das System die Anforderungen in der Praxis erfüllt. Und hier geht es um die Validierung des kompletten Herstellungsund Verpackungsprozesses. Jeder Produktionsschritt wird dokumentiert und unterliegt dem Gesamtmonitoring. Es gibt bereits einige Produktbeispiele, die nach dieser Methode hergestellt werden, z.B. Einwegsauger für Geburtsstationen in Krankenhäusern und Impfstoffbehälter, die zuvor aus Glas gefertigt waren. Experten prognostizieren dieser Produktionsmethode ein großes Wachstumspotenzial. Die große Herausforderung dieser transparenten Produktion liegt nach einhelliger Meinung der Expertenrunde weniger im Anlagenbau, denn die Anforderungen lassen sich technisch lösen und sind bereits artikelorientiert gelöst worden. Die große Herausforderung liegt beim Personal und beim Management der Unternehmen, sich dieser Transparenz ohne Kompromisse zu stellen. Die Medizintechnik agiert in einem stark reglementierten Produktumfeld, und die Bereitschaft zur Transparenz und zu ehrlichen Partnerschaften in den Geschäftsbezie- Für Prof. Dr. med. Dr.-Ing. habil. Erich Wintermantel, Ordinarius am Lehrstuhl für Medizintechnik an der TU München ist es wünschenswert, das Maximum aus einem Bauteil herausholen zu können. Deshalb sollten die Bemühungen des Konstrukteurs und der Maschinenbauer nach optimaler Werkstoffnutzung nicht durch eine nachfolgende Sterilisation zunichte gemacht werden, sondern es sollten uneingeschränkt Hochleistungsbauteile entstehen. „Wir möchten, dass sich der Spritzguss in der » Wir möchten, dass sich der Spritzguss in der Implantattechnologie durchsetzt und so die Sterilisation in die Fertigung integriert wird. hungen ist hier eine Grundvoraussetzung für den Erfolg einer Unternehmung. Fazit In einem abschließenden Statement verdeutlichen die Teilnehmer der Diskussionsrunde nochmals ihre wichtigsten Standpunkte zum Thema: Prof. Dr.-Ing. Thomas Seul von der Fakultät Maschinenbau an der Fachhochschule Schmalkalden sieht in der Sterilisation von Kunststoffprodukten ein sehr weites und hochinteressantes Betätigungsgebiet – auch um in den Markt einzutreten: „Das ganze Umfeld der Verpackungsindustrie bildet ein breites Spektrum für sterile Kunststoffprodukte. Insbesondere im Bereich der Disposables, der Einweg- oder Wegwerfartikel, ist die Sterilisation ein Thema mit Wachstumspotenzial.“ Der Weltmarkt für pharmazeutische Erzeugnisse habe sich innerhalb von 12 Jahren mit 351 Mrd. EUR nahezu verdoppelt und zeige einen deutlichen Trend zu Disposables. Insbesondere, weil die Einwegprodukte steril in den Umlauf kämen und kein Reinigungsaufwand mehr erforderlich sei, sowohl bei den Ärzten und als auch Patienten. Seul: „Das senkt natürlich die Kosten bei den Anwendern in der medizinischen Versorgung, deshalb ist auf diesem hochinteressanten Feld noch enorm viel Wachstum zu erwarten.“ » Das Umfeld der Verpackungsindustrie bildet ein breites Spektrum für sterile Kunststoffprodukte. « THOMAS SEUL » Besonders bei untergeordneten Bauteilen reicht eine Reinraumfertigung mit einer nachgelagerten Sterilisation vollkommen aus. « THOMAS WILES Implantattechnologie durchsetzt und so die Sterilisation in den Fertigungsprozess integriert werden kann. Entsprechende Semester- und Diplomarbeiten werden zurzeit erstellt. Damit wollen wir unseren Beitrag leisten, dass beispielsweise ein Mittelohrimplantat bald auf den Markt kommen kann, ohne dass eine nachträgliche Sterilisation erforderlich ist und dadurch eine Werkstoffschwächung er> folgt.“ 61 Kunststoffe 2/2010 W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen « ERICH WINTERMANTEL www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern PRODUKTION Thomas Wiles, Leiter Industry Management Healthcare & Diagnostics Specialty Plastics bei der BASF SE, Ludwigshafen, stellt klar, dass überall dort, wo die sterile Produktion vom Gesetzgeber oder der Pharmaindustrie gefordert würde, sie auch in jedem Fall einzusetzen sei. „Oftmals und besonders bei untergeordneten Bauteilen reicht eine Reinraumfertigung mit einer nachgelagerten Sterilisation vollkommen aus.