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Der absicherungsfixierte Medianwähler
In Deutschland haben sich die Merkmale des Medianwählers markant verschoben
Veröffentlicht im Handelsblatt 3. April 2007 unter dem Titel
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Das Zünglein an der Waage
In Deutschland haben sie die Merkmale des Medianwählers markant verschoben
Horst Siebert*
Der Medianwähler ist an der Wahlurne das bekannte Zünglein an der Waage. Im
politischen Spektrum mit unterschiedlich ausgeprägten Präferenzen der Bürger sitzt
er mit seinen individuellen politischen Vorstellungen in der Mitte, und seine
Stimme gibt den Ausschlag darüber, welche der Parteien oder der Parteikoalitionen
die Regierung bilden können. Was für Merkmale dieser wahlentscheidende Wähler
aufweist, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, so von den historisch
gegebenen kulturellen Einstellungen, dem Grad der Urbanisierung oder auch dem
Wahlrecht.
Die Merkmale des Medianwählers werden aber auch entscheidend davon
beeinflusst, welche wirtschaftspolitischen Instrumente die Politik einsetzt. Durch
Maßnahmen der Wirtschaftpolitik kann eine Partei, wenn sie an der Regierung ist,
die ökonomischen Bedingungen ihrer Wähler verändern. Der Wettbewerb der
Parteien um den Medianwähler tut sein Übriges. In einem System mit zwei großen
Parteien orientieren sich die Wahlprogramme am Wähler in der Mitte, wie dies bei
Sozialdemokratie und Union zu beobachten ist. Beide großen Parteien überbieten
sich darin, mit ihren Programmen für das Soziale den Wähler anzusprechen. In
einem System mit mehreren Parteien kommt zusätzlich die Konkurrenz am linken
und rechten Rand hinzu.
Das beste Anschauungsmaterial für diese Überlegungen liefert der starke Ausbau
der sozialen Absicherung in Deutschland seit den 1970er Jahren. Dazu zählen unter
anderem die Anhebung des Arbeitslosengeldes von 63,3 auf 68 Prozent des
Nettolohns, die Ausdehnung seiner Bezugsdauer auf bis zu 32 Monate Mitte der
1980er Jahre, die Erhöhung des Anspruchslohns (des „reservation wage“) durch
*
Emeritierter Präsident des Instituts für Weltwirtschaft, Kiel; Professor, Johns Hopkins University
Bologna, und Mitglied der Group of Economic Policy Analysis (GEPA) der Europäischen
Kommission.
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manche Maßnahmen der sozialen Absicherung, die Steigerung des Rentenniveaus
von 60 auf 70 Prozent des Nettolohns in den 1970er Jahren, ein früherer
Vorruhestand und die 2003 eingeführte Mindestrente. Auch der von der Großen
Koalition beabsichtige Mindestlohn gehört dazu. Durch die Veränderung der
ökonomischen Situation der Wähler ändern sich deren Charakteristika, die soziale
Absicherung findet mehr Anhänger, der Medianwähler wandert auf dem
Kontinuum der Präferenzen in Richtung mehr soziale Absicherung, und
entsprechend steigt die politische Nachfrage nach Absicherungsleistungen des
Staates. Analoges gilt für die Verteilungsorientierung der Parteien.
In Deutschland haben sich die Merkmale des Medianwählers in den letzten vierzig
Jahren markant verändert. So lag die Zahl der Transferempfänger im Jahr 1971 bei
11,2 Millionen Personen und die der Lohnsteuerzahler bei 20,6 Millionen. Diese
Relation von 1:2 hat sich bis zum Jahr 2001 – dem letzten Jahr, für das Zahlen
vorliegen – mit 30,8 Millionen Transferempfängern und 25,7 Millionen
Lohnsteuerzahlern gewaltig verschoben, auf 1: 0.8. Unter Transferempfängern sind
dabei die Rentenbezieher, die Empfänger von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe sowie die Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zu
verstehen. Sicherlich sind diese Zahlen von der deutschen Vereinigung, der
demographischen Entwicklung, der hinausgeschobenen Einkommensgrenze, ab der
Lohnsteuer zu zahlen ist, und vielen anderen Faktoren beeinflusst. Dennoch wird
deutlich, dass innerhalb der sozialen Marktwirtschaft ein endogener Prozess
abläuft, der die politische Nachfrage nach sozialer Absicherung mehr und mehr
vermehrt. Das Zentrum des politischen Koordinatensystems verschiebt sich in
Richtung mehr soziale Absicherung, der Medianwähler ist zu einem Teil
systemimmanent bestimmt.
Die
Konsequenz
dieser
Entwicklung
besteht
nicht
nur
darin,
die
marktwirtschaftliche Ordnung in ihren Anreizstrukturen entscheidend zu verändern,
etwa dass institutionelle Regelungen für die Rücklagen der Sozialversicherung
aufgegeben werden und die Quasi –Steuer auf den Faktor Arbeit [durch die
Beiträge zur Sozialversicherung von 26,5 Prozent des Bruttoarbeitsentgelts im Jahr
1970 – trotz der Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung – auf derzeit
über 41 Prozent] steigt. Und dass die Volkswirtschaft weniger robust wird und ihr
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wirtschaftliches Fundament in seiner Leistungsfähigkeit geschwächt wird, die
wiederum notwendig ist, um die politische Nachfrage des neuen Medianwählers zu
bedienen.
Eine entscheidende Folge ist vielmehr auch, dass Korrekturen an einmal
eingeführten Ansprüchen schwierig werden, wenn immer mehr Wähler in der einen
oder anderen Weise zu der Gruppe der Anspruchberechtigten gehören. Und dies
vor allem dann, , wenn sich die Volkswirtschaft veränderten Bedingungen
gegenüber sieht wie dem erfolgreichen Aufstreben der Schwellenländer als
exogenem Schock und der Alterung und Abnahme der Bevölkerung als internem
Prozess.
Wie schwierig eine Korrektur ist, lässt sich an der Diskussion um die Agenda 2010
beobachten. Die Änderungen werden von vielen als eine Bedrohung ihrer Lage
empfunden, da die ehemalige unbefristete Arbeitslosenhilfe nun nicht mehr an dem
bisherigen Arbeitseinkommen ansetzt. Dabei kehrt die Senkung der Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes I für die über 44 –jährigen lediglich zu der alten Regelung
zurück, und die ehemalige Sozialhilfe wurde für die Arbeitsfähigen ausgedehnt und
der Kreis der Bezugsberechtigten ausgedehnt. Der Lackmustest für die
Anpassungsfähigkeit der institutionellen Regelungen ist, inwieweit das Regelwerk
in der Lage ist, sich trotz der starken Stellung des Medianwählers an völlig
veränderte Bedingungen anzupassen und die Ansprüche des Medianwählers
zurückzunehmen. Gelingt dies nicht, so ist auf Dauer, wenn die derzeitige gute
Konjunktur ausläuft, eine schleichende Erosion der sozialen Marktwirtschaft als
Folge der Endogenisierung des Medianwählers nicht auszuschließen.
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