Band 299 Wolfgang Borchert, von Rüdiger Bernhardt PRÜFUNGSAUFGABEN MIT MUSTERLÖSUNGEN In Ergänzung zu den Aufgaben im Buch (Kapitel 6) finden Sie hier zwei weitere Aufgaben mit Musterlösungen. Die Zahl der Sternchen bezeichnet das Anforderungsniveau der jeweiligen Aufgabe. Aufgabe 5 *** Beschreiben Sie den kulturell-geistigen Standort des Kabarettdirektors am Beispiel seines Gesprächs mit Beckmann. Mögliche Lösung in knapper Fassung: EINLEITUNG Ideen des Direktors Undifferenzierte Vorstellungen Ziel: Weiterführung nationalsozialistischer Kulturpolitik Keine Wertmaßstäbe, sondern Versatzstücke Beckmann ist auf Arbeitsuche und spricht bei einem Kabarettdirektor vor. Wolfgang Borchert konnte von eigenen Erfahrungen ausgehen. Er hatte im März 1941 die Schauspielprüfung bestanden und war zwei Monate danach Schauspieler, ehe er als Soldat eingezogen wurde. Auch nach der Heimkehr unternahm Wolfgang Borchert alles, unterstützt von Isot Kilian, um Theater spielen zu können. Im Kabarett „Janmaaten im Hafen“ des Freundes Bernhard Meyer-Marwitz trat er, schon schwer unter seiner Krankheit leidend, auf. Der Direktor des Kabaretts erläutert Beckmann ein anspruchsvolles Programm der Kunst, wie er sie sich nach dem Krieg vorstellt: Die Jugend solle zu allen Problemen Stellung nehmen, „eine mutige, nüchterne (...) revolutionäre Jugend. Wir brauchen einen Geist wie Schiller, der mit zwanzig seine Räuber machte.“ (S. 28 f.) Die Hohlheit dieses Programms wird deutlich, wenn man Schillers Die Räuber der Nachkriegszeit von 1945 auflegt. In der Zeit der zerstörten Leben und Bedingungen hat der „edle Räuber“ nichts zu suchen, vielmehr war es die Zeit der dunklen Machenschaften, des Schwarzmarktes und der Zerstörungen. Auch eine überholte Gesellschaftsordnung, wie sie Karl Moor zerstören und neu ordnen will, ist nicht vorhanden, vielmehr ist das faschistische deutsche Reich zerstört, es hat bedingungslos kapituliert; das Sagen haben die vier Siegermächte. Während ein Hinweis auf die expressionistische Dramatik im Umfeld des Ersten Weltkrieges – zum Beispiel auf Ernst Tollers Hinkemann (1921/1922) – eine Richtung hätte geben können, ist der Hinweis auf Schiller Ausdruck der Beliebigkeit. Damit ist das Muster für das Gespräch gegeben, das in diesem Sinne sofort weitergeführt wird: Grabbe und Heine werden nebeneinandergestellt. Während Grabbe zwischen 1933 und 1945 zum Dichter des Führergedankens und der nordischen Menschen stilisiert und völlig verfälscht wurde, waren Heinrich Heines Werke, weil er Jude war, verboten. Völlig undifferenziert und ohne jede historische Beurteilung wird die Beliebigkeit auf Literatur insgesamt ausgedehnt, wobei die faschistische Literatur- und Kunstpolitik nahtlos übernommen und weitergeführt wird. Nachdenken und Erfahrungswerte werden als nicht benötigte Weisheiten denunziert. Damit ist der Weg frei zum gefühlsgeladenen, irrationalen Umgang mit der Wirklichkeit. Der Hinweis auf die „dunklen Seiten des Lebens“ (S. 29) verstärkt diese Aspekte. Einsichten, Verständnis und Vernunftargumente sind nicht gefragt, „um Gottes willen nichts Vollendetes, Reifes und Abgeklärtes“ (S. 29). Die Konzeption des Kabarettdirektors zielt bei aller Beliebigkeit auf die Weiterführung der nationalsozialistischen Kulturpolitik mit ihrer Unterwerfung unter das Schicksal und die irrationale Führergestalt. Das Gespräch zwischen dem Direktor und Beckmann konzentriert sich dann auf die Gasmaskenbrille und führt von ihr zur Beziehung von Lachen und Grauen. Die Ansichten der Gesprächspartner gehen diametral auseinander: Während Beckmann seine Erfahrungen und Erlebnisse in die Kunst einbringen will – und die waren grauenvoll –, will der Direktor unter dem Dach der Unterhaltung (Goethe schrieb seiner Meinung nach im Krieg eine Operette) jede Beschäftigung mit der schrecklichen Vergangenheit verhindern. Nahtlos wird an die Unterhaltungsindustrie der Nazis angeknüpft; die Namenreihe Goethe, Mozart, Jungfrau von Orleans, Richard Wagner, Schmeling und Shirley Temple ist dafür der Beleg. Hier sind keine