E4542 3 – 2008 Gedenkstätten Lernorte zum nationalsozialistischen Terror Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung HEFT 3 – 2008, 3. QUARTAL, 34. JAHRGANG Inhalt »Politik & Unterricht« wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) herausgegeben. HERAUSGEBER Lothar Frick, Direktor CHEFREDAKTEUR Dr. Reinhold Weber [email protected] REDAKTIONSASSISTENZ Sylvia Rösch, [email protected] Katharina Rapp, M. A., Offenburg ANSCHRIFT DER REDAKTION Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon: 0711/164099-45; Fax: 0711/164099-77 REDAKTION Simone Bub-Kalb, Studiendirektorin, Staatl. Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien), Stuttgart Judith Ernst-Schmidt, Oberstudienrätin, Werner-Siemens-Schule (Gewerbliche Schule für Elektrotechnik), Stuttgart Ulrich Manz, Rektor der Schillerschule (Grundund Hauptschule mit Werkrealschule), Esslingen Dipl.-Päd. Holger Meeh, Akademischer Rat, Pädagogische Hochschule Heidelberg Horst Neumann, Ministerialrat, Umweltministerium Baden-Württemberg, Stuttgart Angelika Schober-Penz, Studienrätin, Erich-Bracher-Schule (Kaufmännische Schule), Kornwestheim Editorial Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Autorinnen dieses Heftes Unterrichtsvorschläge VERLAG Neckar-Verlag GmbH, Klosterring 1, 78050 Villingen-Schwenningen Anzeigen: Neckar-Verlag GmbH, Uwe Stockburger Telefon: 07721/8987-71; Fax: -50 [email protected] Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 1.5.2005. DRUCK PFITZER Druck und Medien e. K., Benzstraße 39, 71272 Renningen Politik & Unterricht erscheint vierteljährlich. Preis dieser Nummer: 3,00 EUR Jahresbezugspreis: 12,00 EUR Unregelmäßige Sonderhefte werden zusätzlich mit je 3,00 EUR in Rechnung gestellt. Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. Titelfoto: Archiv Gedenkstätte Grafeneck Auflage dieses Heftes: 20.000 Exemplare Redaktionsschluss: 15. Juni 2008 ISSN 0344-3531 2 2 3–19 Einleitung Baustein A: 3 Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror Baustein B: NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord Baustein C: Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit Literaturhinweise Texte und Materialien Baustein A: Baustein B: Baustein C: GESTALTUNG TITEL Bertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulm www.bertron-schwarz.de GESTALTUNG INNENTEIL Medienstudio Christoph Lang, Rottenburg a. N., www.8421medien.de 1 Lehrerteil: Bausteine A und B: Baustein C: Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit 9 12 17 19 21–55 22 32 46 Dr. Anette Hettinger Dr. Anette Hettinger Dr. Anette Hettinger und Angelika Stephan Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter www.politikundunterricht.de/3_08/gedenkstaetten.htm Politik & Unterricht wird auf umweltfreundlichem Papier aus FSC-zertifizierten Frischfasern und Recyclingfasern gedruckt. FSC (Forest Stewardship Council) ist ein weltweites Label zur Ausweisung von Produkten, die aus nachhaltiger und verantwortungsvoller Waldbewirtschaftung stammen. Das Papier wird in Unternehmen hergestellt, die alle nach ISO 9001 und ISO 14001 sowie EMAS zertifiziert sind. THEMA IM FOLGEHEFT Nachhaltigkeit – am Beispiel Energie Editorial »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Wer die Geschichte des NS-Unrechtsregimes kennt, weiß, warum die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes diese so gewichtigen Sätze zum Artikel 1 unserer Verfassung gemacht haben. Sie kannten das Leid von Ausgrenzung und Verfolgung, teilweise sogar aus eigener Erfahrung. Artikel 1 des Grundgesetzes hat an Bedeutung in keiner Weise verloren. Vor allem aus der Geschichte Deutschlands mit seinen beiden Unrechtsregimen des 20. Jahrhunderts, dem NS-Terror und der SED-Diktatur, wissen wir, dass es gerade die staatliche Gewalt war, die die Würde zahlloser Menschen unrechtmäßig »angetastet« hat. Und immer waren es die totalitären Machthaber, die selbstherrlich definiert haben, welches Leben »würdig« und »lebenswert« sei. Allein deshalb ist es so wichtig, dass die Gedenkstätten die Aufarbeitung der Geschehnisse leisten, die Erinnerung wach halten und das Gedenken ermöglichen. Baden-Württemberg verfügt über eine außerordentlich große Bandbreite an regional verteilten Gedenkstätten, die alle Verfolgungs- und Vernichtungskategorien des NS-Regimes thematisieren. Das hebt die südwestdeutsche Gedenkstättenlandschaft von anderen Regionen Deutschlands ab und ermöglicht es auch den Lehrkräften, die Gedenkstätten vor Ort zu nutzen und mit vielerlei Bezügen zu unterschiedlichen Fächern in den Unterricht einzubinden. Im vorliegenden Heft haben wir deshalb exemplarisch Gedenkstätten ausgewählt, die die Themen »Verfolgung und Ausschaltung politischer und weltanschaulicher Gegner« in der Phase des Machtausbaus des NSRegimes, »Rassenpolitik« sowie »Vernichtung durch Arbeit« im KZ-Außenlagersystem des Südwestens behandeln. Es ist ein Zufall und doch symptomatisch, dass dieses Heft zu den NS-Gedenkstätten im Land unmittelbar auf das Themenheft »Rechtsextremismus« folgt. Die Querverbindungen liegen auf der Hand. Den Lehrerinnen und Lehrern des Landes wird rasch ersichtlich sein, wo beide Hefte auch zur gegenseitigen Ergänzung einsetzbar sind. Und die Hefte zeigen, dass die Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit ein ganz zentraler Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung ist, dem sie mit besonderem Engagement nachkommt. Für die Unterstützung bei dieser Ausgabe von Politik & Unterricht bedanken wir uns sehr herzlich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg in Ulm, des Stadtarchivs Karlsruhe, des Freundeskreises Ehemalige Synagoge Sulzburg e. V., des Kulturamts Sulzburg, der Gedenkstätte Grafeneck, des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg, des Staatsarchivs Ludwigsburg sowie der KZ-Gedenkstätte Neckarelz e. V. Lothar Frick Direktor der LpB Dr. Reinhold Weber Chefredakteur DZOK Ulm Beim Betreten der Ausstellung in der Ulmer KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg werden die Besucher mit den Worten empfangen: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Politik & Unterricht • 3-2008 1 Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Gedenkstätten zum nationalsozialistischen Unrechtsregime sind besondere außerschulische Lernorte. Denn hier wird das Unbegreifliche, das kaum Nachvollziehbare am historischen, teilweise auch authentischen Ort »greifbar«. Hier werden abstrakte Sachverhalte konkret und hier wird deutlich, dass das, was im Geschichtsbuch behandelt wird, nicht fernab im Osten Europas oder in Berlin stattgefunden hat, sondern in der Mitte der Gesellschaft und ganz unmittelbar vor der eigenen Haustür. Weshalb ist Erinnern im Sinne von reflektierter Erfahrung so wichtig? Und: Welchen Beitrag kann und soll die Schule zum Thema Erinnerung leisten? Hier ist die Lehrkraft gefordert, durch Begegnungen bewusstes Erleben zu schaffen, um gemeinsames Nachdenken und kritisches Reflektieren zu ermöglichen. Den Jugendlichen soll Zeit und Raum gegeben werden, um durch eigenes Tun intensive Lernerfahrungen zu machen. Dieser Ansatz wird immer wichtiger, je weiter wir uns zeitlich von den Verbrechen des NS-Regimes entfernen und je weniger es für Schülerinnen und Schüler möglich sein wird, von Zeitzeugen zu hören und diese befragen zu können. Hier liegt der Anknüpfungspunkt zu den Gedenkstätten. Orte und Häuser erhalten ihre alten Gesichter; sie erzählen Geschichten, indem sie die ganze Lebenswirklichkeit im Nationalsozialismus veranschaulichen, in der es Täter, Mitläufer und Zuschauer, aber auch Helfer und Retter gab. Der Lebensort wird zum Lernort, der biographische Ansatz und die Spurensuche führen zur Entwicklung von Empathie und zur analysierenden Auseinandersetzung. Durch die exemplarische Beschäftigung mit sämtlichen Entwicklungsphasen des nationalsozialistischen Terrors und dessen zahlenmäßig bedeutendsten Opfergruppen erkennen die Schülerinnen und Schüler von heute die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Systems mit den bis in die Gegenwart reichenden Folgewirkungen. Sie erkennen, dass die bitteren Erfahrungen den demokratischen Wiederbeginn und den Aufbau unseres Gemeinwesens geprägt haben. Das unbedingte Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde, die in Artikel 1 unseres Grundgesetzes festgeschriebene Achtung vor dem menschlichen Leben, war und ist eine grundlegende Antwort auf das Unrechtsregime der Nationalsozialisten. Diese Erinnerung fordert von uns, sich immer wieder dafür einzusetzen, dass die Menschenwürde nicht nur für unantastbar erklärt, sondern auch nicht angetastet wird. Im vorliegenden Themenheft von Politik & Unterricht werden den Lehrerinnen und Lehrern des Landes Vorschläge zur didaktisch-methodischen Nutzung von Gedenkstätten gegeben. Die Landeszentrale für politische Bildung BadenWürttemberg, der ein besonderer Auftrag für die Gedenkstättenarbeit im Land zukommt, unterstützt damit die didaktische Arbeit der Gedenkstätten. Wir begrüßen sehr, dass mit dieser pädagogischen Arbeitshilfe ein weiterer Beitrag zum bewussten Umgang mit der Geschichte, zum Eintreten für die freiheitlich demokratische Ordnung und gegen Rassismus, politischen Extremismus und Gewalt geleistet wird. Gernot Tauchmann Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg AUTORINNEN DIESES HEFTES Dr. Anette Hettinger ist Akademische Oberrätin im Fach Geschichte und ihrer Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Im Jahr 2006 hat sie den Landeslehrpreis Baden-Württemberg für ein fächerübergreifendes Projekt zur Neuinszenierung der 1941 im Ghetto Theresienstadt aufgeführten Kinderoper Brundibár bekommen. Angelika Stephan hat an der PH Heidelberg studiert und ist derzeit im Referendariat an der Realschule Osterburken. 2 Politik & Unterricht • 3-2008 Gedenkstätten Lernorte zum nationalsozialistischen Terror ●●● EINLEITUNG Baden-Württemberg zeichnet sich durch eine dichte und regional ausgerichtete Gedenkstättenlandschaft aus. Hierzulande gibt es keines der großen Konzentrationslager wie Dachau oder Buchenwald. Hier gibt es auch keines der Vernichtungslager wie Auschwitz-Birkenau oder Treblinka, die weltweit synonym für das Morden der Nationalsozialisten stehen. Vielmehr ist es die Dezentralität der vielen kleine- ren Gedenkstätten, die das Besondere der hiesigen Gedenkstättentopographie ausmacht. Die Gedenkstätten im Land dokumentieren dennoch alle Verfolgungs- und Vernichtungskomplexe des NS-Terrors: ◗ die ehemaligen frühen Konzentrationslager – oft verharmlosend »Schutzhaftlager« genannt –, die an die erste Phase der nationalsozialistischen Machtdurchdringung und »Gleichschaltung« der deutschen Gesellschaft unmittelbar nach der »Machtergreifung« im Januar 1933 erinnern; ◗ ehemalige Synagogen, jüdische Einrichtungen und Orte der Deportation, die auf das reiche kulturelle Leben jüdischer Mitbürger im Südwesten und auf dessen Auslöschung durch den NS-Terror hinweisen; Lucia Winckler, 2008 Die Dichte der Gedenkstätten im Land erlaubt es, Auskünfte darüber zu geben, was in der Zeit des nationalsozialistischen Terrorregimes im Land – buchstäblich vor der eigenen Haustüre – geschehen ist. Die meisten der Gedenkstätten sind Orte der Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Andere Orte erinnern an den Widerstand gegen das NS-Regime sowie an die demokratischen Traditionen und Freiheitsbewegungen in Deutschland. Politik & Unterricht • 3-2008 3 Einleitung ◗ Gedenkstätten, die im Zusammenhang mit »Euthanasie« und Medizin stehen; ◗ Gedenkstätten, die an die rassische Verfolgung von Sinti und Roma erinnern; ◗ Orte der ehemaligen kleinen Konzentrationslager der letzten Kriegsjahre, in denen Häftlinge aus allen von Deutschland besetzten Gebieten Europas Zwangsarbeit verrichten mussten. Sie waren überwiegend in den Außenlagerkomplex des Stammlagers Natzweiler im Elsass eingebunden und Teil der NS-Ideologie »Vernichtung durch Arbeit«. Hierzu gehört auch die Erinnerung an die Todesmärsche bei der Auflösung der Konzentrationslager angesichts der näherrückenden alliierten Truppen; ◗ Gedenkstätten, die Kriegsgefangene und sogenannte Displaced Persons thematisieren; ◗ Gedenkstätten, die Aspekte des deutschen Widerstandes behandeln; ◗ sowie Erinnerungsstätten, welche die Demokratiegeschichte Deutschlands (z. B. Rastatt) sowie Einzelpersonen der Demokratiegeschichte wie Friedrich Ebert, Theodor Heuss oder Matthias Erzberger zum Gegenstand haben. ◗ Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Gedenkstätten im Ausland mit direktem Bezug zu Baden-Württemberg, mit denen enge Kontakte und Kooperationen gepflegt werden (z. B. Natzweiler, Gurs u. a.). Die Gedenkstätten im Land erlauben es, Auskünfte darüber zu geben, was in der Zeit des NS-Terrorregimes im Land – buchstäblich vor der eigenen Haustür – geschehen ist. Die meisten der Gedenkstätten sind dabei Orte der Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Sie eröffnen spezifische pädagogische Angebote und bieten damit als außerschulische Lernorte einen besonderen Bezug zum schulischen Geschichtsunterricht, aber mit vielfältigen Anknüpfungsmöglichkeiten an gegenwärtige Probleme und Konflikte auch zum Politik- und Gemeinschaftskundeunterricht. Wenngleich die Bildungs- pläne des Landes Baden-Württemberg zwar die Beschäftigung mit außerschulischen Lernorten, nicht aber explizit die Nutzung von Gedenkstätten empfehlen, so wird doch erfreulicherweise in großem Umfang und in allen Schularten von dem Angebot der Gedenkstätten Gebrauch gemacht. Weil die Gedenkstätten gleichmäßig über das gesamte Land verteilt sind, sind sie auch mit relativ geringem Aufwand in die schulische Vermittlung der NS-Thematik einzubinden. Zur Konzeption dieses Heftes Das vorliegende Themenheft wendet sich vorwiegend an Geschichtslehrerinnen und -lehrer aller Schularten. Ein Teil der Materialien wird sich besonders für die Behandlung des Themas in der Sekundarstufe II eignen. Doch sind viele Arbeitsmaterialien auch in der Sekundarstufe I einzusetzen. Darüber lassen sich einzelne Teile des Heftes zweifelsohne auch in anderen Fächern wie Gemeinschaftskunde/Politik, Religion, Ethik oder in den Fächerverbünden verwenden. Aus der Vielzahl der Gedenkstätten im Land wurden solche herausgesucht und exemplarisch behandelt, welche die zentralen Verfolgungs- und Vernichtungskomplexe des nationalsozialistischen Willkürregimes abdecken. Sie spiegeln die vielfältigen Ausprägungen des NS-Terrors wider, welcher der Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung von politischen und weltanschaulichen Gegnern, von Andersdenkenden sowie angeblich rassisch Minderwertigen galt. Sie erinnern an die Ausschaltung der politischen Gegner und an die Einschüchterung der Bevölkerung in der Phase der »Machtergreifung«. Sie verweisen auf das Leben ehemaliger jüdischer Nachbarn und deren Gemeinden, auf die Verfolgung, Deportation und Ermordung der jüdischen Mitbürger und somit auf ein verlorengegangenes, facettenreiches jüdisches Leben im deutschen Südwesten. Ebenso wird auch der Vernichtung sogenannten »lebensunwerten Lebens« gedacht. Schließlich erinnern die ausgewählten Gedenkstätten an die in den letzten Kriegsjahren entstandenen KZ-Außenlager und somit Universitätsarchiv Tübingen (UAT 665/200) Karteikarte aus einer 1934 durchgeführten Reihenuntersuchung »Rassenkundliche Landesaufnahme in Württemberg« an der Universität Tübingen. 4 Politik & Unterricht • 3-2008 Einleitung an Zwangsarbeit und »Vernichtung durch Arbeit«. Dass dabei allein aus Platzgründen nicht alle Opfergruppen behandelt werden können, liegt auf der Hand. Dabei wird es im Unterricht eine Selbstverständlichkeit sein, auch auf andere Opfer des NS-Terrors wie Homosexuelle und zahlreiche weltanschaulich motivierte Gegner des Nationalsozialismus wie beispielsweise die Zeugen Jehovas hinzuweisen. Das vorliegende Heft lässt sich in zweierlei Hinsicht im Unterricht oder in der Projektarbeit einsetzen. Zum einen dient es der konkreten Vorbereitung eines Gedenkstättenbesuches. Dabei sind die hier ausgewählten Gedenkstätten zwar intensiver behandelt. Dennoch bieten sich die präsentierten Materialien auch größtenteils zur Übertragung auf andere Gedenkstätten desselben NS-Verfolgungs- und Vernichtungskomplexes an. Zum andern ist das vorliegende Heft so konzipiert, dass es auch von Lehrern im Unterricht einzusetzen ist, wenn kein Gedenkstättenbesuch geplant ist. Auch für die generelle Behandlung des Themas »Nationalsozialismus« im Schulunterricht bietet das Heft Arbeitsmaterialien, die sich nicht in den gängigen Schulbüchern wiederfinden, sondern die deren Angebot um konkrete Beispiele ergänzen. Anders als ein Schulbuch liefert die vorliegende Ausgabe BERATEN – VERNETZEN – UNTERSTÜTZEN – FÖRDERN Der Fachbereich Gedenkstättenarbeit der Landeszentrale für politische Bildung In ihrer thematischen Breite und bürgerschaftlichen Verfasstheit ist die Gedenkstättenlandschaft Baden-Württembergs singulär, so der Mannheimer Historiker Peter Steinbach. Die Orte stehen für alle Verfolgungsbereiche der NSDiktatur. Die meisten Gedenk- und Erinnerungsstätten in Baden-Württemberg gehen auf örtliches bürgerschaftliches Engagement zurück. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann wertet dies als »Demokratisierung durch Ehrenamtlichkeit«. Gedenkstätten sind folglich vielgestaltig und vielschichtig. Das bietet und erfordert jeweils unterschiedliche Zugänge. Vielfach ersetzen heute AV-Aufzeichnungen die unmittelbare Begegnung mit den inzwischen verstorbenen Zeugen. Die medienorientierte junge Generation kennt andererseits die wenigen, stets wiederholten dokumentarischen Filmausschnitte längst. Der reale historische Schauplatz erhält daher durch seine Authentizität seine besondere – und vor allem auch künftige – Bedeutung. Im Jahr 1994 schlossen sich die in der Gedenkstättenarbeit tätigen Gruppen zur »Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen in BadenWürttemberg« zusammen. Jedes Jahr besuchen fast 200.000 Menschen die Gedenkstätten im Land. Ziel der Auseinandersetzung ist nicht nur das Geschichtsverständnis, sondern auch der Transfer auf gegenwärtige gesellschaftliche Wirklichkeiten. Dieser Fokus wird heute in den Gedenkstätten europaweit gesetzt. Politik & Unterricht • 3-2008 also vor allem Exemplarisches und weniger Allgemeines (wie z. B. Quellen zur »Machtergreifung« oder zur Entrechtung der jüdischen Bevölkerung). Aus geschichtsdidaktischer Perspektive weisen Gedenkstätten besonders gute Voraussetzungen für die Auseinandersetzung mit Geschichte auf. Das vorliegende Heft orientiert sich deshalb auch an den allgemeinen Erfordernissen einer Zusammenarbeit zwischen Schulen und Gedenkstätten, die sich an nachfolgend vorgestellten inhaltlichen wie didaktisch-methodischen Prinzipien ausrichten sollte. In der unmittelbaren Nachbarschaft: die Verortung des Geschehenen Untersuchungen zeigen, dass Schülerinnen und Schüler hohes Interesse am Lernen an außerschulischen Lernorten haben, also an historischen Stätten und in Museen. Ihnen schreiben sie hohe Motivationskraft, Vertrauenswürdigkeit, Zugänglichkeit und nicht zuletzt Verständlichkeit zu. In der Tat fördert die Auseinandersetzung mit dem authentischen, konkreten Ort sowie mit den historischen Relikten vor Ort die historische Imagination. Denn hier spiegelt sich die allgemeine historische Entwicklung: Terror und Vernichtung waren keine Angelegenheiten, die sich nur im fernen Berlin Die LpB arbeitet im Auftrag von Landtag und Landesregierung eng mit der Landesarbeitsgemeinschaft zusammen. Die Aktiven, die Vereinigungen und Kommunen werden beraten und unterstützt, Förderwege erschlossen und die tangierten Instanzen, Vereinigungen und Institutionen vernetzt – im Land, im Bund und international. Im Mittelpunkt der fachlichen Beratung wie der finanziellen Förderung stehen die Sicherung des geschichtswissenschaftlichen Stands und der zeitgemäßen pädagogischen Arbeitsfähigkeit. Nicht zuletzt dienen Hefte wie dieses oder auch aus der Reihe MATERIALIEN der LpB dazu. Gedenkstättenpädagogik ist immer auch historisch-politische Bildung, Demokratie- und Menschenrechtserziehung. Sie trägt damit wesentlich zu den in der Landesverfassung von 1953 niedergelegten Bildungszielen bei. Gedenk- und Erinnerungsstätten gelten oftmals als Orte der »negativen Erinnerung«. Ein Überlebender des Lagers Bisingen schlug daher 2006 vor, der Ausstellung »Schwierigkeiten des Erinnerns« nun den Titel »Mut zur Erinnerung – Mut zur Verantwortung« zu geben. Er würdigte damit die Zivilcourage und die Verdienste aller Beteiligten um den offenen, ehrlichen und befreienden Umgang mit unserer schwierigen Geschichte. Sie dabei zu unterstützen ist unsere vornehmlichste Aufgabe. Konrad Pflug leitet den Fachbereich Gedenkstättenarbeit bei der LpB E-Mail: [email protected] oder [email protected] Tel.: 0711/164099-31 www.gedenkstaetten-bw.de 5 Einleitung oder in den von Hitler-Deutschland besetzten Gebieten abspielten. Allgemein lässt sich zudem der Umgang mit historischen Stätten üben, genauer: die Bindung von Geschichte an den Raum. Denn kein Bauwerk wurde absichts- und funktionslos an einer Stelle errichtet. Die Frage »Warum gerade hier?« ist eine der Standardfragen historischer Erkundungen vor Ort. Die Auseinandersetzung mit ihr schärft die Fähigkeit, räumliche Zusammenhänge wahrzunehmen. Ganz konkret: Die deutsche Gesellschaft und der Holocaust Vor Ort wird die Einbettung von Verfolgung und Vernichtung in das Alltagsleben der deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus deutlicher: Der Terror fand buchstäblich am helllichten Tag und vor aller Augen statt. Es waren die unmittelbaren Nachbarn, die politisch verfolgt und in »Schutzhaft« genommen wurden, deren Lebensumfeld zerstört wurde, denen die materielle Lebensbasis entzogen wurde und die schließlich deportiert wurden. Es waren die eigenen Familienangehörigen oder die der Nachbarn, die in Grafeneck ermordet wurden, nur weil sie den Nationalsozialisten als »lebensunwert« galten. Auch die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die in Industrieanlagen schufteten, nach Bombenangriffen Schutt räumten, die in der Landwirtschaft und in Handwerksbetrieben, bei kommunalen oder kirchlichen Einrichtungen zur Arbeit gezwungen wurden, lebten wortwörtlich nebenan. Die meisten Gedenkstätten im Land erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus, an deren Leiden, an die Schikanen, denen sie ausgesetzt waren, und an ihr Sterben. Doch diese historischen Orte sind auch Orte der Täter und der Zuschauer: Hier agierten gewöhnliche Männer und Frauen, die in abgestuftem Maß in den NS-Terror verwickelt waren. Sie kamen aus der Mitte der Gesellschaft und lebten in ihrer Mitte. Oft findet man sie auch nach 1945 als »ganz normale« Bürgerinnen und Bürger wieder. Ihre Handlungsspielräume und die Mechanismen des Mitmachens oder des Sich-Verweigerns lassen sich an ihrem konkreten Beispiel und in alltäglichen Situationen ausloten. Schülerinnen und Schülern wird damit zu einer differenzierten Sicht auf die Durchsetzung einer Diktatur und auf die Lebensbedingungen in ihr verholfen. Weil die wissenschaftlichen Recherchearbeiten vor Ort zu einem großen Teil auf den Erinnerungen Betroffener beruhen, bieten Gedenkstätten eine besondere Gelegenheit, den Opfern des Terrors Namen und Gesicht zu geben – und somit Lucia Winckler, 2008 Die thematisierten Gedenkstätten und Gedenkorte in diesem Heft: die frühen Konzentrationslager Kislau bei Bruchsal, Welzheim, Heuberg bei Stetten am kalten Markt, Oberer Kuhberg in Ulm; die ehemalige Synagoge Sulzburg, Grafeneck bei Münsingen auf der Schwäbischen Alb als Ort der »Euthanasie«-Morde, Mulfingen bei Schwäbisch Hall; schließlich das KZ Neckarelz. 6 Politik & Unterricht • 3-2008 Einleitung Identität und Würde. Nicht zuletzt ist dies eine wesentliche Aufgabe und Bestimmung der Gedenkstätten. In den Gedenkstätten wird aber auch den Tätern und den »Zuschauern« Name und Gesicht gegeben. Dem persönlichen Handeln und Erleben dieser Menschen können sich Lernende leichter annähern als abstrakt dargestellten Vorgängen, weil es konkrete Schicksale »gewöhnlicher« Menschen sind. Im vorliegenden Heft finden sich deshalb zahlreiche Materialien, die einzelne Menschen vorstellen. Exemplarisch konkretisieren sie allgemeine historische Aspekte und veranschaulichen komplizierte Sachverhalte auf einer nachvollziehbaren Ebene. Darüber hinaus thematisieren sie mit der Frage »Was war denn eigentlich nach dem Untergang des HitlerRegimes?« einen weiteren wichtigen Aspekt. Denn sie zeigen konkret die Bezüge zwischen dem Vorher und dem Nachher auf, weil für die Opfer des Terrors der Nationalsozialisten der Schrecken mit dem Kriegsende im Mai 1945 nicht vorbei war. Er hatte lebenslange Folgen. Gedenkstätten: Spiegel der Geschichts- und Erinnerungskultur Gedenkstätten spiegeln die sich ändernden Einstellungen und Haltungen wider, die die bundesdeutsche Gesellschaft gegenüber Nationalsozialismus und Holocaust eingenommen hat und noch einnimmt. So zeigt etwa die Geschichte der politischen und finanziellen Förderung der einzelnen Gedenkstätte auf, wie die deutsche Gesellschaft und die politischen Kräfte vor Ort in einer bestimmten Epoche mit ihrer Vergangenheit umzugehen gewillt waren. Genauso verweist die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Geschehenen auf die individuelle und gruppenspezifische »Verarbeitung« der NS-Zeit. Das Mahnmal zur Erinnerung an die deportierten badischen Juden in Neckarzimmern, das verschiedene, von Jugendgruppen gestaltete Gedenksteine zu einem zentralen Gesamtkunstwerk vereinigt, ist hierfür ein eindrucksvolles Beispiel. In unserer mediendominierten Gegenwart müssen Schüler vermehrt zur reflektierten Auseinandersetzung mit Repräsentationen der Geschichtskultur wie dem genannten Mahnmal oder den Gedenkstätten angehalten werden. Dies ist angesichts der Bedeutung des Themas Nationalsozialismus und Holocaust in der Gesellschaft besonders wichtig. Die Auseinandersetzung vor Ort ist hierfür besonders geeignet, denn über die inhaltliche Beschäftigung mit den Fakten und mit dem Geschehenen vor Ort und seinen Weiterwirkungen hinaus sind Gedenkstätten auch Lernorte für Medien- und Methodenkompetenz. Es sind Orte, an denen konkret erfahren und geübt werden kann, wie Geschichte »gemacht« wird. Hier können grundlegende geschichtswissenschaftliche Verfahrens- und Erkenntnisweisen eingeübt werden. Dies betrifft den historischen Ort als solchen, der nur in den seltensten Fällen unverändert, meist aber zumindest teilweise zerstört, überbaut und in seinen Funktionen verändert vorhanden ist. Dennoch ist er eine historische Quelle: Seine Gestaltung verweist insgesamt und in seinen historischen Einzelbestandteilen auf die Lebensbedingungen vor Ort und auf seine Funktion für die Menschen, die sich hier aufhielten. Seine Einbindung in den Raum deutet auf soziale und wirtschaftliche Bezüge; seine Umgestaltungen zeigen den Umgang der Nachfahren mit der Geschichte. Auch die kritische Arbeit mit historischen Quellen als ein Ziel historischen Lernens lässt sich an den in den Gedenkstättenarchiven vorhandenen Quellenzeugnissen einüben. Gerade die Zeitzeugenberichte und Interviews, auf denen viele der heute vorhandenen Informationen über das Geschehen vor Ort beruhen, eignen sich besonders zu quellenkritischen Fragestellungen: Die persönliche Wahrnehmung, Vergessen und Verdrängen, später Gehörtes, politische und ethisch-moralische Überzeugungen der Erzählenden und die Erwartungshaltung ihres Publikums, Zeitpunkt und äußerer Rahmen des Erzählens und Befragens – dies sind nur einige Aspekte, die es bei Zeitzeugenberichten zu beachten gilt. Ähnliches gilt für Bildquellen: Täterfotos und Opferbilder Ökumenisches Jugendprojekt Mahnmal Das Mahnmal in Neckarzimmern erinnert an die Deportation der badischen Juden im Oktober 1940 in das südwestfranzösische Lager Gurs. Im Rahmen des Ökumenischen Jugendprojektes arbeiten katholische und evangelische Jugendgruppen aus ganz Baden seit 2002 an der Realisierung des Mahnmals. Es besteht aus einem 25 mal 25 Meter großen, als Betonband in den Boden eingelassenen Davidstern, auf dem die Projektgruppen individuell gestaltete »Memorialsteine« anbringen und der Platz für weitere Erinnerungssteine aus sämtlichen 137 Deportationsorten bietet. Politik & Unterricht • 3-2008 7 Einleitung zeigen unterschiedliche Perspektiven. Die quellenkritische Beschäftigung mit ihnen fördert die Methoden- und Medienkompetenz der Schülerinnen und Schüler. Überdeutlich und offensichtlich wird der »konstruierte« Charakter von Geschichte schließlich bei künstlerischen Darstellungen, die höchst individuelle Interpretationen der Geschichte sind. Letztlich sind es auch die »Inszenierungen« von Geschichte, die an einer Gedenkstätte in Blick genommen werden können. An den Ausstellungen vor Ort, die als solche Inszenierungen zu verstehen sind und ein bestimmtes Bild von »der« Geschichte vermitteln, lassen sich Fragen der Perspektivität von Ausstellungsmachern und ihrem Publikum sowie der Deutung von Geschichte diskutieren. Mit den hier vorgelegten Materialien wird versucht, den genannten Aspekten gerecht zu werden. Angesichts der Vielzahl der Gedenkstätten in Baden-Württemberg ist allerdings exemplarisches Arbeiten notwendig: An einzelnen Orten soll aufgezeigt werden, welche Themen in der unabdingbaren Vorbereitung eines Gedenkstättenbesuches erarbeitet werden sollten und welche thematischen und methodischen Zielsetzungen vor Ort verfolgt werden können. Die Vielfalt der Themen zwingt zu einer starken Reduktion der Materialien. Ergänzende Hinweise auch auf spezifische Internetseiten und HISTORISCHER HINTERGRUND: DAS SYSTEM DER KONZENTRATIONSLAGER Die Konzentrationslager gehörten zu den wichtigsten Machtinstrumenten der Nationalsozialisten, doch sind unterschiedliche Entwicklungsstufen und Formen der Ausgestaltung zu berücksichtigen. Die frühen Lager dienten der Ausschaltung und Einschüchterung der politischen und weltanschaulichen Gegner der Nationalsozialisten sowie der Abschreckung potenzieller Widersacher, die (noch) in Freiheit lebten. Die frühen Konzentrationslager waren Sache der Länder: Eine zentral, auf Reichsebene gelenkte Instanz, welche die Lager und ihre Ausgestaltung koordinierte, existierte noch nicht. Frühe Konzentrationslager in Baden waren die Lager Kislau bei Bruchsal und Ankenbuck bei Villingen. Das größte Lager im Südwesten Deutschlands war das von März bis Dezember 1933 bestehende Lager Heuberg bei Stetten am kalten Markt auf der Schwäbischen Alb. Regimefeindliche Frauen kamen in das württembergische Frauengefängnis Gotteszell bei Schwäbisch Gmünd. Schon Ende 1933 musste das völlig überfüllte Lager Heuberg geschlossen werden. Es wurde durch ein Konzentrationslager in der Festung Oberer Kuhberg in Ulm ersetzt. Die wesentliche Grundlage der Einlieferung in ein Konzentrationslager bildete die »Schutzhaft«. Der Begriff gibt fälschlicherweise vor, der Verhaftete sei zu seinem eigenen Schutz in Haft genommen worden. Tatsächlich wurden Gegner der Nationalsozialisten vorbeugend – und zur Ab- 8 Literatur ergänzen das Angebot und zeigen Möglichkeiten der Weiterarbeit auf. Die Aufgabenstellungen sind bewusst offen gehalten und zielen damit auf Arbeit in Projekten oder in projektartigen Formen, die Schülerinnen und Schülern die eigenständige Auseinandersetzung mit der Thematik erlauben und ihnen helfen soll, ihren eigenen Standpunkt zu einem zentralen Thema der deutschen Geschichte zu finden. Die Auswahl der Gedenkstätten erfolgte vor allem unter dem Gesichtspunkt einer regionalen Verteilung in BadenWürttemberg. Die inhaltliche Gliederung weist drei Schwerpunkte auf: Baustein A beschäftigt sich mit den frühen nationalsozialistischen Konzentrationslagern Kislau, Heuberg und Oberer Kuhberg in Ulm. Baustein B zeigt am Beispiel der jüdischen Gemeinde bzw. der Gedenkstätte im badischen Sulzburg, der Sinti-Kinder von Mulfingen (Hohenlohe) und der Gedenkstätte Grafeneck auf der Schwäbischen Alb drei Varianten nationalsozialistischer Rassepolitik auf. Baustein C beschäftigt sich am Beispiel des ehemaligen Außenlagers von Natzweiler bzw. der KZ-Gedenkstätte Neckarelz (Neckar-Odenwald-Kreis) mit der letzten Phase der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, in der das System der Konzentrationslager wieder in die unmittelbare Nachbarschaft der deutschen Bevölkerung rückte. schreckung anderer – aus politischen, konfessionellen oder auch persönlichen Gründen in »Schutzhaft« genommen und gerichtlich Verurteilte nach bereits verbüßter Haft in ein Lager gesteckt. Die »Schutzhaft« konnte unbegrenzt lange dauern; ein Rechtsmittel gegen sie war nicht möglich. Eine Vereinheitlichung zum »System der Konzentrationslager« begann erst 1934 mit der Ausgestaltung des KZ Dachau zum Modell für alle weiteren Lager. Die ab 1936 in Deutschland gegründeten zentralen Konzentrationslager wie Sachsenhausen oder Buchenwald wiesen einheitliche strukturelle Merkmale auf und standen unter der Leitung der SS. Neben den politischen Gegnern der Nationalsozialisten wurden jetzt auch rassenideologisch Verfolgte (Sinti und Roma, sogenannte »Asoziale«, Homosexuelle u. a.) eingesperrt, was nach nationalsozialistischem Sprachgebrauch der »Reinigung des Volkskörpers« dienen sollte. In Baden oder Württemberg entstand kein derartiges Lager; das Lager Welzheim erfüllte nachgeordnete Funktionen. Von diesen