“ Und bei Fragen zu Sterilisation gebe es zahlreiche Dienstleister, die bei den unterschiedlichen Sterilisationsverfahren Hilfestellung leisten könnten. Zusammen mit dem Endkunden, denn die Pharmaunternehmen dürften nicht vergessen werden, gelte es, die richtigen Verfahren zu definieren. Wiles:„Die OEMs müssen von Anfang an involviert sein. Schließlich ist das Networking, die Kommunikation mit den unterschiedlichsten Unternehmen und Personen, sehr wichtig und langfristig mit endscheidend für den Erfolg eines Vorhabens.“ Dr.-Ing. Erwin Bürkle, ehemals Leiter Vorentwicklung bei der KraussMaffei Technologies GmbH, München, macht deutlich, dass der Anlagenbau in den vergangenen Jahren die Voraussetzungen geschaffen habe,sterile Produktionsmöglichkeiten bereitzu stellen, der Übergang von partikelarmen zu keimfreien Produktionszellen sei gegeben. Man habe hier Anleihen aus der Pharmaindustrie gemacht und Isolatorkonzepte entwickelt, die auf engstem Raum die sterile Produktentstehung gewährleisten. „Damit ist die sterile Produk- ganz wesentlich auch die Menschen dahinter:„Die Ausbildung der Personen, die in einer sterilen Fertigung arbeiten, erfordert das höchste Niveau. Das bedeutet, dass die Unternehmensführung sehr gut wissen muss, worauf es bei einer sterilen Fertigung ankommt.“ Die Menschen, die in der Praxis mit den Maschinen und Geräten umzugehen hätten, müssten sämtliche Prozesse nach vorne verstanden haben und permanent weitergebildet werden, sodass sie diese Prozesse im laufenden Betrieb über die Jahre und Jahr- » Zunächst muss sich bei den Unternehmen der Branche die Akzeptanz entwickeln, diese Bauteile zu fertigen, und dafür plädiere ich aufs Stärkste. tion in einem sogenannten Isolator auch die energie- und ressourceneffizienteste Produktionseinheit, die man sich vorstellen kann.Und das sollte letzten Endes auch weiter verfolgt werden. Das Marktpotenzial ist hier sehr groß“, so Bürkle. Laut PD Dr.-Ing. Andreas E. Guber, Institut für Mikrostrukturtechnik (IMT) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), spielt die Sterilisation im Bereich der polymerbasierten biomedizinischen Mikrosystemtechnik eine ganz wichtige Rolle. Zunächst aber müssten diese Bauteile Einzug in den Markt halten: „Ich denke dabei an Produkte im Bereich der Diagnostik wie Lab-on-a-Chip-Systeme, miniaturisierte Analysesysteme für die Invitro-Diagnostik, Point-of-Care-Testing, aber auch an die vielen anderen mikrosystemtechnisch basierten Medizinalprodukte auf Kunststoffbasis, wie zum Beispiel Kathetersysteme, die man heute nicht nur ins Herz, sondern bis ins Gehirn führt, um operative Eingriffe vorzunehmen. Zunächst aber muss sich bei den Unternehmen der Branche die Akzeptanz entwickeln, diese Bauteile zu fertigen, und dafür plädiere ich aufs Stärkste.“ Für Dr.-Ing. Arno Rogalla, Consultant und Interim Manager, Bad Bramstedt, gehören zu einer sterilen Fertigung » Die sterile Produktion in einem sogenannten Isolator ist damit auch die energie- und ressourceneffizienteste Produktionseinheit. « » Die Ausbildung der Personen, die in einer sterilen Fertigung arbeiten, erfordert das höchste Niveau. 62 zehnte sauber begleiten könnten. Dies sei ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Punkt überhaupt, denn die Maschinenund Anlagentechnik seien Aufgaben, die sich vernünftig über ein entsprechendes Investment lösen ließen. Rogalla:„Das Kapital Mensch, das dahinter steht, ermöglicht,dass gute Mitarbeiter in einem Hochlohnland wie Deutschland auch zukünftig ihre Arbeitslätze in einer anspruchsvollen Fertigung finden können. Und das müssen wir hier weiter ausbauen“. Gerhard Gotzmann © Carl Hanser Verlag, München www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv « ARNO ROGALLA ERWIN BÜRKLE W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen « ANDREAS E. GUBER Kunststoffe 2/2010 Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern