Gedenkstätten - Politik und Unterricht

Werbung
E4542
3 – 2008
Gedenkstätten
Lernorte zum nationalsozialistischen Terror
Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung
HEFT 3 – 2008, 3. QUARTAL, 34. JAHRGANG
Inhalt
»Politik & Unterricht« wird von der Landeszentrale
für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB)
herausgegeben.
HERAUSGEBER
Lothar Frick, Direktor
CHEFREDAKTEUR
Dr. Reinhold Weber
[email protected]
REDAKTIONSASSISTENZ
Sylvia Rösch, [email protected]
Katharina Rapp, M. A., Offenburg
ANSCHRIFT DER REDAKTION
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Telefon: 0711/164099-45; Fax: 0711/164099-77
REDAKTION
Simone Bub-Kalb, Studiendirektorin,
Staatl. Seminar für Didaktik und Lehrerbildung
(Gymnasien), Stuttgart
Judith Ernst-Schmidt, Oberstudienrätin,
Werner-Siemens-Schule (Gewerbliche Schule
für Elektrotechnik), Stuttgart
Ulrich Manz, Rektor der Schillerschule (Grundund Hauptschule mit Werkrealschule), Esslingen
Dipl.-Päd. Holger Meeh, Akademischer Rat,
Pädagogische Hochschule Heidelberg
Horst Neumann, Ministerialrat,
Umweltministerium Baden-Württemberg, Stuttgart
Angelika Schober-Penz, Studienrätin,
Erich-Bracher-Schule (Kaufmännische Schule),
Kornwestheim
Editorial
Geleitwort des Ministeriums
für Kultus, Jugend und Sport
Autorinnen dieses Heftes
Unterrichtsvorschläge
VERLAG
Neckar-Verlag GmbH, Klosterring 1,
78050 Villingen-Schwenningen
Anzeigen: Neckar-Verlag GmbH, Uwe Stockburger
Telefon: 07721/8987-71; Fax: -50
[email protected]
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 1.5.2005.
DRUCK
PFITZER Druck und Medien e. K., Benzstraße 39,
71272 Renningen
Politik & Unterricht erscheint vierteljährlich.
Preis dieser Nummer: 3,00 EUR
Jahresbezugspreis: 12,00 EUR
Unregelmäßige Sonderhefte werden zusätzlich
mit je 3,00 EUR in Rechnung gestellt.
Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht
unbedingt die Meinung des Herausgebers und der
Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete
Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung.
Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen
Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit
Genehmigung der Redaktion.
Titelfoto: Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Auflage dieses Heftes: 20.000 Exemplare
Redaktionsschluss: 15. Juni 2008
ISSN 0344-3531
2
2
3–19
Einleitung
Baustein A:
3
Die frühen Konzentrationslager:
Machtausbau durch Terror
Baustein B:
NS-Rassenideologie: Ausgrenzung,
Gewalt und Mord
Baustein C:
Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler:
Vernichtung durch Arbeit
Literaturhinweise
Texte und Materialien
Baustein A:
Baustein B:
Baustein C:
GESTALTUNG TITEL
Bertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulm
www.bertron-schwarz.de
GESTALTUNG INNENTEIL
Medienstudio Christoph Lang, Rottenburg a. N.,
www.8421medien.de
1
Lehrerteil:
Bausteine
A und B:
Baustein C:
Die frühen Konzentrationslager:
Machtausbau durch Terror
NS-Rassenideologie: Ausgrenzung,
Gewalt und Mord
Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler:
Vernichtung durch Arbeit
9
12
17
19
21–55
22
32
46
Dr. Anette Hettinger
Dr. Anette Hettinger
Dr. Anette Hettinger und Angelika Stephan
Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter
www.politikundunterricht.de/3_08/gedenkstaetten.htm
Politik & Unterricht wird auf umweltfreundlichem Papier aus FSC-zertifizierten Frischfasern
und Recyclingfasern gedruckt. FSC (Forest Stewardship Council) ist ein weltweites Label
zur Ausweisung von Produkten, die aus nachhaltiger und verantwortungsvoller Waldbewirtschaftung stammen. Das Papier wird in Unternehmen hergestellt, die alle nach ISO 9001
und ISO 14001 sowie EMAS zertifiziert sind.
THEMA IM FOLGEHEFT
Nachhaltigkeit – am Beispiel Energie
Editorial
»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten
und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«
Wer die Geschichte des NS-Unrechtsregimes kennt, weiß,
warum die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes diese
so gewichtigen Sätze zum Artikel 1 unserer Verfassung gemacht haben. Sie kannten das Leid von Ausgrenzung und
Verfolgung, teilweise sogar aus eigener Erfahrung. Artikel 1 des Grundgesetzes hat an Bedeutung in keiner Weise
verloren. Vor allem aus der Geschichte Deutschlands mit
seinen beiden Unrechtsregimen des 20. Jahrhunderts, dem
NS-Terror und der SED-Diktatur, wissen wir, dass es gerade
die staatliche Gewalt war, die die Würde zahlloser Menschen
unrechtmäßig »angetastet« hat. Und immer waren es die
totalitären Machthaber, die selbstherrlich definiert haben,
welches Leben »würdig« und »lebenswert« sei.
Allein deshalb ist es so wichtig, dass die Gedenkstätten die
Aufarbeitung der Geschehnisse leisten, die Erinnerung wach
halten und das Gedenken ermöglichen. Baden-Württemberg
verfügt über eine außerordentlich große Bandbreite an regional verteilten Gedenkstätten, die alle Verfolgungs- und
Vernichtungskategorien des NS-Regimes thematisieren. Das
hebt die südwestdeutsche Gedenkstättenlandschaft von anderen Regionen Deutschlands ab und ermöglicht es auch
den Lehrkräften, die Gedenkstätten vor Ort zu nutzen und
mit vielerlei Bezügen zu unterschiedlichen Fächern in den
Unterricht einzubinden. Im vorliegenden Heft haben wir
deshalb exemplarisch Gedenkstätten ausgewählt, die die
Themen »Verfolgung und Ausschaltung politischer und weltanschaulicher Gegner« in der Phase des Machtausbaus des NSRegimes, »Rassenpolitik« sowie »Vernichtung durch Arbeit«
im KZ-Außenlagersystem des Südwestens behandeln.
Es ist ein Zufall und doch symptomatisch, dass dieses Heft zu
den NS-Gedenkstätten im Land unmittelbar auf das Themenheft »Rechtsextremismus« folgt. Die Querverbindungen liegen
auf der Hand. Den Lehrerinnen und Lehrern des Landes wird
rasch ersichtlich sein, wo beide Hefte auch zur gegenseitigen
Ergänzung einsetzbar sind. Und die Hefte zeigen, dass die
Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit ein ganz zentraler Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung ist, dem sie mit
besonderem Engagement nachkommt. Für die Unterstützung
bei dieser Ausgabe von Politik & Unterricht bedanken wir uns
sehr herzlich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg in Ulm, des Stadtarchivs Karlsruhe, des Freundeskreises Ehemalige Synagoge
Sulzburg e. V., des Kulturamts Sulzburg, der Gedenkstätte Grafeneck, des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher
Sinti und Roma in Heidelberg, des Staatsarchivs Ludwigsburg
sowie der KZ-Gedenkstätte Neckarelz e. V.
Lothar Frick
Direktor der LpB
Dr. Reinhold Weber
Chefredakteur
DZOK Ulm
Beim Betreten der Ausstellung in der
Ulmer KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg
werden die Besucher mit den Worten
empfangen: »Die Würde des Menschen
ist unantastbar.«
Politik & Unterricht • 3-2008
1
Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport
Gedenkstätten zum nationalsozialistischen Unrechtsregime
sind besondere außerschulische Lernorte. Denn hier wird das
Unbegreifliche, das kaum Nachvollziehbare am historischen,
teilweise auch authentischen Ort »greifbar«. Hier werden
abstrakte Sachverhalte konkret und hier wird deutlich, dass
das, was im Geschichtsbuch behandelt wird, nicht fernab
im Osten Europas oder in Berlin stattgefunden hat, sondern
in der Mitte der Gesellschaft und ganz unmittelbar vor der
eigenen Haustür.
Weshalb ist Erinnern im Sinne von reflektierter Erfahrung
so wichtig? Und: Welchen Beitrag kann und soll die Schule
zum Thema Erinnerung leisten? Hier ist die Lehrkraft gefordert, durch Begegnungen bewusstes Erleben zu schaffen,
um gemeinsames Nachdenken und kritisches Reflektieren zu
ermöglichen. Den Jugendlichen soll Zeit und Raum gegeben
werden, um durch eigenes Tun intensive Lernerfahrungen zu
machen. Dieser Ansatz wird immer wichtiger, je weiter wir
uns zeitlich von den Verbrechen des NS-Regimes entfernen
und je weniger es für Schülerinnen und Schüler möglich
sein wird, von Zeitzeugen zu hören und diese befragen zu
können.
Hier liegt der Anknüpfungspunkt zu den Gedenkstätten.
Orte und Häuser erhalten ihre alten Gesichter; sie erzählen
Geschichten, indem sie die ganze Lebenswirklichkeit im
Nationalsozialismus veranschaulichen, in der es Täter, Mitläufer und Zuschauer, aber auch Helfer und Retter gab. Der
Lebensort wird zum Lernort, der biographische Ansatz und
die Spurensuche führen zur Entwicklung von Empathie und
zur analysierenden Auseinandersetzung. Durch die exemplarische Beschäftigung mit sämtlichen Entwicklungsphasen
des nationalsozialistischen Terrors und dessen zahlenmäßig
bedeutendsten Opfergruppen erkennen die Schülerinnen
und Schüler von heute die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Systems mit den bis in die
Gegenwart reichenden Folgewirkungen. Sie erkennen, dass
die bitteren Erfahrungen den demokratischen Wiederbeginn
und den Aufbau unseres Gemeinwesens geprägt haben. Das
unbedingte Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde, die in Artikel 1 unseres Grundgesetzes festgeschriebene Achtung vor dem menschlichen Leben, war und ist eine
grundlegende Antwort auf das Unrechtsregime der Nationalsozialisten. Diese Erinnerung fordert von uns, sich immer
wieder dafür einzusetzen, dass die Menschenwürde nicht
nur für unantastbar erklärt, sondern auch nicht angetastet
wird.
Im vorliegenden Themenheft von Politik & Unterricht werden
den Lehrerinnen und Lehrern des Landes Vorschläge zur
didaktisch-methodischen Nutzung von Gedenkstätten gegeben. Die Landeszentrale für politische Bildung BadenWürttemberg, der ein besonderer Auftrag für die Gedenkstättenarbeit im Land zukommt, unterstützt damit die didaktische Arbeit der Gedenkstätten. Wir begrüßen sehr, dass mit
dieser pädagogischen Arbeitshilfe ein weiterer Beitrag zum
bewussten Umgang mit der Geschichte, zum Eintreten für die
freiheitlich demokratische Ordnung und gegen Rassismus,
politischen Extremismus und Gewalt geleistet wird.
Gernot Tauchmann
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport
Baden-Württemberg
AUTORINNEN DIESES HEFTES
Dr. Anette Hettinger ist Akademische Oberrätin im Fach
Geschichte und ihrer Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Im Jahr 2006 hat sie den Landeslehrpreis
Baden-Württemberg für ein fächerübergreifendes Projekt zur
Neuinszenierung der 1941 im Ghetto Theresienstadt aufgeführten Kinderoper Brundibár bekommen.
Angelika Stephan hat an der PH Heidelberg studiert und ist
derzeit im Referendariat an der Realschule Osterburken.
2
Politik & Unterricht • 3-2008
Gedenkstätten
Lernorte zum nationalsozialistischen Terror
●●●
EINLEITUNG
Baden-Württemberg zeichnet sich durch eine dichte und
regional ausgerichtete Gedenkstättenlandschaft aus. Hierzulande gibt es keines der großen Konzentrationslager wie
Dachau oder Buchenwald. Hier gibt es auch keines der Vernichtungslager wie Auschwitz-Birkenau oder Treblinka, die
weltweit synonym für das Morden der Nationalsozialisten
stehen. Vielmehr ist es die Dezentralität der vielen kleine-
ren Gedenkstätten, die das Besondere der hiesigen Gedenkstättentopographie ausmacht. Die Gedenkstätten im Land
dokumentieren dennoch alle Verfolgungs- und Vernichtungskomplexe des NS-Terrors:
◗ die ehemaligen frühen Konzentrationslager – oft verharmlosend »Schutzhaftlager« genannt –, die an die erste
Phase der nationalsozialistischen Machtdurchdringung und
»Gleichschaltung« der deutschen Gesellschaft unmittelbar
nach der »Machtergreifung« im Januar 1933 erinnern;
◗ ehemalige Synagogen, jüdische Einrichtungen und Orte
der Deportation, die auf das reiche kulturelle Leben jüdischer Mitbürger im Südwesten und auf dessen Auslöschung
durch den NS-Terror hinweisen;
Lucia Winckler, 2008
Die Dichte der Gedenkstätten im
Land erlaubt es, Auskünfte darüber zu
geben, was in der Zeit des nationalsozialistischen Terrorregimes im Land –
buchstäblich vor der eigenen Haustüre – geschehen ist. Die meisten der
Gedenkstätten sind Orte der Erinnerung
an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Andere Orte erinnern an den
Widerstand gegen das NS-Regime sowie
an die demokratischen Traditionen und
Freiheitsbewegungen in Deutschland.
Politik & Unterricht • 3-2008
3
Einleitung
◗ Gedenkstätten, die im Zusammenhang mit »Euthanasie«
und Medizin stehen;
◗ Gedenkstätten, die an die rassische Verfolgung von Sinti
und Roma erinnern;
◗ Orte der ehemaligen kleinen Konzentrationslager der letzten Kriegsjahre, in denen Häftlinge aus allen von Deutschland besetzten Gebieten Europas Zwangsarbeit verrichten
mussten. Sie waren überwiegend in den Außenlagerkomplex
des Stammlagers Natzweiler im Elsass eingebunden und Teil
der NS-Ideologie »Vernichtung durch Arbeit«. Hierzu gehört
auch die Erinnerung an die Todesmärsche bei der Auflösung
der Konzentrationslager angesichts der näherrückenden alliierten Truppen;
◗ Gedenkstätten, die Kriegsgefangene und sogenannte Displaced Persons thematisieren;
◗ Gedenkstätten, die Aspekte des deutschen Widerstandes
behandeln;
◗ sowie Erinnerungsstätten, welche die Demokratiegeschichte Deutschlands (z. B. Rastatt) sowie Einzelpersonen
der Demokratiegeschichte wie Friedrich Ebert, Theodor Heuss
oder Matthias Erzberger zum Gegenstand haben.
◗ Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Gedenkstätten im Ausland mit direktem Bezug zu Baden-Württemberg, mit denen enge Kontakte und Kooperationen gepflegt
werden (z. B. Natzweiler, Gurs u. a.).
Die Gedenkstätten im Land erlauben es, Auskünfte darüber
zu geben, was in der Zeit des NS-Terrorregimes im Land –
buchstäblich vor der eigenen Haustür – geschehen ist. Die
meisten der Gedenkstätten sind dabei Orte der Erinnerung
an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungs- und
Vernichtungspolitik. Sie eröffnen spezifische pädagogische
Angebote und bieten damit als außerschulische Lernorte
einen besonderen Bezug zum schulischen Geschichtsunterricht, aber mit vielfältigen Anknüpfungsmöglichkeiten an
gegenwärtige Probleme und Konflikte auch zum Politik- und
Gemeinschaftskundeunterricht. Wenngleich die Bildungs-
pläne des Landes Baden-Württemberg zwar die Beschäftigung mit außerschulischen Lernorten, nicht aber explizit
die Nutzung von Gedenkstätten empfehlen, so wird doch
erfreulicherweise in großem Umfang und in allen Schularten
von dem Angebot der Gedenkstätten Gebrauch gemacht.
Weil die Gedenkstätten gleichmäßig über das gesamte Land
verteilt sind, sind sie auch mit relativ geringem Aufwand in
die schulische Vermittlung der NS-Thematik einzubinden.
Zur Konzeption dieses Heftes
Das vorliegende Themenheft wendet sich vorwiegend an
Geschichtslehrerinnen und -lehrer aller Schularten. Ein Teil
der Materialien wird sich besonders für die Behandlung des
Themas in der Sekundarstufe II eignen. Doch sind viele Arbeitsmaterialien auch in der Sekundarstufe I einzusetzen.
Darüber lassen sich einzelne Teile des Heftes zweifelsohne
auch in anderen Fächern wie Gemeinschaftskunde/Politik,
Religion, Ethik oder in den Fächerverbünden verwenden.
Aus der Vielzahl der Gedenkstätten im Land wurden solche
herausgesucht und exemplarisch behandelt, welche die zentralen Verfolgungs- und Vernichtungskomplexe des nationalsozialistischen Willkürregimes abdecken. Sie spiegeln die
vielfältigen Ausprägungen des NS-Terrors wider, welcher der
Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung von politischen
und weltanschaulichen Gegnern, von Andersdenkenden
sowie angeblich rassisch Minderwertigen galt. Sie erinnern
an die Ausschaltung der politischen Gegner und an die Einschüchterung der Bevölkerung in der Phase der »Machtergreifung«. Sie verweisen auf das Leben ehemaliger jüdischer
Nachbarn und deren Gemeinden, auf die Verfolgung, Deportation und Ermordung der jüdischen Mitbürger und somit auf
ein verlorengegangenes, facettenreiches jüdisches Leben im
deutschen Südwesten. Ebenso wird auch der Vernichtung
sogenannten »lebensunwerten Lebens« gedacht. Schließlich
erinnern die ausgewählten Gedenkstätten an die in den
letzten Kriegsjahren entstandenen KZ-Außenlager und somit
Universitätsarchiv Tübingen (UAT 665/200)
Karteikarte aus einer 1934 durchgeführten Reihenuntersuchung
»Rassenkundliche Landesaufnahme
in Württemberg« an der Universität
Tübingen.
4
Politik & Unterricht • 3-2008
Einleitung
an Zwangsarbeit und »Vernichtung durch Arbeit«. Dass dabei
allein aus Platzgründen nicht alle Opfergruppen behandelt
werden können, liegt auf der Hand. Dabei wird es im Unterricht eine Selbstverständlichkeit sein, auch auf andere
Opfer des NS-Terrors wie Homosexuelle und zahlreiche weltanschaulich motivierte Gegner des Nationalsozialismus wie
beispielsweise die Zeugen Jehovas hinzuweisen.
Das vorliegende Heft lässt sich in zweierlei Hinsicht im Unterricht oder in der Projektarbeit einsetzen. Zum einen dient
es der konkreten Vorbereitung eines Gedenkstättenbesuches. Dabei sind die hier ausgewählten Gedenkstätten zwar
intensiver behandelt. Dennoch bieten sich die präsentierten
Materialien auch größtenteils zur Übertragung auf andere
Gedenkstätten desselben NS-Verfolgungs- und Vernichtungskomplexes an. Zum andern ist das vorliegende Heft so
konzipiert, dass es auch von Lehrern im Unterricht einzusetzen ist, wenn kein Gedenkstättenbesuch geplant ist. Auch
für die generelle Behandlung des Themas »Nationalsozialismus« im Schulunterricht bietet das Heft Arbeitsmaterialien,
die sich nicht in den gängigen Schulbüchern wiederfinden,
sondern die deren Angebot um konkrete Beispiele ergänzen.
Anders als ein Schulbuch liefert die vorliegende Ausgabe
BERATEN – VERNETZEN – UNTERSTÜTZEN –
FÖRDERN
Der Fachbereich Gedenkstättenarbeit
der Landeszentrale für politische Bildung
In ihrer thematischen Breite und bürgerschaftlichen Verfasstheit ist die Gedenkstättenlandschaft Baden-Württembergs singulär, so der Mannheimer Historiker Peter Steinbach. Die Orte stehen für alle Verfolgungsbereiche der NSDiktatur. Die meisten Gedenk- und Erinnerungsstätten in
Baden-Württemberg gehen auf örtliches bürgerschaftliches
Engagement zurück. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida
Assmann wertet dies als »Demokratisierung durch Ehrenamtlichkeit«. Gedenkstätten sind folglich vielgestaltig und
vielschichtig. Das bietet und erfordert jeweils unterschiedliche Zugänge. Vielfach ersetzen heute AV-Aufzeichnungen
die unmittelbare Begegnung mit den inzwischen verstorbenen Zeugen. Die medienorientierte junge Generation
kennt andererseits die wenigen, stets wiederholten dokumentarischen Filmausschnitte längst. Der reale historische
Schauplatz erhält daher durch seine Authentizität seine
besondere – und vor allem auch künftige – Bedeutung.
Im Jahr 1994 schlossen sich die in der Gedenkstättenarbeit tätigen Gruppen zur »Landesarbeitsgemeinschaft
der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen in BadenWürttemberg« zusammen. Jedes Jahr besuchen fast
200.000 Menschen die Gedenkstätten im Land. Ziel der
Auseinandersetzung ist nicht nur das Geschichtsverständnis, sondern auch der Transfer auf gegenwärtige gesellschaftliche Wirklichkeiten. Dieser Fokus wird heute in den
Gedenkstätten europaweit gesetzt.
Politik & Unterricht • 3-2008
also vor allem Exemplarisches und weniger Allgemeines (wie
z. B. Quellen zur »Machtergreifung« oder zur Entrechtung
der jüdischen Bevölkerung). Aus geschichtsdidaktischer
Perspektive weisen Gedenkstätten besonders gute Voraussetzungen für die Auseinandersetzung mit Geschichte auf.
Das vorliegende Heft orientiert sich deshalb auch an den
allgemeinen Erfordernissen einer Zusammenarbeit zwischen
Schulen und Gedenkstätten, die sich an nachfolgend vorgestellten inhaltlichen wie didaktisch-methodischen Prinzipien ausrichten sollte.
In der unmittelbaren Nachbarschaft: die Verortung
des Geschehenen
Untersuchungen zeigen, dass Schülerinnen und Schüler
hohes Interesse am Lernen an außerschulischen Lernorten
haben, also an historischen Stätten und in Museen. Ihnen
schreiben sie hohe Motivationskraft, Vertrauenswürdigkeit,
Zugänglichkeit und nicht zuletzt Verständlichkeit zu. In der
Tat fördert die Auseinandersetzung mit dem authentischen,
konkreten Ort sowie mit den historischen Relikten vor Ort
die historische Imagination. Denn hier spiegelt sich die
allgemeine historische Entwicklung: Terror und Vernichtung
waren keine Angelegenheiten, die sich nur im fernen Berlin
Die LpB arbeitet im Auftrag von Landtag und Landesregierung eng mit der Landesarbeitsgemeinschaft zusammen.
Die Aktiven, die Vereinigungen und Kommunen werden beraten und unterstützt, Förderwege erschlossen und die tangierten Instanzen, Vereinigungen und Institutionen vernetzt – im Land, im Bund und international. Im Mittelpunkt
der fachlichen Beratung wie der finanziellen Förderung
stehen die Sicherung des geschichtswissenschaftlichen
Stands und der zeitgemäßen pädagogischen Arbeitsfähigkeit. Nicht zuletzt dienen Hefte wie dieses oder auch aus
der Reihe MATERIALIEN der LpB dazu.
Gedenkstättenpädagogik ist immer auch historisch-politische Bildung, Demokratie- und Menschenrechtserziehung.
Sie trägt damit wesentlich zu den in der Landesverfassung
von 1953 niedergelegten Bildungszielen bei. Gedenk- und
Erinnerungsstätten gelten oftmals als Orte der »negativen
Erinnerung«. Ein Überlebender des Lagers Bisingen schlug
daher 2006 vor, der Ausstellung »Schwierigkeiten des Erinnerns« nun den Titel »Mut zur Erinnerung – Mut zur
Verantwortung« zu geben. Er würdigte damit die Zivilcourage und die Verdienste aller Beteiligten um den offenen,
ehrlichen und befreienden Umgang mit unserer schwierigen Geschichte. Sie dabei zu unterstützen ist unsere
vornehmlichste Aufgabe.
Konrad Pflug leitet den Fachbereich Gedenkstättenarbeit
bei der LpB
E-Mail: [email protected] oder [email protected]
Tel.: 0711/164099-31
www.gedenkstaetten-bw.de
5
Einleitung
oder in den von Hitler-Deutschland besetzten Gebieten abspielten. Allgemein lässt sich zudem der Umgang mit historischen Stätten üben, genauer: die Bindung von Geschichte
an den Raum. Denn kein Bauwerk wurde absichts- und funktionslos an einer Stelle errichtet. Die Frage »Warum gerade
hier?« ist eine der Standardfragen historischer Erkundungen
vor Ort. Die Auseinandersetzung mit ihr schärft die Fähigkeit, räumliche Zusammenhänge wahrzunehmen.
Ganz konkret: Die deutsche Gesellschaft
und der Holocaust
Vor Ort wird die Einbettung von Verfolgung und Vernichtung
in das Alltagsleben der deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus deutlicher: Der Terror fand buchstäblich am helllichten Tag und vor aller Augen statt. Es waren die unmittelbaren Nachbarn, die politisch verfolgt und in »Schutzhaft«
genommen wurden, deren Lebensumfeld zerstört wurde,
denen die materielle Lebensbasis entzogen wurde und die
schließlich deportiert wurden. Es waren die eigenen Familienangehörigen oder die der Nachbarn, die in Grafeneck
ermordet wurden, nur weil sie den Nationalsozialisten als
»lebensunwert« galten. Auch die Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter, die in Industrieanlagen schufteten, nach
Bombenangriffen Schutt räumten, die in der Landwirtschaft
und in Handwerksbetrieben, bei kommunalen oder kirchlichen Einrichtungen zur Arbeit gezwungen wurden, lebten
wortwörtlich nebenan.
Die meisten Gedenkstätten im Land erinnern an die Opfer
des Nationalsozialismus, an deren Leiden, an die Schikanen, denen sie ausgesetzt waren, und an ihr Sterben. Doch
diese historischen Orte sind auch Orte der Täter und der
Zuschauer: Hier agierten gewöhnliche Männer und Frauen,
die in abgestuftem Maß in den NS-Terror verwickelt waren.
Sie kamen aus der Mitte der Gesellschaft und lebten in
ihrer Mitte. Oft findet man sie auch nach 1945 als »ganz
normale« Bürgerinnen und Bürger wieder. Ihre Handlungsspielräume und die Mechanismen des Mitmachens oder des
Sich-Verweigerns lassen sich an ihrem konkreten Beispiel
und in alltäglichen Situationen ausloten. Schülerinnen und
Schülern wird damit zu einer differenzierten Sicht auf die
Durchsetzung einer Diktatur und auf die Lebensbedingungen
in ihr verholfen.
Weil die wissenschaftlichen Recherchearbeiten vor Ort zu
einem großen Teil auf den Erinnerungen Betroffener beruhen, bieten Gedenkstätten eine besondere Gelegenheit, den
Opfern des Terrors Namen und Gesicht zu geben – und somit
Lucia Winckler, 2008
Die thematisierten Gedenkstätten
und Gedenkorte in diesem Heft:
die frühen Konzentrationslager
Kislau bei Bruchsal, Welzheim,
Heuberg bei Stetten am kalten
Markt, Oberer Kuhberg in Ulm;
die ehemalige Synagoge Sulzburg,
Grafeneck bei Münsingen auf der
Schwäbischen Alb als Ort der
»Euthanasie«-Morde, Mulfingen
bei Schwäbisch Hall; schließlich
das KZ Neckarelz.
6
Politik & Unterricht • 3-2008
Einleitung
Identität und Würde. Nicht zuletzt ist dies eine wesentliche
Aufgabe und Bestimmung der Gedenkstätten. In den Gedenkstätten wird aber auch den Tätern und den »Zuschauern« Name und Gesicht gegeben. Dem persönlichen Handeln
und Erleben dieser Menschen können sich Lernende leichter
annähern als abstrakt dargestellten Vorgängen, weil es konkrete Schicksale »gewöhnlicher« Menschen sind. Im vorliegenden Heft finden sich deshalb zahlreiche Materialien,
die einzelne Menschen vorstellen. Exemplarisch konkretisieren sie allgemeine historische Aspekte und veranschaulichen komplizierte Sachverhalte auf einer nachvollziehbaren Ebene. Darüber hinaus thematisieren sie mit der Frage
»Was war denn eigentlich nach dem Untergang des HitlerRegimes?« einen weiteren wichtigen Aspekt. Denn sie zeigen
konkret die Bezüge zwischen dem Vorher und dem Nachher
auf, weil für die Opfer des Terrors der Nationalsozialisten der
Schrecken mit dem Kriegsende im Mai 1945 nicht vorbei war.
Er hatte lebenslange Folgen.
Gedenkstätten: Spiegel der Geschichts- und
Erinnerungskultur
Gedenkstätten spiegeln die sich ändernden Einstellungen
und Haltungen wider, die die bundesdeutsche Gesellschaft
gegenüber Nationalsozialismus und Holocaust eingenommen hat und noch einnimmt. So zeigt etwa die Geschichte
der politischen und finanziellen Förderung der einzelnen
Gedenkstätte auf, wie die deutsche Gesellschaft und die politischen Kräfte vor Ort in einer bestimmten Epoche mit ihrer
Vergangenheit umzugehen gewillt waren. Genauso verweist
die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Geschehenen
auf die individuelle und gruppenspezifische »Verarbeitung«
der NS-Zeit. Das Mahnmal zur Erinnerung an die deportierten
badischen Juden in Neckarzimmern, das verschiedene, von
Jugendgruppen gestaltete Gedenksteine zu einem zentralen
Gesamtkunstwerk vereinigt, ist hierfür ein eindrucksvolles
Beispiel. In unserer mediendominierten Gegenwart müssen
Schüler vermehrt zur reflektierten Auseinandersetzung mit
Repräsentationen der Geschichtskultur wie dem genannten
Mahnmal oder den Gedenkstätten angehalten werden. Dies
ist angesichts der Bedeutung des Themas Nationalsozialismus und Holocaust in der Gesellschaft besonders wichtig. Die
Auseinandersetzung vor Ort ist hierfür besonders geeignet,
denn über die inhaltliche Beschäftigung mit den Fakten und
mit dem Geschehenen vor Ort und seinen Weiterwirkungen
hinaus sind Gedenkstätten auch Lernorte für Medien- und
Methodenkompetenz. Es sind Orte, an denen konkret erfahren und geübt werden kann, wie Geschichte »gemacht« wird.
Hier können grundlegende geschichtswissenschaftliche Verfahrens- und Erkenntnisweisen eingeübt werden.
Dies betrifft den historischen Ort als solchen, der nur in den
seltensten Fällen unverändert, meist aber zumindest teilweise zerstört, überbaut und in seinen Funktionen verändert
vorhanden ist. Dennoch ist er eine historische Quelle: Seine
Gestaltung verweist insgesamt und in seinen historischen
Einzelbestandteilen auf die Lebensbedingungen vor Ort und
auf seine Funktion für die Menschen, die sich hier aufhielten. Seine Einbindung in den Raum deutet auf soziale und
wirtschaftliche Bezüge; seine Umgestaltungen zeigen den
Umgang der Nachfahren mit der Geschichte.
Auch die kritische Arbeit mit historischen Quellen als ein
Ziel historischen Lernens lässt sich an den in den Gedenkstättenarchiven vorhandenen Quellenzeugnissen einüben.
Gerade die Zeitzeugenberichte und Interviews, auf denen
viele der heute vorhandenen Informationen über das Geschehen vor Ort beruhen, eignen sich besonders zu quellenkritischen Fragestellungen: Die persönliche Wahrnehmung,
Vergessen und Verdrängen, später Gehörtes, politische und
ethisch-moralische Überzeugungen der Erzählenden und die
Erwartungshaltung ihres Publikums, Zeitpunkt und äußerer
Rahmen des Erzählens und Befragens – dies sind nur einige
Aspekte, die es bei Zeitzeugenberichten zu beachten gilt.
Ähnliches gilt für Bildquellen: Täterfotos und Opferbilder
Ökumenisches Jugendprojekt Mahnmal
Das Mahnmal in Neckarzimmern erinnert an die Deportation der badischen
Juden im Oktober 1940 in das südwestfranzösische Lager Gurs. Im Rahmen
des Ökumenischen Jugendprojektes
arbeiten katholische und evangelische
Jugendgruppen aus ganz Baden seit
2002 an der Realisierung des Mahnmals. Es besteht aus einem 25 mal 25
Meter großen, als Betonband in den
Boden eingelassenen Davidstern, auf
dem die Projektgruppen individuell
gestaltete »Memorialsteine« anbringen
und der Platz für weitere Erinnerungssteine aus sämtlichen 137 Deportationsorten bietet.
Politik & Unterricht • 3-2008
7
Einleitung
zeigen unterschiedliche Perspektiven. Die quellenkritische
Beschäftigung mit ihnen fördert die Methoden- und Medienkompetenz der Schülerinnen und Schüler. Überdeutlich
und offensichtlich wird der »konstruierte« Charakter von
Geschichte schließlich bei künstlerischen Darstellungen,
die höchst individuelle Interpretationen der Geschichte
sind. Letztlich sind es auch die »Inszenierungen« von Geschichte, die an einer Gedenkstätte in Blick genommen
werden können. An den Ausstellungen vor Ort, die als solche
Inszenierungen zu verstehen sind und ein bestimmtes Bild
von »der« Geschichte vermitteln, lassen sich Fragen der
Perspektivität von Ausstellungsmachern und ihrem Publikum
sowie der Deutung von Geschichte diskutieren.
Mit den hier vorgelegten Materialien wird versucht, den genannten Aspekten gerecht zu werden. Angesichts der Vielzahl der Gedenkstätten in Baden-Württemberg ist allerdings
exemplarisches Arbeiten notwendig: An einzelnen Orten soll
aufgezeigt werden, welche Themen in der unabdingbaren
Vorbereitung eines Gedenkstättenbesuches erarbeitet werden
sollten und welche thematischen und methodischen Zielsetzungen vor Ort verfolgt werden können. Die Vielfalt der
Themen zwingt zu einer starken Reduktion der Materialien.
Ergänzende Hinweise auch auf spezifische Internetseiten und
HISTORISCHER HINTERGRUND: DAS SYSTEM
DER KONZENTRATIONSLAGER
Die Konzentrationslager gehörten zu den wichtigsten
Machtinstrumenten der Nationalsozialisten, doch sind unterschiedliche Entwicklungsstufen und Formen der Ausgestaltung zu berücksichtigen. Die frühen Lager dienten der
Ausschaltung und Einschüchterung der politischen und
weltanschaulichen Gegner der Nationalsozialisten sowie
der Abschreckung potenzieller Widersacher, die (noch)
in Freiheit lebten. Die frühen Konzentrationslager waren
Sache der Länder: Eine zentral, auf Reichsebene gelenkte
Instanz, welche die Lager und ihre Ausgestaltung koordinierte, existierte noch nicht.
Frühe Konzentrationslager in Baden waren die Lager Kislau
bei Bruchsal und Ankenbuck bei Villingen. Das größte
Lager im Südwesten Deutschlands war das von März bis
Dezember 1933 bestehende Lager Heuberg bei Stetten am
kalten Markt auf der Schwäbischen Alb. Regimefeindliche
Frauen kamen in das württembergische Frauengefängnis
Gotteszell bei Schwäbisch Gmünd. Schon Ende 1933 musste
das völlig überfüllte Lager Heuberg geschlossen werden. Es
wurde durch ein Konzentrationslager in der Festung Oberer
Kuhberg in Ulm ersetzt.
Die wesentliche Grundlage der Einlieferung in ein Konzentrationslager bildete die »Schutzhaft«. Der Begriff gibt
fälschlicherweise vor, der Verhaftete sei zu seinem eigenen Schutz in Haft genommen worden. Tatsächlich wurden
Gegner der Nationalsozialisten vorbeugend – und zur Ab-
8
Literatur ergänzen das Angebot und zeigen Möglichkeiten
der Weiterarbeit auf. Die Aufgabenstellungen sind bewusst
offen gehalten und zielen damit auf Arbeit in Projekten oder
in projektartigen Formen, die Schülerinnen und Schülern die
eigenständige Auseinandersetzung mit der Thematik erlauben
und ihnen helfen soll, ihren eigenen Standpunkt zu einem
zentralen Thema der deutschen Geschichte zu finden.
Die Auswahl der Gedenkstätten erfolgte vor allem unter
dem Gesichtspunkt einer regionalen Verteilung in BadenWürttemberg. Die inhaltliche Gliederung weist drei Schwerpunkte auf: Baustein A beschäftigt sich mit den frühen nationalsozialistischen Konzentrationslagern Kislau, Heuberg
und Oberer Kuhberg in Ulm. Baustein B zeigt am Beispiel
der jüdischen Gemeinde bzw. der Gedenkstätte im badischen Sulzburg, der Sinti-Kinder von Mulfingen (Hohenlohe)
und der Gedenkstätte Grafeneck auf der Schwäbischen Alb
drei Varianten nationalsozialistischer Rassepolitik auf. Baustein C beschäftigt sich am Beispiel des ehemaligen Außenlagers von Natzweiler bzw. der KZ-Gedenkstätte Neckarelz
(Neckar-Odenwald-Kreis) mit der letzten Phase der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, in der das System
der Konzentrationslager wieder in die unmittelbare Nachbarschaft der deutschen Bevölkerung rückte.
schreckung anderer – aus politischen, konfessionellen oder
auch persönlichen Gründen in »Schutzhaft« genommen und
gerichtlich Verurteilte nach bereits verbüßter Haft in ein
Lager gesteckt. Die »Schutzhaft« konnte unbegrenzt lange
dauern; ein Rechtsmittel gegen sie war nicht möglich.
Eine Vereinheitlichung zum »System der Konzentrationslager« begann erst 1934 mit der Ausgestaltung des KZ
Dachau zum Modell für alle weiteren Lager. Die ab 1936
in Deutschland gegründeten zentralen Konzentrationslager
wie Sachsenhausen oder Buchenwald wiesen einheitliche
strukturelle Merkmale auf und standen unter der Leitung
der SS. Neben den politischen Gegnern der Nationalsozialisten wurden jetzt auch rassenideologisch Verfolgte (Sinti
und Roma, sogenannte »Asoziale«, Homosexuelle u. a.)
eingesperrt, was nach nationalsozialistischem Sprachgebrauch der »Reinigung des Volkskörpers« dienen sollte. In
Baden oder Württemberg entstand kein derartiges Lager;
das Lager Welzheim erfüllte nachgeordnete Funktionen.
Von diesen großen, zentralen Lagern sind die nach Beginn
des Zweiten Weltkrieges gegründeten Lager zu unterscheiden, die – wie Natzweiler im Elsass – der SS als Terrormittel
gegen die Bevölkerung in den eroberten Gebieten dienten,
und vor allem die Vernichtungslager auf erobertem polnischem Gebiet, in denen die massenhafte Tötung insbesondere von Juden und von Sinti und Roma durchgeführt
wurde. Der Arbeitseinsatz von unzähligen Zwangsarbeitern
in der Industrie erforderte dann kleinere Außenlager am
Einsatzort der Häftlinge (vgl. hierzu Baustein C).
Politik & Unterricht • 3-2008
Baustein A
●●●
BAUSTEIN A
zeigen einerseits den Zeitdruck, unter dem die Nationalsozialisten genügend Gefängnisse für die massenhafte Verhaftung politischer und weltanschaulicher Gegner zur Verfügung
stellen mussten. Andererseits belegen sie auch die geringe
Wertschätzung der Häftlinge und ihrer Menschenwürde durch
den nicht mehr funktionierenden Rechtsstaat. Der Ort wird
so zur Quelle. Dabei sollte aber auch deutlich werden, dass
er nur »zum Sprechen gebracht« werden kann, wenn die
tatsächlichen Lebensverhältnisse durch weitere Zeugnisse
wie A 8 vorgestellt werden, auch wenn die Unwirtlichkeit
des Forts grundsätzlich erkennbar ist.
DIE FRÜHEN KONZENTRATIONSLAGER:
MACHTAUSBAU DURCH TERROR
In Baustein A wird vor allem die Funktion der frühen Konzentrationslager im Zuge des Machtausbaus und der Formierung der deutschen Gesellschaft im nationalsozialistischen Sinn aufgezeigt. Ein Lernziel besteht darin, zwischen
den frühen Konzentrationslagern, den Vernichtungslagern
und den in Baustein C wieder aufgegriffenen Außenlagern
(»Vernichtung durch Arbeit«) differenzieren zu können. Die
Entwicklung eines einheitlichen und zentral gesteuerten KZSystems wird hier am Beispiel der Häftlingskleidung und
indirekt an den vorgestellten Orten verdeutlicht: Die Fotos,
die Häftlinge zeigen (A 9), sind Zeugnisse einer fortschreitenden Vereinheitlichung der Haftbedingungen. Gleichzeitig
verweisen sie auf die zunehmende, von den Lagerleitungen
(und später der SS) angestrebte Entpersönlichung der Lagerinsassen, denen durch Uniformierung und Haarschur jegliche
äußeren individuellen Züge genommen werden sollten (vgl.
C 3 – C 5).
Das Lagersystem beruhte auf dem Instrument der »Schutzhaft«, das bereits im 19. Jahrhundert bekannt war, von den
Nationalsozialisten aber als Terrorinstrument ausgestaltet
wurde. Ausgangspunkt hierfür war die Verordnung des Reichspräsidenten »zum Schutz von Volk und Staat« (sogenannte
»Reichstagsbrandverordnung«) vom 28. Februar 1933, durch
welche die wesentlichen bürgerlichen Grundrechte beseitigt
(§ 1 abgedruckt in A 4) und die Strafbestimmungen für
bestimmte Vergehen verschärft wurden.
Weiteres Thema dieses Bausteins sind die Mittel und Methoden, welche die Nationalsozialisten zum Ausbau ihrer Macht
benutzten. Die Darstellung des Konzentrationslagers in der
Öffentlichkeit, also die gewünschte Berichterstattung in der
Orte wie Kislau und insbesondere der Obere Kuhberg in Ulm,
die ursprünglich nicht als Gefängnisbauten gedacht waren,
DAS EHEMALIGE KONZENTRATIONSLAGER
OBERER KUHBERG IN ULM
In Konzentrationslagern wie dem Oberen Kuhberg wurden
Regimegegner und -kritiker ihrer Würde beraubt, um sie –
zusammen mit ihren Angehörigen und Mitstreitern – einzuschüchtern und verstummen zu lassen.
Heute ist das ehemalige Konzentrationslager Oberer Kuhberg Gedenkstätte. Es ist das einzige KZ in Süddeutschland, das in seiner baulichen Substanz erhalten ist und
besichtigt werden kann. Dazu gehören die unterirdischen
Verliese, in denen die Häftlinge untergebracht waren, das
Freigelände mit der Haftzelle von Kurt Schumacher sowie
Politik & Unterricht • 3-2008
www.dzokulm.telebus.de
Reinhold Weber
DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 96
Das um 1850 erbaute Fort Oberer Kuhberg diente dem
NS-Regime von November 1933 bis Juli 1935 als Konzentrationslager. Kurz zuvor war das völlig überfüllte Lager
Heuberg bei Stetten am kalten Markt geschlossen worden.
Das KZ Oberer Kuhberg war kein Vernichtungslager. Wohl
aber waren hier über 600 politische und weltanschauliche
Gegner aus Württemberg und Hohenzollern unter menschenunwürdigen Bedingungen eingekerkert. Unter ihnen
waren prominente Politiker wie der KPD-Landtagsabgeordnete Alfred Haag (1904 – 1982) oder die Sozialdemokraten
Albert Pflüger (1897 – 1965), Erich Roßmann (1884 – 1953)
und der spätere SPD-Bundesvorsitzende Kurt Schumacher
(1895 – 1952). Sie begannen hier ihren Leidensweg durch
die NS-Lager.
die Räume der KZ-Kommandantur. Eine Dauerausstellung
in der Gedenkstätte zeigt Bilder und Dokumente zu den
Häftlingen, den Haftbedingungen, den Haftgründen und
nicht zuletzt auch zu den Tätern.
Das Kommandanturgebäude bzw. Reduit des Forts Oberer
Kuhberg.
9
Baustein A
entstehenden Lager typisch ist, für die frühen Lager zumindest nach außen nicht besteht. Das Regime präsentierte
und demonstrierte der Öffentlichkeit – also den Gegnern
wie den Anhängern – am und über das Konzentrationslager
die erreichte Macht. A 6 ist darüber hinaus Zeugnis für den
Triumph, den die Nationalsozialisten über die Gegner aus
der Arbeiterschaft feierten: Der traditionelle Feiertag der
Arbeiterschaft wird instrumentalisiert. Der Terror, den das KZ
zum Ausdruck bringt, wird mit den angeblich erreichten wirtschaftlichen Erfolgen gerechtfertigt und die überwiegend
politisch linksstehenden Häftlinge werden damit verhöhnt.
Schikanöse Strafen, Willkür und Terror richteten sich jedoch
gegen sämtliche Gegner des NS-Regimes. Sie wurden in allen
Konzentrationslager eingesetzt, um den Willen der Häftlinge
Presse über Verhaftungen und (angebliche) Haftbedingungen, zieht sich durch die Geschichte der frühen Konzentrationslager, wie hier an A 1, A 2 und A 5, A 9 und A 11
deutlich wird. Offensichtliches Ziel war die Abschreckung
potenzieller Gegner und die Ausrichtung der Gesellschaft im
nationalsozialistischen Sinn. Die Mittel waren die Berichterstattung als solche und vor allem der diffamierende Ton.
Auch A 6 gehört hierher: Der aus Anlass des 1. Mai zu Propagandazwecken geschmückte Eingang mit Hitlerbild, Hakenkreuzfahnen, Reichsfahne (in Schwarz-Weiß-Rot) und dem
Spruch »Gestern Hunger und Not, heute Arbeit und Brot«
zeigt, dass die bewusste äußere wie innere Abschottung
der Lagerwelt, wie sie für die seit Mitte der 1930er Jahre
DAS KONZENTRATIONSLAGER KISLAU
3. April 1934 auf dem Karlsruher Friedhof beteiligten sich
trotz der Allgegenwart der Gestapo rund 3.000 Menschen.
Das Konzentrationslager Kislau bei Bruchsal bestand von
April 1933 bis April 1939. Während der gesamten Dauer
seines Bestehens blieb es dem badischen Innenministerium unterstellt und wurde im Gegensatz zu den meisten
anderen frühen Konzentrationslager nicht der zentralen
»Inspektion der Konzentrationslager« unterstellt. Das Konzentrationslager wurde im Schloss Kislau errichtet, das bereits seit 1819 als Strafanstalt gedient hatte. Parallel zum
Konzentrationslager existierte in einem Trakt des Schlosses
ein ebenfalls bereits im 19. Jahrhundert eingerichtetes
Arbeitshaus für Männer.
Die Karlsruher SPD vergibt zum Andenken an Ludwig Marum
jährlich einen Preis. Im Oktober 1985 wurde das Gymnasium im nahegelegenen Pfinztal nach Ludwig Marum
benannt. Vor der ehemaligen Wohnung des Abgeordneten
in der Wendtstraße 3 in Karlsruhe wurden Stolpersteine in
den Boden gesetzt. Im Schloss Kislau selbst erinnert ein
Gedenkstein im Schlosshof an das ehemalige Konzentrationslager und an Ludwig Marum. In der Erinnerungsstätte
Ständehaus in Karlsruhe wird mit zwei Tafeln an das Schicksal von Ludwig Marum und Adam Remmele erinnert.
www.karlsruhe.de/kultur/stadtgeschichte/staendehaus.de
www.lpb-bw.de/publikationen/menschenausdemland/
marum.pdf
Im Konzentrationslager Kislau wurden bereits im April
1933 Kommunisten, Sozialdemokraten und Zentrumspolitiker inhaftiert. Zahlreiche politisch Missliebige folgten.
Die höchste Belegungsstärke des KZ wurde 1937/38 mit
173 Häftlingen erreicht.
Am 29. März 1934 wurde Ludwig Marum auf Weisung des
badischen Reichsstatthalters Robert Wagner von drei KZAufsehern erdrosselt. Die von den Behörden verbreitete
Version des Selbstmordes des Politikers fand in der Bevölkerung keinen Glauben. An der Einäscherung Marums am
10
Stadtarchiv Karlsruhe
Einer der prominentesten Inhaftierten und Opfer des
NS-Terrors in Kislau war der jüdische SPD-Politiker und
Reichstagsabgeordnete Ludwig Marum (1882 – 1934) aus
Karlsruhe. Am 16. Mai 1933 wurden Marum, der frühere
badische Staatspräsident Adam Remmele (1877 – 1951) und
fünf weitere führende badische Sozialdemokraten in das
neu errichtete Konzentrationslager Kislau verbracht. Dabei
wurden sie unter entwürdigenden Umständen in einer vorbereiteten Aktion auf offenen Lastkraftwagen durch die
Stadt Karlsruhe gefahren – vorbei an pöbelnden SA-Horden
und tausenden Karlsruher Bürgern. Vereinzelt kam es zu
Protesten und Rufen wie »Rotfront«, die vom Regime sofort
geahndet wurden. Am selben Tag kam der »gleichgeschaltete« badische Landtag zu seiner Eröffnungssitzung zusammen. Der zeitliche Zusammenhang war keinesfalls zufällig.
Reinhold Weber
Am 16. Mai 1933 werden – öffentlich inszeniert – sieben
sozialdemokratische Landtagsabgeordnete aus Karlsruhe in
das Konzentrationslager Kislau verschleppt. Von SS- und SAMännern umringt v. l. n. r.: Hermann Stenz, Adam Remmele,
Erwin Sammet, Ludwig Marum, Gustav Heller, Sally Grünebaum und August Furrer.
Politik & Unterricht • 3-2008
Baustein A
zu brechen – hier verdeutlicht am Beispiel der »Schaufahrt«
ins badische KZ Kislau (A 1 und A 2) und den Berichten in
A 8, A 9, A 10 und A 12. Gerade A 9 zeigt die Absurdität
des Lageralltags in Ulm, da eine an sich sinnvolle Beschäftigung (die Reinigung der Kleider und der Kleiderappell)
durch die Anweisungen des Lagerkommandanten zur Verschlimmerung der Lebensumstände führt. Die entwürdigende
Behandlung von Alfred Haag durch den Lagerkommandanten
(A 10) verweist auf dessen nahezu absolute Stellung und in
besonderem Maß auf seine Menschenverachtung.
Die Lebensgeschichte des ehemaligen württembergischen
KPD-Landtagsabgeordneten Alfred Haag, dargestellt von
seiner Frau Lina, steht exemplarisch für die Verfolgung und
das Schicksal politischer Gegner der Nationalsozialisten. Am
biographischen Einzelfall werden hier das außergesetzliche
Wirken und die Willkür von Gestapo und Lagerleiter deutlich. Gleichzeitig eröffnet das Beispiel eine Perspektive auf
die Auswirkungen der Verfolgung im familiären Umfeld der
Betroffenen. Die Angehörigen litten mit, blieben aber nach
wie vor in der »normalen« Gesellschaft präsent – ein Hinweis
auf die vielfältigen Verwicklungen des KZ-Systems mit der
»Zuschauer«-Gesellschaft. Indem die weiteren Lebensläufe
von Alfred und Lina Haag recherchiert werden, werden die
Folgen von Verfolgung und Haft über die oftmals postulierte
»Stunde Null« des Mai 1945 hinaus deutlich gemacht. Der
Bericht dient zudem als Hinführung zur Arbeit mit dem
entsprechenden Biographieordner, der im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg vorhanden ist.
Mit Alois Dangelmaier (1889 – 1968) wird ein Repräsentant
der Gruppe der NS-Gegner aus dem kirchlichen Bereich vorgestellt. Die ausgewählten Materialien verweisen als Einführung auf die Ausstellung im Dokumentationszentrum
Oberer Kuhberg in Ulm, machen aber noch einmal die Mittel
deutlich, mit denen die NS-Verfolgungsbehörden arbeiteten: Drohungen, öffentliche Zurschaustellung und damit
Missachtung grundlegender bürgerlicher Rechte, die auch
Verdächtige genießen (vgl. A 11).
Mit Karl Buck (1894 – 1977) wird ein Repräsentant der Täter
angesprochen, die größtenteils »ganz normale Männer« (so
ein Buchtitel des Historikers Christopher Browning) waren,
die aber die NS-Ideologie verinnerlicht hatten und sie auslebten. Sein schikanöses Verhalten gegenüber den Häftlingen kann auf der Grundlage der Texte zusammengestellt
werden. Da es noch keine grundlegende Studie zu Buck gibt,
kann mit den ausgewählten Materialien auf ein grundsätzliches Thema der Nachkriegsgeschichte – auf den Umgang der
westdeutschen Gesellschaft und Justiz mit den Tätern nach
1945 und ihre Integration – hier nur verwiesen werden.
Mit der Materialseite zu den unterschiedlichen Formen des
Gedenkens soll die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen
Im Haus des Landtags von Baden-Württemberg in Stuttgart
erinnert seit 2004 ein Gedenkbuch an ermordete oder aufgrund der NS-Verfolgung zu Tode gekommene Mitglieder der
Landtage des Freistaates Baden und des Freien Volksstaates
Württemberg von 1919 bis 1933. Die Dokumentation liegt
im Hauptgeschoss des Landtagsgebäudes frei zugänglich aus.
Sie schildert exemplarisch, schlaglichtartig und in äußerster Knappheit das Lebensschicksal von 18 badischen und
württembergischen Landtagsabgeordneten.
LMZ Baden-Württemberg
Viele dieser Abgeordneten waren gleichzeitig Mitglieder
des Deutschen Reichstags, leisteten Widerstand gegen das
NS-Unrechtsregime und hatten infolgedessen unter Verfolgung und Unterdrückung bis hin zum Verlust ihres Lebens
zu leiden. Unter den 18 Abgeordneten sind auch der
württembergische Staatspräsident Eugen Bolz (1881 – 1945,
Zentrum), die Liberalen Fritz Elsas (1890 – 1945, DDP)
und der Schriftsteller und Journalist Johannes Fischer
(1890 – 1942, DDP), der kommunistische Widerstandskämpfer Georg Lechleiter (1885 – 1942), der Sozialdemokrat
Ludwig Marum (1882 – 1934), die Sozialdemokratin Laura
Schradin (1878 – 1937) und der spätere SPD-Bundesvorsitzende Kurt Schumacher (1895 – 1952), der mehrere KZInhaftierungen, unter anderem im Oberen Kuhberg in Ulm,
überlebte.
Politik & Unterricht • 3-2008
11
Baustein B
●●●
Ausprägungen der Geschichtskultur angeregt und gefördert
werden: Während der Gedenkstein für Ludwig Marum, der
eine für Grabmale übliche Form hat, den mahnenden Charakter des vergangenen Geschehens und damit dieses selbst in
den Vordergrund stellt und die Täter über den Begriff »Naziterror« entpersönlicht, geht die Gestaltung im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg von der Gegenwart der Besucher
aus. Sie werden zur Auseinandersetzung mit ihrem eigenen
Verständnis dieses Grundgesetz- und Menschenrechtsartikels
aufgefordert. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
in der Ausstellung wird somit mit pädagogisch-politischer
Absicht unter eine Losung gestellt (A 14).
BAUSTEIN B
NS-RASSENIDEOLOGIE: AUSGRENZUNG,
GEWALT UND MORD
Die jüdische Gemeinde und ihre Synagoge in Sulzburg
Der Leerraum, den die Vernichtung der jüdischen Gemeinden durch das NS-Regime hinterlassen hat, kann heutigen
Jugendlichen (und auch Erwachsenen) nicht sofort auffallen. Es gilt, ihn zu erarbeiten und zu erkennen, dass es
ein Raum ist, in dem sich ein Geflecht sozialer Bezüge
herausgebildet hatte, das sich unter dem Begriff »Nachbarschaften« zusammenfassen lässt. Nachbarschaft zeigt sich
im alltäglichen Zusammenleben: im Schwatz über den Zaun,
in der gegenseitigen Hilfe, vielleicht in Freundschaften, die
sich ausbilden, vor allem aber in einer Grundhaltung beider
GEDENKSTÄTTE EHEMALIGE SYNAGOGE
SULZBURG
bäude in städtischen Besitz und wurde als Kulturdenkmal
und Gedenkstätte restauriert.
Die Synagoge in Sulzburg war 1822 nach Karlsruhe und Randegg der dritte Synagogenbau einer jüdischen Gemeinde
im Großherzogtum Baden. Heute ist sie die einzige nicht
zerstörte Synagoge aus der Architekturschule Friedrich
Weinbrenners im spätbarock-klassizistischen Mischstil in
Baden-Württemberg. Mitte der 1970er Jahre kam das Ge-
Die Geschichte der Sulzburger jüdischen Gemeinde geht bis
in das 16. Jahrhundert zurück. Im 18. und 19. Jahrhundert
war trotz der durchaus armseligen Bedingungen der jüdischen Bevölkerung ihr Anteil am Leben und an der Kultur
der Stadt beträchtlich. Im Jahr 1864 zählte die jüdische
Gemeinde 416 Menschen und damit etwa ein Drittel der
Einwohnerschaft des Ortes. Zum Zeitpunkt der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten lebten 94 Menschen
jüdischen Glaubens in Sulzburg. Am 10. November 1938
wurde die Sulzburger Synagoge im Zuge des Novemberpogroms schwer demoliert. Nach den Deportationen der
badischen Juden kamen mindestens 22 der 94 jüdischen
Menschen in Sulzburg ums Leben.
Heute organisiert der »Freundeskreis Ehemalige Synagoge
Sulzburg e. V.« die Erinnerungsarbeit als lebendiges Lernen
für die Demokratie und die Menschenrechte in der ehemaligen Synagoge. Von besonderer kulturgeschichtlicher
Bedeutung ist auch der jüdische Friedhof in Sulzburg.
LMZ Baden-Württemberg
www.sulzburg.de
Reinhold Weber
Die Ostseite der ehemaligen Synagoge in Sulzburg mit Rundfenster und Nische für den Thoraschrein. Die Synagoge in
Sulzburg war von 1727 bis 1886 Sitz des Rabbinats für
das badische Oberland. Während der Reichspogromnacht
(»Reichskristallnacht«) im November 1938 wurde die Synagoge verwüstet, aber nicht völlig zerstört. Sie konnte deshalb
erhalten werden.
12
Politik & Unterricht • 3-2008
Baustein B
Seiten, die darauf aus sind, miteinander auszukommen und
in gegenseitiger Anerkennung und Achtung zu leben. Dieses
Zusammenleben muss eine gewisse Distanz nicht ausschließen. Integration und Assimilation sind zusätzliche Begriffe,
die das gegenseitige Aufeinanderzugehen kennzeichnen.
Dementsprechend erfolgte die Auswahl der Materialien für
Baustein B unter dem Aspekt der Nachbarschaft, die hier
als didaktische Leitlinie gewählt wurde. Nachbarschaft lässt
sich vor Ort an den räumlichen Gegebenheiten aufzeigen und
konkretisieren: Besonders Karten wie B 1 zeigen die enge
Verschränkung der Lebensbereiche auf. In Erinnerungen
zum konkreten Alltag werden die Bedingungen des Zusammenlebens veranschaulicht. Begriffe wie Assimilation und
Integration werden anschaulich und fassbar. Die Verhältnisse in Sulzburg lassen sich auf andere »Judendörfer« und
»Judengemeinden« im deutschen Südwesten übertragen.
Die Materialien beschreiben daher die Nachbarschaft von
Juden und Christen und ihre Zerstörung im »Dritten Reich«.
Bewusst wurden Texte und Bilder ausgewählt, die vor 1933
entstanden oder sich auf diese Zeit beziehen. So lässt sich
der soziale und kulturelle Verlust besser verdeutlichen.
Mit der Karte B 1 und den Fotos von der Synagoge (B 2,
vgl. auch Foto Seite 12) wird der Ort vorgestellt. Damit wird
vor dem Gedenkstättenbesuch ein erster Eindruck vermittelt. Es sollte herausgearbeitet werden, dass insbesondere
die Synagoge als öffentlicher Kultbau das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Juden als vollwertige Bürger
ausdrückte. Synagogen gehörten spätestens in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr zur Minderheitenarchitektur. B 3 beschreibt die allgemeinen Verhältnisse:
Der Schriftsteller Jacob Picard verweist auf typische Formen
des Zusammenlebens und -arbeitens: Er benennt die wirtschaftlichen Grundlagen, die sozialen Beziehungen und die
konfessionellen Gegensätze – Aspekte, die allgemeine Geltung beanspruchen dürfen.
Die Fotos in B 4 zeigen Aspekte deutsch-jüdischen Selbstverständnisses: Die Teilnahme am Ersten Weltkrieg als offensichtliche Selbstverständlichkeit (vgl. auch das Beispiel
des Leo Louis Kahn in B 7), der nationale Stolz, der sich
im Ablichten in Uniform ausdrückt und den auch die Honoratioren der jüdischen Gemeinde im Zentrum der Gruppe
zum Ausdruck bringen, und die typische bürgerliche Darstellungsform einer Gemeinschaft zeigen das Selbstverständnis
der deutsch-jüdischen Männer auf. Auch das Zusammensein
in Vereinen kann als typisch bürgerliche Organisationsform
angesehen werden. Das Foto vom Chorausflug ist damit
Zeugnis der privaten Beziehungen wie der gleichartigen Interessen der beiden konfessionellen Gruppen.
Die Darstellung des (außer-)schulischen Lebens der Sulzburger Kinder (B 5) dient als weitere Veranschaulichung
des offenbar problemlosen Zusammenlebens. Sie zeigt aber
auch die existierenden Trennlinien auf, die auf den unterschiedlichen religiösen Riten beruhen. Darüber hinaus lässt
sich an diesem Text quellenkritisch arbeiten und im Vergleich
zu B 6 die unterschiedlichen Intentionen von autobiographischer Erinnerung und wissenschaftlicher Darstellung
aufzeigen.
An B 6 lassen sich auch die Mittel erarbeiten, über welche
die Nationalsozialisten in der Phase des Machtausbaus die
Grundlage für die Zerstörung der Nachbarschaften legten:
Gewalt, Drohung und Einschüchterung, öffentliche Stigmatisierung der jüdischen Opfer wie der christlichen Bevölkerung, »Schutzhaft«, Unterstellungen. Nicht genannt werden
hier die scheinlegalen Mittel wie die »Nürnberger Gesetze«,
die jedoch am lebensgeschichtlichen Beispiel herausgearbeitet werden sollen (B 7). Die allgemeine Entwicklung
der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung sollte vor einem
Gedenkstättenbesuch bekannt sein. Am lebensgeschichtlichen Beispiel werden sie konkretisiert und damit eindrücklicher.
Stadtarchiv Lörrach
Am Morgen des 22. und des 23. Oktober 1940 werden die jüdischen Einwohner der damaligen Gaue Baden
und Saarpfalz in das im unbesetzten
Teil Frankreichs liegende Lager Gurs am
Fuß der Pyrenäen deportiert. Das Foto
zeigt die Deportation der Lörracher
Juden – vor aller Augen und am helllichten Tag.
Politik & Unterricht • 3-2008
13
Baustein B
Bei den Mulfinger Sinti-Kindern handelt es sich um ein
ausgesprochen emotionales Thema, denn die Kinder werden
als Opfer in ihrer ganzen Wehrlosigkeit vorgestellt. Auch
deshalb muss bei der Behandlung des Themas der Blick auf
diejenigen gelenkt werden, die als Erwachsene am Geschehen beteiligt waren – seien es die Schwestern im Heim, der
Pfarrer, der die Notkommunion vornimmt, die Lehrerin oder
vor allem die Personen in den Amtsstuben. Dieser Aspekt
der graduell abgestuften »Zuschauerschaft« wird vor allem
durch die Materialien B 10 – B 11 angesprochen, wobei über
die direkt in den Verwaltungspapieren genannten Personen
hinaus auch an den indirekt damit befassten Personenkreis
zu denken ist wie der »Schulrat aus Crailsheim« in B 9 oder
die den beiden betroffenen Dienststellenleitern nachgeordneten Beamten, Angestellten und Schreibkräfte in B 10,
die sich in dienstlichen Beratungen und im Alltagsgespräch
untereinander mit den Deportationen befasst haben dürften.
Kriterien der Beurteilung ihrer Handlungsspielräume und
ihres Wissens über die Vernichtungspolitik könnten dabei
sein: das Alter der Einzelpersonen, ihr Dienstgrad, die Zuständigkeitsbereiche und vor allem ihr räumlicher Abstand
zum Geschehen vor Ort, das für sie möglicherweise nur als
Verwaltungsvorgang in den entsprechenden Akten sichtbar wurde. Das Denkmal im Jugendamt Stuttgart (B 12)
weist darauf eindrücklich hin. Die Einsicht, dass die Vernichtungspolitik nicht nur eine Sache der Täter war, sondern in
die »normale« Gesellschaft hineinreichte und Mitwisser in
großer Zahl hatte, wird sich hier anschließen.
Der Antrag auf die Verleihung des Ehrenkreuzes (B 7) macht
den Versuch deutlich, sich in einer mehr und mehr feindlich
gesinnten Umwelt zu behaupten. Das Schicksal der Familie Kahn kann vor Ort anhand der in der Gedenkstätte in
Sulzburg vorhandenen, aber auch in Buchform zusammengestellten Materialien vertieft werden (vgl. die im Materialteil genannte Literatur). Es beleuchtet einzelne wichtige
Aspekte nationalsozialistischer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Wichtige Stationen nationalsozialistischer Verfolgung wie der Pogrom vom November 1938 sollten in ihren
Auswirkungen (insbesondere die Schändung der Synagoge)
vor Ort erarbeitet werden.
Die Mulfinger Sinti-Kinder
Die Materialien in diesem Teil des Bausteins B dienen der
Hinführung zu einem Besuch im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg. Sie
können aber auch für eine Beschäftigung mit dem Thema
an den angeführten Gedenkorten herangezogen werden. Das
Thema ist nur ein Teil der umfassenden Heidelberger Ausstellung. Die hier abgedruckten Texte und Bilder beinhalten aber
Beziehungen zu anderen Aspekten, denen in der Ausstellung
nachgegangen werden soll. Angesprochen werden (in B 8
und B 9) die »erbbiologische Sichtweise« bzw. Sinti und
Roma in der NS-Rassenideologie und die »Rassenhygienische
Forschungsstelle in Berlin« (Dr. Robert Ritter/Eva Justin)
sowie die Themen Deportationen, Sinti und Roma in den
Konzentrationslagern, das »Zigeunerlager« Auschwitz und
Zwangsarbeit.
DAS DOKUMENTATIONS- UND KULTURZENTRUM
DEUTSCHER SINTI UND ROMA IN HEIDELBERG
Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Seit Beginn der 1990er Jahre besteht in der Heidelberger
Innenstadt das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Es ist eine europaweit einzigartige
Einrichtung. Das Zentrum ist Museum zur Zeitgeschichte
und Ort der Erinnerung, aber auch ein Ort der Begeg-
nung und des Dialogs. Eine der zentralen Aufgaben besteht darin, die über 600-jährige Geschichte der Sinti und
Roma in Deutschland zu dokumentieren. Ein besonderer
Schwerpunkt liegt dabei auf dem Völkermordverbrechen
der Nationalsozialisten, das lange Zeit aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde. Eine weitere wichtige
Aufgabe des Zentrums besteht darin, die kulturellen Beiträge, die die Minderheit der Sinti und Roma etwa auf den
Gebieten Literatur, bildende Kunst und Musik erbracht hat,
darzustellen.
Im Heidelberger Zentrum ist eine ständige Ausstellung
zu sehen, die den NS-Völkermord an dieser Minderheit
dokumentiert. Auf fast 700 qm Fläche wird die Geschichte
der Verfolgung der Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus nachgezeichnet: von der stufenweisen
Ausgrenzung und Entrechtung im Deutschen Reich bis hin
zur systematischen Vernichtung im von Deutschland besetzten Europa.
www.sintiundroma.de
Reinhold Weber
Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti
und Roma in der Heidelberger Altstadt.
14
Politik & Unterricht • 3-2008
Baustein B
tuschungsaktionen durch die »Absteckabteilung« oder das
Standesamt vor Ort sowie die sogenannten »Trostbriefe«
an die Angehörigen sind dagegen Teil einer Erarbeitung
während eines Gedenkstättenbesuchs, der auch auf die Geschichte der Erinnerung an die Morde (Ausstellungsteil) und
die heutige Gestaltung des Ortes als Gedenkstätte eingehen sollte. Die Internetseite der Gedenkstätte liefert hierzu
reichhaltiges Informationsmaterial.
Die Stolpersteine (B 12) sind eine Form der Erinnerung, die
von dem Kölner Künstler Gunter Demnig initiiert wurde und
die mittlerweile in Stuttgart und vielen anderen deutschen
Städten und Gemeinden zu einer verbreiteten Form der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit geworden ist.
Die auf öffentlichem Grund vor den letzten Wohnplätzen
der Verfolgten verlegten Stolpersteine erinnern an ganz
bestimmte Menschen, deren Lebensgeschichte annähernd
bekannt ist. Sie wollen sozusagen die Vorübereilenden »zum
Stolpern bringen« und zum Nachdenken auffordern. Wegen
der Lage der Steine in möglichem Staub und Schmutz wird
das Projekt aber auch kritisiert.
Wichtig ist der Hinweis auf die (volks-)wirtschaftliche Dimension der Krankenmorde als zusätzlicher Aspekt der nationalsozialistischen Rassepolitik. Darauf verweist der Text
und besonders das Ausstellungsbild »Hier trägst Du mit«
(B 13), dessen appellativer Charakter und ideologisch ausgerichtete Bildaussage herauszuarbeiten sind: Die deutsche
Gesellschaft bzw. Arbeiterschaft, dargestellt in Gestalt eines
kräftigen, jungen Arbeiters, müssen demnach die Arbeitsunfähigen und Behinderten schultern, was Arbeitsleistung
und -erfolg schmälert. An der Lebensgeschichte von Martin
Bader (B 14) sollte der perfide Anspruch der NS-Ideologie herausgearbeitet werden: Sie erklärt einen Menschen,
der sich als sozial integriert und in seinem Lebensumfeld
durchaus als wirtschaftlich erfolgreich gezeigt hat, in dem
Moment für überflüssig, als er als Folge einer Krankheit
nicht mehr »arbeitsfähig« (vgl. B 15) ist und damit den
Nützlichkeitskriterien des Regimes nicht mehr entspricht.
Der Protest selbst überzeugter Nationalsozialisten gegen
die Euthanasie entzündete sich an dieser Frage nach der
Grenze, die zwischen angeblich »lebensunwertem« und
»nützlichem« Leben schied. Beispiele hierfür finden sich
sowohl in der Ausstellung als auch auf der Homepage der
Gedenkstätte Grafeneck.
Mit der Gedenktafel in Mulfingen wurde ein Ort der Erinnerung an die Opfer geschaffen, die namentlich genannt
werden. Ein direkter Hinweis auf die Täter erfolgt nicht, die
Sprache (Passiv!) vermittelt den Eindruck einer gewissen
Hilflosigkeit gegenüber den NS-Maßnahmen. Das Denkmal
im Stuttgarter Jugendamt arbeitet dagegen mit bildlichen
Mitteln: Der Aktenordner als Sinnbild der alltäglichen Arbeitsgrundlage einer Bürokratie, die den dahinterstehenden
Menschen allzu leicht vergessen kann. Der entsprechende
Ausstellungsteil im Dokumentations- und Kulturzentrum
Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg (s. Seite 14 unten)
zielt auf Information der Besucher über Bild (vor allem)
und Text, wobei die Auswahl und Anordnung durch die Ausstellungsmacher die Informationsentnahme der Betrachter
lenkt. Die Fotos von betroffenen Menschen verdeutlichen die
lebensgeschichtliche Dimension des Holocaust.
Der Mord an Behinderten und Kranken in Grafeneck
Die vorliegenden Materialien erläutern die historischen und
ideologischen Hintergründe der »Euthanasie«-Verbrechen
der Nationalsozialisten in Grafeneck auf der Schwäbischen
Alb. Sie stellen den Ort Grafeneck kurz vor und geben Diskussionsanreize zu dem in diesem Heft wiederkehrenden Thema:
Die Möglichkeiten des Wissens sowie des Mitmachens und
sich Verweigerns. Der Mord an den Kranken und Behinderten
vor Ort und die daran anschließenden bürokratischen Ver-
Deutlich werden sollte bereits im Vorfeld eines Gedenkstättenbesuchs, dass diese Mordstätte eingebunden ist in weitere räumliche, soziale und historische Zusammenhänge: Die
Opfer stammten aus allen großen und mittleren sowie aus
vielen kleinen Gemeinden Süddeutschlands. Die Vorgänge in
Grafeneck haben damit nicht nur stadt- und ortsgeschicht-
Im katholischen Kinderheim St. Joseph in Mulfingen bei
Schwäbisch Hall waren schulpflichtige Sinti-Kinder untergebracht, deren Eltern bereits deportiert worden waren.
Die Kinder waren von der Deportation zurückgestellt worden, damit für eine wissenschaftliche Forschungsarbeit
»rassenbiologische Untersuchungen« an ihnen vorgenommen werden konnten. Nach Abschluss dieser »Untersuchungen« wurden die Kinder am 9. Mai 1944 direkt nach
Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort wurden einige von
ihnen von dem berüchtigten KZ-Arzt Josef Mengele zu
medizinischen Experimenten missbraucht. In der Nacht
zum 3. August 1944 wurden fast alle Mulfinger Sinti-Kinder
ermordet. Nur vier von ihnen überlebten.
Politik & Unterricht • 3-2008
Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 48/2 I, Bü 955
DIE MULFINGER SINTI-KINDER
Das Foto zeigt Mulfinger Heimkinder bei einem Ausflug,
aufgenommen um 1941.
15
Baustein B
In Grafeneck auf der Schwäbischen Alb begann im Jahr
1940 die sogenannte »Aktion T4«, benannt nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin, dem Ort also, von wo aus die
Ermordung kranker und behinderter Menschen im gesamten
Deutschen Reich koordiniert wurde. Grafeneck steht als
Ort für eines der »arbeitsteiligen Großverbrechen« des
Nationalsozialismus. Innerhalb eines Jahres wurden in Grafeneck 10.654 Menschen mit geistigen Behinderungen oder
psychischen Erkrankungen in einer Gaskammer ermordet.
Grafeneck ist damit der erste Ort systematisch-industrieller Ermordung von Menschen im nationalsozialistischen
Deutschland überhaupt. Der Ort steht am Ausgangspunkt
ungeheuerlicher Menschheitsverbrechen. Unterstrichen
wird diese Perspektive durch die spätere Übernahme des
Verfahrens und des Personals für den Mord an den europäischen Juden in den Vernichtungslagern.
Eine »Aktion« solchen Ausmaßes wie in Grafeneck konnte
trotz aller Bemühungen der Täter nicht geheim bleiben. Zu
deutlich waren die berüchtigten grauen Busse zu sehen,
mit denen die Opfer in den Tod transportiert wurden. Zu
eng waren auch die Verflechtungen zwischen Dorfbewohnern und der Tötungsanstalt, zu deutlich waren auch die
Leichenverbrennungen zu riechen. In der Bevölkerung kursierten Gerüchte, die sich rasch zur Wahrheit verdichteten.
Der Mord an Kranken und Behinderten war ein »offenes
Geheimnis«.
Der Massenmord erregte die Öffentlichkeit außerordentlich. Eltern und Verwandte, Leiter von Heil- und Pflegeanstalten und nicht zuletzt Kirchenvertreter protestierten. Selbst innerhalb der NSDAP kam Kritik auf. Den
Verantwortlichen wurde schrittweise klar, dass sie das Unrechtsbewusstsein der Bevölkerung unterschätzt hatten.
Die Morde endeten im Dezember 1940. Im Frühjahr 1941
wurde Grafeneck geschlossen. Dabei waren einerseits die
Proteste ursächlich. Andererseits war der allergrößte Teil
der in Frage kommenden Personen bereits ermordet. Bis
Archiv Gedenkstätte Grafeneck
GEDENKSTÄTTE GRAFENECK
Auf halbem Weg zwischen Schloss und Gedenkstätte Grafeneck liegt das Dokumentationszentrum. Es beherbergt
die Ausstellung mit dem Titel: »Euthanasie-Verbrechen in
Südwestdeutschland. Grafeneck 1940.« Neben der historischen Perspektive auf Opfer und Täter, Denkstrukturen und
Machtmechanismen richtet die Ausstellung ihr Augenmerk
auch auf die Zeit nach 1945 und fragt, wie die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft publizistisch und juristisch
mit dem Verbrechen umging. Die Ausstellung schließt mit der
Darstellung der heutigen Aufgaben der Gedenkstätte.
zum Ende des Krieges wurden jedoch an anderen Orten
weiterhin Kranken- und Behindertenmorde durchgeführt.
Heute existieren in Grafeneck eine Gedenkstätte und ein
Dokumentationszentrum zur Erinnerung an die Opfer und
gegen das Vergessen in den Diskussionen der Gegenwart.
www.gedenkstaette-grafeneck.de
Reinhold Weber
In Bussen mit grauer Tarnlackierung wurden die Opfer nach Grafeneck gebracht. Das linke Foto entstand 1940 heimlich in
der Anstalt Stetten im Remstal. Das mittlere Foto zeigt das Schloss Grafeneck auf einer Luftaufnahme aus dem Jahr 1935.
In dem Gebäude auf dem rechten Foto befand sich die Gaskammer von Grafeneck (Foto: Archiv Gedenkstätte Grafeneck).
16
Politik & Unterricht • 3-2008
Baustein C
liche Dimensionen, sondern auch familiengeschichtliche:
10.654 Opfer verweisen auf 10.654 Familiengeschichten. Die
landes- und regionalgeschichtliche Bedeutung Grafenecks
wird an seinem Einzugsgebiet deutlich: Von insgesamt vierzig Einrichtungen auf baden-württembergischem Territorium
und zudem sechs bayerischen sowie einer hessischen und
einer nordrhein-westfälischen Einrichtung wurden Patienten in den Tod geschickt. Die berüchtigten »grauen Busse«
(B 16) fuhren die Opfer über öffentliche Straßen nach Grafeneck. Hier bieten sich gute Anknüpfungsmöglichkeiten
aus dem näheren und weiteren Lebensumfeld der Schüler.
Sie machen – wie andere Beispiele in diesem Heft – deutlich,
dass die deutsche Gesellschaft Zuschauer und Beteiligte der
nationalsozialistischen Rassenpolitik stellte. Die Frage nach
den Möglichkeiten des Mitmachens und des sich Verweigerns
stellt sich insbesondere bei der Bearbeitung von B 17.
Zwischen Grafeneck und den Vernichtungszentren des Holocaust wie Auschwitz-Birkenau oder Treblinka bestehen
direkte Zusammenhänge. Stichpunkte hierfür sind: industrieller Massenmord, die Verwendung desselben Personals
und derselben Tötungstechnologie im Rahmen der »Endlösung«. Diese können bereits in der Vorbereitungsphase
angesprochen und mit Hilfe der von der Gedenkstätte im
Internet bereitgestellten Informationen bearbeitet werden.
Hierfür dienen die Arbeitsanweisungen, die auch für die
Nachbereitung geeignet sind und die eine weitere Vertiefung
ermöglichen.
●●●
BAUSTEIN C
DAS AUSSENLAGERSYSTEM DES KZ NATZWEILER:
VERNICHTUNG DURCH ARBEIT
Das Außenlager Neckarelz war ein Teil des Systems der Konzentrationslager, das vor einem Besuch der Gedenkstätte
behandelt werden sollte, um eine historische Verortung zu
ermöglichen. Auch das »System Natzweiler«, das in C 1 und
C 2 angesprochen wird, sollte bekannt sein. Die historische Situation der Außenlager lässt sich auch über die in
Baustein A bereits angesprochene Kleiderfrage konkretisieren und veranschaulichen, denn die auf den Zeichnungen
dieses Bausteins (C 2 – C 5 und C 9) dargestellten und im
Text C 8 als »Zebras« bezeichneten Häftlinge tragen den
äußeren Lebensbedingungen nicht zuträgliche, einheitliche
Häftlingskleidung, die sie nach außen als Häftlinge ausweist
und die auf die Vereinheitlichung des »Systems der Konzentrationslager« verweist. Die Hinweise auf den Aufbau des
Lagers und den Ausbau des Stollens stellen in historischer
wie geografischer Hinsicht weitere überregionale Bezüge her
(z. B. Verlagerung von Daimler-Benz aus Genshagen, Bombenkrieg, Fortgang des Zweiten Weltkrieges, Herkunft der
Häftlinge usw.).
Die inhaltliche Heranführung an das Leben im KZ erfolgt
über die Komplexe Arbeit und Essen. Beides zusammen
erläutern die von der SS praktizierte »Vernichtung durch
Arbeit«. Insbesondere die Arbeitsbedingungen beim Ausbau
des Stollens, die in C 3 – C 5 beschrieben werden, lassen die
mörderischen Bedingungen erahnen, unter denen die Opfer
arbeiten mussten.
Die Bedingungen vor Ort werden mit Hilfe von Fotos und
Zeichnungen (C 6) aufgezeigt. Sie vermitteln bereits in der
Vorbereitungsphase eine Vorstellung von den Örtlichkeiten
Andreas Knitz
Ein aufsehenerregendes Projekt: In
der ehemaligen Pforte des Zentrums
für Psychiatrie Die Weissenau steht
das dauerhafte »Denkmal der Grauen
Busse«, gestaltet von Horst Hoheisel
und Andreas Knitz. Mit dem in Originalgröße in Beton gegossenen Bus des
gleichen Typs, wie er 1940 das Tor der
Heilanstalt zu den Todesfahrten nach
Grafeneck verließ, erinnern die Stadt
Ravensburg und das Zentrum für Psychiatrie Die Weissenau an den Massenmord im Rahmen der »Aktion T4«.
Aus der Heilanstalt Weissenau wurden
1940/41 in elf Omnibustransporten
691 Patienten nach Grafeneck transportiert. Zurück kamen lediglich ihre
Kleider. Ein zweiter Denkmal-Bus steht
derzeit in der Tiergartenstr. 4 in Berlin.
Politik & Unterricht • 3-2008
17
Baustein C
in der Vergangenheit. Sie kann während des Besuchs vertieft
werden. Insbesondere die Zeichnung »Der Blick von innen«
in C 6 soll auf die Normalität des Lebens neben dem Konzentrationslager verweisen; dass diese von einem Häftling
eingefangen wurde, macht dessen Lebensverhältnisse umso
bedrückender.
Wichtig ist der Blick auf die gesamte deutsche Gesellschaft
im Zeichen des Holocaust: Dazu gehören zum einen die
Häftlinge, deren Entmenschlichung und Entpersönlichung
an verschiedenen Stellen deutlich wird (»Zebra«-Anzüge,
C 5: »nur noch Röhren«). Ihr verzweifelter Versuch, dieser
Entwürdigung zu entkommen und noch ein bisschen an
Menschenwürde und Individualität zu bewahren, zeigen die
Zeichnungen Jacques Barraus, die ihm als wahres »Überlebensmittel« galten (C 9).
Zum anderen sind die sogenannten »Zuschauer« in den Blick
zu nehmen: Das Thema der Nachbarschaften aus Baustein B
wird damit variiert. Zu diskutieren sind hier das Wissen bzw.
Nichtwissen der ansässigen Bevölkerung und ihre Handlungsmöglichkeiten. Diese Aspekte werden mit C 6 – C 8 sowie
besonders mit C 11 und C 12 thematisiert. Die »Täter«, die
willkürlich strafen und töten, werden in den Häftlingsberichten C 3 und C 10 beschrieben. Sie erscheinen als Teil
des SS-Systems.
DAS KONZENTRATIONSLAGER NATZWEILER
UND SEINE AUSSENLAGER
Ab Frühjahr 1944 wurden im gesamten »Altreich« die
»späten« Konzentrationslager eingerichtet. Wegen der alliierten Bombenangriffe sollten mit ihnen die notwendig
gewordene Dezentralisierung und Untertageverlagerung
der Rüstungsproduktion beschleunigt werden. Trotz dieser
rüstungswirtschaftlichen Zielsetzung galt für die Häftlinge
jedoch der rücksichtsloseste Einsatz bei unmenschlicher
Behandlung im Rahmen des NS-Programms »Vernichtung
durch Arbeit«. Die NS-Ideologie behielt bis zuletzt den
Vorrang vor militärisch-wirtschaftlichen Belangen.
Im Zuge der totalen Kriegführung und der Ökonomisierung
des KZ-Systems wurden in einem Industrieverlagerungswahn zahlreiche Außenlager des Konzentrationslagers
Natzweiler in den Vogesen – teilweise auch des KZ Dachau –
errichtet. Diese Entwicklung beschleunigte sich noch, als das
KZ Natzweiler im Herbst 1944 geräumt wurde und die Inhaftierten angesichts der rasch anrückenden Alliierten auf die
südwestdeutschen Außenlager verteilt wurden. Die genaue
Zahl dieser Außenlager und Außenkommandos auf dem
Boden des heutigen Baden-Württemberg ist nicht endgültig
erforscht, aber es ist von 73 Außenlagern (Stand 2005) in
Baden-Württemberg, Hessen, Saarland und Rheinland-Pfalz
auszugehen. Nur wenige der aus ganz Europa zusammengetriebenen schwer kranken und völlig entkräfteten Häftlinge
überlebten. Schließlich wurden in den letzten Wochen des
18
Der Umgang mit der NS-Geschichte in Form verschiedener
geschichtskultureller Repräsentationen muss vor Ort angesprochen werden. Indirekt kommt er im Bericht des Häftlings
Rudenko (C 10) zum Tragen, der im Schulhof von Neckarelz
einen Baum pflanzte – für ihn eine Erinnerung an die erlittenen Qualen, für die Besucher an den Menschen, der
stellvertretend für alle Häftlinge im Lager steht.
Methodenkompetenz lässt sich an zwei Quellenarten einüben: Dies sind die Häftlingszeichnungen, die durch den
angesprochenen Bericht Barraus (C 9) zu ergänzen sind, und
die autobiographischen Zeugnisse, an denen die Perspektivität der Autoren zu diskutieren wäre.
Die Evakuierung der Konzentrationslager und die folgenden
Todesmärsche markieren die letzte grausame Zuspitzung des
Durchhaltewillens der SS und der nationalsozialistischen
Vernichtungspolitik. Als solche sollten sie im Unterricht
angesprochen werden (C 13 und C 14). Davon ausgehend
können Verbindungslinien zur Nachkriegszeit gezogen
werden: Denn die bis dahin unvorstellbaren Zustände in
den befreiten Konzentrationslagern und die ausgemergelten
Häftlingsgestalten, auf die die Soldaten der Siegermächte
nicht nur im Südwesten trafen, beeinflussten die alliierte
Nachkriegspolitik gegenüber den deutschen Verantwortlichen und der deutschen Bevölkerung nachhaltig.
»Dritten Reiches« tausende von KZ-Häftlingen vor den
anrückenden alliierten Truppen auf den berüchtigten
»Todesmärschen« quer durch Süddeutschland in frontferne Lager, vor allem in das KZ Dachau, getrieben.
Die Zahl der Opfer des KZ-Außenlagerkomplexes geht allein
in Südwestdeutschland in die Zehntausende. Das dichte
Netz kleiner Lager führte auch dazu, dass die »normale«
Bevölkerung in unmittelbaren Kontakt mit der NS-Vernichtungsmaschinerie kam. Weder das Ausmaß der Opferzahl
noch die grausamen Todesursachen blieben verborgen.
Auch die kommunalen Verwaltungen waren involviert.
Diese »Entgrenzung« des KZ-Systems führte zu engen Verflechtungen zwischen SS, zivilen Behörden, Firmen, Häftlingen und einheimischer Bevölkerung – der Terror fand
auf offener Straße statt. Nie war die deutsche Bevölkerung
so unmittelbar und direkt mit dem KZ-Terror konfrontiert
wie in der letzten Phase des Weltkrieges. Dabei kam es
zu allen Varianten menschlichen Verhaltens: Hilfsmaßnahmen, Wegsehen, Mitmachen und Unterstützung der Täter.
Nach dem Ende des Grauens wollten jedoch nur wenige von
der Vernichtungsmaschinerie gewusst haben. Die Erinnerungsarbeit wie auch die juristische Aufarbeitung fiel lange
Jahre schwer oder blieb gar völlig aus.
www.struthof.fr
Reinhold Weber
Politik & Unterricht • 3-2008
Baustein C
KZ-GEDENKSTÄTTE NECKARELZ
Die KZ-Gedenkstätte Neckarelz ist ein außerschulischer
Lernort für die Geschichte des NS-Terrors und ein Ort der
politischen Bildung zugleich. Sie liegt dort, wo 1944 eine
Grundschule in ein Konzentrationslager umgewandelt
wurde. Zusammen mit dem Geschichtslehrpfad »Goldfisch«
informiert die Gedenkstätte über die NS-Geschichte im
Elzmündungsraum im Neckar-Odenwald-Kreis.
Als im Frühjahr 1944 die Luftangriffe der Alliierten die
deutsche Rüstungsindustrie dazu zwangen, ihre Produktion in unterirdische Verstecke zu verlegen, bot sich für
die Daimler-Benz-Flugzeugmotorenfabrik in Genshagen bei
Berlin wegen seiner verkehrsgünstigen Lage der Gipsstollen
in Obrigheim an. Die Arbeitskräfte lieferte die SS vor allem
aus den Konzentrationslagern im europäischen Osten. Von
März 1944 bis März 1945 wurden etwa 5.000 »Zebras« an
den Neckar verschleppt. Zuerst entstand das Lager Neckarelz
in der Grundschule des Dorfes, später kamen weitere Lager
dazu. Damit entstand der Komplex »Neckarlager«. Alle
waren Außenlager des Stammlagers Natzweiler-Struthof in
den Vogesen.
Die KZ-Häftlinge waren vor allem als Bauhäftlinge eingesetzt. An den Maschinen der Flugzeugproduktion arbeiteten andere Zwangsarbeiter. Insgesamt arbeiteten etwa
10.000 Menschen für das Projekt unter dem Tarnnamen
»Goldfisch«.
www.kz-denk-neckarelz.de
Reinhold Weber
LITERATURHINWEISE
Die Literaturhinweise verzeichnen nur übergreifende Titel zu
Gedenkstätten und zur Gedenkstättenpädagogik. Literaturhinweise zu den einzelnen Orten finden sich im Materialteil
oder sind den jeweiligen Internetseiten der Gedenkstätten
zu entnehmen.
Arbeitsgruppe Jugendprojektarbeit: Jugendprojektarbeit
zum Thema Nationalsozialismus. Praxiserfahrungen und
Empfehlungen zur Gestaltung von (außer-)schulischen
Projekten in den Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, in: Gedenkstättenrundbrief 2004, H. 9, S. 9 – 17.
(Die Arbeitsgruppe bestand aus Vertretern schulischer
und außerschulischer Bildungsinstitutionen.)
Baumann, Ulrich: Zerstörte Nachbarschaften. Christen und
Juden in badischen Landgemeinden 1862 – 1940, Hamburg 2000.
BAUSTEINE – Materialien für den Unterricht, hrsg. von der
Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg
(u. a. zum KZ Bisingen, zu Grafeneck, zu den Deportationen der Juden aus dem deutschen Südwesten, zu Sinti
und Roma, zu den Novemberpogromen 1938 und zum KZ
Natzweiler, teilweise nur noch online erhältlich unter
www.lpb-bw.de/publikationen.htm).
Benz, Wolfgang/Distel, Barbara (Hrsg.): Der Ort des Terrors.
Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 1: Die Organisation des Terrors (2. Aufl. 2008);
Bd. 2: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager (2005); Bd. 6:
Natzweiler, Groß-Rosen, Stutthof (2007) (alle München).
Glauning, Christine/Pflug, Konrad (Hrsg.): Arbeit und Vernichtung. Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler-Struthof. Dokumentation der Jahrestagung 2002 der Landes-
Politik & Unterricht • 3-2008
arbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen Baden-Württemberg, Stuttgart 2004.
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu den Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 – 1945, Bd. 5: BadenWürttemberg, I: Regierungsbezirke Karlsruhe und Stuttgart, II: Regierungsbezirke Freiburg und Tübingen, Köln
1991 und 1997.
Hettinger, Anette: Täter, Opfer – und vor allem Zuschauer.
Möglichkeiten und Notwendigkeiten der pädagogischen Arbeit zur nationalsozialistischen Vergangenheit in Gedenkstätten, in: Uwe Uffelmann/Manfred Seidenfuß (Hrsg.):
Verstehen und Vermitteln, Idstein 2004, S. 223 – 241.
»Hier ist nichts anderes als Gottes Haus …«. Synagogen in
Baden-Württemberg, hrsg. von Rüdiger Schmidt und Meier
Schwarz. Gedenkbuch der Synagogen in Deutschland Bd.
4: Baden-Württemberg, 2 Teilbände, Stuttgart 2007.
Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg
(Hrsg.): Das KZ Natzweiler-Struthof und seine Außenlager.
Handreichung zum Besuch von Gedenkstätten, Stuttgart
(erscheint Ende 2008).
Pflug, Konrad/Raab-Nicolai, Ulrike/Weber, Reinhold (Hrsg.):
Orte des Gedenkens und Erinnerns in Baden-Württemberg,
Stuttgart 2007.
Schreiber, Waltraud: Geschichtsdidaktik und Gedenkstättenpädagogik, in: Gedenkstättenrundbrief 2004, H. 12,
S. 25 – 34.
19
Gedenkstätten
Lernorte zum nationalsozialistischen Terror
Texte und Materialien
für Schülerinnen und Schüler
3-2008
Baustein A
Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror
A 1 – A 11
A 12 – A 13
A 14
Die frühen Konzentrationslager Kislau, Heuberg und Oberer Kuhberg:
Terror gegen politische und weltanschauliche Gegner des Regimes
Aus der Mitte der Gesellschaft: Die Täter
Gedenken und Erinnern heute
Baustein B
NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
B 1– B 7
B 8 – B 12
B 13 – B 17
Die jüdische Gemeinde und ihre Synagoge in Sulzburg
Die Mulfinger Sinti-Kinder
Der Mord an Behinderten und Kranken in Grafeneck
Baustein C
Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit
C
C
C
C
C
C
C
Das KZ Neckarelz als Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof
Arbeiten und (Über-)Leben im KZ Neckarelz
Die Allgegenwart des Konzentrationslagers
Malen als Mittel zum Überleben: Jacques Barrau
Aus der Ukraine nach Neckarelz: Alexander W. Rudenko
Handlungsspielräume in der Diktatur
Die Todesmärsche
1–
3–
6–
9
10
11 –
13 –
C 2
C 5
C 8
C 12
C 14
22
30
31
32
38
42
46
48
50
51
52
53
54
Hinweis: Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg übernimmt keine Verantwortung für die
Inhalte von Websites, auf die in diesem Heft verwiesen oder verlinkt wurde.
Politik & Unterricht • 3-2008
21
A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror
A • Die frühen Konzentrationslager:
Machtausbau durch Terror
Materialien A 1 – A 14
»Schaufahrt« durch die Karlsruher Innenstadt (16. Mai 1933)
Stadtarchiv Karlsruhe 8/Alben 5, S. 31,2
A1
Am 10. März 1933 wurde in Karlsruhe der jüdische Landtags- und Reichstagsabgeordnete Ludwig Marum verhaftet
und ins Polizeigefängnis der Stadt verbracht. Seine Immunität, seine besonderen Schutzrechte als demokratisch gewählter Abgeordneter, galten nichts. Ohne Anklage saß er
dort in »Schutzhaft«, bevor er am 16. Mai 1933 zusammen
mit dem ehemaligen badischen Staatspräsidenten Adam
Remmele und fünf weiteren führenden badischen Sozialdemokraten in das Konzentrationslager Kislau bei Bruchsal
verbracht wurde.
22
Die Wagenkolonne bestand aus zwei Polizeikraftwagen:
Auf dem ersten saßen die verhafteten Sozialdemokraten
(hinten auf dem Wagen ist Ludwig Marum zu sehen) und
ihre Bewacher; auf dem zweiten Wagen befanden sich
SA-Leute, die jeden Passanten verhafteten und mitnahmen, der sich durch »Rotfront«-Rufe mit den Gefangenen
solidarisch erklärte. SA-Männer begleiteten die Wagen an
den Seiten. Voraus gingen SS-Leute, die die Straßen frei
machen sollten.
Politik & Unterricht • 3-2008
A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror
Die Darstellung der Vorgänge in der nationalsozialistischen Presse
Stadtarchiv Karlsruhe 8 ZeE 53, Ausschnitt
A2
Karlsruhe, 16. Mai. Der Schlußstrich unter die schwarz-rote
Ära ist gezogen. Am Dienstag wurden die badischen Novemberverbrecher [Adam] Remmele, [Ludwig] Marum, Sally
Grünebaum, [Hermann] Stenz, [Erwin] Sammet, [Gustav]
Heller und [August] Furrer, der im Jahr 1929 bei der Hölzschlacht* in Karlsruhe unsern Hauptschriftsteller Dr. Rattermann derart mißhandelte, bis er blutüberströmt und
bewußtlos zusammenbrach, in feierlichem Zuge nach der
Strafanstalt Kislau überführt. Fast schien es, als habe die
ganze badische Landeshauptstadt ein Stelldichein gegeben,
um den roten Genossen ein letztes Lebewohl zuzurufen.
Während sich auf den Straßen und auf dem Platz vor dem
Gefängnis die Menschenmassen stauten, schnürten der Herr
Staatspräsident a. D. und seine »Gefolgschaft« ihre Bündel.
Es waren gewiß eigenartige Gedanken, die ihm durch den
Kopf gegangen sein müssen. Seit 14 Jahren war man gewohnt, für jede Handreichung einen Diener parat stehen zu
haben. Man wußte in dieser Beziehung schon, wie man sich
zu benehmen hatte.
Mittlerweile wächst die Spannung ins Riesenhafte. Schnellwagen der Polizei fahren heran und nehmen die Häftlinge auf,
flankiert von SS-Männern. Ex-Staatspräsident Remmele, der
zuerst aus dem Seitengang des Gefängnisses an die Einfahrt
tritt, nimmt gleich auf der vordersten Sitzreihe Platz. Er legt
keinen Wert darauf, von seinen ehemaligen Untertanen gesehen zu werden. Freund Marum hat den schlechtesten Platz
erwischt, denn in seiner ganzen Lieblichkeit präsentiert er
sich dem Volke. Als sich das Tor öffnet und die Wagen in die
Menschenmauer hineinfahren, da brandet die Menschenmasse hoch und ein tobendes, schrilles Pfeifkonzert hebt an,
»Pfui«- und »Nieder«-Rufe tönen über den Platz. Niemand
hat für diese roten Klassenkämpfer Bedauernis oder Mitleid.
»Pfui«-Rufe und immer wieder »Nieder«-Rufe. Langsam nur
können sich die Wagen, die von einem dichten SS-Kordon
umgeben sind, den Weg bahnen. Schritt für Schritt geht es
zwischen einer Menschenmauer durch. An den Ecken haben
sich Kapellen postiert, die ununterbrochen das Müllerlied**
spielen, in das die Menge einstimmt.
Zu einem kleinen Zwischenfall kommt es am Haus Marums,
wo der Jude Marx die Frechheit besitzt, »Freiheit, auf Wiedersehen« zu rufen. Im Nu ist das freche Judenmaul gestopft. Im Notarrest kann er sich darüber klar werden, daß
heute in Deutschland Provokationen nicht mehr geduldet
Politik & Unterricht • 3-2008
werden. So geht der Zug weiter, am Landtagsgebäude, am
Staatsministerium und am ehemaligen roten Metallarbeiterhaus vorüber. Gegen 12 Uhr wird das Polizeipräsidium
erreicht, von wo es dann in rascher Fahrt nach dem Bestimmungsort Kislau geht.
Von dem riesigen Andrang kann man sich erst einen Begriff
machen, wenn man erfährt, daß der gesamte Straßenbahnund Autoverkehr lahmgelegt war. Mehrere Kommunisten,
die glaubten »Rotfront« rufen zu müssen, wurden ebenfalls
sistiert [verhaftet]. Wir glauben, daß die roten Bonzen auf so
viel Liebe der Karlsruher Bevölkerung nicht gefaßt waren.
Zur Peripherie der Stadt geben zahlreiche Autos und Fahrräder dem Wagen das Geleit. Überall stehen die Menschen, Verachtung im Blick. Arbeiter im ehemals roten Durlach ballen
die Faust und Worte, die diese Burschen einst dem Arbeiter
gegen das erwachende Deutschland einzuimpfen versucht
hatten, hören ihre Ohren. »Arbeiterverräter Remmele«,
»Bonze Marum« erschallt es im Chor. Hier stehen die Ankläger, die ehemals verhetzt den roten internationalen Phrasen
dieser Volksverderber lauschten. Es scheint Remmele ganz
unfaßbar zu sein, daß in den früheren roten Hochburgen
Durlach und Weingarten ihm das »pereat« [»verschwinde!«]
deutscher Handarbeiter noch furchtbarer entgegenschallt.
Um ein Uhr etwa erreicht der Wagen die Anstalt Kislau. Im
Vorhof des umfangreichen Komplexes stehen wiederum Hunderte und aber Hunderte von Volksgenossen, die die roten
Verderber noch einmal sehen wollen, bevor die eisernen Tore
der Anstalt sich hinter ihnen auf lange Zeit schließen. (...)
* Bei der »Hölzschlacht« am 23. April 1929 war es in Karlsruhe nach einer
Rede des Kommunisten Max Hölz zu gewaltsamen Auseinandersetzungen
zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten gekommen, in deren Verlauf
auch der Redner selbst verletzt worden war. Die verhängten Strafen gegen
die Nationalsozialisten fielen vergleichsweise milde aus.
** Gemeint ist das Lied »Das Wandern ist des Müllers Lust«, das hier der Verhöhnung des gelernten Müllers Adam Remmele dient.
Hakenkreuzbanner. Das Nationalsozialistische Kampfblatt Nordbadens vom 17. Mai 1933
23
A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror
A3
»Schaufahrt« ins KZ: Ein Zeitzeugenbericht
Stadtarchiv Karlsruhe
Ludwig Marum
(1882 – 1934),
aufgenommen Ende
der 1920er Jahre
Elisabeth Lunau-Marum, die Tochter Ludwig Marums, erinnerte sich 1983, 50 Jahre nach der »Schaufahrt«, an
die Ereignisse an jenem 16. Mai 1933:
»Als ich am 16. Mai mit dem Frühstück ans Gefängnis kam,
fand ich schon eine große Menge Menschen. (...) Jemand
hatte mir das Flugblatt gezeigt, das die Überführung anzeigte und Noten und Worte des Müllerliedes enthielt.*
Autos fuhren durch die Stadt und warfen dieses Blatt in
großen Mengen auf die Straßen. Ich brachte den Essenskorb
nach Hause und fuhr dann in die Anwaltskanzlei meines
Vaters, die auf der Kaiserstraße, Ecke Hirschstraße gelegen
war. (...) In den Geschäftsräumen waren die Büroangestell-
A4
ten und Ernst Marx, einer der anderen Rechtsanwälte der
Kanzlei. Alle waren in höchster Aufregung, es wurde aber gar
nichts gesprochen. Ich stand zitternd am Fenster.
Es dauerte gar nicht lang, bis ich vom Mühlburger Tor her
Lärm hörte, ein Getöse, das näher und näher kam. Ich konnte
eine dunkle Masse von Menschen sich langsam heranwälzen
sehen. Schon war der Zug unterhalb der Fenster. Der Vater,
ganz hinten auf dem offenen Polizeilastwagen, mit dem
Blick auf die Fahrbahn sitzend, eingerahmt von SS-Männern,
schaute herauf. Ich machte eine kleine schüchterne Bewegung mit der Hand. Die Augen der Menschenmenge waren
seinem Blick gefolgt, sie sahen mich an dem einen Fenster
und Ernst Marx an dem anderen. Es erhob sich ein Schrei aus
tausend Kehlen, und ich zuckte zurück, als ob ich geschlagen
worden wäre. Es war klar, daß einige heraufkommen würden,
und Marx rannte an die Tür und halb die Treppe hinunter
den Häschern entgegen. Ich sah, wie sie ihn packten. Die
Mädchen im Büro schrien, vom Fenster sah ich, wie Marx,
als ob er ein Mehlsack wäre, auf den folgenden Lastwagen
geworfen wurde, und der Umzug ging weiter (...).«
* Gemeint ist das Lied »Das Wandern ist des Müllers Lust«, das hier der Verhöhnung des gelernten Müllers Adam Remmele dient.
Die Badischen Neuesten Nachrichten dokumentierten am
16. Mai 1983 die Erinnerungen von Elisabeth Lunau-Marum
»Schutzhaft«: Ein Instrument der Macht
Die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz
von Volk und Staat (»Reichstagsbrandverordnung«) vom
28. Februar 1933 beseitigte die Grundrechte:
Auf Grund des Artikels 48 Abs. 2 der Reichsverfassung wird
zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte
folgendes verordnet:
einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und
Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und
von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums
auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen
Grenzen zulässig. (…)
Berlin, den 28. Februar 1933
§1
Die Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 der
Verfassung des Deutschen Reichs werden bis auf weiteres
außer Kraft gesetzt. Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung,
Der Reichspräsident: von Hindenburg
Der Reichskanzler: Adolf Hitler
Der Reichsminister des Innern: Frick
Der Reichsminister der Justiz: Dr. Gürtner
ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 1 – A 4
◗ Beschreibt und analysiert das Foto der »Schaufahrt« in
A 1. Was wird daraus ersichtlich?
◗ Mit welchen Mitteln arbeiten die Organisatoren der
»Schaufahrt«? Beurteilt die Ziele, die damit verfolgt werden.
◗ Vergleicht die Darstellung von Elisabeth Lunau-Marum
(A 3) mit der in der Zeitung »Hakenkreuzbanner« (A 2).
Welche Einzelheiten werden jeweils genannt? Welche Ab-
24
sichten leiteten die Verfasserin bzw. die Verfasser?
◗ Recherchiert die Vorgänge, die zur sogenannten »Reichstagsbrandverordnung« führten. Welche Bedeutung hatte § 1
der Verordnung für den einzelnen Bürger?
◗ Recherchiert und fasst in eigenen Worten kurz zusammen,
was die »Ewigkeitsklausel« für die Grundrechte im Grundgesetz bedeutet.
Politik & Unterricht • 3-2008
A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror
A5
Ein Konzentrationslager für Württemberg: Heuberg bei Stetten am kalten Markt
Der »NS-Kurier« berichtete am 16. März 1933 unter der
Überschrift »Ein Konzentrationslager für KPD-Arbeiterverräter« von der Einrichtung des Lagers auf dem Heuberg bei Stetten am kalten Markt: Der Polizeikommissar
»hat 100 Mann SA auf den Heuberg beordert, die dort
das Konzentrationslager vorbereiten, in dem die Kommunistenführer Gelegenheit haben werden, sich zum ersten
Mal in nützlicher Arbeit für das Wohl der schaffenden
Volksschicht zu betätigen.« Schon Ende März 1933 waren
es 1.500, eine Woche später rund 2.000 Gegner der
Nationalsozialisten, die hier eingepfercht und terrorisiert wurden. Bereits Ende 1933 musste das völlig überfüllte Lager geschlossen werden. Bis Mitte 1935 wurde
das Lager Heuberg durch das Konzentrationslager in der
Festung Oberer Kuhberg bei Ulm ersetzt. Dann wurden
die Häftlinge in das Konzentrationslager Dachau bei
München verbracht.
letzten Woche allein 200 KPD-Funktionäre festgesetzt. Wie
wir hören, wurden in ganz Württemberg einschließlich Stuttgart rund 500 Personen in Schutzhaft genommen.
Die Stuttgarter »Süddeutsche Zeitung« berichtete schon
am 14. März 1933 erstmals von dem Plan, in Württemberg ein Konzentrationslager einzurichten:
Süddeutsche Zeitung vom 14. März 1933
Eine genaue Zusammenstellung der Polizei liegt noch nicht
vor. Die Zahl der Verhaftungen wird sich jedoch eher erhöhen
als vermindern. Die Verhafteten sind auf die verschiedenen Anstalten des ganzen Landes verteilt. Wahrscheinlich
werden sie dann in Konzentrationslagern untergebracht, wo
sie, statt das deutsche Volk zu versetzen, wieder arbeiten
lernen müssen. Der vorstehende Erlaß des Polizeikommissars
für Württemberg zeigt deutlich, daß die Aktion gegen die
marxistischen Verbände noch lange nicht abgeschlossen ist.
Hoffentlich wird das aufgefundene Material auch der Öffentlichkeit bekanntgegeben, damit jedermann sehen kann,
wie notwendig dieser scharfe Angriff auf die marxistischen
Positionen war.
Es ist eine Riesenaufgabe, die die Polizei in diesen Tagen
zu bewältigen hat. Die Marxisten beider Couleur haben sich
auf die Reservestellungen zurückgezogen. Meist bestehen
diese Reservestellungen aus nach außen harmlos klingenden
Vereinen und Verbänden, die durch Personalunion miteinander verbunden sind. Wollte die Polizei die Köpfe dieser
bolschewistischen Hydra abschlagen, dann mußte sie ganze
Arbeit leisten und mußte alle Kommunistenführer verhaften.
Diese Aktion ist dann auch mit überraschender Schnelligkeit im ganzen Lande durchgeführt worden. In Stuttgart
wurden, wie wir bereits berichtet haben, zum Schluß der
A6
Das Konzentrationslager Oberer Kuhberg in Ulm
DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 96
Das Foto zeigt den Zugang zum Konzentrationslager Oberer Kuhberg am
1. Mai 1934. Auf der Spruchtafel ist
zu lesen: »Gestern Hunger und Not,
heute Arbeit und Brot«. Das Eingangstor im Zaun wurde entfernt. Weiter
rechts, auf dem Foto nicht sichtbar,
befand sich ein Schilderhäuschen mit
einem Wachmann.
Politik & Unterricht • 3-2008
25
A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror
A7
»... und sollt es durch die Hölle gehn«
DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 82
Das Foto (aufgenommen um 1968)
zeigt den Eingang zu den Mannschaftsquartieren im Inneren des Forts Oberer
Kuhberg. Die Inschrift über dem Tor
lautet: »Wir werden hinter Hitler
stehn, und sollt es durch die Hölle
gehn.« Sie war auch für die KZ-Häftlinge sichtbar. 1970 wurde sie entfernt.
A8
Stationen zur Hölle
DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 83
Julius Schätzle
(1905 – 1988)
Julius Schätzle war von Weihnachten 1933 bis Pfingsten
1934 Häftling im KZ Oberer Kuhberg. 1974 schilderte
er im Rückblick die Eindrücke der Häftlinge bei der
Ankunft:
mit jedem Schritt, daß schon lange kein Mensch mehr diese
Unterwelt betreten hatte.
Mit dem üblichen Geschrei und mit Fußtritten wurden die
Häftlinge in den düsteren Wehrgang hinuntergetrieben. Was
sich hier auftat, läßt sich mit Worten kaum schildern. Der
Laufgang ist 3,75 Meter hoch, und in regelmäßigen Abständen erweitert er sich zu Räumen von 3,75 mal 3,95 Meter.
In diesen Räumen war jeweils eine Schießscharte von 65
mal 15 Zentimeter, die einen Schimmer von Tageslicht, aber
auch Ratten, Mäusen und Fledermäusen Einlaß gewährte.
In den Gewölben hingen ganze Trauben von Fledermäusen.
Ununterbrochen tropfte es von den nackten Steinquadern.
Der Lehmboden war aufgeweicht, schlüpfrig und mit Wasserlachen bedeckt. Die Häftlinge waren sich einig: Hier werden
wir lebendig begraben. (...)
Julius Schätzle: Stationen zur Hölle. Konzentrationslager in
Baden und Württemberg 1933 – 1945, Bibliothek des Widerstands, 2. Auflage, Frankfurt/M. 1980, S. 29 f.
Ende November 1933 wurden vom Konzentrationslager Heuberg die Häftlinge auf zwei offenen Lastwagen nach Ulm
gebracht und vor dem Fort Oberer Kuhberg ausgeladen. Die
angekommenen Häftlinge hatten weder Sinn noch Zeit für
die schöne Aussicht auf das Donautal. Jeder stellte sich die
Frage: Unter welchen Bedingungen werden wir weiter in Haft
bleiben? Das verwilderte Fort mit seinem dicken Kommandoturm, den Mauern mit den schmalen Schießscharten wirkte
düster und verhieß neues Unheil. Hier sollten Menschen
überwintern? Die verschlossenen und verrosteten Eisentore
konnten nur mühsam geöffnet werden. Ein muffiger, feuchter Modergeruch drang aus den Tiefen der Kasematten. Die
Stufen nach unten waren naß und glitschig, man spürte
26
Politik & Unterricht • 3-2008
A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror
Kleiderappell und »Sport«
DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 97
DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 100
A9
Das Foto zeigt einen Häftlingsappell im Konzentrationslager Heuberg. Das Foto stammt aus der Zeitung
»NS-Kurier« vom 13. April 1933.
Wilfried Acker (1908 – 1979), 1933 Leiter des KPD-Unterbezirks Schwenningen-Rottweil, wurde am 10. März 1933
verhaftet. Am 20. März wurde er auf den Heuberg gebracht, von dort im Dezember 1933 auf den Oberen
Kuhberg in Ulm. Seine Entlassung erfolgte am 28. September 1934. 1935 gelang ihm die Emigration in die
Schweiz. Acker war nach 1945 Abgeordneter der KPD in
der Beratenden Landesversammlung und im Landtag von
Württemberg-Hohenzollern. Von 1951 bis 1955 lebte
er in der DDR, anschließend in Stuttgart, wo er für die
DKP (Deutsche Kommunistische Partei) tätig war. Seine
Frau Paula war ebenfalls KPD-Politikerin. Seinen Bericht
verfasste er am 28. Oktober 1955.
»Ich entsinne mich, als wir einen Sonntag zum Kleiderappell antreten mußten. Zur damaligen Zeit bestand unsere
Bekleidung aus alten Uniformen der Berliner BVB [Berliner
Verkehrsbetriebe], mottenzerfressenen, marengoschwarzen
Anzügen. Buck* selbst nahm den Kleiderappell ab, betrachtete sie nicht etwa nach der Sauberkeit, sondern faßte bei
jedem einen Zipfel der Jacke und stellte fest, daß keiner
ordentlich seinen Anzug gereinigt habe. Alle Häftlinge verstanden diesen satanischen Wink. Wir mußten uns in unsere
Bunker begeben mit der Anweisung, in einer halben Stunde
Häftlinge in Straßenbahnuniformen beim Hofgang, beaufsichtigt von Wachmännern in Uniformen der SA bzw.
der Schutzpolizei (1934).
zum Appell wieder zu erscheinen. Es blieb uns nichts anderes
übrig, denn das war der Sinn des Appells, als unsere Anzüge
in Wasserkübel zu tauchen und uns tropfnaß im Anschluß
daran dem Kleiderappell zu stellen. Buck schritt die Front
ab, faßte die einzelnen Kleidungstücke an, sagte selbstzufrieden: »So, warum geht‘s denn jetzt?« und zog wieder ab.
Die Häftlinge saßen dafür den ganzen Sonntag unbeweglich
in den feuchtkalten unterirdischen Katakomben mit nassen
Kleidern, denn mehrere Kleider hatten sie nicht.
Ähnlich war es beim sogenannten Sport, der immer dann
befohlen wurde, wenn draußen regnerisches Wetter war. Die
Häftlinge mußten dann auf allen Vieren in dem nassen, lehmigen, hügeligen Gelände herumkriechen, bis alles von oben
bis unten verschmutzt war. Dann war der »Sport« beendet
und kurz darauf wurde dann zum Kleiderappell befohlen.«
* Karl Buck war Kommandant des KZ Oberer Kuhberg (vgl. A 12)
Zitiert aus: Silvester Lechner: Das KZ Oberer Kuhberg und die
NS-Zeit in der Region Ulm/Neu-Ulm, Stuttgart 1988, S. 53 f.
ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 5 – A 9
◗ Wie werden die politischen Gegner der Nationalsozialisten
in den beiden Zeitungsartikeln (A 5) charakterisiert? Beurteilt die mit derartigen Veröffentlichungen verbundenen
Zielsetzungen.
◗ Diskutiert die Absichten der Nationalsozialisten, die mit
dieser Gestaltung des Eingangsbereichs des Oberen Kuhbergs
(A 6) verfolgt wurden.
Politik & Unterricht • 3-2008
◗ Beschreibt anhand von A 6, A 7 und A 8 den Ort »Oberer
Kuhberg«. Welche Überzeugungen und Einstellungen der Nationalsozialisten sind daran ablesbar?
◗ Was sagt die Kleidung der Häflinge (A 9) über deren Situation und über das System der Konzentrationslager aus?
Welche Motive leiteten den Lagerkommandanten bei einer
solchen Behandlung der Häftlinge?
27
A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror
A 10
»Schutzhaft« aus politischen Gründen: Alfred Haag
Silberburg-Verlag, Tübingen
Presseausweis der »Süddeutschen
Arbeiter-Zeitung« für Alfred Haag
um 1930.
Alfred Haag (1904 – 1982), gelernter Schreiner, seit
1921 Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes
(KJVD) und seit 1925 Mitglied der KPD. 1931 Geschäftsführer beim Stuttgarter Verlag der »Süddeutschen Arbeiter-Zeitung«, 1932 jüngster Abgeordneter im württembergischen Landtag. Haag zeigte sich vor 1933 als kämpferischer Nazigegner. Am 11. Februar 1933 war er nach
NSDAP-Wahlveranstaltungen in Mutlangen und Lindach
(Oberamt Gmünd) in tätliche Auseinandersetzungen,
wohl auch in Schießereien verwickelt. Am 12. Februar
1933 wurde er mit 76 weiteren Anhängern der KPD verhaftet. Ende April 1933 wurde er wegen »Landfriedensbruch« und als »Rädelsführer« vom Landgericht Ellwangen zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung
der regulären Haft wurde er als »Schutzhäftling« ins KZ
Oberer Kuhberg in Ulm eingewiesen. Lina Haag schrieb
1944 ihre Erinnerungen in Form eines Briefes an ihren
Mann auf. Aus dem daraus entstandenen, 1947 erstmals
veröffentlichten Buch sind die folgenden Passagen:
»Du bist noch immer in den Kuhbergkasematten. Lagerkommandant ist der berüchtigte Buck. Mehr weiß ich nicht.
Ich suche Leute auf, die dort waren. Vielleicht kann man
irgendetwas unternehmen. Wenn man bloß einen Brief
durchschmuggeln könnte. Die Genossen verstummen, wenn
ich davon spreche, und schauen sich ängstlich um. An den
bürgerlichen Stammtischen nennt man dieses ängstliche
Umschauen den »deutschen Blick«, ein vielbelachter Witz.
Ein Witz, der wirklich gelungen ist. Viele erzählen nichts, so
restlos ist dieser Witz gelungen. Sie unterschrieben, wonach
sie sich jeder Äußerung über das Lager zu enthalten haben.
Bei Zuwiderhandlung ist sofortige Verhaftung und strengste
Bestrafung zu gewärtigen. Deshalb schweigen sie. Nicht, weil
sie unterschrieben, sondern aus Furcht vor dem Tode.«
[Für kurze Zeit wird Alfred Haag freigelassen, um dann sofort
wieder festgenommen zu werden. Ein Kamerad berichtet
Lina Haag über die erneute Ankunft ihres Mannes auf dem
Oberen Kuhberg:]
28
»Man führte dich im Triumph ins Lager zurück. Buck hatte zu
deinem Empfang die Gefangenen im Hof antreten lassen. Du
wurdest gefesselt vorgeführt. Buck hielt eine Ansprache. Du
hättest in Stuttgart Lügen verbreitet über die schlechte Behandlung der Leute im Lager. Du hättest beim Justizminister
zu behaupten gewagt, die Leute würden hier mißhandelt und
geprügelt. Du hättest Dienststellen vorgelogen, daß sogar
er, der Lagerkommandant, die Gefangenen schlagen würde.
Ob das wahr wäre, frage er. Ob einer da wäre, der das zu
behaupten wage, frage er. Als du dazwischenrufen wolltest,
schlug er dir die Reitpeitsche ins Gesicht. Es meldete sich
kein Mensch. Vielleicht war es gut so, sonst hätte dich Buck
bestimmt zu Tode geprügelt.
Robert Ditter, dein guter Kumpel, hatte in der Nacht vorher
einen Holzkäfig bauen müssen. In diesem Käfig wurdest du
gefesselt eingesperrt. Es gab Nazis, die sich einen Spaß daraus
machten, dich durch die Gitter anzuspucken. Nach einigen
Tagen wurdest du nach Ulm ausgeborgt, damit auch Bucks
Freunde ihren Spaß an dir hätten. Den Vorsteher des Ulmer
Landgefängnisses hattest du früher einmal im Landtag wegen
Gefangenenmißhandlung angeprangert. Außerdem war dieser
Mensch im Ersten Weltkrieg von Frankreich wegen Mißhandlung von Kriegsgefangenen als Kriegsverbrecher unter Anklage
gestellt worden. Zu diesem Menschen kamst du nun. Was dort
mit dir geschah, war im Lager unbekannt. Jedenfalls erschrak
man dort über dein Aussehen, als du von Ulm zurückkamst.
Nun steckte man dich in Dunkelhaft. Diese Dunkelhaft bestand aus einer ausgehobenen Grube, über die Bohlen gelegt
waren. Es war ein beliebter Sport der SA-Leute, mit ihren
Motorrädern über diese Grube zu fahren, denn dann spritzte
dir der nasse Dreck ins Gesicht. Es regnete auf dich herab und
gefror an dir. Die Kameraden schmuggelten unter Lebensgefahr Brotrinden in deinen Klokübel. Liebster, Ärmster!«
Lina Haag: Eine Hand voll Staub. Widerstand einer Frau 1933
bis 1945, Silberburg-Verlag, Tübingen 2004 [erstmals 1947],
S. 23 f. und 33 f.
Politik & Unterricht • 3-2008
A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror
A 11
»Schutzhaft« aus konfessionellen Gründen: Alois Dangelmaier
DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 60
Alois Dangelmaier,
(1889 – 1968), aufgenommen Ende der
1920er Jahre
nisten eine heilige Weihe gelesen. Zwischen ihm selbst
oder der Einwohnerschaft Metzingens und den hingerichteten Kommunisten bestehen nachgewiesenermaßen keinerlei
Beziehungen. Er hat ferner in der Christenlehre, die sich an
den Gottesdienst anschloß, den Kölner Fall in vollkommen
einseitiger Weise mit den Kindern erörtert. Er hat anläßlich
seiner Vernehmung durch einen höheren Beamten der Württ.
Politischen Polizei zugegeben, daß er selbst den Kölner Fall
als eine hochpolitische Angelegenheit ansehe. Die gegen
ihn verhängte Inschutzhaftnahme war auf Grund dieser Vorkommnisse, die von ihm mündlich bei seiner Vernehmung
und über dies in einem von ihm bei der Württ. Politischen
Polizei eingereichten Schriftsatz bestätigt worden sind, notwendig geworden.
1913 Priesterweihe, 1914 Garnisonsvikar, 1920 Vikar in
Ulm, 1925 in Ravensburg, 1926 katholischer Stadtpfarrer in Metzingen. Dangelmaier gehört zum engeren Kreis
um den württembergischen Staatspräsidenten Eugen Bolz
(Zentrum). Im Herbst 1933 liest Dangelmaier in Metzingen für sechs am 30. November 1933 in Köln hingerichtete Kommunisten eine Totenmesse und spricht darüber
im Religionsunterricht; hierfür wird er vom 5. Januar bis
20. Februar 1934 im KZ Oberer Kuhberg in »Schutzhaft«
genommen. Nach der Entlassung folgen kirchliche Aushilfsdienste, eine Bewerbung um die Pfarrstelle in Bad
Urach wird abgelehnt. Ab August 1935 bis 1956 ist er
Pfarrer in Oeffingen, einer seinerzeit katholischen Enklave nordöstlich von Stuttgart. 1936 steht Dangelmaier
hinter dem öffentlichen Protest Oeffinger Frauen gegen
die Einführung der »Deutschen Schule« und das Verbot
des Religionsunterrichts. 1937 wird ihm verboten, Religionsunterricht in Schulen zu erteilen. Insgesamt wird
er 16 Mal von der Gestapo verhört, so auch 1944, weil er
auf einem Vordruck für die Ausfertigung eines Stammbaumes die Grußformel »Mit deutschem Gruß« durchgestrichen hatte. Zeitnah zu der Verhaftung Dangelmaiers
erfolgte die des katholischen Pfarrers Josef Sturm aus
Waldhausen (Landkreis Ulm), der sich in einer Predigt
kritisch gegen das NS-Regime geäußert hatte. Am 19.
Januar 1934 schrieb der »Staatsanzeiger für Württemberg«, eine regierungsamtliche Zeitung, hierzu:
Bereits in der Veröffentlichung vom 5. Januar 1934 war
ausgeführt worden, daß in Folge der Gesamthaltung der
beiden Geistlichen, die durch die oben erwähnten Vorgänge
lediglich charakterisiert, aber keineswegs erschöpfend dargestellt sein soll, die Erregung in der Öffentlichkeit in einem
außerordentlichen Maße gestiegen war. Zur Abwendung einer
weitergehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung war schließlich ihre Inschutzhaftnahme notwendig
geworden. Trotz dieser eindeutigen Tatbestände und trotz
der eindringlichen Verwarnung wagen es verblendete Kreise,
die Maßnahmen der Württ. Politischen Polizei zum Anlaß
zu nehmen, weiterhin eine lebhafte gegnerische Tätigkeit
zu entfalten. So wird der Versuch gemacht, die beiden in
Verwahrung genommenen Geistlichen als die unschuldigen
Opfer einer »bösartigen Verleumdung« hinzustellen, obwohl
die von den amtlichen Stellen geführten Untersuchungen
ergeben haben, daß die ihnen zum Vorwurf gemachte zersetzende Tätigkeit den Tatsachen entspricht und obwohl beide
von den zuständigen Stellen auch die schwerwiegendsten
der ihnen zur Last gelegten Verstöße selbst eingestanden
haben. Jeder Versuch, die beiden Geistlichen als unschuldig
oder als Opfer einer »kirchenfeindlichen Willkür« hinzustellen, kann daher nur als eine bewußte Untergrabung der
Staatsautorität angesehen und muß entsprechend verfolgt
werden. Die Württ. Politische Polizei hat sich daher genötigt
gesehen, gegen derartige Saboteure der staatlichen Ordnung
und Sicherheit weitere Maßnahmen durchzuführen. (...)
(...) Stadtpfarrer Dangelmaier hat in der katholischen Kirche
in Metzingen für die sechs in Köln hingerichteten Kommu-
Staatsanzeiger für Württemberg vom 19. Januar 1934
ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 10 – A 11
◗ Beschreibt die Vorgehensweise des Lagerkommandanten Buck gegen Alfred Haag (A 10). Welche Zielsetzungen
lassen sich daran erkennen?
◗ Stellt – ausgehend von A 10 – Überlegungen an zu den
Auswirkungen der KZ-Haft von Alfred Haag auf seine Familie
sowie auf seinen Kollegen- und Freundeskreis.
◗ Erläutert den »Witz« über den »deutschen Blick«.
Politik & Unterricht • 3-2008
◗ Recherchiert im Internet den weiteren Lebenslauf von
Alfred Haag und seine Tätigkeit nach dem Krieg. Fertigt eine
Präsentation zur Biographie Alfred Haags an.
◗ Erläutert das »Verbrechen«, das Stadtpfarrer Dangelmaier
zur Last gelegt wird (A 11). Welche Mittel und Methoden
des NS-Regimes werden hier ersichtlich?
29
A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror
A 12
Aus der Mitte der Gesellschaft: Der Lagerkommandant Karl Buck
DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 90
kommt Buck im Zuge der deutsch-französischen Aussöhnung durch die erfolgte Entlassung der Kriegsgefangenen
frei. Sein Antrag auf Entschädigung für erlittene Haft
wird von der Entschädigungskammer Stuttgart abgelehnt. Bis zu seinem Tod lebt er in Rudersberg, wenige
Kilometer von Welzheim entfernt. Wegen seiner bereits
verbüßten Strafe kann er aufgrund alliierter Vorschriften
in Deutschland nicht mehr gerichtlich verfolgt werden.
Wilfried Acker, KPD-Politiker und Häftling im KZ Oberer
Kuhberg, schreibt in seinen Erinnerungen über die Rolle
und Verantwortlichkeit von Karl Buck:
Karl Gustav Wilhelm Buck (1894 – 1977): Geboren in
Stuttgart, 1910 Mechanikerlehre in Esslingen, 1913 Militärdienst (Offizierslaufbahn), 1914 – 1918 Fronteinsatz,
1919 als Oberleutnant entlassen. Ingenieursstudium,
danach Arbeit in Portugal und Chile. Durch einen Arbeitsunfall in Chile verliert er 1930 ein Bein, Rückkehr nach Deutschland, Eintritt in die NSDAP, Mitglied
der SA, Kreisleiter der NSDAP in Welzheim; 1933 – 1940
Kommandant der württembergischen Konzentrationslager Heuberg, Oberer Kuhberg, Welzheim, ab 1940 des
KZ Schirmeck-Vorbruck im Elsass. 1945 verhaftet. Französische und englische Gerichte verurteilen ihn wegen
seiner Verbrechen als KZ-Kommandant insgesamt drei
Mal zum Tode. Die Urteile werden nicht vollstreckt. 1955
A 13
»Es sei von vornherein schon festgestellt, daß bei der Behandlung der Gefangenen der Lagerkommandant Buck in den
meisten Fällen nicht selbst anwesend war, er aber andererseits, wie durch viele Begebenheiten festgestellt werden
konnte, der ausschließlich Verantwortliche war, wenn seine
Untergebenen Gefangene mißhandelten oder schikanierten.
Es gab Zeiten, während denen die Wachmannschaften im
Konzentrationslager sowohl auf dem Heuberg wie auf dem
Kuhberg durchaus erträglich waren, das heißt die Mißhandlungen und Schikanen waren relativ selten. Bis dann wieder
bei einem Rapport der Lagerkommandant Buck seine Untergebenen aufdrehte, scharfmachte, dann pfiff wieder für
lange Zeit ein scharfer Wind.«
Zitiert nach Silvester Lechner: Das KZ Oberer Kuhberg und die
NS-Zeit in der Region Ulm/Neu-Ulm, Stuttgart 1988, S. 53
Nach dem »Dritten Reich«: Karl Buck in Rudersberg
Im Jahr 1955 verteilten ehemalige Häftlinge des KZ
Oberer Kuhberg in Rudersberg bei Welzheim, dem Wohnort Bucks, ein Flugblatt. Darin hieß es:
»Seit sich im September vergangenen Jahres der berüchtigte
KZ-Kommandant Karl Buck als biederer »Spätheimkehrer« in
Rudersberg niedergelassen hat, ist ein neuer Schatten über
die Gemeinde gekommen. Rudersberg und Welzheim sind
zwei von jenen vielen Städten, an denen Buck im 3. Reich
sein grausames Handwerk der Misshandlung von wehrlosen
Häftlingen ausgeübt hat. Die Anwesenheit des Karl Buck wird
daher von vielen Bürgern als Schandfleck empfunden. (...)
Alle Versuche, [seine Verbrechen] zu vertuschen und diesen
Unhold mit Emblemen des Christentums zu tarnen, müssen
deshalb jeden Menschen empören. Wohl meidet Buck im
Bewußtsein seiner Verbrechen bis jetzt noch die Öffentlichkeit. Statt dessen aber lassen sich hohe Herren der evangelischen Kirchenleitung von Buck empfangen und bewirten.
Herr Buck, der 12 Jahre lang jegliches menschliche Gefühl
vermissen ließ, zeigt plötzliche fromme Anwandlungen und
besucht den Gottesdienst. Wir mißtrauen diesem Wolf im
Schafspelz! Gewaltmensch bleibt Gewaltmensch! Es ist eine
selbstverständliche Pflicht aller anständigen Bürger, sich vor
solchen Unmenschen zu schützen. Es ist deshalb auch ein
einfaches Gebot der Gerechtigkeit, KZ-Kommandant Buck
hinter Schloß und Riegel zu setzen. (...)«
Archiv der DZOK Ulm
ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 12 – A 13
◗ Formuliert selbst eine Anklageschrift gegen Karl Buck
(A 12, A 8 – A 10).
◗ Wie lässt sich das öffentliche Vorgehen der ehemaligen
Häftlinge erklären (A 13)?
30
◗ Recherchiert die Bedingungen der Nachkriegszeit, die
dazu führten, dass Täter wie Karl Buck nicht vor Gericht
gestellt und verurteilt wurden.
Politik & Unterricht • 3-2008
A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror
A 14
Gedenken und Erinnern heute
Erinnerung an das Konzentrationslager
Kislau
Anette Hettinger
Ludwig Marum wurde in der Nacht
zum 29. März 1934 in seiner Zelle
von KZ-Aufsehern ermordet. Im Hof
von Schloss Kislau erinnert daran
ein Gedenkstein. Die Inschrift lautet:
»Während Naziterror die Freiheit in
Ketten legte, war in Schloss Kislau ein
Konzentrationslager – eine Stätte der
Unterdrückung für Andersdenkende.
Ludwig Marum fand hier in seiner
Zelle am 29. März 1934 den gewaltsamen Tod. Dieses Zeichen wurde zur
50-jährigen Wiederkehr seiner Ermordung errichtet.«
Die Ausstellung im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg in Ulm
DZOK Ulm
Beim Betreten der Ausstellung in
der Ulmer KZ-Gedenkstätte werden
die Besucher in Leuchtschrift mit
den Worten empfangen: »Die Würde
des Menschen ist unantastbar«
(Art. 1 des Grundgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland).
ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 14
◗ Vergleicht die Formen des Gedenkens in Kislau und Ulm.
Was war den jeweiligen Gestaltern der Gedenkstätten wichtig?
◗ Falls Ihr selbst in einer der Gedenkstätten wart: Überlegt
Euch in Gruppenarbeit, wie Ihr selbst eine Gedenkstätte oder
ein Mahnmal für das KZ Kislau, für Ludwig Marum oder für
den Oberen Kuhberg in Ulm gestalten würdet.
Politik & Unterricht • 3-2008
◗ Sammelt Argumente und erörtert, warum der Satz »Die
Würde des Menschen ist unantastbar« im Eingangsbereich
im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg gezeigt wird.
◗ Warum haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland diesen Satz zum Artikel 1 des
Grundgesetzes gemacht?
31
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung,
Gewalt und Mord
Materialien B 1 – B 17
Nachbarschaften in Sulzburg
Freundeskreis Ehemalige Synagoge Sulzburg e.V.
B1
Sulzburg 1910 – 1940, dargestellt in einem Lageplan von
2004 (Ausschnitt). Häuser, die Juden gehörten, erschei-
32
nen hier dunkel, von jüdischen Mitbewohnern angemietete
Wohnungen schraffiert.
Politik & Unterricht • 3-2008
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
B2
Die Synagoge in Sulzburg
Stadtarchiv Sulzburg
Stadtarchiv Sulzburg
Die Synagoge in der
Gustav-Weil-Straße
im badischen Sulzburg.
Die Gesetzestafeln auf dem Dachgiebel sind eines der
öffentlich sichtbaren Erkennungszeichen von Synagogen.
B3
Das »verträgliche Zusammenleben« zwischen Juden und Christen in den »Judendörfern«
Jacob Picard (1883 – 1967), Rechtsanwalt und Schriftsteller aus Wangen am Bodensee, beschrieb in seinem
Werk das Leben des süddeutschen Landjudentums. Die
»Erinnerungen eigenen Lebens«, aus denen die folgenden Abschnitte sind, entstanden 1937, wurden aber
später ergänzt:
Wenn ich von »Judendörfern« sprach, so ist das eine Bezeichnung, die allgemein und ohne irgend einen herabsetzenden
Sinn gebraucht wurde, obwohl diese Siedlungen im wesentlichen aus nichtjüdischen Menschen bestanden, unter die
wir verstreut waren; es war lediglich eine Charakterisierung
zum Unterschied von den Nachbardörfern, die ausschließlich
von christlichen Menschen bewohnt waren, zu denen wir
aber gewöhnlich in wirtschaftlichen Beziehungen standen.
(...) Einige Dutzend jüdischer Familien wohnten in unserem
Dorf während meiner Jugend, mit etwa hundert Menschen
unter den ungefähr achthundert im ganzen, und es war eine
Gemeinschaft besonderer Art mit den bäuerlichen alemannischen Nachbarn katholischen Glaubens. (…)
So waren wir ein ungeschwächtes, aufrechtes Volk im Dorfe.
(...) Wenn wir uns auch der Verschiedenheit bewußt waren,
ja überheblich uns für besser hielten, weil wir den rechten
Glauben hatten – mein Großvater, von seiner ganzen Haltung
abgesehen, war mir früh ein Beispiel, denn er sprach davon –
so fühlten wir doch andererseits Einheit mit ihnen; waren
wir nicht alle Deutsche? Und sie achteten uns darum, auch
weil sie uns physisch nicht für minderwertig hielten, was bei
einfach denkenden Menschen immer als Maßstab gilt. (...)
Seit hundert und mehr Jahren her haben die Väter in unserem
engeren und weiteren Familienkreis den Viehhandel als Beruf
gehabt, wie eben allenthalben in den deutsch-jüdischen Landsiedlungen bis vor drei Generationen, da man in die Städte
zu ziehen begann nach der Vollemanzipation; in manchen
Politik & Unterricht • 3-2008
Teilen auch war es ein kleiner Hausierhandel. Das Geschäft
wurde bei uns in solider kaufmännischer Weise betrieben mit
bäuerlichen Kunden, die einer bestimmten Familie dauernd
treu blieben, und es war verbunden mit der Bebauung von
beachtlichem Grundbesitz, der von uns selbst bewirtschaftet
wurde; eigene Äcker, Weidewiesen, Obstbäume und Gärten,
ja Weinberge gaben das Gefühl der Bodenständigkeit und des
heimatlichen Verwachsenseins. (...)
Meine Vorfahren (...) wanderten durch die Jahreszeiten
sommers und winters, durch die heimisch vertraute Landschaft an den Wochentagen in ihr »Gai«, den Gau, in dem
jede Familie ihr Geschäft trieb ungestört von den anderen
in strenger Abgrenzung. Vieh kaufend oder verkaufend auf
den Höfen, deren Besitzer ihnen vertraut, ja Freunde waren
vom Vater zum Sohn, und niemals geschah es, daß einer in
den Bezirk des andern übergriff. Dabei ist bemerkenswert,
daß niemand Handel trieb mit den Bauern unseres eigenen
Dorfes, oder nur ausnahmsweise, so daß es niemals Konflikte
gab zwischen Schuldner und Gläubiger; welch ein kluges
Gesetz war das von den Alten her. Doch half man sich
immer da und dort im Betrieb. (...) Bei allem Bewußtsein
der Unterschiede lebten wir mit den christlichen Nachbarn
friedlich zusammen. Sie nannten uns nicht Juden, sondern »d‘Hebräer« ohne irgendwelche Gehässigkeit, sofern
überhaupt diese Unterscheidung gemacht wurde. Wir Kinder
gingen in die gemeinsame Volksschule des liberalen Landes
Baden, Jungen wie Mädchen in die selben Klassen und
hatten nur den Religionsunterricht getrennt. (...)
Darum ergab sich auch das verträgliche Zusammenleben
(...).
Jacob Picard: Werke, hrsg. von Manfred Bosch. Libelle Verlag,
Lengwil am Bodensee 1996 (ISBN 978-3-909081-48-7), hier
Teil II, S. 172, 176, 179, 183 f., 193, 251
33
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
B4
Assimilation und Integration
Stadtarchiv Sulzburg
Jüdische Männer aus Sulzburg auf
einem Foto, das während des Ersten
Weltkriegs aufgenommen wurde.
Sitzend Kantor und Religionslehrer
Hermann Marx, später Kantor in Pforzheim, und der Gemeindevorsteher
Gustav Bloch.
Stadtarchiv Sulzburg
Der gemischte Chor »Frohsinn«, dem
Juden und Christen angehörten, bei
einem Ausflug, aufgenommen um
1930. Zentral stehend mit Schlips und
Schnurrbart: Zahnarzt Gustav Bloch,
der Vorsitzende des Vereins. Dritter
von rechts (sitzend): Alfons Kind,
Chorleiter seit 1923 und von 1925
bis 1932 Volksschullehrer in Sulzburg.
ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 1 – B 4
◗ Juden und Christen lebten in Sulzburg in enger Nachbarschaft. Überlegt gemeinsam, was das für den alltäglichen
Umgang miteinander bedeutete.
◗ Analysiert und interpretiert die beiden Fotos in B 2. Was
wird daraus ersichtlich?
34
◗ Beschreibt das Verhältnis von Juden und Christen in den
sogenannten Judendörfern, wie es Jacob Picard in B 3 schildert. Welche besondere Rolle spielte dabei der Viehhandel?
◗ Was sagen die Fotos in B 4 über das Selbstverständnis der
jüdischen Männer und Frauen aus?
Politik & Unterricht • 3-2008
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
B5
Juden- und Christenkinder
Stadtarchiv Sulzburg
Die Sulzburger Schulklasse des
Geburtsjahrgangs 1923 und 1924
mit jüdischen und christlichen
Kindern. In der zweiten Reihe die
zweite Schülerin von links: Hermine
Kahn; die vierte und fünfte von links:
Paula und Ruth Kahn. Rechts im
Hintergrund: Lehrer Oskar Walter.
Dorothea Steinhäussler (1902 – 1981), aus der wohlhabenden christlichen Weinhändlerfamilie Steinhäussler,
berichtete in einer Sendereihe des Südwestfunks BadenBaden (1980/81) über das Verhältnis zwischen christlichen und jüdischen Kindern:
»Da hat man mit den Kindern gespielt. Da waren die Judenkinder dabei. Im zweiten Schuljahr zum Beispiel bin ich neben
der Bertel Bloch gesessen und habe bei ihr meinen Namen
hebräisch schreiben gelernt. Wir hatten Unterricht damals –
zweites und drittes Schuljahr – von Herrn Lehrer Bruchsaler [einem Juden]. (...) Der Herr Bruchsaler war ein feiner
Herr. (...) Er mußte am Freitag schon das Programm für den
Samstag auf die Tafel schreiben, auch das, was abgeschrieben werden mußte, weil er ja am Samstag, am Schabbes*,
nicht schreiben durfte. Die Judenkinder waren nicht anders
wie wir selber, wie wir andern auch. Ein Unterschied war,
daß sie am Samstag auch nicht schreiben durften und auch
sonst nichts tun durften. (...) Wir haben viel auf der Straße
gespielt. Und das ganze Leben hat sich vor 1914/18 auf der
Straße abgespielt. (...)
Dann gab‘s aber noch die Feiertage. Da war der größte der
›Lange Tag‹**. Der ›Lange Tag‹ hatte für uns Schulkinder
den Vorteil: Da durften wir hinten im Vorraum der Synagoge
stehen und zuschauen. Dementsprechend durften dann die
Judenkinder an Weihnachten in die Evangelische Kirche. Das
war also so ein Abkommen. (...)
Und da gab‘s eine alte Frau. Das war die ›schöne Berta‹. Und
die stand [am Schabbat] auf unserem Schulweg. Mir war‘s
verboten, aber ich hab‘s natürlich doch getan: Die stand
dann da und hat dann gesagt: ›Zündsch mer net die Kerze
an?‹ Oder: ›Duesch mer net mei Feuer mache?‹ Und das war
dann sehr schön, kriegte man zehn Pfennig von ihr und hat
ihr die Kerze angezündet oder in einem Kachelöfele ihr Feuer
angemacht.«
* Der »Schabbes« – Schabbat – ist ein heiliger Ruhe- und Feiertag, der ganz
der Andacht und dem Gottesdienst gewidmet sein soll. Am Schabbat soll
ein gläubiger Jude nicht arbeiten, nicht weit gehen und auch kein Feuer
machen.
** Am »Langen Tag« (Versöhnungstag, Jom Kippur), dem höchsten jüdischen
Feiertag, verbringen gläubige Juden einen großen Teil des Tages in der
Synagoge.
Bernd Michaelis: »Wenn wir auch nicht vergessen können ...«
Aus der Geschichte der Juden von Sulzburg, in: Geschichte der
Stadt Sulzburg Bd. III: Der Übergang zur Neuzeit, Freiburg
2005, S. 245
ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 5
◗ Beschreibt das Zusammenleben christlicher und jüdischer
Kinder in Sulzburg. Welche Ausswirkungen haben die unterschiedlichen Konfessionen auf das gemeinsame Leben?
Wie gehen die Kinder mit den unterschiedlichen religiösen
Vorschriften um?
Politik & Unterricht • 3-2008
◗ Beurteilt den Quellenwert des Zeitzeugenberichtes. Welche
Faktoren haben die Darstellung von Dorothea Steinhäussler
beeinflusst?
35
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
B6
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten: Nachbarschaften werden zerstört
Eine geschichtswissenschaftliche Darstellung, die auf
Interviews und zeitgenössischen Artikeln in der Tageszeitung »Der Alemanne. Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens« (Freiburg) beruht, beschreibt die
Vorgänge in Sulzburg nach der NS-Machtübernahme:
In Sulzburg wurde der jüdische Dentist Gustav Bloch, Vorstand
des gemischten Chors »Frohsinn«, der bereits ein halbes Jahr
zuvor im »Alemannen« beleidigt und bedroht worden war, zu
nächtlicher Stunde, laut hörbar für die Nachbarn, aus seinem
Haus entführt und auf einem Feld vor der Stadt schwer
misshandelt. Drahtzieher der Aktion war möglicherweise der
Berufskollege Erlay, der spätere Bürgermeister von Staufen,
der Bloch am nächsten Tag in »Schutzhaft« nehmen ließ und
den Überfall den Kommunisten zuschob. Gustav Bloch kam
aus der Haft nur mit der Zusicherung frei, Deutschland zu
verlassen. Er wurde 1944 Opfer der Deportationen aus Südfrankreich in die Vernichtungslager und starb in Auschwitz.
Im Zuge der »Machtergreifung« wurde auch der jüdische SPDStadtrat Jeremias verhaftet, der nicht mehr nach Sulzburg
zurückkehren durfte, sowie ein junger jüdischer Einwohner,
der eine schwarz-weiß-rote Fahne beschmutzt aufgehängt
haben soll. Unter dem Vorwand, Greuelnachrichten verbreitet
zu haben, kam am 5. Mai 1933 der Vorsteher der Kehilla [der
jüdischen Gemeinde], Simon Dukas (1884 – 1964), in Haft.
Zwei Wochen lang wurde er in Freiburg festgehalten und
verhört, danach für neun Monate aus Sulzburg verbannt. Er
B7
bezog ein Pensionszimmer in Freiburg. »Isn‘t it incredible«,
fragt der Sohn Max Dukas heute, »our family lived there since
1812 or even longer. Who are they to tell him that he is
not allowed to go back to his hometown!« Ein Rechtsanwalt
konnte dann die Aufhebung des Bannes erreichen. Simon
Dukas und seine Familie konnten sich später nach Frankreich
retten und überlebten die Verfolgungszeit. (...)
Auch Christen wurden eingeschüchtert. Einmal mehr war es
[am 17. März 1933] »Der Alemanne«, der hier mit Texten
örtlicher Autoren Angst verbreitete. Dem angesehenen Apotheker Büche wurde bedeutet, er solle nicht mehr »allzu
sehr nach seinen jüdischen Freunden sehen«, einem Herrn
Kirchenmeier wurde nahegelegt, er »dürfte gut daran tun«,
nicht mehr »zweifelhafte Elemente wie Gustav Bloch« in
sein Haus zu lassen, einem weiteren Mann wurde mitgeteilt, er scheine »gar nicht einzusehen«, wie angenehm der
»Genuß an rein arischem Fremdenverkehr« sei. Kaum verhohlen wurde die Drohung ausgesprochen, die Angesprochenen müssten mit eingeschlagenen Fensterscheiben rechnen.
Überschrieben war der Artikel mit der Kopfzeile: »Eine letzte
Mahnung an die Quertreiber aus Sulzburg«.
Ulrich Baumann: Zerstörte Nachbarschaften. Christen und
Juden in badischen Landgemeinden 1862 – 1940, Hamburg
2000, S. 226
Leo Louis Kahn, Viehhändler in Sulzburg
Leo Louis Kahn
(1884 – 1942),
aufgenommen
vor 1937
Aug. 1922: Heirat mit Elfriede Baendel aus Ruda, Oberschlesien, Gemeindeschwester in Basel. Aus der Ehe gehen
drei Töchter und ein Sohn hervor: Ruth (geb. 1923), Paula
(geb. 1924), Marga (geb. 1927), Sally Josef (heute: Bezalel;
geb. 1929).
Stadtarchiv Sulzburg
Nov. 1924: Leo Kahn übernimmt nach dem Tod des Vaters
(Oktober 1923) das Elternhaus und bleibt mit seiner Familie
dort wohnen; die Geschwister Lena Laura, Bella und Karoline
behalten das Wohnrecht.
3. Jan. 1884: Leo Louis Kahn wird im Haus neben der Synagoge (heute Gustav-Weil-Str. 20) in Sulzburg als drittes von
sieben Kindern des Viehhändlers Salomon Kahn (1851 – 1923)
und seiner Frau Marie geb. Wormser (1858 – 1932), einer in
Sulzburg seit mehr als 150 Jahren ansässigen Familie, geboren.
1914 – 1918: Leo Louis Kahn dient als Landsturmmann an
der Weltkriegsfront. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg ist
er vermutlich als Viehhändler tätig.
36
11. Okt. 1934: Der Schopfheimer NS-Kreisbauernführer droht: »Wenn aber Kahn angibt und glaubt, heute mit
den Landwirten des hiesigen Gebiets in früherem Umfang
Viehhandelsgeschäfte machen zu können, so muß ich dem
die erfreuliche Tatsache entgegenstellen, daß der jüdische
Viehhandel auch in meinem Kreise ganz gewaltig zurückgegangen ist. M(eines) E(rachtens) ist der Rückgang des
Einkommens der jüdischen Viehhändler auch im hiesigen
Kreise mit 75 (Prozent) nicht zu hoch bemessen, und ich
bin überzeugt, daß auch Kahn trotz seiner Beliebtheit in
dieser Angelegenheit keine Ausnahme machen könnte«.
15. Sep. 1935: Durch die Nürnberger Gesetze verliert Leo
Kahn seine staatsbürgerlichen Rechte.
Politik & Unterricht • 3-2008
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
Okt. 1937: Seine Gewerbelegitimationskarte wird eingezogen. Die Familie lebt nun von geringer Landwirtschaft,
später von insgesamt 500 Mark, die vom Sperrkonto nach
dem Verkauf des Hauses ausbezahlt werden.
Feb. 1939: Ruth, Sally und ihre Kusine Hermine melden
sich nach Basel ab. Paula flieht zu einem unbekannten Zeitpunkt. Sie überleben in der Schweiz und emigrieren wie ihre
Schwester Marga später in die USA.
Jan. 1938: Leo Louis und Elfriede Kahn beantragen einen
Pass und wollen in die Schweiz. Den Pass erhalten sie im
Mai 1938.
Sommer 1940: Der dritte Versuch, das Haus zu verkaufen,
ist erfolgreich und wird genehmigt. Die Familie muss umziehen (in die Hauptstr. 175, heute 72).
1. März 1938: Die Spar- und Darlehnskasse kündigt Kahns
Kredite. Grundlage des Lebensunterhalts bleibt ein Garten
und eine Kuh. Die Bank versucht, durch Pfändung dieser Kuh
Schulden von Leo Louis Kahn einzutreiben.
22. Okt. 1940: Deportation der badischen Juden nach Gurs,
unter ihnen Leo Louis, Elfriede und Marga Kahn. Marga überlebt u. a. in einem Heim des französischen Kinderhilfswerkes
O.S.E. in der Nähe von Limoges.
10. Nov. 1938: Pogrom in Sulzburg. Die Synagoge wird geschändet und die Einrichtung zerstört, Geschäfte und Wohnungen werden geplündert. Leo Kahn wird wie die anderen jüdischen Männer von Sulzburg ins KZ nach Dachau verbracht.
14. Aug. 1942: Elfriede Kahn wird von Drancy nach
Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Ab Herbst 1938: Versuche, das Haus zu verkaufen, um das
nötige Geld für die Emigration und die Abgaben aufzubringen, die den Juden abverlangt werden.
17. Aug. 1942: Leo Louis Kahn wird von Drancy nach
Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Nach: Jüdisches Leben in Sulzburg 1900 – 1940. Eine Materialsammlung, hrsg. vom Freundeskreis der Ehemaligen Synagoge
Sulzburg e. V., 2. Aufl., Sulzburg 2006, Seite 226 ff.
16. Dez. 1938: Leo Kahn kehrt aus der »Schutzhaft« im KZ
Dachau zurück. Die Männer mussten nachweisen, dass sie sich
um eine Emigration bemühten, um entlassen zu werden.
Stadtarchiv Sulzburg
Urkunde zur Verleihung des Ehrenkreuzes für Frontkämpfer (Ausschnitt).
Leo Kahn hatte einen entsprechenden
Antrag im August 1934 gestellt. Der
Antrag, der vom Bürgermeister von
Sulzburg befürwortet wurde, wurde im
Januar 1935 genehmigt.
ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 6 – B 7
◗ Welche Mittel nutzten die Nationalsozialisten im Zuge des
Ausbaus ihrer Macht, um das nachbarschaftliche Verhältnis
von Juden und Christen langfristig zu zerstören?
◗ In der Lebensbeschreibung werden Stationen der NSJudenpolitik genannt. Listet sie auf und erläutert sie mit
Hilfe weiterer Recherchen.
Politik & Unterricht • 3-2008
◗ Beschreibt die Auswirkungen der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung auf das Leben von Leo Louis Kahn und
seiner Familie.
◗ Mit welchen Mitteln versuchte Leo Louis Kahn, sein Leben
und das seiner Familie zu sichern? Beurteilt die Chancen.
37
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
B8
Die Sinti-Kinder der St. Josefspflege in Mulfingen: Aus der Fürsorge in die Vernichtung
Staatsarchiv Ludwigsburg, E 191, Bü 4272
Das katholische Kinderheim St. Josefspflege im hohenlohischen Mulfingen.
In der St. Josefspflege in Mulfingen wurden seit Ende 1938
sämtliche Sinti-Kinder aus den Fürsorgeheimen Württembergs untergebracht. Diese Zusammenlegung war Ausdruck
der nationalsozialistischen erbbiologischen Sichtweise:
Die »zigeunerischen Kinder« als »nicht förderungswürdige,
rassisch Minderwertige« sollten, so der Landesjugendarzt
Dr. Max Eyrich, von den »erbbiologisch normal veranlag-
ten und nicht verwahrlosten Kindern« getrennt werden. Die
Schwestern des katholischen Heimes erzogen die Kinder
dennoch ohne Berücksichtigung ihrer Herkunft oder »Rasse«
gleichberechtigt mit den anderen Heimkindern.
Reichsführer-SS Heinrich Himmler befahl am 16. Dezember
1942, alle Sinti und Roma familienweise in das sogenannte
Zigeunerlager in Auschwitz einzuweisen. Auch Kinder, die
sich in der Fürsorgeerziehung befänden, sollten deportiert
werden. Die Mulfinger Kinder blieben zunächst davon verschont, denn Eva Justin, Mitarbeiterin der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« in Berlin, benutzte die Kinder
für ihre Doktorarbeit, eine rassenbiologische Untersuchung,
mit der sie die angebliche »rassische Minderwertigkeit« der
»Zigeuner« beweisen wollte.
Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Die Veröffentlichung dieser Arbeit im Frühjahr 1944 und
die Deportation der Mulfinger Sinti-Kinder fielen zeitlich
fast zusammen: Am 19./20. Januar 1944 wurden vier Kinder
abgeholt und mit einem Sammeltransport von Sinti aus
Karlsruhe und Stuttgart nach Auschwitz gebracht. Am 9. Mai
1944 schließlich brachte man 33 Sinti-Kinder aus Mulfingen
zusammen mit drei weiteren Kindern aus den Kinderheimen
in Hürbel und Baindt zum Bahnhof in Crailsheim und deportierte sie von dort aus nach Auschwitz.
Nur vier überlebten: Sie waren alt genug, um Zwangsarbeit
leisten zu können. Die übrigen starben in der Nacht vom
2./3. August 1944 in den Gaskammern von Auschwitz.
Kinder der Mulfinger St. Josefspflege mit einer Schwester
des Heims, aufgenommen um 1940/41.
38
Nach: Johannes Meister: Schicksale der »Zigeunerkinder« aus
der St. Josefspflege in Mulfingen, in: Württembergisch Franken
68, Jahrgang 1984, S. 197 f.; Stephan M. Janker: Die Geschwister Kurz – vier Stuttgarter Sinti-Kinder: Aus der Fürsorge in die
Vernichtung, in: Harald Stingele und Die Anstifter (Hrsg.): Stuttgarter Stolpersteine. Spuren vergessener Nachbarn. Ein Kunstprojekt füllt Gedächtnislücken, Filderstadt 2006, S. 145 f.
Politik & Unterricht • 3-2008
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
Erinnerungen einer Betroffenen
Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
B9
Amalie Schaich,
geb. 1929
Amalie Schaich, 1929 als Amalie Reinhardt geboren,
berichtete über ihre Deportation:
Am 10. Juni 1938 wurde ich im Allgäu von der Gendarmerie
mit meinen Geschwistern Anton (geb. 1930), Scholastika
(geb. 1933), Adolf (geb. 1937) und Emil (geb. 1926) unseren
Eltern weggenommen. Ich war damals neun Jahre alt. Mein
Vater kam sofort in ein KZ – nach Dachau –, meine Mutter
wurde später deportiert. Zusammen mit meiner Schwester
Scholastika kam ich in das Kinderheim Schönenburg bei Ulm.
Meine Brüder Anton und Emil kamen nach Oggelsbeuren,
mein Bruder Adolf in das Kinderheim Baindt bei Ravensburg.
Im September 1939 brachte man mich mit anderen SintiKindern in das Kinderheim St. Josefspflege nach Mulfingen.
Dort wurden wir als »Zigeuner« zentral zusammengefaßt.
Wir dürften etwa 40 Sinti-Kinder in diesem Heim gewesen
sein. Betreut wurden wir von Ordensschwestern und von der
Lehrerin Johanna Nägele. Wir erhielten von ihr regulären Unterricht. Die 5. und 6. Klasse besuchte ich bei der Schwester
Amandina. Als wir von unseren Eltern getrennt waren, haben
wir zuerst noch Briefe ins Heim bekommen, aber nur Grüße,
alles andere war durchgestrichen. Da hab ich die Schwester
gefragt: »Warum schicken sie uns denn solche Briefe, in
denen alles durchgestrichen ist?« Damals hab ich ja schon
einiges gehört von den Zuständen im KZ.
In Mulfingen wurden wir des Öfteren von einem Mann und
einer Frau aufgesucht. Sie kamen vom Rassenhygiene-Institut in Berlin, das die Erfassung und Aussonderung aller Sinti
im damaligen Deutschen Reich betrieb. Die Frau hieß Eva
Justin. Der Mann war Dr. [Robert] Ritter. Beide versuchten, mit uns in unserer Sprache, auf Romanes, zu reden.
Außerdem führte Frau Justin verschiedene Tests für ihre
Doktorarbeit durch. Sie hat die Kinder immer mit Süßigkeiten angelockt, daß sie sich fotografieren lassen. Ich
habe mich dagegen gewehrt, weil ich das Gefühl hatte, daß
man uns mit diesen Versuchen vor den anderen herabsetzen
wollte. Der Dr. Ritter und das Fräulein Justin haben uns ja
behandelt, als wenn wir nicht ganz normal wären. Daß wir
Sinti-Kinder genauso intelligent sind, das paßte nicht in ihre
Köpfe. Damals waren wir schon 14-jährige Mädchen, aber
wir mußten immer diesen Kinderkram machen. Zum Beispiel
Politik & Unterricht • 3-2008
haben sie uns bunte Glaskugeln gebracht. Daraus sollten wir
Ketten machen, wegen der Farbzusammenstellung. Aber was
sollte das denn? Das war doch lächerlich. Einmal ist auch
ein Schulrat aus Crailsheim gekommen, der hat sich alle
Zeugnisse durchgeschaut. Und dann hat er mich aufgerufen.
Der konnte es überhaupt nicht fassen, daß eine »Zigeunerin«
so ein gutes Zeugnis hat. Deshalb hat er mich geprüft und
alle Fächer abgehört. Aber dafür gab es kein Lob, nichts
hat er gesagt. Bloß seine schmalen Augen, die haben mich
immer so gemustert, daß ich mir vorkam wie ein Mensch
zweiter Klasse.
Am 9. Mai 1944 mußten wir morgens unsere Sachen packen.
(...) Dann kam der Postbus. Der Abtransport war ein Chaos.
Wie alle Kinder geweint haben. Denn instinktiv haben wir
gespürt, da ist etwas im Gang. Offiziell hat man uns bloß
gesagt: »Dort wo ihr hinkommt, geht es euch gut«. Am
Abend vorher war extra der Pfarrer gekommen, zur Notkommunion. Da waren kleine Kinder dabei, die überhaupt
nicht begreifen konnten, was eine Heilige Kommunion ist.
Ich habe die Schwester Aurelia gefragt: »Was soll das? Es
ist doch kein Weißer Sonntag? Warum kriegen die Kinder
Erstkommunion?« Aber sie hat mir nicht geantwortet. Heute
glaube ich schon, daß sie etwas gewußt hat.
Wir mußten dann in den Bus steigen (...). Wir haben überhaupt nicht gewußt, was los ist. Die Schwestern haben uns
nichts gesagt und auch die Polizei nicht. Ich erinnere mich,
daß wir von uniformierten Polizisten begleitet wurden. Außerdem wurden wir von Frl. Nägele und von der Schwester
Euphisia begleitet. In Crailsheim mußten wir dann in den
Zug, in einen Gefängniswagen steigen. Zu uns kamen dann
noch drei kleine Kinder aus dem Kinderheim Hürbel und
eine schwangere Frau mit zwei oder drei kleineren Kindern. Meiner Erinnerung nach wurden wir ab Crailsheim
von SS-Leuten begleitet. In Dresden haben wir einen Bombenangriff miterlebt. Es war Fliegeralarm. Die SS-Männer
haben den Gefängniswagen einfach abgesperrt, auf dem
Gleis stehen lassen und sind fortgelaufen. Und wir Kinder
waren ganz allein. (...) Auf der Weiterfahrt habe ich einen
SS-Mann so bearbeitet, bis er mir gesagt hat: »Ihr kommt
zu euren Eltern, da geht‘s euch gut.« Von der schwangeren
Frau habe ich jedoch gehört, daß wir in das KZ Auschwitz
kämen. Nach etwa vier oder fünf Tagen trafen wir mit dem
Zug in Auschwitz ein. Da ging plötzlich die Tür von unserem Waggon auf. Und vor uns auf der Rampe standen lauter
SS-Leute mit dem Gewehr im Anschlag. Aber als sie uns
Kinder sahen, haben sie die Gewehre sinken lassen. Nachdem
unsere Namen registriert und uns die Häftlingsnummern
auf den Arm eintätowiert worden waren, kamen wir in das
sogenannte »Zigeunerlager«. (...)
Zeitzeugenbericht (Archiv des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma), abgedruckt in: Romani
Rose (Hrsg.): »Den Rauch hatten wir täglich vor Augen«. Der
nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma,
Heidelberg 1999, S. 295 f.
39
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
B 10
Arbeitsalltag 1944
Maria Reif war 1944 als 17-Jährige Schreibkraft im Jugendamt Stuttgart und führte die Akten der Mulfinger
Sinti-Kinder. Mitte der 1990er Jahre erinnerte sie sich:
»Die Arbeitsgebiete waren nach dem Alphabet unterteilt.
So fing das also an (...). Da mußte ich in die Akten eintragen: Verlegung von der Erziehungsanstalt St. Josefspflege
Mulfingen nach Birkenau. Ein deutsches Wort, ein deutscher
Ort – ich und sicherlich auch meine Kolleginnen haben sich
weiter nichts dabei gedacht. Monate später, ich kann nicht
mehr sagen, wie lange es gedauert hat, als wir alle diese
Akten wieder auf den Tisch bekamen, mußten wir eintragen:
»Die Fürsorgeerziehung endet wegen Tod«. Das mußten wir
eintragen und Regierungsdirektor Mailänder hat es dann un-
B 11
terschrieben. Nach der Unterschrift kamen die Akten wieder
rauf auf den Arbeitsplatz, und wir haben auf den Aktendeckel ein Kreuz gemacht. Ich weiß nicht mehr, haben wir
es zusammengebunden, buchstabenweise; haben sie in den
Keller im Untergeschoß dieses Hauses hier transportiert und
dort feinsäuberlich alphabetisch abgelegt.«
Aussage in: »Auf Wiedersehen im Himmel«. Die Sinti-Kinder
der St. Josefspflege, ein Film des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Zusammenarbeit mit
dem Südwestfunk 1995
Ein Verwaltungsvorgang
Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Schreiben der Kriminalpolizeistelle
Stuttgart vom 14. Juni 1944 an das
Landesjugendamt in Stuttgart mit
der Transportliste der Kinder.
40
Politik & Unterricht • 3-2008
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
B 12
Gedenken und Erinnern heute
Stephan M. Janker
Landeshauptstadt Stuttgart, Jugendamt
Denkmal für die
Mulfinger SintiKinder im Jugendamt Stuttgart,
Wilhelmstr. 3.
Es entstand auf
Initiative von
Mitarbeitern des
Jugendamtes.
Geschaffen hat
es der Stuttgart
Künstler Wolfram
Isele. Dargestellt
sind 39 Aktenordner.
die arge lola, Kai Loges + Andreas Langen
Gedenktafel für die deportierten Kinder an der Pforte
der St. Josefspflege in Mulfingen. Es wurde am 6. Juli
1984 durch den Rottenburger Weihbischof Franz Josef
Kuhnle enthüllt. Demnach wurden 39 Kinder deportiert
und 35 Kinder, deren Namen genannt werden, umgebracht. Neuere Forschungen haben aber gezeigt, dass
am 9. Mai 1944 33 Kinder gemeinsam von Mulfingen
nach Auschwitz deportiert wurden. Weitere Kinder und
Jugendliche, die im Mulfinger Heim gewesen waren,
kamen mit anderen Transporten nach Auschwitz.
Stolpersteine für die Geschwister Kurz in der
Badergasse 6 in Stuttgart-Bad Cannstatt.
Der Text lautet: »Aus der Gemeinschaft dieses Heimes
wurden am 9. Mai 1944 die hier lebenden 39 SintiKinder herausgerissen und in das KZ Auschwitz deportiert. Nur vier Kinder überlebten. Zur Erinnerung an die
Opfer [es folgen 35 Namen].«
ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 8 – B 12
◗ Amalie Schaich (B 9) gibt in ihrem Bericht Hinweise auf
die rassenideologische Überzeugung der Nationalsozialisten
gegenüber den Sinti und Roma, die sich auch im Verhalten
den Kindern gegenüber äußert. Stellt diese zusammen und
erläutert sie mit Hilfe von B 8 und weiterer Recherchen.
◗ Welche Hinweise gibt der Text, dass die Deportationspläne in
Mulfingen bekannt waren? Diskutiert die Handlungsspielräume
der Betroffenen. Betrachtet dazu auch den Text in B 10.
◗ Informiert Euch bei der Stuttgarter Initiative »Stolpersteine«
unter www.stolpersteine-stuttgart.de/index.php?docid=148
über das Schicksal der Geschwister Otto, Sonja, Thomas und
Albert Kurz. Erstellt dazu eine Präsentation.
◗ Erläutert an ihrem Beispiel die Zielsetzungen national-
Politik & Unterricht • 3-2008
sozialistischer Rassepolitik gegenüber Sinti und Roma.
◗ Stellt eine Liste derjenigen Personen zusammen, die wahrscheinlich bei der Erstellung, Bearbeitung und Verteilung
der Verwaltungsdokumente (B 10, B 11) beteiligt waren.
Diskutiert den Grad von Verantwortung dieser Personengruppe.
◗ Vergleicht und diskutiert die hier vorgestellten Formen
der Erinnerung an die Mulfinger Sinti-Kinder (B 12). Überlegt dabei: Wer waren die Auftraggeber der Denkmale? Was
waren ihre Motive? Vergleicht Form, Ort und Aussage der
Denkmale.
◗ Sammelt Vorschläge: Wie würdet Ihr selbst ein Denkmal
für die Mulfinger Sinti-Kinder gestalten?
41
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
B 13
»Euthanasie«-Verbrechen in Grafeneck
Zum historischen Hintergrund der »Euthanasie«
Das erklärte Ziel der nationalsozialistischen Gesundheits-,
Sozial- und Rassenpolitik ist die Verwirklichung eines umfassenden Programms zur »Reinigung des Volkskörpers«. Zum
Maßstab für den Wert eines Menschenlebens werden medizinische und ökonomische Kriterien. Wo keine Nützlichkeit
erkennbar wird, endet das Recht auf Leben. Nicht mehr der
leidende Mensch steht im Zentrum, sondern die überindividuelle Sozialstruktur: der Staat, die Nation, das Volk oder
aber: die Rasse. (...) Die »Vernichtung unwerten Lebens«
wird damit in letzter Konsequenz als eine Maßnahme zur
Stärkung und Gesundung des »Volkskörpers« und der Rasse
verstanden.
Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Damit sollten die öffentlichen Finanzen entlastet, Nahrungsmittel eingespart und Ärzte und Pflegepersonal freigesetzt werden. Die Heil- und Pflegeanstalten sollten so in
Lazarette, Kasernen, Krankenhäuser und andere kriegswichtige Einrichtungen umgewandelt werden können. Die Täter
bezeichneten diesen Mord verharmlosend als »Euthanasie« –
guter Tod – oder »Gnadentod«, in der Verwaltungssprache
hieß es »Aktion T4« (nach der Adresse der zuständigen Behörde in Berlin: Tiergartenstraße 4).
Ein »rassehygienisches« Propagandabild des Reichsnährstandes aus der Mitte der 1930er Jahre.
Nach: Thomas Stöckle: Gedenkstätte Grafeneck. Dokumentationszentrum – Ausstellungsband, Grafeneck 2007
Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Das abseits auf der Schwäbischen Alb
gelegene Schloss Grafeneck, seit 1929
ein Heim der Samariterstiftung Stuttgart, entsprach den Geheimhaltungskriterien der »Euthanasie«-Planer
und bot die notwendigen räumlichen
Arbeits- und Unterbringungsmöglichkeiten für die Täter und ihre Mitarbeiter. 1940 wurde es beschlagnahmt
und zur Vernichtungsanstalt umgebaut.
Zwischen Januar und Dezember 1940
wurden in einem hierfür auf dem
Gelände des Schlosses errichteten
Vergasungsschuppen 10.654 Frauen,
Männer und Kinder ermordet.
ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 13
◗ Erläutert die ideologischen Grundlagen der nationalsozialistischen »Euthanasie«.
42
◗ Warum wurde als Ort des Verbrechens gerade Grafeneck
gewählt?