großen, zentralen Lagern sind die nach Beginn des Zweiten Weltkrieges gegründeten Lager zu unterscheiden, die – wie Natzweiler im Elsass – der SS als Terrormittel gegen die Bevölkerung in den eroberten Gebieten dienten, und vor allem die Vernichtungslager auf erobertem polnischem Gebiet, in denen die massenhafte Tötung insbesondere von Juden und von Sinti und Roma durchgeführt wurde. Der Arbeitseinsatz von unzähligen Zwangsarbeitern in der Industrie erforderte dann kleinere Außenlager am Einsatzort der Häftlinge (vgl. hierzu Baustein C). Politik & Unterricht • 3-2008 Baustein A ●●● BAUSTEIN A zeigen einerseits den Zeitdruck, unter dem die Nationalsozialisten genügend Gefängnisse für die massenhafte Verhaftung politischer und weltanschaulicher Gegner zur Verfügung stellen mussten. Andererseits belegen sie auch die geringe Wertschätzung der Häftlinge und ihrer Menschenwürde durch den nicht mehr funktionierenden Rechtsstaat. Der Ort wird so zur Quelle. Dabei sollte aber auch deutlich werden, dass er nur »zum Sprechen gebracht« werden kann, wenn die tatsächlichen Lebensverhältnisse durch weitere Zeugnisse wie A 8 vorgestellt werden, auch wenn die Unwirtlichkeit des Forts grundsätzlich erkennbar ist. DIE FRÜHEN KONZENTRATIONSLAGER: MACHTAUSBAU DURCH TERROR In Baustein A wird vor allem die Funktion der frühen Konzentrationslager im Zuge des Machtausbaus und der Formierung der deutschen Gesellschaft im nationalsozialistischen Sinn aufgezeigt. Ein Lernziel besteht darin, zwischen den frühen Konzentrationslagern, den Vernichtungslagern und den in Baustein C wieder aufgegriffenen Außenlagern (»Vernichtung durch Arbeit«) differenzieren zu können. Die Entwicklung eines einheitlichen und zentral gesteuerten KZSystems wird hier am Beispiel der Häftlingskleidung und indirekt an den vorgestellten Orten verdeutlicht: Die Fotos, die Häftlinge zeigen (A 9), sind Zeugnisse einer fortschreitenden Vereinheitlichung der Haftbedingungen. Gleichzeitig verweisen sie auf die zunehmende, von den Lagerleitungen (und später der SS) angestrebte Entpersönlichung der Lagerinsassen, denen durch Uniformierung und Haarschur jegliche äußeren individuellen Züge genommen werden sollten (vgl. C 3 – C 5). Das Lagersystem beruhte auf dem Instrument der »Schutzhaft«, das bereits im 19. Jahrhundert bekannt war, von den Nationalsozialisten aber als Terrorinstrument ausgestaltet wurde. Ausgangspunkt hierfür war die Verordnung des Reichspräsidenten »zum Schutz von Volk und Staat« (sogenannte »Reichstagsbrandverordnung«) vom 28. Februar 1933, durch welche die wesentlichen bürgerlichen Grundrechte beseitigt (§ 1 abgedruckt in A 4) und die Strafbestimmungen für bestimmte Vergehen verschärft wurden. Weiteres Thema dieses Bausteins sind die Mittel und Methoden, welche die Nationalsozialisten zum Ausbau ihrer Macht benutzten. Die Darstellung des Konzentrationslagers in der Öffentlichkeit, also die gewünschte Berichterstattung in der Orte wie Kislau und insbesondere der Obere Kuhberg in Ulm, die ursprünglich nicht als Gefängnisbauten gedacht waren, DAS EHEMALIGE KONZENTRATIONSLAGER OBERER KUHBERG IN ULM In Konzentrationslagern wie dem Oberen Kuhberg wurden Regimegegner und -kritiker ihrer Würde beraubt, um sie – zusammen mit ihren Angehörigen und Mitstreitern – einzuschüchtern und verstummen zu lassen. Heute ist das ehemalige Konzentrationslager Oberer Kuhberg Gedenkstätte. Es ist das einzige KZ in Süddeutschland, das in seiner baulichen Substanz erhalten ist und besichtigt werden kann. Dazu gehören die unterirdischen Verliese, in denen die Häftlinge untergebracht waren, das Freigelände mit der Haftzelle von Kurt Schumacher sowie Politik & Unterricht • 3-2008 www.dzokulm.telebus.de Reinhold Weber DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 96 Das um 1850 erbaute Fort Oberer Kuhberg diente dem NS-Regime von November 1933 bis Juli 1935 als Konzentrationslager. Kurz zuvor war das völlig überfüllte Lager Heuberg bei Stetten am kalten Markt geschlossen worden. Das KZ Oberer Kuhberg war kein Vernichtungslager. Wohl aber waren hier über 600 politische und weltanschauliche Gegner aus Württemberg und Hohenzollern unter menschenunwürdigen Bedingungen eingekerkert. Unter ihnen waren prominente Politiker wie der KPD-Landtagsabgeordnete Alfred Haag (1904 – 1982) oder die Sozialdemokraten Albert Pflüger (1897 – 1965), Erich Roßmann (1884 – 1953) und der spätere SPD-Bundesvorsitzende Kurt Schumacher (1895 – 1952). Sie begannen hier ihren Leidensweg durch die NS-Lager. die Räume der KZ-Kommandantur. Eine Dauerausstellung in der Gedenkstätte zeigt Bilder und Dokumente zu den Häftlingen, den Haftbedingungen, den Haftgründen und nicht zuletzt auch zu den Tätern. Das Kommandanturgebäude bzw. Reduit des Forts Oberer Kuhberg. 9 Baustein A entstehenden Lager typisch ist, für die frühen Lager zumindest nach außen nicht besteht. Das Regime präsentierte und demonstrierte der Öffentlichkeit – also den Gegnern wie den Anhängern – am und über das Konzentrationslager die erreichte Macht. A 6 ist darüber hinaus Zeugnis für den Triumph, den die Nationalsozialisten über die Gegner aus der Arbeiterschaft feierten: Der traditionelle Feiertag der Arbeiterschaft wird instrumentalisiert. Der Terror, den das KZ zum Ausdruck bringt, wird mit den angeblich erreichten wirtschaftlichen Erfolgen gerechtfertigt und die überwiegend politisch linksstehenden Häftlinge werden damit verhöhnt. Schikanöse Strafen, Willkür und Terror richteten sich jedoch gegen sämtliche Gegner des NS-Regimes. Sie wurden in allen Konzentrationslager eingesetzt, um den Willen der Häftlinge Presse über Verhaftungen und (angebliche) Haftbedingungen, zieht sich durch die Geschichte der frühen Konzentrationslager, wie hier an A 1, A 2 und A 5, A 9 und A 11 deutlich wird. Offensichtliches Ziel war die Abschreckung potenzieller Gegner und die Ausrichtung der Gesellschaft im nationalsozialistischen Sinn. Die Mittel waren die Berichterstattung als solche und vor allem der diffamierende Ton. Auch A 6 gehört hierher: Der aus Anlass des 1. Mai zu Propagandazwecken geschmückte Eingang mit Hitlerbild, Hakenkreuzfahnen, Reichsfahne (in Schwarz-Weiß-Rot) und dem Spruch »Gestern Hunger und Not, heute Arbeit und Brot« zeigt, dass die bewusste äußere wie innere Abschottung der Lagerwelt, wie sie für die seit Mitte der 1930er Jahre DAS KONZENTRATIONSLAGER KISLAU 3. April 1934 auf dem Karlsruher Friedhof beteiligten sich trotz der Allgegenwart der Gestapo rund 3.000 Menschen. Das Konzentrationslager Kislau bei Bruchsal bestand von April 1933 bis April 1939. Während der gesamten Dauer seines Bestehens blieb es dem badischen Innenministerium unterstellt und wurde im Gegensatz zu den meisten anderen frühen Konzentrationslager nicht der zentralen »Inspektion der Konzentrationslager« unterstellt. Das Konzentrationslager wurde im Schloss Kislau errichtet, das bereits seit 1819 als Strafanstalt gedient hatte. Parallel zum Konzentrationslager existierte in einem Trakt des Schlosses ein ebenfalls bereits im 19. Jahrhundert eingerichtetes Arbeitshaus für Männer. Die Karlsruher SPD vergibt zum Andenken an Ludwig Marum jährlich einen Preis. Im Oktober 1985 wurde das Gymnasium im nahegelegenen Pfinztal nach Ludwig Marum benannt. Vor der ehemaligen Wohnung des Abgeordneten in der Wendtstraße 3 in Karlsruhe wurden Stolpersteine in den Boden gesetzt. Im Schloss Kislau selbst erinnert ein Gedenkstein im Schlosshof an das ehemalige Konzentrationslager und an Ludwig Marum. In der Erinnerungsstätte Ständehaus in Karlsruhe wird mit zwei Tafeln an das Schicksal von Ludwig Marum und Adam Remmele erinnert. www.karlsruhe.de/kultur/stadtgeschichte/staendehaus.de www.lpb-bw.de/publikationen/menschenausdemland/ marum.pdf Im Konzentrationslager Kislau wurden bereits im April 1933 Kommunisten, Sozialdemokraten und Zentrumspolitiker inhaftiert. Zahlreiche politisch Missliebige folgten. Die höchste Belegungsstärke des KZ wurde 1937/38 mit 173 Häftlingen erreicht. Am 29. März 1934 wurde Ludwig Marum auf Weisung des badischen Reichsstatthalters Robert Wagner von drei KZAufsehern erdrosselt. Die von den Behörden verbreitete Version des Selbstmordes des Politikers fand in der Bevölkerung keinen Glauben. An der Einäscherung Marums am 10 Stadtarchiv Karlsruhe Einer der prominentesten Inhaftierten und Opfer des NS-Terrors in Kislau war der jüdische SPD-Politiker und Reichstagsabgeordnete Ludwig Marum (1882 – 1934) aus Karlsruhe. Am 16. Mai 1933 wurden Marum, der frühere badische Staatspräsident Adam Remmele (1877 – 1951) und fünf weitere führende badische Sozialdemokraten in das neu errichtete Konzentrationslager Kislau verbracht. Dabei wurden sie unter entwürdigenden Umständen in einer vorbereiteten Aktion auf offenen Lastkraftwagen durch die Stadt Karlsruhe gefahren – vorbei an pöbelnden SA-Horden und tausenden Karlsruher Bürgern. Vereinzelt kam es zu Protesten und Rufen wie »Rotfront«, die vom Regime sofort geahndet wurden. Am selben Tag kam der »gleichgeschaltete« badische Landtag zu seiner Eröffnungssitzung zusammen. Der zeitliche Zusammenhang war keinesfalls zufällig. Reinhold Weber Am 16. Mai 1933 werden – öffentlich inszeniert – sieben sozialdemokratische Landtagsabgeordnete aus Karlsruhe in das Konzentrationslager Kislau verschleppt. Von SS- und SAMännern umringt v. l. n. r.: Hermann Stenz, Adam Remmele, Erwin Sammet, Ludwig Marum, Gustav Heller, Sally Grünebaum und August Furrer. Politik & Unterricht • 3-2008 Baustein A zu brechen – hier verdeutlicht am Beispiel der »Schaufahrt« ins badische KZ Kislau (A 1 und A 2) und den Berichten in A 8, A 9, A 10 und A 12. Gerade A 9 zeigt die Absurdität des Lageralltags in Ulm, da eine an sich sinnvolle Beschäftigung (die Reinigung der Kleider und der Kleiderappell) durch die Anweisungen des Lagerkommandanten zur Verschlimmerung der Lebensumstände führt. Die entwürdigende Behandlung von Alfred Haag durch den Lagerkommandanten (A 10) verweist auf dessen nahezu absolute Stellung und in besonderem Maß auf seine Menschenverachtung. Die Lebensgeschichte des ehemaligen württembergischen KPD-Landtagsabgeordneten Alfred Haag, dargestellt von seiner Frau Lina, steht exemplarisch für die Verfolgung und das Schicksal politischer Gegner der Nationalsozialisten. Am biographischen Einzelfall werden hier das außergesetzliche Wirken und die Willkür von Gestapo und Lagerleiter deutlich. Gleichzeitig eröffnet das Beispiel eine Perspektive auf die Auswirkungen der Verfolgung im familiären Umfeld der Betroffenen. Die Angehörigen litten mit, blieben aber nach wie vor in der »normalen« Gesellschaft präsent – ein Hinweis auf die vielfältigen Verwicklungen des KZ-Systems mit der »Zuschauer«-Gesellschaft. Indem die weiteren Lebensläufe von Alfred und Lina Haag recherchiert werden, werden die Folgen von Verfolgung und Haft über die oftmals postulierte »Stunde Null« des Mai 1945 hinaus deutlich gemacht. Der Bericht dient zudem als Hinführung zur Arbeit mit dem entsprechenden Biographieordner, der im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg vorhanden ist. Mit Alois Dangelmaier (1889 – 1968) wird ein Repräsentant der Gruppe der NS-Gegner aus dem kirchlichen Bereich vorgestellt. Die ausgewählten Materialien verweisen als Einführung auf die Ausstellung im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg in Ulm, machen aber noch einmal die Mittel deutlich, mit denen die NS-Verfolgungsbehörden arbeiteten: Drohungen, öffentliche Zurschaustellung und damit Missachtung grundlegender bürgerlicher Rechte, die auch Verdächtige genießen (vgl. A 11). Mit Karl Buck (1894 – 1977) wird ein Repräsentant der Täter angesprochen, die größtenteils »ganz normale Männer« (so ein Buchtitel des Historikers Christopher Browning) waren, die aber die NS-Ideologie verinnerlicht hatten und sie auslebten. Sein schikanöses Verhalten gegenüber den Häftlingen kann auf der Grundlage der Texte zusammengestellt werden. Da es noch keine grundlegende Studie zu Buck gibt, kann mit den ausgewählten Materialien auf ein grundsätzliches Thema der Nachkriegsgeschichte – auf den Umgang der westdeutschen Gesellschaft und Justiz mit den Tätern nach 1945 und ihre Integration – hier nur verwiesen werden. Mit der Materialseite zu den unterschiedlichen Formen des Gedenkens soll die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Im Haus des Landtags von Baden-Württemberg in Stuttgart erinnert seit 2004 ein Gedenkbuch an ermordete oder aufgrund der NS-Verfolgung zu Tode gekommene Mitglieder der Landtage des Freistaates Baden und des Freien Volksstaates Württemberg von 1919 bis 1933. Die Dokumentation liegt im Hauptgeschoss des Landtagsgebäudes frei zugänglich aus. Sie schildert exemplarisch, schlaglichtartig und in äußerster Knappheit das Lebensschicksal von 18 badischen und württembergischen Landtagsabgeordneten. LMZ Baden-Württemberg Viele dieser Abgeordneten waren gleichzeitig Mitglieder des Deutschen Reichstags, leisteten Widerstand gegen das NS-Unrechtsregime und hatten infolgedessen unter Verfolgung und Unterdrückung bis hin zum Verlust ihres Lebens zu leiden. Unter den 18 Abgeordneten sind auch der württembergische Staatspräsident Eugen Bolz (1881 – 1945, Zentrum), die Liberalen Fritz Elsas (1890 – 1945, DDP) und der Schriftsteller und Journalist Johannes Fischer (1890 – 1942, DDP), der kommunistische Widerstandskämpfer Georg Lechleiter (1885 – 1942), der Sozialdemokrat Ludwig Marum (1882 – 1934), die Sozialdemokratin Laura Schradin (1878 – 1937) und der spätere SPD-Bundesvorsitzende Kurt Schumacher (1895 – 1952), der mehrere KZInhaftierungen, unter anderem im Oberen Kuhberg in Ulm, überlebte. Politik & Unterricht • 3-2008 11 Baustein B ●●● Ausprägungen der Geschichtskultur angeregt und gefördert werden: Während der Gedenkstein für Ludwig Marum, der eine für Grabmale übliche Form hat, den mahnenden Charakter des vergangenen Geschehens und damit dieses selbst in den Vordergrund stellt und die Täter über den Begriff »Naziterror« entpersönlicht, geht die Gestaltung im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg von der Gegenwart der Besucher aus. Sie werden zur Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Verständnis dieses Grundgesetz- und Menschenrechtsartikels aufgefordert. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Ausstellung wird somit mit pädagogisch-politischer Absicht unter eine Losung gestellt (A 14). BAUSTEIN B NS-RASSENIDEOLOGIE: AUSGRENZUNG, GEWALT UND MORD Die jüdische Gemeinde und ihre Synagoge in Sulzburg Der Leerraum, den die Vernichtung der jüdischen Gemeinden durch das NS-Regime hinterlassen hat, kann heutigen Jugendlichen (und auch Erwachsenen) nicht sofort auffallen. Es gilt, ihn zu erarbeiten und zu erkennen, dass es ein Raum ist, in dem sich ein Geflecht sozialer Bezüge herausgebildet hatte, das sich unter dem Begriff »Nachbarschaften« zusammenfassen lässt. Nachbarschaft zeigt sich im alltäglichen Zusammenleben: im Schwatz über den Zaun, in der gegenseitigen Hilfe, vielleicht in Freundschaften, die sich ausbilden, vor allem aber in einer Grundhaltung beider GEDENKSTÄTTE EHEMALIGE SYNAGOGE SULZBURG bäude in städtischen Besitz und wurde als Kulturdenkmal und Gedenkstätte restauriert. Die Synagoge in Sulzburg war 1822 nach Karlsruhe und Randegg der dritte Synagogenbau einer jüdischen Gemeinde im Großherzogtum Baden. Heute ist sie die einzige nicht zerstörte Synagoge aus der Architekturschule Friedrich Weinbrenners im spätbarock-klassizistischen Mischstil in Baden-Württemberg. Mitte der 1970er Jahre kam das Ge- Die Geschichte der Sulzburger jüdischen Gemeinde geht bis in das 16. Jahrhundert zurück. Im 18. und 19. Jahrhundert war trotz der durchaus armseligen Bedingungen der jüdischen Bevölkerung ihr Anteil am Leben und an der Kultur der Stadt beträchtlich. Im Jahr 1864 zählte die jüdische Gemeinde 416 Menschen und damit etwa ein Drittel der Einwohnerschaft des Ortes. Zum Zeitpunkt der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten lebten 94 Menschen jüdischen Glaubens in Sulzburg. Am 10. November 1938 wurde die Sulzburger Synagoge im Zuge des Novemberpogroms schwer demoliert. Nach den Deportationen der badischen Juden kamen mindestens 22 der 94 jüdischen Menschen in Sulzburg ums Leben. Heute organisiert der »Freundeskreis Ehemalige Synagoge Sulzburg e. V.« die Erinnerungsarbeit als lebendiges Lernen für die Demokratie und die Menschenrechte in der ehemaligen Synagoge. Von besonderer kulturgeschichtlicher Bedeutung ist auch der jüdische Friedhof in Sulzburg. LMZ Baden-Württemberg www.sulzburg.de Reinhold Weber Die Ostseite der ehemaligen Synagoge in Sulzburg mit Rundfenster und Nische für den Thoraschrein. Die Synagoge in Sulzburg war von 1727 bis 1886 Sitz des Rabbinats für das badische Oberland. Während der Reichspogromnacht (»Reichskristallnacht«) im November 1938 wurde die Synagoge verwüstet, aber nicht völlig zerstört. Sie konnte deshalb erhalten werden. 12 Politik & Unterricht • 3-2008 Baustein B Seiten, die darauf aus sind, miteinander auszukommen und in gegenseitiger Anerkennung und Achtung zu leben. Dieses Zusammenleben muss eine gewisse Distanz nicht ausschließen. Integration und Assimilation sind zusätzliche Begriffe, die das gegenseitige Aufeinanderzugehen kennzeichnen. Dementsprechend erfolgte die Auswahl der Materialien für Baustein B unter dem Aspekt der Nachbarschaft, die hier als didaktische Leitlinie gewählt wurde. Nachbarschaft lässt sich vor Ort an den räumlichen Gegebenheiten aufzeigen und konkretisieren: Besonders Karten wie B 1 zeigen die enge Verschränkung der Lebensbereiche auf. In Erinnerungen zum konkreten Alltag werden die Bedingungen des Zusammenlebens veranschaulicht. Begriffe wie Assimilation und Integration werden anschaulich und fassbar. Die Verhältnisse in Sulzburg lassen sich auf andere »Judendörfer« und »Judengemeinden« im deutschen Südwesten übertragen. Die Materialien beschreiben daher die Nachbarschaft von Juden und Christen und ihre Zerstörung im »Dritten Reich«. Bewusst wurden Texte und Bilder ausgewählt, die vor 1933 entstanden oder sich auf diese Zeit beziehen. So lässt sich der soziale und kulturelle Verlust besser verdeutlichen. Mit der Karte B 1 und den Fotos von der Synagoge (B 2, vgl. auch Foto Seite 12) wird der Ort vorgestellt. Damit wird vor dem Gedenkstättenbesuch ein erster Eindruck vermittelt. Es sollte herausgearbeitet werden, dass insbesondere die Synagoge als öffentlicher Kultbau das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Juden als vollwertige Bürger ausdrückte. Synagogen gehörten spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr zur Minderheitenarchitektur. B 3 beschreibt die allgemeinen Verhältnisse: Der Schriftsteller Jacob Picard verweist auf typische Formen des Zusammenlebens und -arbeitens: Er benennt die wirtschaftlichen Grundlagen, die sozialen Beziehungen und die konfessionellen Gegensätze – Aspekte, die allgemeine Geltung beanspruchen dürfen. Die Fotos in B 4 zeigen Aspekte deutsch-jüdischen Selbstverständnisses: Die Teilnahme am Ersten Weltkrieg als offensichtliche Selbstverständlichkeit (vgl. auch das Beispiel des Leo Louis Kahn in B 7), der nationale Stolz, der sich im Ablichten in Uniform ausdrückt und den auch die Honoratioren der jüdischen Gemeinde im Zentrum der Gruppe zum Ausdruck bringen, und die typische bürgerliche Darstellungsform einer Gemeinschaft zeigen das Selbstverständnis der deutsch-jüdischen Männer auf. Auch das Zusammensein in Vereinen kann als typisch bürgerliche Organisationsform angesehen werden. Das Foto vom Chorausflug ist damit Zeugnis der privaten Beziehungen wie der gleichartigen Interessen der beiden konfessionellen Gruppen. Die Darstellung des (außer-)schulischen Lebens der Sulzburger Kinder (B 5) dient als weitere Veranschaulichung des offenbar problemlosen Zusammenlebens. Sie zeigt aber auch die existierenden Trennlinien auf, die auf den unterschiedlichen religiösen Riten beruhen. Darüber hinaus lässt sich an diesem Text quellenkritisch arbeiten und im Vergleich zu B 6 die unterschiedlichen Intentionen von autobiographischer Erinnerung und wissenschaftlicher Darstellung aufzeigen. An B 6 lassen sich auch die Mittel erarbeiten, über welche die Nationalsozialisten in der Phase des Machtausbaus die Grundlage für die Zerstörung der Nachbarschaften legten: Gewalt, Drohung und Einschüchterung, öffentliche Stigmatisierung der jüdischen Opfer wie der christlichen Bevölkerung, »Schutzhaft«, Unterstellungen. Nicht genannt werden hier die scheinlegalen Mittel wie die »Nürnberger Gesetze«, die jedoch am lebensgeschichtlichen Beispiel herausgearbeitet werden sollen (B 7). Die allgemeine Entwicklung der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung sollte vor einem Gedenkstättenbesuch bekannt sein. Am lebensgeschichtlichen Beispiel werden sie konkretisiert und damit eindrücklicher. Stadtarchiv Lörrach Am Morgen des 22. und des 23. Oktober 1940 werden die jüdischen Einwohner der damaligen Gaue Baden und Saarpfalz in das im unbesetzten Teil Frankreichs liegende Lager Gurs am Fuß der Pyrenäen deportiert. Das Foto zeigt die Deportation der Lörracher Juden – vor aller Augen und am helllichten Tag. Politik & Unterricht • 3-2008 13 Baustein B Bei den Mulfinger Sinti-Kindern handelt es sich um ein ausgesprochen emotionales Thema, denn die Kinder werden als Opfer in ihrer ganzen Wehrlosigkeit vorgestellt. Auch deshalb muss bei der Behandlung des Themas der Blick auf diejenigen gelenkt werden, die als Erwachsene am Geschehen beteiligt waren – seien es die Schwestern im Heim, der Pfarrer, der die Notkommunion vornimmt, die Lehrerin oder vor allem die Personen in den Amtsstuben. Dieser Aspekt der graduell abgestuften »Zuschauerschaft« wird vor allem durch die Materialien B 10 – B 11 angesprochen, wobei über die direkt in den Verwaltungspapieren genannten Personen hinaus auch an den indirekt damit befassten Personenkreis zu denken ist wie der »Schulrat aus Crailsheim« in B 9 oder die den beiden betroffenen Dienststellenleitern nachgeordneten Beamten, Angestellten und Schreibkräfte in B 10, die sich in dienstlichen Beratungen und im Alltagsgespräch untereinander mit den Deportationen befasst haben dürften. Kriterien der Beurteilung ihrer Handlungsspielräume und ihres Wissens über die Vernichtungspolitik könnten dabei sein: das Alter der Einzelpersonen, ihr Dienstgrad, die Zuständigkeitsbereiche und vor allem ihr räumlicher Abstand zum Geschehen vor Ort, das für sie möglicherweise nur als Verwaltungsvorgang in den entsprechenden Akten sichtbar wurde. Das Denkmal im Jugendamt Stuttgart (B 12) weist darauf eindrücklich hin. Die Einsicht, dass die Vernichtungspolitik nicht nur eine Sache der Täter war, sondern in die »normale« Gesellschaft hineinreichte und Mitwisser in großer Zahl hatte, wird sich hier anschließen. Der Antrag auf die Verleihung des Ehrenkreuzes (B 7) macht den Versuch deutlich, sich in einer mehr und mehr feindlich gesinnten Umwelt zu behaupten. Das Schicksal der Familie Kahn kann vor Ort anhand der in der Gedenkstätte in Sulzburg vorhandenen, aber auch in Buchform zusammengestellten Materialien vertieft werden (vgl. die im Materialteil genannte Literatur). Es beleuchtet einzelne wichtige Aspekte nationalsozialistischer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Wichtige Stationen nationalsozialistischer Verfolgung wie der Pogrom vom November 1938 sollten in ihren Auswirkungen (insbesondere die Schändung der Synagoge) vor Ort erarbeitet werden. Die Mulfinger Sinti-Kinder Die Materialien in diesem Teil des Bausteins B dienen der Hinführung zu einem Besuch im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg. Sie können aber auch für eine Beschäftigung mit dem Thema an den angeführten Gedenkorten herangezogen werden. Das Thema ist nur ein Teil der umfassenden Heidelberger Ausstellung. Die hier abgedruckten Texte und Bilder beinhalten aber Beziehungen zu anderen Aspekten, denen in der Ausstellung nachgegangen werden soll. Angesprochen werden (in B 8 und B 9) die »erbbiologische Sichtweise« bzw. Sinti und Roma in der NS-Rassenideologie und die »Rassenhygienische Forschungsstelle in Berlin« (Dr. Robert Ritter/Eva Justin) sowie die Themen Deportationen, Sinti und Roma in den Konzentrationslagern, das »Zigeunerlager« Auschwitz und Zwangsarbeit. DAS DOKUMENTATIONS- UND KULTURZENTRUM DEUTSCHER SINTI UND ROMA IN HEIDELBERG Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma Seit Beginn der 1990er Jahre besteht in der Heidelberger Innenstadt das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Es ist eine europaweit einzigartige Einrichtung. Das Zentrum ist Museum zur Zeitgeschichte und Ort der Erinnerung, aber auch ein Ort der Begeg- nung und des Dialogs. Eine der zentralen Aufgaben besteht darin, die über 600-jährige Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland zu dokumentieren. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf dem Völkermordverbrechen der Nationalsozialisten, das lange Zeit aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde. Eine weitere wichtige Aufgabe des Zentrums besteht darin, die kulturellen Beiträge, die die Minderheit der Sinti und Roma etwa auf den Gebieten Literatur, bildende Kunst und Musik erbracht hat, darzustellen. Im Heidelberger Zentrum ist eine ständige Ausstellung zu sehen, die den NS-Völkermord an dieser Minderheit dokumentiert. Auf fast 700 qm Fläche wird die Geschichte der Verfolgung der Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus nachgezeichnet: von der stufenweisen Ausgrenzung und Entrechtung im Deutschen Reich bis hin zur systematischen Vernichtung im von Deutschland besetzten Europa. www.sintiundroma.de Reinhold Weber Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in der Heidelberger Altstadt. 14 Politik & Unterricht • 3-2008 Baustein B tuschungsaktionen durch die »Absteckabteilung« oder das Standesamt vor Ort sowie die sogenannten »Trostbriefe« an die Angehörigen sind dagegen Teil einer Erarbeitung während eines Gedenkstättenbesuchs, der auch auf die Geschichte der Erinnerung an die Morde (Ausstellungsteil) und die heutige Gestaltung des Ortes als Gedenkstätte eingehen sollte. Die Internetseite der Gedenkstätte liefert hierzu reichhaltiges Informationsmaterial. Die Stolpersteine (B 12) sind eine Form der Erinnerung, die von dem Kölner Künstler Gunter Demnig initiiert wurde und die mittlerweile in Stuttgart und vielen anderen deutschen Städten und Gemeinden zu einer verbreiteten Form der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit geworden ist. Die auf öffentlichem Grund vor den letzten Wohnplätzen der Verfolgten verlegten Stolpersteine erinnern an ganz bestimmte Menschen, deren Lebensgeschichte annähernd bekannt ist. Sie wollen sozusagen die Vorübereilenden »zum Stolpern bringen« und zum Nachdenken auffordern. Wegen der Lage der Steine in möglichem Staub und Schmutz wird das Projekt aber auch kritisiert. Wichtig ist der Hinweis auf die (volks-)wirtschaftliche Dimension der Krankenmorde als zusätzlicher Aspekt der nationalsozialistischen Rassepolitik. Darauf verweist der Text und besonders das Ausstellungsbild »Hier trägst Du mit« (B 13), dessen appellativer Charakter und ideologisch ausgerichtete Bildaussage herauszuarbeiten sind: Die deutsche Gesellschaft bzw. Arbeiterschaft, dargestellt in Gestalt eines kräftigen, jungen Arbeiters, müssen demnach die Arbeitsunfähigen und Behinderten schultern, was Arbeitsleistung und -erfolg schmälert. An der Lebensgeschichte von Martin Bader (B 14) sollte der perfide Anspruch der NS-Ideologie herausgearbeitet werden: Sie erklärt einen Menschen, der sich als sozial integriert und in seinem Lebensumfeld durchaus als wirtschaftlich erfolgreich gezeigt hat, in dem Moment für überflüssig, als er als Folge einer Krankheit nicht mehr »arbeitsfähig« (vgl. B 15) ist und damit den Nützlichkeitskriterien des Regimes nicht mehr entspricht. Der Protest selbst überzeugter Nationalsozialisten gegen die Euthanasie entzündete sich an dieser Frage nach der Grenze, die zwischen angeblich »lebensunwertem« und »nützlichem« Leben schied. Beispiele hierfür finden sich sowohl in der Ausstellung als auch auf der Homepage der Gedenkstätte Grafeneck. Mit der Gedenktafel in Mulfingen wurde ein Ort der Erinnerung an die Opfer geschaffen, die namentlich genannt werden. Ein direkter Hinweis auf die Täter erfolgt nicht, die Sprache (Passiv!) vermittelt den Eindruck einer gewissen Hilflosigkeit gegenüber den NS-Maßnahmen. Das Denkmal im Stuttgarter Jugendamt arbeitet dagegen mit bildlichen Mitteln: Der Aktenordner als Sinnbild der alltäglichen Arbeitsgrundlage einer Bürokratie, die den dahinterstehenden Menschen allzu leicht vergessen kann. Der entsprechende Ausstellungsteil im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg (s. Seite 14 unten) zielt auf Information der Besucher über Bild (vor allem) und Text, wobei die Auswahl und Anordnung durch die Ausstellungsmacher die Informationsentnahme der Betrachter lenkt. Die Fotos von betroffenen Menschen verdeutlichen die lebensgeschichtliche Dimension des Holocaust. Der Mord an Behinderten und Kranken in Grafeneck Die vorliegenden Materialien erläutern die historischen und ideologischen Hintergründe der »Euthanasie«-Verbrechen der Nationalsozialisten in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. Sie stellen den Ort Grafeneck kurz vor und geben Diskussionsanreize zu dem in diesem Heft wiederkehrenden Thema: Die Möglichkeiten des Wissens sowie des Mitmachens und sich Verweigerns. Der Mord an den Kranken und Behinderten vor Ort und die daran anschließenden bürokratischen Ver- Deutlich werden sollte bereits im Vorfeld eines Gedenkstättenbesuchs, dass diese Mordstätte eingebunden ist in weitere räumliche, soziale und historische Zusammenhänge: Die Opfer stammten aus allen großen und mittleren sowie aus vielen kleinen Gemeinden Süddeutschlands. Die Vorgänge in Grafeneck haben damit nicht nur stadt- und ortsgeschicht- Im katholischen Kinderheim St. Joseph in Mulfingen bei Schwäbisch Hall waren schulpflichtige Sinti-Kinder untergebracht, deren Eltern bereits deportiert worden waren. Die Kinder waren von der Deportation zurückgestellt worden, damit für eine wissenschaftliche Forschungsarbeit »rassenbiologische Untersuchungen« an ihnen vorgenommen werden konnten. Nach Abschluss dieser »Untersuchungen« wurden die Kinder am 9. Mai 1944 direkt nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort wurden einige von ihnen von dem berüchtigten KZ-Arzt Josef Mengele zu medizinischen Experimenten missbraucht. In der Nacht zum 3. August 1944 wurden fast alle Mulfinger Sinti-Kinder ermordet. Nur vier von ihnen überlebten. Politik & Unterricht • 3-2008 Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 48/2 I, Bü 955 DIE MULFINGER SINTI-KINDER Das Foto zeigt Mulfinger Heimkinder bei einem Ausflug, aufgenommen um 1941. 15 Baustein B In Grafeneck auf der Schwäbischen Alb begann im Jahr 1940 die sogenannte »Aktion T4«, benannt nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin, dem Ort also, von wo aus die Ermordung kranker und behinderter Menschen im gesamten Deutschen Reich koordiniert wurde. Grafeneck steht als Ort für eines der »arbeitsteiligen Großverbrechen« des Nationalsozialismus. Innerhalb eines Jahres wurden in Grafeneck 10.654 Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen in einer Gaskammer ermordet. Grafeneck ist damit der erste Ort systematisch-industrieller Ermordung von Menschen im nationalsozialistischen Deutschland überhaupt. Der Ort steht am Ausgangspunkt ungeheuerlicher Menschheitsverbrechen. Unterstrichen wird diese Perspektive durch die spätere Übernahme des Verfahrens und des Personals für den Mord an den europäischen Juden in den Vernichtungslagern. Eine »Aktion« solchen Ausmaßes wie in Grafeneck konnte trotz aller Bemühungen der Täter nicht geheim bleiben. Zu deutlich waren die berüchtigten grauen Busse zu sehen, mit denen die Opfer in den Tod transportiert wurden. Zu eng waren auch die Verflechtungen zwischen Dorfbewohnern und der Tötungsanstalt, zu deutlich waren auch die Leichenverbrennungen zu riechen. In der Bevölkerung kursierten Gerüchte, die sich rasch zur Wahrheit verdichteten. Der Mord an Kranken und Behinderten war ein »offenes Geheimnis«. Der Massenmord erregte die Öffentlichkeit außerordentlich. Eltern und Verwandte, Leiter von Heil- und Pflegeanstalten und nicht zuletzt Kirchenvertreter protestierten. Selbst innerhalb der NSDAP kam Kritik auf. Den Verantwortlichen wurde schrittweise klar, dass sie das Unrechtsbewusstsein der Bevölkerung unterschätzt hatten. Die Morde endeten im Dezember 1940. Im Frühjahr 1941 wurde Grafeneck geschlossen. Dabei waren einerseits die Proteste ursächlich. Andererseits war der allergrößte Teil der in Frage kommenden Personen bereits ermordet. Bis Archiv Gedenkstätte Grafeneck GEDENKSTÄTTE GRAFENECK Auf halbem Weg zwischen Schloss und Gedenkstätte Grafeneck liegt das Dokumentationszentrum. Es beherbergt die Ausstellung mit dem Titel: »Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland. Grafeneck 1940.