ästhetischen Wertmaßstäbe gültig; es werden nur allgemeine Versatzstücke unterschiedlichster Erlebniswelten kombiniert. Es fällt auf, dass unter den Genannten kein einziger Name eines Exilschriftstellers oder eines kritischen Kabarettisten zu finden ist. Bertolt Brecht und Erich Kästner wären für einen Kabarettdirektor angemessene Namen. Beckmann versucht sich in diesem Sinne. Er nimmt sich eine Soldatenschnulze, die dem Publikum bekannt ist und bei ihm abgerufen werden kann, und füllt sie mit einem anderen Inhalt, der Nachkriegszeit gerecht werdend: Der kitschigen Harmonisierung und Treuebekundung, die mit Krieg und Soldatenfrau verbunden werden, setzt er dagegen: Es „war alles Schiet!“ (S. 31) Er mäßigt Ergänzung zu: Band 299 | Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür | von Rüdiger Bernhardt | 978-3-8044-1964-3 © 2013 by C. Bange Verlag, 96142 Hollfeld. Alle Rechte vorbehalten. PRÜFUNGSAUFGABEN MIT MUSTERLÖSUNGEN Ablehnung des Direktors FAZIT sich dem Publikum entsprechend und verwendet das weniger anstößige Wort „Schiet“; im Monolog hatte er auf jede Mäßigung verzichtet. Trotzdem lehnt der Kabarettdirektor ab, spürt er doch, dass hier einer mit den Mitteln der Satire Wahrheiten ins Spiel bringt, die besser ungenannt bleiben. Unter diesen Umständen ist er bereit, seine Konzeption aufzugeben, ohne Zugeständnisse machen zu müssen: Er gesteht Beckmann Begabung zu, aber es fehle das, was er zuvor selbst abgelehnt hatte: „die tiefere Weisheit“ (S. 32). Der Direktor und Beckmann stehen an verschiedenen Ufern: Der Direktor will eine dürftige Unterhaltungskunst ohne jeglichen Anspruch, unbedingt aber unpolitisch; Beckmann will Wahrheit mit Kunst vermitteln, jene spezifische Wahrheit der Kunst, die Verstand und Gefühl gleichermaßen anspricht. Es ist zwingend: „Eine Tür kreischt und schlägt zu.“ (S. 33) Beckmann bleibt nur ein letzter Rest seiner Version von der kleinen Soldatenfrau – es bleibt das Reimwort „Sau“: „Der Schnaps war alle/und die Welt war grau,/wie das Fell, wie das Fell/einer alten Sau!“ (S. 33) Aufgabe 6 * Skizzieren Sie Wolfgang Borcherts Bedeutung und den Wert von Draußen vor der Tür für die deutsche Nachkriegsliteratur. Mögliche Lösung in knapper Fassung: EINLEITUNG Borcherts Intention Text über eine verlorene Generation Die lange lange Straße lang Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür gehört zu den wesentlichen Stücken der deutschen Dramatik. Für die Nachkriegszeit ist es eines der wenigen Stücke, das in den Kanon der Spielpläne ebenso eingedrungen ist wie in den der Literatur, in die Leselisten der Schulen und als Beispielliteratur. Ob das Stück mehr Stärken als Schwächen hat, ist eine Frage der Sicht: Wer es, vom Text her kaum verständlich, dennoch oft praktiziert, als klassische Tragödie liest, wird es voller Fehler finden. Wer es als Stationenstück behandelt, was angemessen ist, hat einen starken Text vor sich. Wolfgang Borchert starb mit sechsundzwanzig Jahren, einen Tag vor der Uraufführung seines Stücks Draußen vor der Tür. Das Werk machte ihn berühmt. Erzählungen wie die Die Hundeblume und Die lange lange Straße lang verhalfen dem Ruhm zur Dauer. Borchert war nicht auf Ruhm aus; er musste von seinem Entsetzen über den Krieg, von den Zerstörungen der Lebensläufe seiner Generation und seiner Erschütterung über nationalsozialistische Verbrechen sprechen. In dem Maße, wie diese deutsche Vergangenheit im Sog neuen Stolzes verdrängt wird, droht auch Borchert in Vergessenheit zu geraten: Viele möchten heutzutage nicht an eine Vergangenheit erinnert werden, die Verwüstungen und Verbrechen, im Namen Deutschlands begangen. Borchert brachte das Wissen um die Verbrechen ins dauerhafte Wort und suchte sogar, das bestimmt die Handlung in Draußen vor der Tür, die Schuldigen dafür. Er liebte sein Deutschland, aber es war „diese gigantische Wüste“, die er liebte; er liebte es „um sein Leid“, wie er in Das ist unser Manifest schrieb. Draußen vor der Tür entstand im Herbst 1946, wurde im Februar 1947 als Hörspiel gesendet, im November 1947 als