Politik & Unterricht • 3-2008
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
B 14
Martin Bader: Eines von 10.654 Opfern der NS-»Euthanasie«
Helmut Bader
Martin Bader
(1901 – 1940),
aufgenommen in
den 1930er Jahren
Der folgende Text stammt aus der Lebensbeschreibung,
die Helmut Bader, ein Sohn von Martin Bader, verfasst
hat. Zusammenfassungen stehen in eckigen Klammern.
Die Zitate sind von Martin Bader selbst.
»Mein Name ist in Giengen und Umgebung gut bekannt. Ich,
Martin Bader, bin geboren am 20. November 1901 in Giengen
a. Brz. als Sohn des Fabrikarbeiter Joh. Bader und seiner Ehefrau Margarete geb. Geyer, beide gebürtig aus Asselfingen,
Oberamt Ulm (...).« So beginnt mein Vater am 1. Februar
1930 seinen »Lebenslauf von 30 Jahren«, den er in einem
dicken Oktavheft niederschreibt. In gestochener Handschrift
und in einwandfreier Rechtschreibung gibt er über sein
Leben Auskunft. Liebevoll und amüsant beginnt er mit Begebenheiten aus seiner Kindheit und Jugend: [Martin Bader
arbeitet bereits neben der Schule als Laufjunge; nach dem
Schulabschluss 1915 macht er eine Lehre als Schuhmacher.
Wie damals für Handwerksgesellen üblich, geht Martin auf
Wanderschaft, um seine Kenntnisse bei verschiedenen Meistern zu erweitern. Rund fünf Jahre verbringt er in Bayern;
er ist Mitglied in zahlreichen Vereinen. 1924 kehrt er in die
Heimat zurück, legt die Meisterprüfung ab, heiratet und
übernimmt im Oktober die Schuhmacherwerkstatt seines
Stiefvaters, die er mit Gesellen und Lehrlingen betreibt.
Doch die Folgen einer »Kopfgrippe«, die zwischen 1916 und
1919 in Mitteleuropa als Epidemie auftrat und mit der er sich
1918 infizierte, zwingen ihn zu Einschränkungen.]
Bei meinem Vater entwickelt sich mit der Zeit ein ParkinsonSyndrom, das sich in einem Zittern der linken Hand und
später auch in einem Nachziehen des linken Beines äußert.
Natürlich leidet er zunehmend auch psychisch unter seiner
Behinderung. Nie aber zeigen sich Anzeichen einer Geisteskrankheit, im Gegenteil: Alle seine schriftlichen Hinterlassenschaften zeugen von einem wachen und klaren Verstand.
»Nun kommt das Traurige, nämlich es stellte sich 1926 ein
Nervenzittern auf meiner linken Körperhälfte ein als Folgezustand von meiner Kopfgrippe von 1918. (...) Im Sommer
1927 war ich, infolge meines Leidens, gezwungen, meinen
Beruf aufzugeben. (...) [Erst Ende 1930] fing ich wieder an,
auf meinem Handwerk zu arbeiten (...).«
Politik & Unterricht • 3-2008
Auch in den folgenden Jahren zwingt die Krankheit meinen
Vater immer wieder, die Arbeit in seinem Beruf zu unterbrechen und im regelmäßigen Abstand von zwei Jahren Heilung
in der Psychiatrischen Klinik in Tübingen zu suchen. Er kehrt
jedes Mal gebessert zurück. Aber unter der ständigen Wiederkehr der Krankheit leidet selbstverständlich auch die Psyche.
Die Krankenakten der Klinik in Tübingen beschreiben seine
Erregungszustände und Reizbarkeit. Sie betonen aber immer
wieder, dass er durch die Behandlung ein freundliches und
ruhiges Verhalten zeige und immer gerne Witze erzähle. Im
September 1938 – meine Mutter liegt wegen einer Operation
im Krankenhaus – weist ihn der behandelnde Arzt in die
Heilanstalt Schussenried ein. Wir Kinder werden inzwischen
von der Großmutter versorgt. Die Familie kann im guten
Glauben sein, dass er in der Heilanstalt am wirksamsten
Hilfe erfahren könne.
[Aus der Heilanstalt haben sich Briefe des Vaters erhalten:]
Schussenried, den 9. September 1939
»Meine Lieben! Da ich fast vergehe vor Not, muß ich Euch
heute wieder schreiben. Denn jetzt, wo die meisten Männer
fort sind, muß ich hier sitzen und nichts tun u. draußen gäbe
es so viel Arbeit. Jetzt gäbe es doch sicher einen Posten für
schriftliche Arbeiten. Die Hauptsache, um was mir es zu tun
ist, ist das, daß ich für Euch sorgen u. etwas verdienen kann
u. Dir l.[iebe] Marie die große Last helfen tragen darf.«
»L.[iebe] Marie! Ich komme mit einer herzlichen Bitte an
Dich heran. Gehe mit diesem Brief zu Herrn Direktor Höfle u.
frage ihn, ob er nicht einen Posten für mich hätte. Gestützt
auf prima Schulzeugnisse, habe ich doch im 1. u. 2. Jahr der
Gewerbeschule eine Belobung erhalten u. im 3. Jahr einen
Preis bekommen, ferner auf den Erfolg der Meisterprüfung
im Schuhmachergewerbe, auch beherrsche ich die amerikan.
Buchführung, getraue ich mir einen Posten für schriftl. Arbeiten zu übernehmen. Ich wäre mit ganz wenigem Gehalt
zufrieden. Möge sich das Sprichwort bewahrheiten: Dem
Aufrichtigen läßt es Gott gelingen.
Es grüßt Euch Euer Vater«
(...) Auch im März schreibt Martin Bader zufrieden: »Ganz
überrascht und mit großer Freude habe ich Euer Paket erhalten (...). Zu gleicher Zeit erhielt ich von Josef und Sofie
ein großes Paket. Nun kann ich 14 Tage flott leben. Im
übrigen schlauche ich den ganzen Tag das Kanapee, was ich
nicht einmal daheim tun dürfte. Also ich habe es wirklich
gut.« (...)
Die letzte erhaltene Nachricht ist eine Postkarte vom 1. Mai
1940, auf der er sich für ein Paket bedankt. (...)
Helmut Bader: Martin Bader – »Mein Name ist in Giengen und
Umgebung gut bekannt«, in: »Das Vergessen der Vernichtung
ist ein Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von
Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, hrsg. von
Petra Fuchs u. a., Wallstein Verlag, Göttingen 2007, S. 105 f.
43
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
B 15
Direktor Dr. Götz: Einer der Täter?
Zentrum für Psychiatrie Bad Schussenried
Liste der aus der Heilanstalt Schussenried nach Grafeneck »verlegten«
Euthanasie-Opfer. Es handelt sich hier
nicht um ein Dokument aus der NSZeit, sondern um eine auf richterliche
Anordnung Ende 1947 erstellte Liste
derjenigen Personen, die »zu Euthanasiezwecken« »verlegt« wurden. Bearbeiter war ein Arzt der Anstalt; nur die
Angaben in den Spalten 2 bis 5 gelten
als gesichert. Die Anstalten mussten im
Herbst 1939 Meldebögen zur Erfassung
der Kranken ausfüllen, die von »ärztlichen Gutachtern« geprüft wurden.
Diese entschieden mit einem Plus oder
Minus auf den Bögen über deren Leben
oder Tod. Zu Opfern wurden Menschen
mit eingeschränkter oder fehlender Arbeitsfähigkeit, Langzeitpatienten, gerichtlich eingewiesene Patienten sowie
jüdische Patienten und Sinti und Roma.
Am 14. Juni 1940 wird Martin Bader zusammen mit
55 anderen Männern aus Schussenried nach Grafeneck
transportiert und noch am gleichen Tag ermordet. Es
ist der zweite von neun Transporten, die insgesamt 624
Patienten von Schussenried nach Grafeneck bringen. Am
24. Juni 1940 erhält Frau Bader die folgende Nachricht
der Direktion der Heilanstalt Schussenried:
»Geehrte Frau! Ihr Mann wurde vor einigen Tagen in eine
andere Anstalt verlegt, deren Namen mir nicht bekannt ist.
B 16
Ich kann Ihnen deshalb keine Auskunft über das gegenwärtige Befinden Ihres Mannes zukommen lassen.
Heil Hitler! gez. Dr. Götz«
Der unwissende Direktor Dr. Götz wusste sehr wohl, in
welche »Anstalt« seine Patienten verlegt wurden. Er wurde
bereits am 16. Februar 1940 in Stuttgart durch Ministerialrat
Stähle, damals der höchste Medizinalbeamte von Württemberg, über die »Euthanasie« informiert und zum Schweigen
verpflichtet.
Transport in den Tod: Die »grauen Busse«
Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Mit den grauen Bussen (ursprünglich
rote Busse der Reichspost, die der
T4-Organisation überlassen wurden)
wurden die Patienten nach Grafeneck
gebracht. Das Foto eines unbekannten
Fotografen (wohl eines Mitarbeiters
der Einrichtung) entstand heimlich in
der Heil- und Pflegeanstalt Stetten im
Remstal während einer der sechs
Deportationen, bei denen im September und November 1940 insgesamt
769 Heimbewohner (Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer) nach
Grafeneck »verlegt« wurden. Die abgebildeten Personen sind ebenfalls
unbekannt.
44
Politik & Unterricht • 3-2008
B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord
B 17
Handlungsspielräume in der Diktatur
Erster Direktor der im Aufbau befindlichen Landespflegeanstalt Grafeneck sollte Dr. med. Werner Kirchert werden;
er sollte deren »Ausgestaltung übernehmen, den gesamten Ablauf überwachen und die Morde (...) vornehmen«.
Kirchert, geb. 1906, arbeitete zu dem Zeitpunkt als
Nervenarzt in Berlin. Im Herbst 1939 wurde er durch
Dr. Grawitz, Reichsarzt SS, in die »Euthanasie«-Planungen eingeweiht und beauftragt, die Reichsstatistik der
Heil- und Pflegeanstalten zu bearbeiten. 1963 sagte
Kirchert als Zeuge in einem Euthanasieverfahren:
»Etwa im letzten Drittel des September 1939 erteilte mir der
Reichsarzt SS Dr. Grawitz den Auftrag, anhand des MedizinalKalenders die Zahl der Anstalten und die Bettenzahl dieser
Anstalten festzustellen und diese Zahlen in einer Liste zu
erfassen. Zweck der Feststellungen sollte etwa folgender
sein: Man wollte einen Überblick wegen der bevorstehenden
Räumung der Anstalten im Westwall-Gebiet haben. Dr. Grawitz belehrte mich dem Sinne nach darüber, daß es sich um
eine geheimzuhaltende Angelegenheit handelte.«
[Über Dr. Grawitz erhielt Dr. Kirchert Kontakt zur Kanzlei
des Führers (K.d.F.). In der Folgezeit gab es verschiedene
Besprechungen:]
»Ich erfuhr dem Sinne nach, daß auf Befehl des Führers
die unheilbar Geisteskranken, die im psychiatrischen Sinne
als ›siech‹ zu bezeichnen waren, den Gnadentod erhalten
sollten. Ich sollte die Leitung einer der ersten Euthanasieanstalten übernehmen. Die Auswahl der zu Tötenden sollte
durch Gutachterkommissionen erfolgen. Auf der nächsten
Besprechung, wieder in der K.d.F., wurden im wesentlichen
technische Fragen besprochen. Ich machte darauf aufmerksam – damit hatte man sich offenbar nicht beschäftigt –,
daß auch eine standesamtliche Beurkundung würde erfolgen
müssen. (...)
Bald danach – das muß nach meiner Erinnerung Anfang
Oktober gewesen sein – brachte ich Dr. H. gegenüber zum
Ausdruck, daß ich aktiver Sanitätsoffizier der Waffen-SS sei
und meine Aufgabe an der Front sehe. Ich brachte meine
Ablehnung auf diese Weise zum Ausdruck, also nicht ausdrücklich. Dr. H. verlangte von mir, daß ich einen Ersatzmann benenne. Ich erinnerte mich meines alten Schulkameraden Dr. Schumann, bei dem er anfragen sollte. (...)
Am 7. 10. 1939 begab ich mich zur Division nach Dachau.
(...) Irgendwelche Nachteile sind mir aus der Ablehnung der
Teilnahme nicht erwachsen.«
[Dr. Kirchert machte danach eine steile Karriere: Am 7. Oktober 1940 rückte er als Hauptsturmführer der Waffen-SS bei
einer Sanitätskompanie ein. Seit Mai 1941 war er persönlicher
Referent von Dr. Leonardo Conti, dem Reichsgesundheitsführer und Staatssekretär im Reichsinnenministerium; 1943
wurde er leitender Arzt des Reichssicherheitsamtes, danach
stellvertretender Leiter des Kriminalbiologischen Instituts
des Reichskriminalpolizeiamtes bei Dr. Robert Ritter.]
Thomas Stöckle: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen
in Südwestdeutschland, Silberburg-Verlag, 2. Aufl. Tübingen
2005, S. 52 – 54 mit Anm. 39
ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 14 – B 17
◗ Beurteilt die privaten und beruflichen Tätigkeiten und
Leistungen Martin Baders vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rassenideologie (B 14).
◗ Heute befindet sich in Grafeneck wieder ein Samariterstift
für Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Ist eine derartige Nutzung am Ort einer ehemaligen
Tötungsanstalt gerechtfertigt? Diskutiert in Gruppen und
erläutert Eure Meinung.
◗ Die Organisatoren der »Euthanasie«-Morde strebten eine
weitgehende Geheimhaltung der Vorgänge an. Inwieweit
konnte ihnen das gelingen? Stellt anhand sämtlicher Textund Bildquellen die Hinweise zusammen, die auf das Wissen
des Personals der verschiedenen Pflegeanstalten, aus denen
die Ermordeten kamen, und der Bevölkerung schließen
lassen.
Politik & Unterricht • 3-2008
◗ Stellt am Beispiel von Dr. Kirchert (B 17) Vermutungen
an über die Möglichkeiten des Mitmachens und des NichtMitmachens unter den Bedingungen der NS-Diktatur.
◗ Informiert Euch auf der Website der Gedenkstätte Grafeneck über den in B 17 genannten Arzt Dr. Schumann,
über Christian Wirth, den ersten Büroleiter in Grafeneck,
und über Gerhard Kurt Simon, den stellvertretenden Büroleiter in Grafeneck. Erläutert deren berufliche Stationen und
verdeutlicht daran die Zusammenhänge zwischen Grafeneck
und den Vernichtungslagern wie z. B. Auschwitz. Diskutiert
den Grad der Verantwortung und der Schuld der angeführten
Personen.
45
C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit
C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler:
Vernichtung durch Arbeit
Materialien C 1 – C 14
Das Konzentrationslager Natzweiler und seine Außenlager
© 8421medien.de
C1
Stammlager Natzweiler-Struthof
Sitz der Kommandantur (nach Auflösung des Stammlagers im
September 1944)
KZ-Außenlager des Stammlagers
46
Politik & Unterricht • 3-2008
C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit
C2
Die Konzentrationslager »vor der Haustür«
Alice Peeters-Barrau
ßenkommandos der zentralen Konzentrationslager, die damit
zu »Stammlagern« wurden. Die allermeisten dieser KZ auf
dem Boden des heutigen Baden-Württemberg unterstanden
als Außenlager der Kommandantur des 1941 im Elsass gegründeten Stammlagers Natzweiler-Struthof.
Jacques Barrau (1925 – 1997) gehörte von März 1942 bis
Juni 1944 der französischen Résistance an. In Toulouse
wurde er von der deutschen Polizei verhaftet und in das
Konzentrationslager Dachau und später nach Neckarelz
deportiert. Hier fertigte er zahlreiche Zeichnungen an. Der
Diplomingenieur der Agronomie und Doktor der Naturwissenschaften arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg als
Professor am Pariser Nationalmuseum für Naturgeschichte.
Für seine weltweit bedeutenden Forschungen erhielt er
internationale Preise und Ehrungen. Diese Zeichnung von
Barrau, die heute im Daimler-Benz-Museum in Stuttgart
gezeigt wird, heißt »Im Stollen. Bei der Arbeit«. Barrau
selbst schrieb dazu: »Diese Zeichnung entstand in einem
Stollengang, in dem bereits Beton- und Mauerkonstruktionen hochgezogen waren, und ist eine von denen, deren
Ausführung mir am meisten Vorsicht abverlangte. Das
Risiko dabei war, irgendeiner Form der Spionage oder der
Vorbereitung eines Fluchtversuchs beschuldigt zu werden!
Man beachte auf dem Bild die Haltung meiner drei Kameraden. Während einer sich ausruht, stützen sich die
beiden anderen auf ihre Schaufeln, um beim leisesten
Geräusch eines Schrittes, sei es eines Wachpostens, eines
Vorarbeiters oder eines Kapos, weiterzuarbeiten.«
Dachau, Auschwitz, Buchenwald ... drei Namen, die fast jeder
schon einmal gehört hat und die im Zusammenhang mit Konzentrationslagern, kurz KZ, fallen. Neben diesen »großen«
Namen werden jedoch oft die vielen relativ kleinen Lager
vergessen, die es auch in Baden-Württemberg gab. Sie lagen
gewissermaßen »vor der Haustür«: In Mannheim-Sandhofen,
Mosbach-Neckarelz, Leonberg, Haslach, Bisingen, Schömberg, Hessental und in weiteren (kleinen) Ortschaften gab
es KZ. Warum gerade hier? Für die Antwort ist ein Blick auf
den Verlauf des Zweiten Weltkriegs notwendig.
Ab Frühjahr 1944 verstärkten die Alliierten ihre Luftangriffe
auf die deutsche Flugzeug- und Treibstoffindustrie, was zu
einem erheblichen Rückgang der Produktion führte. Um die
verursachten Schäden zu beheben, wurde mit der Verlagerung
der gefährdeten Fabriken, aber auch der Schaffung »bombensicherer« Fabrikationen in Höhlen, ehemaligen Bergwerken,
Schächten, Tunnels usw. begonnen. Dafür wurden Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen eingesetzt. Vor Ort entstanden
unzählige neue Konzentrationslager als Außenlager bzw. AuPolitik & Unterricht • 3-2008
Der Komplex der »Neckarlager«
Daimler-Benz lieferte 1944 ungefähr die Hälfte der Flugmotoren für die Luftwaffe. Die Daimler-Benz-Flugzeugmotorenfabrik in Genshagen bei Berlin, die Anfang März 1944 von
Bomben getroffen wurde, wurde deshalb als einer der ersten
Betriebe umgesiedelt. Dafür bot sich die Gipsgrube »Friede«
in Obrigheim wegen ihrer Größe von etwa 50.000 m2 Stollenfläche an. Der Stolleneigentümer Portland-Zement AG
Heidelberg wurde enteignet. Als Tarnname für das Verlagerungsprojekt wurde »Goldfisch« gewählt.
Für den Ausbau der Gipsgrube zu einer Fabrikhalle, welcher
nach Plan innerhalb von acht Wochen abgeschlossen sein
sollte, waren KZ-Häftlinge vorgesehen (siehe Abbildung). Sie
wurden von den Konzentrationslagern Natzweiler-Struthof,
dem von Obrigheim nächstgelegenen KZ, sowie von Dachau,
Groß-Rosen und Oranienburg angefordert. Die Wachleute
stammten vom KZ Natzweiler-Struthof. Ferner standen die
Lagerführer der Außenlager unter der Befehlsgewalt des
Lagerkommandanten im Hauptlager. Aus Zeitgründen verzichtete man auf die Errichtung neuer Unterkünfte für die
Gefangenen und funktionierte die Schule im benachbarten
Neckarelz zum KZ um.
Als dort kein Platz mehr für die Unterbringung weiterer
Zwangsarbeiter vorhanden war, wurden diese in der Umgebung »einquartiert«: im alten Bahnhof von Neckarelz, in
Neckargerach, in Asbach, in Neckarbischofsheim und in Bad
Rappenau. Dadurch entstanden allein sechs kleine KZ in der
Region. Auch sie waren dem Stammlager Natzweiler unterstellt. Die Häftlinge in den Neckarlagern stammten aus ganz
Europa. Die größten nationalen Gruppen bildeten Polen,
Russen und Franzosen, aber auch Spanier, Griechen, Belgier
und Norweger waren in diesen Lagern inhaftiert. Alles in
allem kann man Häftlinge aus 24 Nationen nachweisen.
Zwischen Natzweiler und den Neckarlagern gab es ein ständiges »Kommen und Gehen«: Häftlinge, die krank oder verletzt
und für den Arbeitseinsatz unbrauchbar geworden waren,
wurden in der Regel in das Stammlager abgeschoben; andere,
die von dort kamen, sollten die »Verbrauchten« ersetzen. Ab
November 1944 brachte man diese auch in das sogenannte
Sterbelager Vaihingen/Enz.
Das Stammlager Natzweiler rückte den Neckarlagern bald
auch räumlich näher. Denn im August 1944 wurde die
Gegend um das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof zum
Kriegsgebiet. Am 31. August 1944 beschloss man, das Lager
zu evakuieren. Dabei kamen unter anderem die Lagerverwaltung, der sogenannte Kommandanturstab, nach Guttenbach,
die Bekleidungskammer nach Binau ins Schloss.
47
C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit
C3
Arbeit für Daimler-Benz im KZ-Außenlager Neckarelz
Alice Peeters-Barrau
Transport des Abraums aus dem Stollen, Zeichnung von Jacques Barrau.
Er schrieb dazu: »Eine der anstrengendsten Arbeiten war der Transport
von Schlamm und Gestein mit Loren,
die wir bis zum Stollenausgang ziehen
und schieben mußten. Dort im Freien
befanden sich die Abladevorrichtungen,
streng von Wachposten mit Maschinengewehren kontrolliert, um jeden
Fluchtversuch zu unterbinden.« Der
bei Daimler-Benz beschäftigte deutsche Architekt Kiemle nannte dies am
26. Dezember 1944 »Baumethoden wie
bei den alten Ägyptern«.
Heute wird diese Zeichnung im
Mercedes-Benz Museum in Stuttgart
gezeigt.
Der Franzose Albert Geiregat, geb. 1927, berichtet im
Jahr 1998 über die Arbeit im Stollen von Neckarelz, die
er als Siebzehnjähriger leisten musste:
»Wir treten in die Grube ein, durch eine Art großen Tunnel,
ungefähr 100 Meter, der in einen großen runden Raum
mündet, von dem zahlreiche Stollengänge abgehen. Diese
sollen wir freilegen. Deutsche Zivilisten, Ingenieure und
ältere Baustellenleiter teilen unsere Arbeit ein. Was uns
betrifft, haben wir (...) schnell das Hantieren mit Hacke und
Schaufel gelernt. Wir beladen Loren, die auf zwei parallelen
Gleisen laufen, wir bringen Steine und Erde nach draußen,
im Gegenzug zu Zementsäcken oder Betonträgern, die für
unsere schwachen Kräfte furchtbar schwer aufzuladen sind,
obwohl es an mageren und ausgemergelten Armen nicht
mangelt. All diese Arbeit wird untermalt vom Lärm der Presslufthämmer, dem Brüllen der Kapos, die, den Schlagstock
in der Hand, wahllos in die Menge der Häftlinge Schläge
austeilen, wenn der Arbeitsrhythmus sich verlangsamt.
ergoss. Der Kapo sprang auf ihn drauf und prügelte ihn mit
dem Knüppel am ganzen Körper, bis er nicht mehr aufstehen
konnte. Wir haben ihn in dem besagten Karren transportiert
und ihn nie mehr auf der Baustelle gesehen. (...)
Abends ging es zurück ins Lager; der Karren mit den Häftlingen fuhr auf der Straße; wir gingen, wohlgeordnet nach
Kommandos, gezählt und nochmals gezählt, auf dem metallenen Fußweg der Eisenbahnbrücke, die den Neckar überspannte. Dies kürzte die Strecke um mindestens zwei Kilometer ab. Dort, am Ende, kletterte oft ein SS-Mann, stets
derselbe, auf die ersten Verstrebungen des Fußwegs und
schlug mit einem Knüppel, weit ausholend und mit voller
Kraft, auf die Häftlinge ein, die unter seinen Schlägen vorbei
mussten. Das war seine tägliche Gymnastik, oft machte er
das morgens und abends. Viele Kameraden haben schwere
Schädelverletzungen davongetragen.«
Unveröffentlichte Quelle. Übersetzung: Dorothee Roos
Gegen 8.30 Uhr bekommen wir eine »Brotzeit«: ein Laib
Brot, oft im Innern klitschig, für zehn Häftlinge, das sind
für jeden ca. 150 Gramm, dazu ein Würfelchen Margarine.
Nach zehnminütiger Pause geht es wieder an die Schaufel.
Viele Kameraden sinken erschöpft um, am Ende ihrer Kräfte;
die Krankheiten beginnen ihren Tribut zu fordern. Im kleinen
Lastkarren, von Häftlingen des Kommandos gezogen, liegen
oft am Abend drei bis vier Körper ausgestreckt, Kranke,
Sterbende, zum Verschwinden Verurteilte, die hier für die
Arbeit im Stollen nicht mehr taugen. (...)
All diese Arbeit wurde von den Kapos und Wächtern überwacht,
die gerne den Vorgang beschleunigten. Ich erinnere mich
daran, wie ein Italiener verprügelt wurde, der im Schlamm
ausgeglitten war. Er hatte das Unglück, seinen Zementsack
fallen zu lassen, sodass dessen Inhalt sich auf den Boden
48
Politik & Unterricht • 3-2008
C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit
C4
Leben bei der Arbeit
Alice Peeters-Barrau
Die Suppe für den Stollen, Zeichnung
von Jacques Barrau. Er schrieb dazu:
»Zum Stollen wurde die Suppe in
großen Metallkannen gebracht. Da ich
des öfteren zum Tragen dieser Kannen
eingeteilt war, kann ich bestätigen,
daß ihr Transport nicht leicht war und
zudem viel Aufmerksamkeit erforderte,
um nicht zu stolpern und die wertvolle
Brühe zu vergießen; denn das wäre ein
schwerwiegendes Vergehen gewesen.«
C5
(Über-)Lebensmittel?
Diese dauernde Beschäftigung mit dem Essen ist wie eine
Obsession. Einen gräulichen Brei zu kauen, dem man den
Namen ›Brot‹ gibt, wird zur körperlichen Lust. Sobald man
die Vespermahlzeit verschlungen hat, denkt man an die
Suppe zu Mittag. Man denkt an nichts anderes, gekrümmt
unter der Last der Zementsäcke oder über die Schaufel gebückt, mit der man den Sand aus der endlosen Reihe der
Loren herausschippt. Man denkt an nichts anderes und man
redet von nichts anderem. Wir sind nur noch Röhren, die verdauen. Unsere einzige Sorge ist ›essen‹ – essen und unsere
Koliken und Durchfallanfälle zu kurieren.
Wir waren freie Menschen. Wir hatten Ideale, Hoffnungen:
das Vaterland befreien, eine neue Welt erschaffen. Und jetzt,
was ist jetzt unsere einzige Hoffnung? Die Suppe ... Es ist
Mittag. Sie kommt – die Suppe!«
Aus: Roger Farelle: Je suis un rescapé des bagnes du Neckar.
Veröffentlicht als Zeitungsserie in »L‘Aurore«, April/Mai 1945,
Wiederveröffentlichung bei Edition Les Volets Verts, Paris 2000
(Übersetzung: Dorothee Roos)
Politik & Unterricht • 3-2008
Alice Peeters-Barrau
»Um neun Uhr gab es ein Vesper ... 150 Gramm Brot und ein
Stückchen Margarine. Jeder versuchte, dieses Vergnügen so
weit als möglich zu verlängern – das Vergnügen nämlich, zu
essen. Verschiedene Techniken konkurrierten dabei, zur Perfektion entwickelt von ausgehungerten Lebewesen. Manche
schnitten ihr Brot in dicke Scheiben, um dann stundenlang
darauf herumzukauen. Es gab die Anhänger der ganz feinen
Scheiben, die man eine nach der anderen verzehrte, langsam
und ehrfürchtig.
Auskratzen der Suppenreste, Zeichnung von Jacques
Barrau. Er schrieb dazu: »Nichts wurde übrig gelassen,
und nachdem die Suppe ausgeteilt war, vergaben der
Kapo oder der Stubenälteste als Sonderzulage das Recht,
die Reste aus der Kanne oder dem Kübel zu kratzen.«
49
C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit
Privatarchiv Kurt Heuberger
Die Allgegenwart des Konzentrationslagers
Privatarchiv Kurt Heuberger
C6
Die KZ-Häftlinge, die im Stollen arbeiteten, waren teilweise im Gebäude der Volksschule von Neckarelz untergebracht.
Neckarelz in den 1930er Jahren: Am rechten Rand die
Volksschule. Der Stollen befand sich auf der anderen
Seite des Neckars.