« Neben der historischen Perspektive auf Opfer und Täter, Denkstrukturen und Machtmechanismen richtet die Ausstellung ihr Augenmerk auch auf die Zeit nach 1945 und fragt, wie die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft publizistisch und juristisch mit dem Verbrechen umging. Die Ausstellung schließt mit der Darstellung der heutigen Aufgaben der Gedenkstätte. zum Ende des Krieges wurden jedoch an anderen Orten weiterhin Kranken- und Behindertenmorde durchgeführt. Heute existieren in Grafeneck eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum zur Erinnerung an die Opfer und gegen das Vergessen in den Diskussionen der Gegenwart. www.gedenkstaette-grafeneck.de Reinhold Weber In Bussen mit grauer Tarnlackierung wurden die Opfer nach Grafeneck gebracht. Das linke Foto entstand 1940 heimlich in der Anstalt Stetten im Remstal. Das mittlere Foto zeigt das Schloss Grafeneck auf einer Luftaufnahme aus dem Jahr 1935. In dem Gebäude auf dem rechten Foto befand sich die Gaskammer von Grafeneck (Foto: Archiv Gedenkstätte Grafeneck). 16 Politik & Unterricht • 3-2008 Baustein C liche Dimensionen, sondern auch familiengeschichtliche: 10.654 Opfer verweisen auf 10.654 Familiengeschichten. Die landes- und regionalgeschichtliche Bedeutung Grafenecks wird an seinem Einzugsgebiet deutlich: Von insgesamt vierzig Einrichtungen auf baden-württembergischem Territorium und zudem sechs bayerischen sowie einer hessischen und einer nordrhein-westfälischen Einrichtung wurden Patienten in den Tod geschickt. Die berüchtigten »grauen Busse« (B 16) fuhren die Opfer über öffentliche Straßen nach Grafeneck. Hier bieten sich gute Anknüpfungsmöglichkeiten aus dem näheren und weiteren Lebensumfeld der Schüler. Sie machen – wie andere Beispiele in diesem Heft – deutlich, dass die deutsche Gesellschaft Zuschauer und Beteiligte der nationalsozialistischen Rassenpolitik stellte. Die Frage nach den Möglichkeiten des Mitmachens und des sich Verweigerns stellt sich insbesondere bei der Bearbeitung von B 17. Zwischen Grafeneck und den Vernichtungszentren des Holocaust wie Auschwitz-Birkenau oder Treblinka bestehen direkte Zusammenhänge. Stichpunkte hierfür sind: industrieller Massenmord, die Verwendung desselben Personals und derselben Tötungstechnologie im Rahmen der »Endlösung«. Diese können bereits in der Vorbereitungsphase angesprochen und mit Hilfe der von der Gedenkstätte im Internet bereitgestellten Informationen bearbeitet werden. Hierfür dienen die Arbeitsanweisungen, die auch für die Nachbereitung geeignet sind und die eine weitere Vertiefung ermöglichen. ●●● BAUSTEIN C DAS AUSSENLAGERSYSTEM DES KZ NATZWEILER: VERNICHTUNG DURCH ARBEIT Das Außenlager Neckarelz war ein Teil des Systems der Konzentrationslager, das vor einem Besuch der Gedenkstätte behandelt werden sollte, um eine historische Verortung zu ermöglichen. Auch das »System Natzweiler«, das in C 1 und C 2 angesprochen wird, sollte bekannt sein. Die historische Situation der Außenlager lässt sich auch über die in Baustein A bereits angesprochene Kleiderfrage konkretisieren und veranschaulichen, denn die auf den Zeichnungen dieses Bausteins (C 2 – C 5 und C 9) dargestellten und im Text C 8 als »Zebras« bezeichneten Häftlinge tragen den äußeren Lebensbedingungen nicht zuträgliche, einheitliche Häftlingskleidung, die sie nach außen als Häftlinge ausweist und die auf die Vereinheitlichung des »Systems der Konzentrationslager« verweist. Die Hinweise auf den Aufbau des Lagers und den Ausbau des Stollens stellen in historischer wie geografischer Hinsicht weitere überregionale Bezüge her (z. B. Verlagerung von Daimler-Benz aus Genshagen, Bombenkrieg, Fortgang des Zweiten Weltkrieges, Herkunft der Häftlinge usw.). Die inhaltliche Heranführung an das Leben im KZ erfolgt über die Komplexe Arbeit und Essen. Beides zusammen erläutern die von der SS praktizierte »Vernichtung durch Arbeit«. Insbesondere die Arbeitsbedingungen beim Ausbau des Stollens, die in C 3 – C 5 beschrieben werden, lassen die mörderischen Bedingungen erahnen, unter denen die Opfer arbeiten mussten. Die Bedingungen vor Ort werden mit Hilfe von Fotos und Zeichnungen (C 6) aufgezeigt. Sie vermitteln bereits in der Vorbereitungsphase eine Vorstellung von den Örtlichkeiten Andreas Knitz Ein aufsehenerregendes Projekt: In der ehemaligen Pforte des Zentrums für Psychiatrie Die Weissenau steht das dauerhafte »Denkmal der Grauen Busse«, gestaltet von Horst Hoheisel und Andreas Knitz. Mit dem in Originalgröße in Beton gegossenen Bus des gleichen Typs, wie er 1940 das Tor der Heilanstalt zu den Todesfahrten nach Grafeneck verließ, erinnern die Stadt Ravensburg und das Zentrum für Psychiatrie Die Weissenau an den Massenmord im Rahmen der »Aktion T4«. Aus der Heilanstalt Weissenau wurden 1940/41 in elf Omnibustransporten 691 Patienten nach Grafeneck transportiert. Zurück kamen lediglich ihre Kleider. Ein zweiter Denkmal-Bus steht derzeit in der Tiergartenstr. 4 in Berlin. Politik & Unterricht • 3-2008 17 Baustein C in der Vergangenheit. Sie kann während des Besuchs vertieft werden. Insbesondere die Zeichnung »Der Blick von innen« in C 6 soll auf die Normalität des Lebens neben dem Konzentrationslager verweisen; dass diese von einem Häftling eingefangen wurde, macht dessen Lebensverhältnisse umso bedrückender. Wichtig ist der Blick auf die gesamte deutsche Gesellschaft im Zeichen des Holocaust: Dazu gehören zum einen die Häftlinge, deren Entmenschlichung und Entpersönlichung an verschiedenen Stellen deutlich wird (»Zebra«-Anzüge, C 5: »nur noch Röhren«). Ihr verzweifelter Versuch, dieser Entwürdigung zu entkommen und noch ein bisschen an Menschenwürde und Individualität zu bewahren, zeigen die Zeichnungen Jacques Barraus, die ihm als wahres »Überlebensmittel« galten (C 9). Zum anderen sind die sogenannten »Zuschauer« in den Blick zu nehmen: Das Thema der Nachbarschaften aus Baustein B wird damit variiert. Zu diskutieren sind hier das Wissen bzw. Nichtwissen der ansässigen Bevölkerung und ihre Handlungsmöglichkeiten. Diese Aspekte werden mit C 6 – C 8 sowie besonders mit C 11 und C 12 thematisiert. Die »Täter«, die willkürlich strafen und töten, werden in den Häftlingsberichten C 3 und C 10 beschrieben. Sie erscheinen als Teil des SS-Systems. DAS KONZENTRATIONSLAGER NATZWEILER UND SEINE AUSSENLAGER Ab Frühjahr 1944 wurden im gesamten »Altreich« die »späten« Konzentrationslager eingerichtet. Wegen der alliierten Bombenangriffe sollten mit ihnen die notwendig gewordene Dezentralisierung und Untertageverlagerung der Rüstungsproduktion beschleunigt werden. Trotz dieser rüstungswirtschaftlichen Zielsetzung galt für die Häftlinge jedoch der rücksichtsloseste Einsatz bei unmenschlicher Behandlung im Rahmen des NS-Programms »Vernichtung durch Arbeit«. Die NS-Ideologie behielt bis zuletzt den Vorrang vor militärisch-wirtschaftlichen Belangen. Im Zuge der totalen Kriegführung und der Ökonomisierung des KZ-Systems wurden in einem Industrieverlagerungswahn zahlreiche Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler in den Vogesen – teilweise auch des KZ Dachau – errichtet. Diese Entwicklung beschleunigte sich noch, als das KZ Natzweiler im Herbst 1944 geräumt wurde und die Inhaftierten angesichts der rasch anrückenden Alliierten auf die südwestdeutschen Außenlager verteilt wurden. Die genaue Zahl dieser Außenlager und Außenkommandos auf dem Boden des heutigen Baden-Württemberg ist nicht endgültig erforscht, aber es ist von 73 Außenlagern (Stand 2005) in Baden-Württemberg, Hessen, Saarland und Rheinland-Pfalz auszugehen. Nur wenige der aus ganz Europa zusammengetriebenen schwer kranken und völlig entkräfteten Häftlinge überlebten. Schließlich wurden in den letzten Wochen des 18 Der Umgang mit der NS-Geschichte in Form verschiedener geschichtskultureller Repräsentationen muss vor Ort angesprochen werden. Indirekt kommt er im Bericht des Häftlings Rudenko (C 10) zum Tragen, der im Schulhof von Neckarelz einen Baum pflanzte – für ihn eine Erinnerung an die erlittenen Qualen, für die Besucher an den Menschen, der stellvertretend für alle Häftlinge im Lager steht. Methodenkompetenz lässt sich an zwei Quellenarten einüben: Dies sind die Häftlingszeichnungen, die durch den angesprochenen Bericht Barraus (C 9) zu ergänzen sind, und die autobiographischen Zeugnisse, an denen die Perspektivität der Autoren zu diskutieren wäre. Die Evakuierung der Konzentrationslager und die folgenden Todesmärsche markieren die letzte grausame Zuspitzung des Durchhaltewillens der SS und der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Als solche sollten sie im Unterricht angesprochen werden (C 13 und C 14). Davon ausgehend können Verbindungslinien zur Nachkriegszeit gezogen werden: Denn die bis dahin unvorstellbaren Zustände in den befreiten Konzentrationslagern und die ausgemergelten Häftlingsgestalten, auf die die Soldaten der Siegermächte nicht nur im Südwesten trafen, beeinflussten die alliierte Nachkriegspolitik gegenüber den deutschen Verantwortlichen und der deutschen Bevölkerung nachhaltig. »Dritten Reiches« tausende von KZ-Häftlingen vor den anrückenden alliierten Truppen auf den berüchtigten »Todesmärschen« quer durch Süddeutschland in frontferne Lager, vor allem in das KZ Dachau, getrieben. Die Zahl der Opfer des KZ-Außenlagerkomplexes geht allein in Südwestdeutschland in die Zehntausende. Das dichte Netz kleiner Lager führte auch dazu, dass die »normale« Bevölkerung in unmittelbaren Kontakt mit der NS-Vernichtungsmaschinerie kam. Weder das Ausmaß der Opferzahl noch die grausamen Todesursachen blieben verborgen. Auch die kommunalen Verwaltungen waren involviert. Diese »Entgrenzung« des KZ-Systems führte zu engen Verflechtungen zwischen SS, zivilen Behörden, Firmen, Häftlingen und einheimischer Bevölkerung – der Terror fand auf offener Straße statt. Nie war die deutsche Bevölkerung so unmittelbar und direkt mit dem KZ-Terror konfrontiert wie in der letzten Phase des Weltkrieges. Dabei kam es zu allen Varianten menschlichen Verhaltens: Hilfsmaßnahmen, Wegsehen, Mitmachen und Unterstützung der Täter. Nach dem Ende des Grauens wollten jedoch nur wenige von der Vernichtungsmaschinerie gewusst haben. Die Erinnerungsarbeit wie auch die juristische Aufarbeitung fiel lange Jahre schwer oder blieb gar völlig aus. www.struthof.fr Reinhold Weber Politik & Unterricht • 3-2008 Baustein C KZ-GEDENKSTÄTTE NECKARELZ Die KZ-Gedenkstätte Neckarelz ist ein außerschulischer Lernort für die Geschichte des NS-Terrors und ein Ort der politischen Bildung zugleich. Sie liegt dort, wo 1944 eine Grundschule in ein Konzentrationslager umgewandelt wurde. Zusammen mit dem Geschichtslehrpfad »Goldfisch« informiert die Gedenkstätte über die NS-Geschichte im Elzmündungsraum im Neckar-Odenwald-Kreis. Als im Frühjahr 1944 die Luftangriffe der Alliierten die deutsche Rüstungsindustrie dazu zwangen, ihre Produktion in unterirdische Verstecke zu verlegen, bot sich für die Daimler-Benz-Flugzeugmotorenfabrik in Genshagen bei Berlin wegen seiner verkehrsgünstigen Lage der Gipsstollen in Obrigheim an. Die Arbeitskräfte lieferte die SS vor allem aus den Konzentrationslagern im europäischen Osten. Von März 1944 bis März 1945 wurden etwa 5.000 »Zebras« an den Neckar verschleppt. Zuerst entstand das Lager Neckarelz in der Grundschule des Dorfes, später kamen weitere Lager dazu. Damit entstand der Komplex »Neckarlager«. Alle waren Außenlager des Stammlagers Natzweiler-Struthof in den Vogesen. Die KZ-Häftlinge waren vor allem als Bauhäftlinge eingesetzt. An den Maschinen der Flugzeugproduktion arbeiteten andere Zwangsarbeiter. Insgesamt arbeiteten etwa 10.000 Menschen für das Projekt unter dem Tarnnamen »Goldfisch«. www.kz-denk-neckarelz.de Reinhold Weber LITERATURHINWEISE Die Literaturhinweise verzeichnen nur übergreifende Titel zu Gedenkstätten und zur Gedenkstättenpädagogik. Literaturhinweise zu den einzelnen Orten finden sich im Materialteil oder sind den jeweiligen Internetseiten der Gedenkstätten zu entnehmen. Arbeitsgruppe Jugendprojektarbeit: Jugendprojektarbeit zum Thema Nationalsozialismus. Praxiserfahrungen und Empfehlungen zur Gestaltung von (außer-)schulischen Projekten in den Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, in: Gedenkstättenrundbrief 2004, H. 9, S. 9 – 17. (Die Arbeitsgruppe bestand aus Vertretern schulischer und außerschulischer Bildungsinstitutionen.) Baumann, Ulrich: Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862 – 1940, Hamburg 2000. BAUSTEINE – Materialien für den Unterricht, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (u. a. zum KZ Bisingen, zu Grafeneck, zu den Deportationen der Juden aus dem deutschen Südwesten, zu Sinti und Roma, zu den Novemberpogromen 1938 und zum KZ Natzweiler, teilweise nur noch online erhältlich unter www.lpb-bw.de/publikationen.htm). Benz, Wolfgang/Distel, Barbara (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 1: Die Organisation des Terrors (2. Aufl. 2008); Bd. 2: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager (2005); Bd. 6: Natzweiler, Groß-Rosen, Stutthof (2007) (alle München). Glauning, Christine/Pflug, Konrad (Hrsg.): Arbeit und Vernichtung. Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler-Struthof. Dokumentation der Jahrestagung 2002 der Landes- Politik & Unterricht • 3-2008 arbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen Baden-Württemberg, Stuttgart 2004. Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu den Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 – 1945, Bd. 5: BadenWürttemberg, I: Regierungsbezirke Karlsruhe und Stuttgart, II: Regierungsbezirke Freiburg und Tübingen, Köln 1991 und 1997. Hettinger, Anette: Täter, Opfer – und vor allem Zuschauer. Möglichkeiten und Notwendigkeiten der pädagogischen Arbeit zur nationalsozialistischen Vergangenheit in Gedenkstätten, in: Uwe Uffelmann/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Verstehen und Vermitteln, Idstein 2004, S. 223 – 241. »Hier ist nichts anderes als Gottes Haus …«. Synagogen in Baden-Württemberg, hrsg. von Rüdiger Schmidt und Meier Schwarz. Gedenkbuch der Synagogen in Deutschland Bd. 4: Baden-Württemberg, 2 Teilbände, Stuttgart 2007. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Das KZ Natzweiler-Struthof und seine Außenlager. Handreichung zum Besuch von Gedenkstätten, Stuttgart (erscheint Ende 2008). Pflug, Konrad/Raab-Nicolai, Ulrike/Weber, Reinhold (Hrsg.): Orte des Gedenkens und Erinnerns in Baden-Württemberg, Stuttgart 2007. Schreiber, Waltraud: Geschichtsdidaktik und Gedenkstättenpädagogik, in: Gedenkstättenrundbrief 2004, H. 12, S. 25 – 34. 19 Gedenkstätten Lernorte zum nationalsozialistischen Terror Texte und Materialien für Schülerinnen und Schüler 3-2008 Baustein A Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror A 1 – A 11 A 12 – A 13 A 14 Die frühen Konzentrationslager Kislau, Heuberg und Oberer Kuhberg: Terror gegen politische und weltanschauliche Gegner des Regimes Aus der Mitte der Gesellschaft: Die Täter Gedenken und Erinnern heute Baustein B NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord B 1– B 7 B 8 – B 12 B 13 – B 17 Die jüdische Gemeinde und ihre Synagoge in Sulzburg Die Mulfinger Sinti-Kinder Der Mord an Behinderten und Kranken in Grafeneck Baustein C Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit C C C C C C C Das KZ Neckarelz als Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof Arbeiten und (Über-)Leben im KZ Neckarelz Die Allgegenwart des Konzentrationslagers Malen als Mittel zum Überleben: Jacques Barrau Aus der Ukraine nach Neckarelz: Alexander W. Rudenko Handlungsspielräume in der Diktatur Die Todesmärsche 1– 3– 6– 9 10 11 – 13 – C 2 C 5 C 8 C 12 C 14 22 30 31 32 38 42 46 48 50 51 52 53 54 Hinweis: Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg übernimmt keine Verantwortung für die Inhalte von Websites, auf die in diesem Heft verwiesen oder verlinkt wurde. Politik & Unterricht • 3-2008 21 A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror Materialien A 1 – A 14 »Schaufahrt« durch die Karlsruher Innenstadt (16. Mai 1933) Stadtarchiv Karlsruhe 8/Alben 5, S. 31,2 A1 Am 10. März 1933 wurde in Karlsruhe der jüdische Landtags- und Reichstagsabgeordnete Ludwig Marum verhaftet und ins Polizeigefängnis der Stadt verbracht. Seine Immunität, seine besonderen Schutzrechte als demokratisch gewählter Abgeordneter, galten nichts. Ohne Anklage saß er dort in »Schutzhaft«, bevor er am 16. Mai 1933 zusammen mit dem ehemaligen badischen Staatspräsidenten Adam Remmele und fünf weiteren führenden badischen Sozialdemokraten in das Konzentrationslager Kislau bei Bruchsal verbracht wurde. 22 Die Wagenkolonne bestand aus zwei Polizeikraftwagen: Auf dem ersten saßen die verhafteten Sozialdemokraten (hinten auf dem Wagen ist Ludwig Marum zu sehen) und ihre Bewacher; auf dem zweiten Wagen befanden sich SA-Leute, die jeden Passanten verhafteten und mitnahmen, der sich durch »Rotfront«-Rufe mit den Gefangenen solidarisch erklärte. SA-Männer begleiteten die Wagen an den Seiten. Voraus gingen SS-Leute, die die Straßen frei machen sollten. Politik & Unterricht • 3-2008 A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror Die Darstellung der Vorgänge in der nationalsozialistischen Presse Stadtarchiv Karlsruhe 8 ZeE 53, Ausschnitt A2 Karlsruhe, 16. Mai. Der Schlußstrich unter die schwarz-rote Ära ist gezogen. Am Dienstag wurden die badischen Novemberverbrecher [Adam] Remmele, [Ludwig] Marum, Sally Grünebaum, [Hermann] Stenz, [Erwin] Sammet, [Gustav] Heller und [August] Furrer, der im Jahr 1929 bei der Hölzschlacht* in Karlsruhe unsern Hauptschriftsteller Dr. Rattermann derart mißhandelte, bis er blutüberströmt und bewußtlos zusammenbrach, in feierlichem Zuge nach der Strafanstalt Kislau überführt. Fast schien es, als habe die ganze badische Landeshauptstadt ein Stelldichein gegeben, um den roten Genossen ein letztes Lebewohl zuzurufen. Während sich auf den Straßen und auf dem Platz vor dem Gefängnis die Menschenmassen stauten, schnürten der Herr Staatspräsident a. D. und seine »Gefolgschaft« ihre Bündel. Es waren gewiß eigenartige Gedanken, die ihm durch den Kopf gegangen sein müssen. Seit 14 Jahren war man gewohnt, für jede Handreichung einen Diener parat stehen zu haben. Man wußte in dieser Beziehung schon, wie man sich zu benehmen hatte. Mittlerweile wächst die Spannung ins Riesenhafte. Schnellwagen der Polizei fahren heran und nehmen die Häftlinge auf, flankiert von SS-Männern. Ex-Staatspräsident Remmele, der zuerst aus dem Seitengang des Gefängnisses an die Einfahrt tritt, nimmt gleich auf der vordersten Sitzreihe Platz. Er legt keinen Wert darauf, von seinen ehemaligen Untertanen gesehen zu werden. Freund Marum hat den schlechtesten Platz erwischt, denn in seiner ganzen Lieblichkeit präsentiert er sich dem Volke. Als sich das Tor öffnet und die Wagen in die Menschenmauer hineinfahren, da brandet die Menschenmasse hoch und ein tobendes, schrilles Pfeifkonzert hebt an, »Pfui«- und »Nieder«-Rufe tönen über den Platz. Niemand hat für diese roten Klassenkämpfer Bedauernis oder Mitleid. »Pfui«-Rufe und immer wieder »Nieder«-Rufe. Langsam nur können sich die Wagen, die von einem dichten SS-Kordon umgeben sind, den Weg bahnen. Schritt für Schritt geht es zwischen einer Menschenmauer durch. An den Ecken haben sich Kapellen postiert, die ununterbrochen das Müllerlied** spielen, in das die Menge einstimmt. Zu einem kleinen Zwischenfall kommt es am Haus Marums, wo der Jude Marx die Frechheit besitzt, »Freiheit, auf Wiedersehen« zu rufen. Im Nu ist das freche Judenmaul gestopft. Im Notarrest kann er sich darüber klar werden, daß heute in Deutschland Provokationen nicht mehr geduldet Politik & Unterricht • 3-2008 werden. So geht der Zug weiter, am Landtagsgebäude, am Staatsministerium und am ehemaligen roten Metallarbeiterhaus vorüber. Gegen 12 Uhr wird das Polizeipräsidium erreicht, von wo es dann in rascher Fahrt nach dem Bestimmungsort Kislau geht. Von dem riesigen Andrang kann man sich erst einen Begriff machen, wenn man erfährt, daß der gesamte Straßenbahnund Autoverkehr lahmgelegt war. Mehrere Kommunisten, die glaubten »Rotfront« rufen zu müssen, wurden ebenfalls sistiert [verhaftet]. Wir glauben, daß die roten Bonzen auf so viel Liebe der Karlsruher Bevölkerung nicht gefaßt waren. Zur Peripherie der Stadt geben zahlreiche Autos und Fahrräder dem Wagen das Geleit. Überall stehen die Menschen, Verachtung im Blick. Arbeiter im ehemals roten Durlach ballen die Faust und Worte, die diese Burschen einst dem Arbeiter gegen das erwachende Deutschland einzuimpfen versucht hatten, hören ihre Ohren. »Arbeiterverräter Remmele«, »Bonze Marum« erschallt es im Chor. Hier stehen die Ankläger, die ehemals verhetzt den roten internationalen Phrasen dieser Volksverderber lauschten. Es scheint Remmele ganz unfaßbar zu sein, daß in den früheren roten Hochburgen Durlach und Weingarten ihm das »pereat« [»verschwinde!«] deutscher Handarbeiter noch furchtbarer entgegenschallt. Um ein Uhr etwa erreicht der Wagen die Anstalt Kislau. Im Vorhof des umfangreichen Komplexes stehen wiederum Hunderte und aber Hunderte von Volksgenossen, die die roten Verderber noch einmal sehen wollen, bevor die eisernen Tore der Anstalt sich hinter ihnen auf lange Zeit schließen. (...) * Bei der »Hölzschlacht« am 23. April 1929 war es in Karlsruhe nach einer Rede des Kommunisten Max Hölz zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten gekommen, in deren Verlauf auch der Redner selbst verletzt worden war. Die verhängten Strafen gegen die Nationalsozialisten fielen vergleichsweise milde aus. ** Gemeint ist das Lied »Das Wandern ist des Müllers Lust«, das hier der Verhöhnung des gelernten Müllers Adam Remmele dient. Hakenkreuzbanner. Das Nationalsozialistische Kampfblatt Nordbadens vom 17. Mai 1933 23 A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror A3 »Schaufahrt« ins KZ: Ein Zeitzeugenbericht Stadtarchiv Karlsruhe Ludwig Marum (1882 – 1934), aufgenommen Ende der 1920er Jahre Elisabeth Lunau-Marum, die Tochter Ludwig Marums, erinnerte sich 1983, 50 Jahre nach der »Schaufahrt«, an die Ereignisse an jenem 16. Mai 1933: »Als ich am 16. Mai mit dem Frühstück ans Gefängnis kam, fand ich schon eine große Menge Menschen. (...) Jemand hatte mir das Flugblatt gezeigt, das die Überführung anzeigte und Noten und Worte des Müllerliedes enthielt.* Autos fuhren durch die Stadt und warfen dieses Blatt in großen Mengen auf die Straßen. Ich brachte den Essenskorb nach Hause und fuhr dann in die Anwaltskanzlei meines Vaters, die auf der Kaiserstraße, Ecke Hirschstraße gelegen war. (...) In den Geschäftsräumen waren die Büroangestell- A4 ten und Ernst Marx, einer der anderen Rechtsanwälte der Kanzlei. Alle waren in höchster Aufregung, es wurde aber gar nichts gesprochen. Ich stand zitternd am Fenster. Es dauerte gar nicht lang, bis ich vom Mühlburger Tor her Lärm hörte, ein Getöse, das näher und näher kam. Ich konnte eine dunkle Masse von Menschen sich langsam heranwälzen sehen. Schon war der Zug unterhalb der Fenster. Der Vater, ganz hinten auf dem offenen Polizeilastwagen, mit dem Blick auf die Fahrbahn sitzend, eingerahmt von SS-Männern, schaute herauf. Ich machte eine kleine schüchterne Bewegung mit der Hand. Die Augen der Menschenmenge waren seinem Blick gefolgt, sie sahen mich an dem einen Fenster und Ernst Marx an dem anderen. Es erhob sich ein Schrei aus tausend Kehlen, und ich zuckte zurück, als ob ich geschlagen worden wäre. Es war klar, daß einige heraufkommen würden, und Marx rannte an die Tür und halb die Treppe hinunter den Häschern entgegen. Ich sah, wie sie ihn packten. Die Mädchen im Büro schrien, vom Fenster sah ich, wie Marx, als ob er ein Mehlsack wäre, auf den folgenden Lastwagen geworfen wurde, und der Umzug ging weiter (...).« * Gemeint ist das Lied »Das Wandern ist des Müllers Lust«, das hier der Verhöhnung des gelernten Müllers Adam Remmele dient. Die Badischen Neuesten Nachrichten dokumentierten am 16. Mai 1983 die Erinnerungen von Elisabeth Lunau-Marum »Schutzhaft«: Ein Instrument der Macht Die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat (»Reichstagsbrandverordnung«) vom 28. Februar 1933 beseitigte die Grundrechte: Auf Grund des Artikels 48 Abs. 2 der Reichsverfassung wird zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte folgendes verordnet: einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig. (…) Berlin, den 28. Februar 1933 §1 Die Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 der Verfassung des Deutschen Reichs werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, Der Reichspräsident: von Hindenburg Der Reichskanzler: Adolf Hitler Der Reichsminister des Innern: Frick Der Reichsminister der Justiz: Dr. Gürtner ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 1 – A 4 ◗ Beschreibt und analysiert das Foto der »Schaufahrt« in A 1. Was wird daraus ersichtlich? ◗ Mit welchen Mitteln arbeiten die Organisatoren der »Schaufahrt«? Beurteilt die Ziele, die damit verfolgt werden. ◗ Vergleicht die Darstellung von Elisabeth Lunau-Marum (A 3) mit der in der Zeitung »Hakenkreuzbanner« (A 2). Welche Einzelheiten werden jeweils genannt? Welche Ab- 24 sichten leiteten die Verfasserin bzw. die Verfasser? ◗ Recherchiert die Vorgänge, die zur sogenannten »Reichstagsbrandverordnung« führten. Welche Bedeutung hatte § 1 der Verordnung für den einzelnen Bürger? ◗ Recherchiert und fasst in eigenen Worten kurz zusammen, was die »Ewigkeitsklausel« für die Grundrechte im Grundgesetz bedeutet. Politik & Unterricht • 3-2008 A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror A5 Ein Konzentrationslager für Württemberg: Heuberg bei Stetten am kalten Markt Der »NS-Kurier« berichtete am 16. März 1933 unter der Überschrift »Ein Konzentrationslager für KPD-Arbeiterverräter« von der Einrichtung des Lagers auf dem Heuberg bei Stetten am kalten Markt: Der Polizeikommissar »hat 100 Mann SA auf den Heuberg beordert, die dort das Konzentrationslager vorbereiten, in dem die Kommunistenführer Gelegenheit haben werden, sich zum ersten Mal in nützlicher Arbeit für das Wohl der schaffenden Volksschicht zu betätigen.« Schon Ende März 1933 waren es 1.500, eine Woche später rund 2.000 Gegner der Nationalsozialisten, die hier eingepfercht und terrorisiert wurden. Bereits Ende 1933 musste das völlig überfüllte Lager geschlossen werden. Bis Mitte 1935 wurde das Lager Heuberg durch das Konzentrationslager in der Festung Oberer Kuhberg bei Ulm ersetzt. Dann wurden die Häftlinge in das Konzentrationslager Dachau bei München verbracht. letzten Woche allein 200 KPD-Funktionäre festgesetzt. Wie wir hören, wurden in ganz Württemberg einschließlich Stuttgart rund 500 Personen in Schutzhaft genommen. Die Stuttgarter »Süddeutsche Zeitung« berichtete schon am 14. März 1933 erstmals von dem Plan, in Württemberg ein Konzentrationslager einzurichten: Süddeutsche Zeitung vom 14. März 1933 Eine genaue Zusammenstellung der Polizei liegt noch nicht vor. Die Zahl der Verhaftungen wird sich jedoch eher erhöhen als vermindern. Die Verhafteten sind auf die verschiedenen Anstalten des ganzen Landes verteilt. Wahrscheinlich werden sie dann in Konzentrationslagern untergebracht, wo sie, statt das deutsche Volk zu versetzen, wieder arbeiten lernen müssen. Der vorstehende Erlaß des Polizeikommissars für Württemberg zeigt deutlich, daß die Aktion gegen die marxistischen Verbände noch lange nicht abgeschlossen ist. Hoffentlich wird das aufgefundene Material auch der Öffentlichkeit bekanntgegeben, damit jedermann sehen kann, wie notwendig dieser scharfe Angriff auf die marxistischen Positionen war. Es ist eine Riesenaufgabe, die die Polizei in diesen Tagen zu bewältigen hat. Die Marxisten beider Couleur haben sich auf die Reservestellungen zurückgezogen. Meist bestehen diese Reservestellungen aus nach außen harmlos klingenden Vereinen und Verbänden, die durch Personalunion miteinander verbunden sind. Wollte die Polizei die Köpfe dieser bolschewistischen Hydra abschlagen, dann mußte sie ganze Arbeit leisten und mußte alle Kommunistenführer verhaften. Diese Aktion ist dann auch mit überraschender Schnelligkeit im ganzen Lande durchgeführt worden. In Stuttgart wurden, wie wir bereits berichtet haben, zum Schluß der A6 Das Konzentrationslager Oberer Kuhberg in Ulm DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 96 Das Foto zeigt den Zugang zum Konzentrationslager Oberer Kuhberg am 1. Mai 1934. Auf der Spruchtafel ist zu lesen: »Gestern Hunger und Not, heute Arbeit und Brot«. Das Eingangstor im Zaun wurde entfernt. Weiter rechts, auf dem Foto nicht sichtbar, befand sich ein Schilderhäuschen mit einem Wachmann. Politik & Unterricht • 3-2008 25 A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror A7 »... und sollt es durch die Hölle gehn« DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 82 Das Foto (aufgenommen um 1968) zeigt den Eingang zu den Mannschaftsquartieren im Inneren des Forts Oberer Kuhberg. Die Inschrift über dem Tor lautet: »Wir werden hinter Hitler stehn, und sollt es durch die Hölle gehn.« Sie war auch für die KZ-Häftlinge sichtbar. 1970 wurde sie entfernt. A8 Stationen zur Hölle DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 83 Julius Schätzle (1905 – 1988) Julius Schätzle war von Weihnachten 1933 bis Pfingsten 1934 Häftling im KZ Oberer Kuhberg. 1974 schilderte er im Rückblick die Eindrücke der Häftlinge bei der Ankunft: mit jedem Schritt, daß schon lange kein Mensch mehr diese Unterwelt betreten hatte. Mit dem üblichen Geschrei und mit Fußtritten wurden die Häftlinge in den düsteren Wehrgang hinuntergetrieben. Was sich hier auftat, läßt sich mit Worten kaum schildern. Der Laufgang ist 3,75 Meter hoch, und in regelmäßigen Abständen erweitert er sich zu Räumen von 3,75 mal 3,95 Meter. In diesen Räumen war jeweils eine Schießscharte von 65 mal 15 Zentimeter, die einen Schimmer von Tageslicht, aber auch Ratten, Mäusen und Fledermäusen Einlaß gewährte. In den Gewölben hingen ganze Trauben von Fledermäusen. Ununterbrochen tropfte es von den nackten Steinquadern. Der Lehmboden war aufgeweicht, schlüpfrig und mit Wasserlachen bedeckt. Die Häftlinge waren sich einig: Hier werden wir lebendig begraben. (...) Julius Schätzle: Stationen zur Hölle. Konzentrationslager in Baden und Württemberg 1933 – 1945, Bibliothek des Widerstands, 2. Auflage, Frankfurt/M. 1980, S. 29 f. Ende November 1933 wurden vom Konzentrationslager Heuberg die Häftlinge auf zwei offenen Lastwagen nach Ulm gebracht und vor dem Fort Oberer Kuhberg ausgeladen. Die angekommenen Häftlinge hatten weder Sinn noch Zeit für die schöne Aussicht auf das Donautal. Jeder stellte sich die Frage: Unter welchen Bedingungen werden wir weiter in Haft bleiben? Das verwilderte Fort mit seinem dicken Kommandoturm, den Mauern mit den schmalen Schießscharten wirkte düster und verhieß neues Unheil. Hier sollten Menschen überwintern? Die verschlossenen und verrosteten Eisentore konnten nur mühsam geöffnet werden. Ein muffiger, feuchter Modergeruch drang aus den Tiefen der Kasematten. Die Stufen nach unten waren naß und glitschig, man spürte 26 Politik & Unterricht • 3-2008 A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror Kleiderappell und »Sport« DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 97 DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 100 A9 Das Foto zeigt einen Häftlingsappell im Konzentrationslager Heuberg. Das Foto stammt aus der Zeitung »NS-Kurier« vom 13. April 1933. Wilfried Acker (1908 – 1979), 1933 Leiter des KPD-Unterbezirks Schwenningen-Rottweil, wurde am 10. März 1933 verhaftet. Am 20. März wurde er auf den Heuberg gebracht, von dort im Dezember 1933 auf den Oberen Kuhberg in Ulm. Seine Entlassung erfolgte am 28. September 1934. 1935 gelang ihm die Emigration in die Schweiz. Acker war nach 1945 Abgeordneter der KPD in der Beratenden Landesversammlung und im Landtag von Württemberg-Hohenzollern. Von 1951 bis 1955 lebte er in der DDR, anschließend in Stuttgart, wo er für die DKP (Deutsche Kommunistische Partei) tätig war. Seine Frau Paula war ebenfalls KPD-Politikerin. Seinen Bericht verfasste er am 28. Oktober 1955. »Ich entsinne mich, als wir einen Sonntag zum Kleiderappell antreten mußten. Zur damaligen Zeit bestand unsere Bekleidung aus alten Uniformen der Berliner BVB [Berliner Verkehrsbetriebe], mottenzerfressenen, marengoschwarzen Anzügen. Buck* selbst nahm den Kleiderappell ab, betrachtete sie nicht etwa nach der Sauberkeit, sondern faßte bei jedem einen Zipfel der Jacke und stellte fest, daß keiner ordentlich seinen Anzug gereinigt habe. Alle Häftlinge verstanden diesen satanischen Wink. Wir mußten uns in unsere Bunker begeben mit der Anweisung, in einer halben Stunde Häftlinge in Straßenbahnuniformen beim Hofgang, beaufsichtigt von Wachmännern in Uniformen der SA bzw. der Schutzpolizei (1934). zum Appell wieder zu erscheinen. Es blieb uns nichts anderes übrig, denn das war der Sinn des Appells, als unsere Anzüge in Wasserkübel zu tauchen und uns tropfnaß im Anschluß daran dem Kleiderappell zu stellen. Buck schritt die Front ab, faßte die einzelnen Kleidungstücke an, sagte selbstzufrieden: »So, warum geht‘s denn jetzt?« und zog wieder ab. Die Häftlinge saßen dafür den ganzen Sonntag unbeweglich in den feuchtkalten unterirdischen Katakomben mit nassen Kleidern, denn mehrere Kleider hatten sie nicht. Ähnlich war es beim sogenannten Sport, der immer dann befohlen wurde, wenn draußen regnerisches Wetter war. Die Häftlinge mußten dann auf allen Vieren in dem nassen, lehmigen, hügeligen Gelände herumkriechen, bis alles von oben bis unten verschmutzt war. Dann war der »Sport« beendet und kurz darauf wurde dann zum Kleiderappell befohlen.« * Karl Buck war Kommandant des KZ Oberer Kuhberg (vgl. A 12) Zitiert aus: Silvester Lechner: Das KZ Oberer Kuhberg und die NS-Zeit in der Region Ulm/Neu-Ulm, Stuttgart 1988, S. 53 f. ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 5 – A 9 ◗ Wie werden die politischen Gegner der Nationalsozialisten in den beiden Zeitungsartikeln (A 5) charakterisiert? Beurteilt die mit derartigen Veröffentlichungen verbundenen Zielsetzungen. ◗ Diskutiert die Absichten der Nationalsozialisten, die mit dieser Gestaltung des Eingangsbereichs des Oberen Kuhbergs (A 6) verfolgt wurden. Politik & Unterricht • 3-2008 ◗ Beschreibt anhand von A 6, A 7 und A 8 den Ort »Oberer Kuhberg«. Welche Überzeugungen und Einstellungen der Nationalsozialisten sind daran ablesbar? ◗ Was sagt die Kleidung der Häflinge (A 9) über deren Situation und über das System der Konzentrationslager aus? Welche Motive leiteten den Lagerkommandanten bei einer solchen Behandlung der Häftlinge? 27 A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror A 10 »Schutzhaft« aus politischen Gründen: Alfred Haag Silberburg-Verlag, Tübingen Presseausweis der »Süddeutschen Arbeiter-Zeitung« für Alfred Haag um 1930. Alfred Haag (1904 – 1982), gelernter Schreiner, seit 1921 Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes (KJVD) und seit 1925 Mitglied der KPD. 1931 Geschäftsführer beim Stuttgarter Verlag der »Süddeutschen Arbeiter-Zeitung«, 1932 jüngster Abgeordneter im württembergischen Landtag. Haag zeigte sich vor 1933 als kämpferischer Nazigegner. Am 11. Februar 1933 war er nach NSDAP-Wahlveranstaltungen in Mutlangen und Lindach (Oberamt Gmünd) in tätliche Auseinandersetzungen, wohl auch in Schießereien verwickelt. Am 12. Februar 1933 wurde er mit 76 weiteren Anhängern der KPD verhaftet. Ende April 1933 wurde er wegen »Landfriedensbruch« und als »Rädelsführer« vom Landgericht Ellwangen zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung der regulären Haft wurde er als »Schutzhäftling« ins KZ Oberer Kuhberg in Ulm eingewiesen. Lina Haag schrieb 1944 ihre Erinnerungen in Form eines Briefes an ihren Mann auf. Aus dem daraus entstandenen, 1947 erstmals veröffentlichten Buch sind die folgenden Passagen: »Du bist noch immer in den Kuhbergkasematten. Lagerkommandant ist der berüchtigte Buck. Mehr weiß ich nicht. Ich suche Leute auf, die dort waren. Vielleicht kann man irgendetwas unternehmen. Wenn man bloß einen Brief durchschmuggeln könnte. Die Genossen verstummen, wenn ich davon spreche, und schauen sich ängstlich um. An den bürgerlichen Stammtischen nennt man dieses ängstliche Umschauen den »deutschen Blick«, ein vielbelachter Witz. Ein Witz, der wirklich gelungen ist. Viele erzählen nichts, so restlos ist dieser Witz gelungen. Sie unterschrieben, wonach sie sich jeder Äußerung über das Lager zu enthalten haben. Bei Zuwiderhandlung ist sofortige Verhaftung und strengste Bestrafung zu gewärtigen. Deshalb schweigen sie. Nicht, weil sie unterschrieben, sondern aus Furcht vor dem Tode.« [Für kurze Zeit wird Alfred Haag freigelassen, um dann sofort wieder festgenommen zu werden. Ein Kamerad berichtet Lina Haag über die erneute Ankunft ihres Mannes auf dem Oberen Kuhberg:] 28 »Man führte dich im Triumph ins Lager zurück. Buck hatte zu deinem Empfang die Gefangenen im Hof antreten lassen. Du wurdest gefesselt vorgeführt. Buck hielt eine Ansprache. Du hättest in Stuttgart Lügen verbreitet über die schlechte Behandlung der Leute im Lager. Du hättest beim Justizminister zu behaupten gewagt, die Leute würden hier mißhandelt und geprügelt. Du hättest Dienststellen vorgelogen, daß sogar er, der Lagerkommandant, die Gefangenen schlagen würde. Ob das wahr wäre, frage er. Ob einer da wäre, der das zu behaupten wage, frage er. Als du dazwischenrufen wolltest, schlug er dir die Reitpeitsche ins Gesicht. Es meldete sich kein Mensch. Vielleicht war es gut so, sonst hätte dich Buck bestimmt zu Tode geprügelt. Robert Ditter, dein guter Kumpel, hatte in der Nacht vorher einen Holzkäfig bauen müssen. In diesem Käfig wurdest du gefesselt eingesperrt. Es gab Nazis, die sich einen Spaß daraus machten, dich durch die Gitter anzuspucken. Nach einigen Tagen wurdest du nach Ulm ausgeborgt, damit auch Bucks Freunde ihren Spaß an dir hätten. Den Vorsteher des Ulmer Landgefängnisses hattest du früher einmal im Landtag wegen Gefangenenmißhandlung angeprangert. Außerdem war dieser Mensch im Ersten Weltkrieg von Frankreich wegen Mißhandlung von Kriegsgefangenen als Kriegsverbrecher unter Anklage gestellt worden. Zu diesem Menschen kamst du nun. Was dort mit dir geschah, war im Lager unbekannt. Jedenfalls erschrak man dort über dein Aussehen, als du von Ulm zurückkamst. Nun steckte man dich in Dunkelhaft. Diese Dunkelhaft bestand aus einer ausgehobenen Grube, über die Bohlen gelegt waren. Es war ein beliebter Sport der SA-Leute, mit ihren Motorrädern über diese Grube zu fahren, denn dann spritzte dir der nasse Dreck ins Gesicht. Es regnete auf dich herab und gefror an dir. Die Kameraden schmuggelten unter Lebensgefahr Brotrinden in deinen Klokübel. Liebster, Ärmster!« Lina Haag: Eine Hand voll Staub. Widerstand einer Frau 1933 bis 1945, Silberburg-Verlag, Tübingen 2004 [erstmals 1947], S. 23 f. und 33 f. Politik & Unterricht • 3-2008 A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror A 11 »Schutzhaft« aus konfessionellen Gründen: Alois Dangelmaier DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 60 Alois Dangelmaier, (1889 – 1968), aufgenommen Ende der 1920er Jahre nisten eine heilige Weihe gelesen. Zwischen ihm selbst oder der Einwohnerschaft Metzingens und den hingerichteten Kommunisten bestehen nachgewiesenermaßen keinerlei Beziehungen. Er hat ferner in der Christenlehre, die sich an den Gottesdienst anschloß, den Kölner Fall in vollkommen einseitiger Weise mit den Kindern erörtert. Er hat anläßlich seiner Vernehmung durch einen höheren Beamten der Württ. Politischen Polizei zugegeben, daß er selbst den Kölner Fall als eine hochpolitische Angelegenheit ansehe. Die gegen ihn verhängte Inschutzhaftnahme war auf Grund dieser Vorkommnisse, die von ihm mündlich bei seiner Vernehmung und über dies in einem von ihm bei der Württ. Politischen Polizei eingereichten Schriftsatz bestätigt worden sind, notwendig geworden. 1913 Priesterweihe, 1914 Garnisonsvikar, 1920 Vikar in Ulm, 1925 in Ravensburg, 1926 katholischer Stadtpfarrer in Metzingen. Dangelmaier gehört zum engeren Kreis um den württembergischen Staatspräsidenten Eugen Bolz (Zentrum). Im Herbst 1933 liest Dangelmaier in Metzingen für sechs am 30. November 1933 in Köln hingerichtete Kommunisten eine Totenmesse und spricht darüber im Religionsunterricht; hierfür wird er vom 5. Januar bis 20. Februar 1934 im KZ Oberer Kuhberg in »Schutzhaft« genommen. Nach der Entlassung folgen kirchliche Aushilfsdienste, eine Bewerbung um die Pfarrstelle in Bad Urach wird abgelehnt. Ab August 1935 bis 1956 ist er Pfarrer in Oeffingen, einer seinerzeit katholischen Enklave nordöstlich von Stuttgart. 1936 steht Dangelmaier hinter dem öffentlichen Protest Oeffinger Frauen gegen die Einführung der »Deutschen Schule« und das Verbot des Religionsunterrichts. 1937 wird ihm verboten, Religionsunterricht in Schulen zu erteilen. Insgesamt wird er 16 Mal von der Gestapo verhört, so auch 1944, weil er auf einem Vordruck für die Ausfertigung eines Stammbaumes die Grußformel »Mit deutschem Gruß« durchgestrichen hatte. Zeitnah zu der Verhaftung Dangelmaiers erfolgte die des katholischen Pfarrers Josef Sturm aus Waldhausen (Landkreis Ulm), der sich in einer Predigt kritisch gegen das NS-Regime geäußert hatte. Am 19. Januar 1934 schrieb der »Staatsanzeiger für Württemberg«, eine regierungsamtliche Zeitung, hierzu: Bereits in der Veröffentlichung vom 5. Januar 1934 war ausgeführt worden, daß in Folge der Gesamthaltung der beiden Geistlichen, die durch die oben erwähnten Vorgänge lediglich charakterisiert, aber keineswegs erschöpfend dargestellt sein soll, die Erregung in der Öffentlichkeit in einem außerordentlichen Maße gestiegen war. Zur Abwendung einer weitergehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung war schließlich ihre Inschutzhaftnahme notwendig geworden. Trotz dieser eindeutigen Tatbestände und trotz der eindringlichen Verwarnung wagen es verblendete Kreise, die Maßnahmen der Württ. Politischen Polizei zum Anlaß zu nehmen, weiterhin eine lebhafte gegnerische Tätigkeit zu entfalten. So wird der Versuch gemacht, die beiden in Verwahrung genommenen Geistlichen als die unschuldigen Opfer einer »bösartigen Verleumdung« hinzustellen, obwohl die von den amtlichen Stellen geführten Untersuchungen ergeben haben, daß die ihnen zum Vorwurf gemachte zersetzende Tätigkeit den Tatsachen entspricht und obwohl beide von den zuständigen Stellen auch die schwerwiegendsten der ihnen zur Last gelegten Verstöße selbst eingestanden haben. Jeder Versuch, die beiden Geistlichen als unschuldig oder als Opfer einer »kirchenfeindlichen Willkür« hinzustellen, kann daher nur als eine bewußte Untergrabung der Staatsautorität angesehen und muß entsprechend verfolgt werden. Die Württ. Politische Polizei hat sich daher genötigt gesehen, gegen derartige Saboteure der staatlichen Ordnung und Sicherheit weitere Maßnahmen durchzuführen. (...) (...) Stadtpfarrer Dangelmaier hat in der katholischen Kirche in Metzingen für die sechs in Köln hingerichteten Kommu- Staatsanzeiger für Württemberg vom 19. Januar 1934 ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 10 – A 11 ◗ Beschreibt die Vorgehensweise des Lagerkommandanten Buck gegen Alfred Haag (A 10). Welche Zielsetzungen lassen sich daran erkennen? ◗ Stellt – ausgehend von A 10 – Überlegungen an zu den Auswirkungen der KZ-Haft von Alfred Haag auf seine Familie sowie auf seinen Kollegen- und Freundeskreis. ◗ Erläutert den »Witz« über den »deutschen Blick«. Politik & Unterricht • 3-2008 ◗ Recherchiert im Internet den weiteren Lebenslauf von Alfred Haag und seine Tätigkeit nach dem Krieg. Fertigt eine Präsentation zur Biographie Alfred Haags an. ◗ Erläutert das »Verbrechen«, das Stadtpfarrer Dangelmaier zur Last gelegt wird (A 11). Welche Mittel und Methoden des NS-Regimes werden hier ersichtlich? 29 A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror A 12 Aus der Mitte der Gesellschaft: Der Lagerkommandant Karl Buck DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 90 kommt Buck im Zuge der deutsch-französischen Aussöhnung durch die erfolgte Entlassung der Kriegsgefangenen frei. Sein Antrag auf Entschädigung für erlittene Haft wird von der Entschädigungskammer Stuttgart abgelehnt. Bis zu seinem Tod lebt er in Rudersberg, wenige Kilometer von Welzheim entfernt. Wegen seiner bereits verbüßten Strafe kann er aufgrund alliierter Vorschriften in Deutschland nicht mehr gerichtlich verfolgt werden. Wilfried Acker, KPD-Politiker und Häftling im KZ Oberer Kuhberg, schreibt in seinen Erinnerungen über die Rolle und Verantwortlichkeit von Karl Buck: Karl Gustav Wilhelm Buck (1894 – 1977): Geboren in Stuttgart, 1910 Mechanikerlehre in Esslingen, 1913 Militärdienst (Offizierslaufbahn), 1914 – 1918 Fronteinsatz, 1919 als Oberleutnant entlassen. Ingenieursstudium, danach Arbeit in Portugal und Chile. Durch einen Arbeitsunfall in Chile verliert er 1930 ein Bein, Rückkehr nach Deutschland, Eintritt in die NSDAP, Mitglied der SA, Kreisleiter der NSDAP in Welzheim; 1933 – 1940 Kommandant der württembergischen Konzentrationslager Heuberg, Oberer Kuhberg, Welzheim, ab 1940 des KZ Schirmeck-Vorbruck im Elsass. 1945 verhaftet. Französische und englische Gerichte verurteilen ihn wegen seiner Verbrechen als KZ-Kommandant insgesamt drei Mal zum Tode. Die Urteile werden nicht vollstreckt. 1955 A 13 »Es sei von vornherein schon festgestellt, daß bei der Behandlung der Gefangenen der Lagerkommandant Buck in den meisten Fällen nicht selbst anwesend war, er aber andererseits, wie durch viele Begebenheiten festgestellt werden konnte, der ausschließlich Verantwortliche war, wenn seine Untergebenen Gefangene mißhandelten oder schikanierten. Es gab Zeiten, während denen die Wachmannschaften im Konzentrationslager sowohl auf dem Heuberg wie auf dem Kuhberg durchaus erträglich waren, das heißt die Mißhandlungen und Schikanen waren relativ selten. Bis dann wieder bei einem Rapport der Lagerkommandant Buck seine Untergebenen aufdrehte, scharfmachte, dann pfiff wieder für lange Zeit ein scharfer Wind.« Zitiert nach Silvester Lechner: Das KZ Oberer Kuhberg und die NS-Zeit in der Region Ulm/Neu-Ulm, Stuttgart 1988, S. 53 Nach dem »Dritten Reich«: Karl Buck in Rudersberg Im Jahr 1955 verteilten ehemalige Häftlinge des KZ Oberer Kuhberg in Rudersberg bei Welzheim, dem Wohnort Bucks, ein Flugblatt. Darin hieß es: »Seit sich im September vergangenen Jahres der berüchtigte KZ-Kommandant Karl Buck als biederer »Spätheimkehrer« in Rudersberg niedergelassen hat, ist ein neuer Schatten über die Gemeinde gekommen. Rudersberg und Welzheim sind zwei von jenen vielen Städten, an denen Buck im 3. Reich sein grausames Handwerk der Misshandlung von wehrlosen Häftlingen ausgeübt hat. Die Anwesenheit des Karl Buck wird daher von vielen Bürgern als Schandfleck empfunden. (...) Alle Versuche, [seine Verbrechen] zu vertuschen und diesen Unhold mit Emblemen des Christentums zu tarnen, müssen deshalb jeden Menschen empören. Wohl meidet Buck im Bewußtsein seiner Verbrechen bis jetzt noch die Öffentlichkeit. Statt dessen aber lassen sich hohe Herren der evangelischen Kirchenleitung von Buck empfangen und bewirten. Herr Buck, der 12 Jahre lang jegliches menschliche Gefühl vermissen ließ, zeigt plötzliche fromme Anwandlungen und besucht den Gottesdienst. Wir mißtrauen diesem Wolf im Schafspelz! Gewaltmensch bleibt Gewaltmensch! Es ist eine selbstverständliche Pflicht aller anständigen Bürger, sich vor solchen Unmenschen zu schützen. Es ist deshalb auch ein einfaches Gebot der Gerechtigkeit, KZ-Kommandant Buck hinter Schloß und Riegel zu setzen. (...)« Archiv der DZOK Ulm ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 12 – A 13 ◗ Formuliert selbst eine Anklageschrift gegen Karl Buck (A 12, A 8 – A 10). ◗ Wie lässt sich das öffentliche Vorgehen der ehemaligen Häftlinge erklären (A 13)? 30 ◗ Recherchiert die Bedingungen der Nachkriegszeit, die dazu führten, dass Täter wie Karl Buck nicht vor Gericht gestellt und verurteilt wurden. Politik & Unterricht • 3-2008 A • Die frühen Konzentrationslager: Machtausbau durch Terror A 14 Gedenken und Erinnern heute Erinnerung an das Konzentrationslager Kislau Anette Hettinger Ludwig Marum wurde in der Nacht zum 29. März 1934 in seiner Zelle von KZ-Aufsehern ermordet. Im Hof von Schloss Kislau erinnert daran ein Gedenkstein. Die Inschrift lautet: »Während Naziterror die Freiheit in Ketten legte, war in Schloss Kislau ein Konzentrationslager – eine Stätte der Unterdrückung für Andersdenkende. Ludwig Marum fand hier in seiner Zelle am 29. März 1934 den gewaltsamen Tod. Dieses Zeichen wurde zur 50-jährigen Wiederkehr seiner Ermordung errichtet.« Die Ausstellung im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg in Ulm DZOK Ulm Beim Betreten der Ausstellung in der Ulmer KZ-Gedenkstätte werden die Besucher in Leuchtschrift mit den Worten empfangen: »Die Würde des Menschen ist unantastbar« (Art. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland). ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 14 ◗ Vergleicht die Formen des Gedenkens in Kislau und Ulm. Was war den jeweiligen Gestaltern der Gedenkstätten wichtig? ◗ Falls Ihr selbst in einer der Gedenkstätten wart: Überlegt Euch in Gruppenarbeit, wie Ihr selbst eine Gedenkstätte oder ein Mahnmal für das KZ Kislau, für Ludwig Marum oder für den Oberen Kuhberg in Ulm gestalten würdet. Politik & Unterricht • 3-2008 ◗ Sammelt Argumente und erörtert, warum der Satz »Die Würde des Menschen ist unantastbar« im Eingangsbereich im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg gezeigt wird. ◗ Warum haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland diesen Satz zum Artikel 1 des Grundgesetzes gemacht? 