Bühnenstück aufgeführt sowie unter dem Titel Liebe 47 (Regie: Wolfgang Liebeneiner, 1948) verfilmt. Es ist der Text über eine verlorene Generation. Dafür bürgt Borcherts Geburtsjahr 1921. Der Text war das Ergebnis der entsetzlichen Erlebnisse Borcherts im Zweiten Weltkrieg, bedingt durch Fronteinsatz im Osten, Erkrankungen und Verletzungen, Verhaftungen und Prozesse, in denen mit der Todesstrafe gedroht wurde. Borcherts Stück galt der Hoffnung, Deutschland lieben zu können, wenn es wieder als Zuhause angenommen werden konnte. Aber Beckmann bekommt diese Möglichkeit nicht: Unbelehrt und ohne jede gerechte, friedliche und menschenwürdige Konzeption sitzen die Schuldigen und Verantwortlichen auf verantwortungsvollen Posten. Natürlich finden sich Borchert-Freunde, die jede Gelegenheit nutzen, an seine Hoffnung, seine Fragen zu erinnern, an seinen Aufschrei am Ende: „Gibt denn keiner, keiner Antwort?“ Wer aber sollte Antwort geben, wenn Borcherts Erlebnisse, die die jener Generation sind, die am Ende des Zweiten Weltkrieges die größten Lücken hatte, im Zeichen neuer, brutaler und dumpfer Parolen von deutschem Stolz und „Deutschland den Deutschen“ nicht brauchbar scheinen? So wird ein bedeutendes, konzentriertes und auf ein Thema orientiertes literarisches Werk beschädigt. Es stimmt optimistisch, dass Borcherts Stück immer dann verstärkt den Weg auf die Bühnen fand, wenn neue Kriege Deutschlands Teilnahme forderten und diese Forderungen erfüllt wurden. Borchert erfuhr am eigenen Leib, wie der Krieg jugendliche Ansprüche und Ideale zusammenbrechen ließ und wie Heiteres aus der Welt vertrieben wurde. Borcherts Die lange lange Straße lang stellt die erzählte Variation zum Stück Draußen vor der Tür dar. Der Heimkehrer Leutnant Fischer ist unterwegs und will seine Verantwortung zurückgeben: 57 Soldaten wurden das Opfer eines Artillerieangriffs; nur Fischer überlebte. Nun sucht er, entkräftet und schwach, die Schuldigen. Solange das nicht geschehen ist, kann er nicht wieder „Herr Fischer“ sein, so wie Beckmann seinen Vornamen verloren hat, als ihm sein Zuhause versperrt wurde, Ergänzung zu: Band 299 | Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür | von Rüdiger Bernhardt | 978-3-8044-1964-3 © 2013 by C. Bange Verlag, 96142 Hollfeld. Alle Rechte vorbehalten. PRÜFUNGSAUFGABEN MIT MUSTERLÖSUNGEN Borcherts Aktualität und er selbst den Familiennamen, den letzten Rest des Ausweises von Individualität, aufzugeben bereit ist, als er von seiner Schuld gegenüber dem Einbeinigen erfährt. Beckmann und Fischer versuchen sich an der Umwertung des faustischen Strebens. Sie wollen keine unbekannten Erkenntnisse erwerben, sondern gescheitertes Streben, das in Verbrechen umschlug, zurückgeben und dadurch beenden. Borchert machte die Erfahrung, dass Ideale und Ansprüche, die er sich durch den Umgang mit Kunst und Bildung, Schönheit und Gefühl erworben hatte, ihn und seine Zeit nicht vor Verbrechen, vor Schuld und Schrecken, selbst verantworteten und selbst durchlebten, bewahrt haben. Das erkennend und keine anderen Antworten findend blieben Borcherts berühmte Schreie und Fragen, mit denen Draußen vor der Tür endet. Er wurde dadurch zu einem bedeutenden Dichter. Gehört haben seine Schreie viele, erhört haben sie zu wenige. Antworten auf seine Fragen werden bis heute verschwiegen, obwohl man sie kennt. Borcherts Texte sollten besonders Juristen, Politikern und vielen anderen als Pflichtlektüre verordnet werden. Das Stück wirkt ununterbrochen als Text der Literatur und im Theater. Das Geheimnis dieses Erfolgs liegt auf der Hand. Trotz technischer Fortschritte ist die Entwicklung der Wirklichkeit besorgniserregend; kriegerische Handlungen finden immer häufiger statt. Nicht zufällig wurde Borcherts Stück sehr genau mit aktuellen Vorgängen gegenwärtiger Kriege, sei es im Irak oder in Afghanistan, in Beziehung gesetzt. Ergänzung zu: Band 299 | Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür | von Rüdiger Bernhardt | 978-3-8044-1964-3 © 2013 by C. Bange Verlag, 96142 Hollfeld. Alle Rechte vorbehalten.