Alice Peeters-Barrau
Der Blick von innen: Winterlandschaft
1945: Häuser in Neckarelz, von der
Schule aus gesehen. Zeichnung von
Jacques Barrau. Zu diesem Bild schrieb
er: »Die Fenster der Schule, die zu den
Häusern des Dorfes wiesen, waren verrammelt, aber zwischen den Brettern
gab es schmale Spalte. Während ich in
der Nachtschicht arbeitete und tagsüber in einem der Schulzimmer ausruhte, konnte ich von einer der oberen
Pritschen aus, die in der Nähe eines
Fensters stand, durch eine Ritze die
Winterlandschaft draußen beobachten und zeichnen. Dabei fielen mir –
und daran erinnere ich mich noch sehr
genau – die Verse Verlaines ein:
›O Gott, dort ist das Leben, in Einfalt
und Ruh ...‹«
C7
Der Weg zum Stollen
An anderer Stelle beschreibt Jacques Barrau den Arbeitsweg der KZ-Häftlinge zum Stollen:
»Der Gipsstollen, den wir zu einer unterirdischen Fabrik ausbauten, befand sich in einem Berghang am anderen Neckarufer und lag Neckarelz und der Schule, die uns als Lager
diente, gegenüber. Die Schule gehörte zu den öffentlichen
Gebäuden der Ortschaft. Mehrmals am Tag, auf dem Weg zur
Mine oder auf dem Rückweg, nach dem Verlassen der Schule
oder wieder auf dem Weg dorthin, liefen Kolonnen von Häftlingen in den nicht zu übersehenden gestreiften Anzügen
und begleitet von bewaffneten Soldaten durch einen Teil des
Dorfes und überquerten den Neckar auf einer Eisenbahnbrücke
50
nahe der Ortsgrenze. Auf unserem Weg trafen wir zwangsläufig auf Bewohner des Dorfes, aber sie schienen uns nicht zu
sehen. Ein merkwürdiges Gefühl, keines Blickes gewürdigt zu
werden!«
Jacques Barrau: Dessins d‘un camp: le camp de Neckarelz/
Zeichnungen aus einem Lager: Das Konzentrationsaußenlagerkommando Neckarelz, Karlsruhe 1992 (2. Aufl. Stuttgart
2006), S. 29
Politik & Unterricht • 3-2008
C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit
C8
»Zebra-Kontakte«: Zeitzeugen erinnern sich
»Schon der Klang, wenn die da anmarschiert sind. 500 Mann
oder wie viel das da waren. Und dann ging das: klapp, klapp,
klapp. Das war schon eine Musik für sich.«
(K. F., geb. 1931)
barriere. Häftlinge aus westlichen Ländern verfügten manchmal über einige Deutschkenntnisse, aber bei Häftlingen aus
dem slawischen Sprachraum war das meistens problematisch. Da half dann nur die Zeichensprache.
»Es fällt nicht ganz leicht, solche Erlebnisse nach über
sechzig Jahren aus dem Gedächtnis zu Papier zu bringen ...
Je länger der Krieg dauerte, umso schwieriger wurde es für
die Bauern in unserer Region, wegen Arbeitskräftemangel
die Ernten rechtzeitig unter Dach und Fach zu bringen. So
auch im Herbst 1944, als die Kartoffel- und Rübenernte anstand. Da außer Kriegsgefangenen und zwangsverpflichteten
Ausländern kaum Arbeitskräfte zur Verfügung standen, lag
es nahe, auch von den in den Lagern in Neckarelz untergebrachten KZ-Häftlingen kleinere Gruppen zum Ernteeinsatz
bei den Bauern in der Umgebung abzukommandieren. So
kamen auch solche Gruppen in Obrigheim zum Einsatz.
Leichter mit Kontakten zu den Häftlingen wurde es, als die
Fremdarbeiter-Wohnbaracken an der Kirstetter-Straße, außerhalb des Eisenbahnviadukts, gebaut wurden. Da konnten
wir Jungen von der Straße aus mit den KZ-Häftlingen Kontakt aufnehmen und kleine »Geschäfte« mit ihnen machen
(natürlich nur, wenn das Wachpersonal das duldete). Diese
Geschäfte bestanden darin, dass die Häftlinge uns kleine
Spielsachen und Schmuckgegenstände, wie zum Beispiel
Fingerringe aus Münzen oder Kupferrohr, im Tausch gegen
Nahrungsmittel und Tabak anboten. Wann und wo sie diese
Gegenstände angefertigt hatten und mit welchen Mitteln,
das blieb uns ein Rätsel, aber es kann wohl nur in ihrer
karg bemessenen Freizeit gewesen sein. Manchmal waren
darunter richtige kleine Kunstwerke. (...)
Diese Kommandos waren bei den Häftlingen außerordentlich beliebt, da sie bei den Bauern meistens ausreichend
zu essen bekamen, und auch die Wachleute kamen dabei
nicht zu kurz. Auch wir älteren Schüler wurden in den Ferien
bei den Erntearbeiten eingesetzt (ich war damals 14 Jahre
alt), und so ergab es sich zwangsläufig, dass man mit den
»Zebras« genannten KZ-Häftlingen näher in Berührung kam
und die anfängliche Scheu ablegte. Diese Kontakte waren
sehr abhängig von dem jeweiligen Wachpersonal, da nicht
alle Wächter solche Annäherungen duldeten (SS-Leute). Für
Erwachsene war es nahezu unmöglich, mit den Häftlingen
Kontakt aufzunehmen, während man bei Kindern eher ein
Auge zudrückte. Die größte Schwierigkeit war die Sprach-
C9
P.S.: Das ganze Elend dieser halbverhungerten KZ-Häftlinge
wurde uns erst nach und nach bewusst. Da Erwachsenen jeglicher Kontakt strengstens verboten war, schickten manche
Eltern ihre Kinder vor, um den Häftlingen etwas zukommen zu lassen, nur durfte so etwas auf keinen Fall publik
werden.«
(E. M., geb. 1930 in Obrigheim, am 27. Dezember 2004 über
seine Kontakte zu den Zwangsarbeitern)
Quelle: Archiv der Gedenkstätte Neckarelz
(Über-)Lebensmittel
Alice Peeters-Barrau
skizzieren und sie nach Rückkehr in die Schule in der relativen Ruhe des Zimmers auszuarbeiten. Manchmal bot sich mir
eine Gelegenheit, die eine raffiniertere Ausführung erlaubte.
Einige Male mußte ich aus der Erinnerung zeichnen. (...)
Wenn man zeichnet, identifiziert man sich notgedrungen mit
dem, was man hervorbringt, um es den anderen mitzuteilen.
Das Zeichnen ist eine Botschaft, und diese Skizzen aus der
Haft wurden für mich zum Rettungsring. Ich glaube, ich habe
mich mehr oder weniger bewußt an die Hoffnung geklammert, sie eines Tages in meine Welt hinüberzuretten.
Auf Papierabfällen und auf einseitig bedruckten Formularen fertigte Jacques Barrau (1925 – 1997) mit Bleistiftstummeln seine Zeichnungen an, die er vor den Wachmannschaften verbergen musste.
»Es war nicht leicht, diese Zeichnungen zu machen; oft mußte
ich mich damit zufrieden geben, die Motive sehr schnell zu
Politik & Unterricht • 3-2008
Natürlich haben einige meiner ersten Skizzen aufgrund der
empfindlichen und schlechten Qualität der benutzten Materialien und unter den primitiven Bedingungen ihrer Ausführung und ihres Verbergens gelitten. Da ich mich sehr gut an
das, was ich gesehen und erlebt hatte, erinnerte, konnte ich
einige von ihnen nach meiner Befreiung und während der
darauffolgenden Monate im Krankenhaus nachbessern.«
Jacques Barrau: Dessins d‘un camp: le camp de Neckarelz/Zeichnungen aus einem Lager: Das Konzentrationsaußenlagerkommando
Neckarelz, Karlsruhe 1992 (2. Aufl. Stuttgart 2006), S. 23
51
C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit
C 10
Aus der Ukraine nach Neckarelz
Ein Foto überlebender KZ-Häftlinge. Alexander W.
Rudenko, sitzend, weil sein Bein amputiert ist. Die
Aufnahme ist aus dem Sommer 1945.
Alexander W. Rudenko, geboren am 28. Juli 1925, stammt
aus dem Dorf Rim in der südlichen Ukraine, die Mitte
1942 von der deutschen Wehrmacht erobert worden war.
Am 12. Juni 1942 wird er von Einsatzgruppen aufgegriffen und nach Berlin zur Zwangsarbeit verschleppt. Nach
einem missglückten Fluchtversuch wird er von der Gestapo gefoltert und in das KZ Sachsenhausen verbracht.
Im Frühjahr 1944 wird er für die Rüstungsproduktion von
Daimler-Benz in Obrigheim ausgesucht. In Briefen und
bei seinem Besuch in Neckarelz im Jahr 1999 erinnert
er sich:
»Das Lager in Neckarelz war nicht besser als die anderen KZLager (...). Auch in Neckarelz schlug man, folterte, schoss
und erhängte. (...) Im KZ-Lager Neckarelz waren Stöcke und
Peitschen immer für die Gefangenen bereit. Die SS-Leute
badeten uns im Schnee, begossen uns mit kaltem Wasser. Für
den Löffel voll grüner Suppe musste man schwerste Arbeit
machen. Wegen solchen Lebens warfen sich manche Häftlinge in den Stacheldraht oder versuchten die Flucht zu ergreifen. Aber für jeden zurückgeholten Gefangenen erhielten
die Aufseher zwei Wochen Urlaub und die Zivilbevölkerung
450 Mark Belohnung.«
[Eine Beinverletzung, die er sich bei einem missglückten
Fluchtversuch und den nachfolgenden Strafmaßnahmen zugezogen hatte, behindert ihn in seiner Beweglichkeit. Nach
einem weiteren Unfall im Februar 1945 muss das Bein unter
primitivsten Verhältnissen amputiert werden. Er überlebt.
Mit anderen nicht marschfähigen Häftlingen wird er beim
Herannahen der US-amerikanischen Armee Ende März 1945
mit dem Zug evakuiert und bei Osterburken befreit. Nach
einem Aufenthalt in einem amerikanischen Auffanglager in
Frankfurt und dann in einem Lazarett wurde er im September
1945 in seine Heimat zurückgebracht. Eine Anerkennung als
Verfolgter des Nazi-Regimes erfolgt nach dem Krieg nicht.
Als Betreuer von geistig behinderten Kindern verdient er
zu wenig, um sich einen Rollstuhl leisten zu können. Auch
52
KZ-Gedenkstätte Neckarelz
KZ-Gedenkstätte Neckarelz
Alexander W. Rudenko
kehrte nach mehr als
fünfzig Jahren an
den Ort des Terrors
zurück und besuchte
im Oktober 1999
die KZ-Gedenkstätte
Neckarelz.
die Anerkennung als Kriegsgeschädigter, die er als Rentner
beantragt, wird nicht ausgesprochen.]
»Man sagt mir: Du hast bei den Deutschen gearbeitet, bei
ihnen musst du auch Rente bekommen. (...) Nach dem Krieg
bin ich der Organisation der antifaschistischen Kämpfer
beigetreten. Ich war Vorsitzender der Organisation in Werchnedneporwsk. In dieser Stadt von 13.000 Einwohnern waren
20 KZ-Häftlinge und 200 Zwangsarbeiter.
So lange ich lebe, kämpfe ich gegen das Böse. Ich habe die
Lager überlebt. Die jungen Leute, alle, sollen wissen, wie es
damals war. Man muss dazu beitragen, dass sich so etwas
nie wiederholt.
Noch oft habe ich Alpträume. Manchmal sehe ich in der
Nacht im Traum, dass ich im Lager bin und ausbrechen
will und gejagt werde. Ich wache dann in Schweiß gebadet
auf und bekomme einen Herzanfall. Nach meiner Rückkehr
nach dem Krieg mussten mich mein Vater und meine Mutter
oft nachts wecken, weil ich im Schlaf schrie und um mich
schlug. Ich sah, wie man mir das Bein abhackte, wie man
mich mit Peitschen schlug und mit Strom folterte. Als meine
Mutter noch lebte, tröstete sie mich, wenn ich schreiend
nachts aufwachte. Noch heute muss ich weinen, wenn ich
mich an all das erinnere. Ich zittere und kann nicht weiter
schreiben. Das sind die Nerven.«
[Neckarelz, eine der Stätten, wo Alexander W. Rudenko seine
»Jugend und Gesundheit« gelassen hatte, hat er erstmals
1999 besuchen können. Auf dem Schulhof, dem ehemaligen
Appellplatz, erinnert ein Baum an ihn, der in die »gesegnete
Heimaterde« gepflanzt wurde, die er aus der Ukraine mitgebracht hatte. Er starb am 25. Mai 2004.]
Zusammengestellt und zitiert nach: Georg Fischer: Alexander Rudenko. Ein Häftlingsschicksal. 2. Aufl. Mosbach 2004,
S. 11 f. (KZ-Gedenkstätte Neckarelz)
Politik & Unterricht • 3-2008
C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit
C 11
Handlungsspielräume in der Diktatur
Dr. Hans Wey,
geb. 1903
rausgegangenen Vorstoß, Quarantänebaracken aufgestellt.
Auch versorgte er die Häftlingsärzte mit Medikamenten,
Verbandsmaterial usw.
KZ-Gedenkstätte Neckarelz
Trotz seines Gesundheitszustandes – er litt seit 1936 an
Tuberkulose – engagierte er sich auch nach seiner »Entlassung« weiterhin ehrenamtlich für die Häftlinge. Denn ab
Oktober/November 1944 sollte er sich auf Anordnung der
SS – ihm soll in diesem Zusammenhang die Einweisung in
ein KZ angedroht worden sein – nicht mehr um die Häftlinge
kümmern. Dem widersetzte er sich aber erfolgreich. Er selbst
bewertete diese Tätigkeit mit den Worten: »Dies war die
traurigste, aber auch befriedigendste Arbeit meines bisherigen Lebens.« Und durch diese Erfahrungen distanzierte er
sich zunehmend vom Nationalsozialismus.
Die Lebensgeschichte von Dr. Hans Wey zeigt exemplarisch auf, »dass auch in einer Diktatur ein anderer Weg
als der der Anpassung möglich war, der der Humanität
und Nächstenliebe« – so seine Tochter in einem Brief
vom 4. Mai 2001 an den Verein der Gedenkstätte Neckarelz.
Dr. Hans Wey wurde am 17. Mai 1903 in Mannheim geboren
und unterhielt seit 1930 eine Arztpraxis in Neckarelz. Im
März 1944 wurde ihm zusätzlich die Betreuung des SSWachpersonals des Außenkommandos Neckarelz vom Lagerkommandanten übertragen. In dieser Funktion setzte er
sich aber auch für die Häftlinge ein, um deren medizinische
Versorgung durch die Häftlingsärzte zu verbessern. Seine
außergewöhnliche Fürsorge als verantwortungsbewusster
und rechtschaffener Mediziner zeigte sich in vielen Angelegenheiten: Er setzte sich für Zusatzverpflegung für die
Schwerkranken ein und konnte Wesentliches dazu beitragen, die Seuchen einzudämmen. So wurden beispielsweise
auf Veranlassung von Daimler-Benz, aber durch seinen vo-
C 12
Nach dem Krieg wurde ihm wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft die Approbation [staatliche Zulassung zum Arztberuf]
entzogen. Bis 1948 durfte er seine Arztpraxis nicht betreiben. Viele überlebende Häftlinge gaben für seine Rehabilitierung Aussagen ab, die sein positives Wirken als Arzt bei
den Häftlingen bezeugten. (...)
Zusammenfassend kann man sein großes Verdienst um die
Häftlinge folgendermaßen beschreiben: Dank seiner Hilfe
und seines Einsatzes trug er Wesentliches dazu bei, dass
die Sterberate in Neckarelz im Vergleich zu anderen Lagern
relativ niedrig ausfiel.
Angelika Stephan: Die KZ-Gedenkstätte in Neckarelz – ein
Lernort für den Geschichtsunterricht. Wissenschaftliche Hausarbeit, Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Realschulen
nach RPOI vom 24. August 2003, Pädagogische Hochschule
Heidelberg 2007 (Ms.), S. 36 f.
Erklärung von Jacques Barrau für Dr. Hans Wey (1945)
»Ich Unterzeichneter Jacques Barrau, Student an der Universität Toulouse, ehemals charge de mission de 33 classe du
Bureau central de renseignement de forces français libres,
medaillé de la résistance, ehemals Häftling im Lager zu
Dachau und Neckarelz, bescheinige, daß Dr. Wey durch seine
Tätigkeit sehr zur Rettung des Lebens zahlreicher Häftlinge
beigetragen hat,
1. indem er bei der SS-Lagerführung vorstellig wurde, sodaß
eine hygienisch einwandfreie Ernährung zur Verteilung
kam,
2. indem er persönlich das Revier mit den notwendigen
Arzneien versorgte,
3. indem er die Tätigkeit der französischen Häftlingsärzte
Dr. Romer, Dr. Bent, Dr. Salladier unterstützte, die einige
Male im Krankenhaus Mosbach operieren konnten,
4. indem er die Anwendung der Vernichtungsmaßnahmen
bei arbeitsunfähigen Kranken vermied, wie sie in anderen
KZ-Lagern angewendet wurden.
Politik & Unterricht • 3-2008
Ich bitte inständig, daß die an Dr. Wey begangene Ungerechtigkeit wieder gutgemacht wird in Anbetracht der uns
Häftlingen erwiesenen Dienste und in Anbetracht der in
unserem Interesse übernommenen Gefahren, die bei weitem
seine Mitgliedschaft bei der NSDAP wieder ausgleichen. Ich
bin jederzeit bereit, diese Aussage laut zu wiederholen.«
gez. Jacques Barrau
[In mehr als zwanzig Schreiben setzten sich nach 1945
ehemalige Häftlinge des KZ Neckarelz für Dr. Hans Wey und
die Wiedererlangung seiner Approbation ein.]
Quelle: Archiv der Gedenkstätte Neckarelz
53
C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit
Evakuierungswege der KZ-Häftlinge in Südwestdeutschland im Frühjahr 1945
Lucia Winckler, 2008
C 13
Die Räumung der Konzentrationslager zog sich von April
1944 bis Mai 1945 hin. Sie zeichnete sich durch eine ungeheure Brutalität und immense Todeszahlen aus; die »Evakuierungsmärsche« werden zu Recht als Todesmärsche bezeichnet. Zwei Marschrouten lassen sich erkennen: die Südroute,
deren Ziel die sogenannte Alpenfestung war, sowie die sogenannte Nordroute, die in der »Festung Nord« enden sollte.
Während die »Alpenfestung« als reines Trugbild anzusehen
ist, scheint sich hinter der »Festung Nord« ein Ziel verborgen zu haben. Offenbar planten die Verantwortlichen, die
KZ-Häftlinge nach Norwegen zu verschleppen – zu welchem
Zweck auch immer. (…)
54
Wohl mindestens ein Drittel der im Januar 1945 über 700.000
registrierten KZ-Häftlinge oder gar die Hälfte starb auf den
Todesmärschen oder in den Sterbelagern.
Karin Orth: Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle
Analysen und biographische Studien. 2. Aufl., Wallstein
Verlag, Göttingen 2002, S. 30 f.
Politik & Unterricht • 3-2008
C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit
C 14
Die »Todesmärsche« bei der Evakuierung der Konzentrationslager
Centre européen du résistant déporté, Natzweiler
Die Aufnahme der US-Armee von Anfang
April 1945 zeigt den verlassenen Deportationszug zwei Kilometer vor dem Bahnhof Osterburken nach der Befreiung von
etwa 850 Häftlingen des KZ-Komplexes
Neckarelz.
Kurz vor Kriegsende trieb die SS mehr als 20.000 KZ-Häftlinge vor den anrückenden Alliierten – meist zu Fuß – quer
durch Süddeutschland in frontferne Lager. Bei diesen berüchtigten »Todesmärschen« spitzte sich die Situation
der Häftlinge durch Hunger und Erschöpfung, durch Krankheiten, durch das kühle Wetter und nicht zuletzt auch durch
Luftangriffe der Alliierten dramatisch zu. Viele der Häftlinge
befanden sich kurz vor dem Tod durch Auszehrung. Es wird
geschätzt, dass in Südwestdeutschland etwa 5.000 Häftlinge
vor Schwäche starben oder ermordet wurden, weil sie nicht
mehr weitermarschieren konnten. Entlang der Route der
»Todesmärsche« wurde auch die Zivilbevölkerung mit dem
Leiden der Häftlinge konfrontiert. Die Menschen reagierten
darauf vor allem verunsichert. Überlebende Häftlinge berichten von tiefer Verachtung, aber auch von aufkommendem
Mitleid und von Versuchen, den Häftlingen heimlich Nahrungsmittel zuzustecken. Als ab März 1945 US-amerikanische
und französische Soldaten den Südwesten Deutschlands befreiten, trafen sie nur noch auf rund 2.500 Häftlinge des KZ
Natzweiler: etwa 850 konnten in einem Evakuationszug der
Neckarlager bei Osterburken befreit werden. Im Sterbelager
Vaihingen/Enz trafen die Soldaten auf 600 Häftlinge, am
Bodensee auf 600 Häftlinge aus den »Wüste«-Lagern auf der
Schwäbischen Alb sowie auf weitere 100 Häftlinge, denen
die Flucht gelungen war.
Nach: Georg Fischer: Die Todesmärsche bei der Auflösung der
Außenlager des K.L. Natzweiler, in: Konrad Pflug/Ulrike RaabNicolai/Reinhold Weber: Orte des Gedenkens und Erinnerns in
Baden-Württemberg, Stuttgart 2007, S. 270 ff.
ARBEITSAUFTRÄGE ZU C 1 – C 14
◗ Erläutert anhand der Texte und Bilder die Arbeits- und
Lebensbedingungen im Lager Neckarelz.
◗ Bildet zwei Gruppen und erklärt in eigenen Worten jeweils
in einem kurzen Essay die Begriffe »KZ-Außenlagersystem«
und »Vernichtung durch Arbeit«.
◗ In Bezug auf die KZ-Außenlager wird auch von der »Allgegenwart des Konzentrationslagers« gesprochen. Gemeint
sind damit vor allem die Kontakte, die sich im Alltag zwischen Häftlingen und ansässiger Bevölkerung ergaben. Stellt
aus den Materialien die Aspekte zusammen, die diese »Allgegenwart« belegen.
◗ Überlegt und sammelt Begründungen: Wer musste in einer
kleinen Ortschaft wie Neckarelz von der Realität im Lager
noch alles gewusst haben?
◗ Beschreibt und beurteilt die Handlungsmöglichkeiten der
ansässigen deutschen Bevölkerung.
◗ Die Behandlung der Häftlinge durch die SS zielte darauf,
ihre Persönlichkeit zu zerstören. Stellt die Hinweise darauf
in den verschiedenen Texten und Bildern zusammen.
Politik & Unterricht • 3-2008
◗ Welche Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang das
Zeichnen für den KZ-Häftling Jacques Barrau (C 9)?
◗ Wie beurteilt Ihr den Quellenwert der Zeichnungen von
Jacques Barrau für die Zustände im KZ Neckarelz?
◗ Nennt die Folgen, die die Zwangsarbeit in Deutschland auf
das weitere Leben von Alexander W. Rudenko hatte.
◗ Im Gemeinderat wird diskutiert, ob eine Straße in Neckarelz nach Dr. Hans Wey benannt werden soll. Sammelt hierfür
Pro- und Contra-Argumente. Wie würdet Ihr entscheiden?
◗ Recherchiert in Literatur und Internet zu den Todesmärschen auf dem Gebiet des heutigen Landes Baden-Württemberg. Erstellt eine Präsentation mit Bildern und Fotos, die
die Todesmärsche als Quellen dokumentieren oder Denkmäler und Gedenkorte zeigen.
◗ Diskutiert mögliche Reaktionen der Siegermächte auf Berichte über die Zustände in den befreiten Konzentrationslagern und über die Todesmärsche.
55
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77
[email protected], www.lpb-bw.de
Direktor: Lothar Frick
Referenten des Direktors:
Sabina Wilhelm/Thomas Schinkel
Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ
Stabsstelle Marketing
Leiter: Werner Fichter
Öffentlichkeitsarbeit: Joachim Lauk
-60
-62
-40
-63
-64
Abteilung Zentraler Service
Abteilungsleiter: Günter Georgi
-10
Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer
-12
Personal: Ulrike Hess
-13
Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14
Siegfried Kloske, Haus auf der Alb, Tel.: 07125/152-137
Abteilung Demokratisches Engagement
Abteilungsleiter/Gedenkstättenarbeit: Konrad Pflug*
-30
Politische Landeskunde: Dr. Iris Häuser
-20
Bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement:
Dr. Jeannette Behringer
-23
Schülerwettbewerb des Landtags: Monika Greiner*
-25
Thomas Schinkel*
-26
Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel
-29/-32
Freiwilliges Ökologisches Jahr: Steffen Vogel*
-35
Anke Schütze*/Charlotte Becher*
-36/-34
Stefan Paller*
-37
Abteilung Medien und Methoden
Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ
-40
Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs: Dr. Reinhold Weber
-42
Deutschland & Europa: Jürgen Kalb
-43
Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe:
Siegfried Frech
-44
Politische Bildung Online/E-Learning: Susanne Meir
-46
Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik,
Haus auf der Alb,
Tel.: 07125/152--136
Internet-Redaktion: Klaudia Saupe
-49
Außenstelle Freiburg
Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg
Telefon: 0761/20773-0, Fax -99
Leiter: Dr. Michael Wehner
Jennifer Lutz
-77
-33
Außenstelle Heidelberg
Plöck 22, 69117 Heidelberg
Telefon: 06221/6078-0, Fax -22
Leiter: Wolfgang Berger
Angelika Barth
Peter I. Trummer
-14
-13
-17
Außenstelle Tübingen
Haus auf der Alb, Hanner Steige 1,
72574 Bad Urach
Telefon: 07125/152-133, -148; Fax -145
Leiter: Rolf Müller
Klaus Deyle
-135
-134
* Bürositz: Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart
Telefon: 0711/164099-0, Fax -55
LpB-Shops/Publikationsausgaben
Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0
Montag bis Freitag
8.00 –12.00 Uhr und 13.00 –16.30 Uhr
Abteilung Haus auf der Alb
Tagungsstätte Haus auf der Alb,
Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach
Telefon 07125/152-0, Fax -100
www.hausaufderalb.de
Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik:
Dr. Markus Hug
Schule und Bildung/Integration und Migration:
Robert Feil
Internationale Politik und Friedenssicherung/
Integration und Migration: Wolfgang Hesse
Europa – Einheit und Vielfalt: Dr. Karlheinz Dürr
Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann
Hausmanagement: Erika Höhne
Außenstellen
Regionale Arbeit
Politische Tage für Schülerinnen und Schüler
Veranstaltungen für den Schulbereich
Freiburg
-146
-139
-140
-147
-121
-109
Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-10
Dienstag und Donnerstag 9.00 –17.00 Uhr
Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11
Dienstag, 9.00 –15.00 Uhr
Mittwoch und Donnerstag 13.00 –17.00 Uhr
Stuttgart
Stafflenbergstraße 38,
Telefon 0711/164099-66
Montag und Donnerstag 14.00 –17.00 Uhr
Newsletter »einblick«
anfordern unter www.lpb-bw.de/newsletter
POLITIK & UNTERRICHT IM INTERNET
Aktuelle, ältere und vergriffene Hefte zum Downloaden: www.politikundunterricht.de
BESTELLUNGEN
Alle Veröffentlichungen der Landeszentrale (Zeitschriften auch in Klassensätzen)
können schriftlich bestellt werden bei:
Landeszentrale für politische Bildung, Marketing,
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax 0711/164099-77
[email protected] oder direkt im Webshop www.lpb-bw.de/shop
Bitte beachten Sie die Lieferbedingungen: Bei Bestellungen kostenfreier
Produkte gehen ab 1 kg die Versandkosten zu Ihren Lasten.
KOSTENPFLICHTIGE EINZELHEFTE UND ABONNEMENTS FÜR
INTERESSENTEN AUSSERHALB BADEN-WÜRTTEMBERGS
Neckar-Verlag GmbH, Klosterring 1, 78050 Villingen-Schwenningen
Tel. 07721/8987-49, www.neckar-verlag.de
www.lpb-bw.de
Politik & Unterricht wird auf umweltfreundlichem Papier aus FSCzertifizierten Frischfasern und Recyclingfasern gedruckt. FSC (Forest
Stewardship Council) ist ein weltweites Label zur Ausweisung von
Produkten, die aus nachhaltiger und verantwortungsvoller Waldbewirtschaftung stammen. Das Papier wird in Unternehmen hergestellt,
die alle nach ISO 9001 und ISO 14001 sowie EMAS zertifiziert sind.
Herunterladen