31 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord Materialien B 1 – B 17 Nachbarschaften in Sulzburg Freundeskreis Ehemalige Synagoge Sulzburg e.V. B1 Sulzburg 1910 – 1940, dargestellt in einem Lageplan von 2004 (Ausschnitt). Häuser, die Juden gehörten, erschei- 32 nen hier dunkel, von jüdischen Mitbewohnern angemietete Wohnungen schraffiert. Politik & Unterricht • 3-2008 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord B2 Die Synagoge in Sulzburg Stadtarchiv Sulzburg Stadtarchiv Sulzburg Die Synagoge in der Gustav-Weil-Straße im badischen Sulzburg. Die Gesetzestafeln auf dem Dachgiebel sind eines der öffentlich sichtbaren Erkennungszeichen von Synagogen. B3 Das »verträgliche Zusammenleben« zwischen Juden und Christen in den »Judendörfern« Jacob Picard (1883 – 1967), Rechtsanwalt und Schriftsteller aus Wangen am Bodensee, beschrieb in seinem Werk das Leben des süddeutschen Landjudentums. Die »Erinnerungen eigenen Lebens«, aus denen die folgenden Abschnitte sind, entstanden 1937, wurden aber später ergänzt: Wenn ich von »Judendörfern« sprach, so ist das eine Bezeichnung, die allgemein und ohne irgend einen herabsetzenden Sinn gebraucht wurde, obwohl diese Siedlungen im wesentlichen aus nichtjüdischen Menschen bestanden, unter die wir verstreut waren; es war lediglich eine Charakterisierung zum Unterschied von den Nachbardörfern, die ausschließlich von christlichen Menschen bewohnt waren, zu denen wir aber gewöhnlich in wirtschaftlichen Beziehungen standen. (...) Einige Dutzend jüdischer Familien wohnten in unserem Dorf während meiner Jugend, mit etwa hundert Menschen unter den ungefähr achthundert im ganzen, und es war eine Gemeinschaft besonderer Art mit den bäuerlichen alemannischen Nachbarn katholischen Glaubens. (…) So waren wir ein ungeschwächtes, aufrechtes Volk im Dorfe. (...) Wenn wir uns auch der Verschiedenheit bewußt waren, ja überheblich uns für besser hielten, weil wir den rechten Glauben hatten – mein Großvater, von seiner ganzen Haltung abgesehen, war mir früh ein Beispiel, denn er sprach davon – so fühlten wir doch andererseits Einheit mit ihnen; waren wir nicht alle Deutsche? Und sie achteten uns darum, auch weil sie uns physisch nicht für minderwertig hielten, was bei einfach denkenden Menschen immer als Maßstab gilt. (...) Seit hundert und mehr Jahren her haben die Väter in unserem engeren und weiteren Familienkreis den Viehhandel als Beruf gehabt, wie eben allenthalben in den deutsch-jüdischen Landsiedlungen bis vor drei Generationen, da man in die Städte zu ziehen begann nach der Vollemanzipation; in manchen Politik & Unterricht • 3-2008 Teilen auch war es ein kleiner Hausierhandel. Das Geschäft wurde bei uns in solider kaufmännischer Weise betrieben mit bäuerlichen Kunden, die einer bestimmten Familie dauernd treu blieben, und es war verbunden mit der Bebauung von beachtlichem Grundbesitz, der von uns selbst bewirtschaftet wurde; eigene Äcker, Weidewiesen, Obstbäume und Gärten, ja Weinberge gaben das Gefühl der Bodenständigkeit und des heimatlichen Verwachsenseins. (...) Meine Vorfahren (...) wanderten durch die Jahreszeiten sommers und winters, durch die heimisch vertraute Landschaft an den Wochentagen in ihr »Gai«, den Gau, in dem jede Familie ihr Geschäft trieb ungestört von den anderen in strenger Abgrenzung. Vieh kaufend oder verkaufend auf den Höfen, deren Besitzer ihnen vertraut, ja Freunde waren vom Vater zum Sohn, und niemals geschah es, daß einer in den Bezirk des andern übergriff. Dabei ist bemerkenswert, daß niemand Handel trieb mit den Bauern unseres eigenen Dorfes, oder nur ausnahmsweise, so daß es niemals Konflikte gab zwischen Schuldner und Gläubiger; welch ein kluges Gesetz war das von den Alten her. Doch half man sich immer da und dort im Betrieb. (...) Bei allem Bewußtsein der Unterschiede lebten wir mit den christlichen Nachbarn friedlich zusammen. Sie nannten uns nicht Juden, sondern »d‘Hebräer« ohne irgendwelche Gehässigkeit, sofern überhaupt diese Unterscheidung gemacht wurde. Wir Kinder gingen in die gemeinsame Volksschule des liberalen Landes Baden, Jungen wie Mädchen in die selben Klassen und hatten nur den Religionsunterricht getrennt. (...) Darum ergab sich auch das verträgliche Zusammenleben (...). Jacob Picard: Werke, hrsg. von Manfred Bosch. Libelle Verlag, Lengwil am Bodensee 1996 (ISBN 978-3-909081-48-7), hier Teil II, S. 172, 176, 179, 183 f., 193, 251 33 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord B4 Assimilation und Integration Stadtarchiv Sulzburg Jüdische Männer aus Sulzburg auf einem Foto, das während des Ersten Weltkriegs aufgenommen wurde. Sitzend Kantor und Religionslehrer Hermann Marx, später Kantor in Pforzheim, und der Gemeindevorsteher Gustav Bloch. Stadtarchiv Sulzburg Der gemischte Chor »Frohsinn«, dem Juden und Christen angehörten, bei einem Ausflug, aufgenommen um 1930. Zentral stehend mit Schlips und Schnurrbart: Zahnarzt Gustav Bloch, der Vorsitzende des Vereins. Dritter von rechts (sitzend): Alfons Kind, Chorleiter seit 1923 und von 1925 bis 1932 Volksschullehrer in Sulzburg. ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 1 – B 4 ◗ Juden und Christen lebten in Sulzburg in enger Nachbarschaft. Überlegt gemeinsam, was das für den alltäglichen Umgang miteinander bedeutete. ◗ Analysiert und interpretiert die beiden Fotos in B 2. Was wird daraus ersichtlich? 34 ◗ Beschreibt das Verhältnis von Juden und Christen in den sogenannten Judendörfern, wie es Jacob Picard in B 3 schildert. Welche besondere Rolle spielte dabei der Viehhandel? ◗ Was sagen die Fotos in B 4 über das Selbstverständnis der jüdischen Männer und Frauen aus? Politik & Unterricht • 3-2008 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord B5 Juden- und Christenkinder Stadtarchiv Sulzburg Die Sulzburger Schulklasse des Geburtsjahrgangs 1923 und 1924 mit jüdischen und christlichen Kindern. In der zweiten Reihe die zweite Schülerin von links: Hermine Kahn; die vierte und fünfte von links: Paula und Ruth Kahn. Rechts im Hintergrund: Lehrer Oskar Walter. Dorothea Steinhäussler (1902 – 1981), aus der wohlhabenden christlichen Weinhändlerfamilie Steinhäussler, berichtete in einer Sendereihe des Südwestfunks BadenBaden (1980/81) über das Verhältnis zwischen christlichen und jüdischen Kindern: »Da hat man mit den Kindern gespielt. Da waren die Judenkinder dabei. Im zweiten Schuljahr zum Beispiel bin ich neben der Bertel Bloch gesessen und habe bei ihr meinen Namen hebräisch schreiben gelernt. Wir hatten Unterricht damals – zweites und drittes Schuljahr – von Herrn Lehrer Bruchsaler [einem Juden]. (...) Der Herr Bruchsaler war ein feiner Herr. (...) Er mußte am Freitag schon das Programm für den Samstag auf die Tafel schreiben, auch das, was abgeschrieben werden mußte, weil er ja am Samstag, am Schabbes*, nicht schreiben durfte. Die Judenkinder waren nicht anders wie wir selber, wie wir andern auch. Ein Unterschied war, daß sie am Samstag auch nicht schreiben durften und auch sonst nichts tun durften. (...) Wir haben viel auf der Straße gespielt. Und das ganze Leben hat sich vor 1914/18 auf der Straße abgespielt. (...) Dann gab‘s aber noch die Feiertage. Da war der größte der ›Lange Tag‹**. Der ›Lange Tag‹ hatte für uns Schulkinder den Vorteil: Da durften wir hinten im Vorraum der Synagoge stehen und zuschauen. Dementsprechend durften dann die Judenkinder an Weihnachten in die Evangelische Kirche. Das war also so ein Abkommen. (...) Und da gab‘s eine alte Frau. Das war die ›schöne Berta‹. Und die stand [am Schabbat] auf unserem Schulweg. Mir war‘s verboten, aber ich hab‘s natürlich doch getan: Die stand dann da und hat dann gesagt: ›Zündsch mer net die Kerze an?‹ Oder: ›Duesch mer net mei Feuer mache?‹ Und das war dann sehr schön, kriegte man zehn Pfennig von ihr und hat ihr die Kerze angezündet oder in einem Kachelöfele ihr Feuer angemacht.« * Der »Schabbes« – Schabbat – ist ein heiliger Ruhe- und Feiertag, der ganz der Andacht und dem Gottesdienst gewidmet sein soll. Am Schabbat soll ein gläubiger Jude nicht arbeiten, nicht weit gehen und auch kein Feuer machen. ** Am »Langen Tag« (Versöhnungstag, Jom Kippur), dem höchsten jüdischen Feiertag, verbringen gläubige Juden einen großen Teil des Tages in der Synagoge. Bernd Michaelis: »Wenn wir auch nicht vergessen können ...« Aus der Geschichte der Juden von Sulzburg, in: Geschichte der Stadt Sulzburg Bd. III: Der Übergang zur Neuzeit, Freiburg 2005, S. 245 ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 5 ◗ Beschreibt das Zusammenleben christlicher und jüdischer Kinder in Sulzburg. Welche Ausswirkungen haben die unterschiedlichen Konfessionen auf das gemeinsame Leben? Wie gehen die Kinder mit den unterschiedlichen religiösen Vorschriften um? Politik & Unterricht • 3-2008 ◗ Beurteilt den Quellenwert des Zeitzeugenberichtes. Welche Faktoren haben die Darstellung von Dorothea Steinhäussler beeinflusst? 35 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord B6 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten: Nachbarschaften werden zerstört Eine geschichtswissenschaftliche Darstellung, die auf Interviews und zeitgenössischen Artikeln in der Tageszeitung »Der Alemanne. Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens« (Freiburg) beruht, beschreibt die Vorgänge in Sulzburg nach der NS-Machtübernahme: In Sulzburg wurde der jüdische Dentist Gustav Bloch, Vorstand des gemischten Chors »Frohsinn«, der bereits ein halbes Jahr zuvor im »Alemannen« beleidigt und bedroht worden war, zu nächtlicher Stunde, laut hörbar für die Nachbarn, aus seinem Haus entführt und auf einem Feld vor der Stadt schwer misshandelt. Drahtzieher der Aktion war möglicherweise der Berufskollege Erlay, der spätere Bürgermeister von Staufen, der Bloch am nächsten Tag in »Schutzhaft« nehmen ließ und den Überfall den Kommunisten zuschob. Gustav Bloch kam aus der Haft nur mit der Zusicherung frei, Deutschland zu verlassen. Er wurde 1944 Opfer der Deportationen aus Südfrankreich in die Vernichtungslager und starb in Auschwitz. Im Zuge der »Machtergreifung« wurde auch der jüdische SPDStadtrat Jeremias verhaftet, der nicht mehr nach Sulzburg zurückkehren durfte, sowie ein junger jüdischer Einwohner, der eine schwarz-weiß-rote Fahne beschmutzt aufgehängt haben soll. Unter dem Vorwand, Greuelnachrichten verbreitet zu haben, kam am 5. Mai 1933 der Vorsteher der Kehilla [der jüdischen Gemeinde], Simon Dukas (1884 – 1964), in Haft. Zwei Wochen lang wurde er in Freiburg festgehalten und verhört, danach für neun Monate aus Sulzburg verbannt. Er B7 bezog ein Pensionszimmer in Freiburg. »Isn‘t it incredible«, fragt der Sohn Max Dukas heute, »our family lived there since 1812 or even longer. Who are they to tell him that he is not allowed to go back to his hometown!« Ein Rechtsanwalt konnte dann die Aufhebung des Bannes erreichen. Simon Dukas und seine Familie konnten sich später nach Frankreich retten und überlebten die Verfolgungszeit. (...) Auch Christen wurden eingeschüchtert. Einmal mehr war es [am 17. März 1933] »Der Alemanne«, der hier mit Texten örtlicher Autoren Angst verbreitete. Dem angesehenen Apotheker Büche wurde bedeutet, er solle nicht mehr »allzu sehr nach seinen jüdischen Freunden sehen«, einem Herrn Kirchenmeier wurde nahegelegt, er »dürfte gut daran tun«, nicht mehr »zweifelhafte Elemente wie Gustav Bloch« in sein Haus zu lassen, einem weiteren Mann wurde mitgeteilt, er scheine »gar nicht einzusehen«, wie angenehm der »Genuß an rein arischem Fremdenverkehr« sei. Kaum verhohlen wurde die Drohung ausgesprochen, die Angesprochenen müssten mit eingeschlagenen Fensterscheiben rechnen. Überschrieben war der Artikel mit der Kopfzeile: »Eine letzte Mahnung an die Quertreiber aus Sulzburg«. Ulrich Baumann: Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862 – 1940, Hamburg 2000, S. 226 Leo Louis Kahn, Viehhändler in Sulzburg Leo Louis Kahn (1884 – 1942), aufgenommen vor 1937 Aug. 1922: Heirat mit Elfriede Baendel aus Ruda, Oberschlesien, Gemeindeschwester in Basel. Aus der Ehe gehen drei Töchter und ein Sohn hervor: Ruth (geb. 1923), Paula (geb. 1924), Marga (geb. 1927), Sally Josef (heute: Bezalel; geb. 1929). Stadtarchiv Sulzburg Nov. 1924: Leo Kahn übernimmt nach dem Tod des Vaters (Oktober 1923) das Elternhaus und bleibt mit seiner Familie dort wohnen; die Geschwister Lena Laura, Bella und Karoline behalten das Wohnrecht. 3. Jan. 1884: Leo Louis Kahn wird im Haus neben der Synagoge (heute Gustav-Weil-Str. 20) in Sulzburg als drittes von sieben Kindern des Viehhändlers Salomon Kahn (1851 – 1923) und seiner Frau Marie geb. Wormser (1858 – 1932), einer in Sulzburg seit mehr als 150 Jahren ansässigen Familie, geboren. 1914 – 1918: Leo Louis Kahn dient als Landsturmmann an der Weltkriegsfront. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg ist er vermutlich als Viehhändler tätig. 36 11. Okt. 1934: Der Schopfheimer NS-Kreisbauernführer droht: »Wenn aber Kahn angibt und glaubt, heute mit den Landwirten des hiesigen Gebiets in früherem Umfang Viehhandelsgeschäfte machen zu können, so muß ich dem die erfreuliche Tatsache entgegenstellen, daß der jüdische Viehhandel auch in meinem Kreise ganz gewaltig zurückgegangen ist. M(eines) E(rachtens) ist der Rückgang des Einkommens der jüdischen Viehhändler auch im hiesigen Kreise mit 75 (Prozent) nicht zu hoch bemessen, und ich bin überzeugt, daß auch Kahn trotz seiner Beliebtheit in dieser Angelegenheit keine Ausnahme machen könnte«. 15. Sep. 1935: Durch die Nürnberger Gesetze verliert Leo Kahn seine staatsbürgerlichen Rechte. Politik & Unterricht • 3-2008 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord Okt. 1937: Seine Gewerbelegitimationskarte wird eingezogen. Die Familie lebt nun von geringer Landwirtschaft, später von insgesamt 500 Mark, die vom Sperrkonto nach dem Verkauf des Hauses ausbezahlt werden. Feb. 1939: Ruth, Sally und ihre Kusine Hermine melden sich nach Basel ab. Paula flieht zu einem unbekannten Zeitpunkt. Sie überleben in der Schweiz und emigrieren wie ihre Schwester Marga später in die USA. Jan. 1938: Leo Louis und Elfriede Kahn beantragen einen Pass und wollen in die Schweiz. Den Pass erhalten sie im Mai 1938. Sommer 1940: Der dritte Versuch, das Haus zu verkaufen, ist erfolgreich und wird genehmigt. Die Familie muss umziehen (in die Hauptstr. 175, heute 72). 1. März 1938: Die Spar- und Darlehnskasse kündigt Kahns Kredite. Grundlage des Lebensunterhalts bleibt ein Garten und eine Kuh. Die Bank versucht, durch Pfändung dieser Kuh Schulden von Leo Louis Kahn einzutreiben. 22. Okt. 1940: Deportation der badischen Juden nach Gurs, unter ihnen Leo Louis, Elfriede und Marga Kahn. Marga überlebt u. a. in einem Heim des französischen Kinderhilfswerkes O.S.E. in der Nähe von Limoges. 10. Nov. 1938: Pogrom in Sulzburg. Die Synagoge wird geschändet und die Einrichtung zerstört, Geschäfte und Wohnungen werden geplündert. Leo Kahn wird wie die anderen jüdischen Männer von Sulzburg ins KZ nach Dachau verbracht. 14. Aug. 1942: Elfriede Kahn wird von Drancy nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ab Herbst 1938: Versuche, das Haus zu verkaufen, um das nötige Geld für die Emigration und die Abgaben aufzubringen, die den Juden abverlangt werden. 17. Aug. 1942: Leo Louis Kahn wird von Drancy nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Nach: Jüdisches Leben in Sulzburg 1900 – 1940. Eine Materialsammlung, hrsg. vom Freundeskreis der Ehemaligen Synagoge Sulzburg e. V., 2. Aufl., Sulzburg 2006, Seite 226 ff. 16. Dez. 1938: Leo Kahn kehrt aus der »Schutzhaft« im KZ Dachau zurück. Die Männer mussten nachweisen, dass sie sich um eine Emigration bemühten, um entlassen zu werden. Stadtarchiv Sulzburg Urkunde zur Verleihung des Ehrenkreuzes für Frontkämpfer (Ausschnitt). Leo Kahn hatte einen entsprechenden Antrag im August 1934 gestellt. Der Antrag, der vom Bürgermeister von Sulzburg befürwortet wurde, wurde im Januar 1935 genehmigt. ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 6 – B 7 ◗ Welche Mittel nutzten die Nationalsozialisten im Zuge des Ausbaus ihrer Macht, um das nachbarschaftliche Verhältnis von Juden und Christen langfristig zu zerstören? ◗ In der Lebensbeschreibung werden Stationen der NSJudenpolitik genannt. Listet sie auf und erläutert sie mit Hilfe weiterer Recherchen. Politik & Unterricht • 3-2008 ◗ Beschreibt die Auswirkungen der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung auf das Leben von Leo Louis Kahn und seiner Familie. ◗ Mit welchen Mitteln versuchte Leo Louis Kahn, sein Leben und das seiner Familie zu sichern? Beurteilt die Chancen. 37 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord B8 Die Sinti-Kinder der St. Josefspflege in Mulfingen: Aus der Fürsorge in die Vernichtung Staatsarchiv Ludwigsburg, E 191, Bü 4272 Das katholische Kinderheim St. Josefspflege im hohenlohischen Mulfingen. In der St. Josefspflege in Mulfingen wurden seit Ende 1938 sämtliche Sinti-Kinder aus den Fürsorgeheimen Württembergs untergebracht. Diese Zusammenlegung war Ausdruck der nationalsozialistischen erbbiologischen Sichtweise: Die »zigeunerischen Kinder« als »nicht förderungswürdige, rassisch Minderwertige« sollten, so der Landesjugendarzt Dr. Max Eyrich, von den »erbbiologisch normal veranlag- ten und nicht verwahrlosten Kindern« getrennt werden. Die Schwestern des katholischen Heimes erzogen die Kinder dennoch ohne Berücksichtigung ihrer Herkunft oder »Rasse« gleichberechtigt mit den anderen Heimkindern. Reichsführer-SS Heinrich Himmler befahl am 16. Dezember 1942, alle Sinti und Roma familienweise in das sogenannte Zigeunerlager in Auschwitz einzuweisen. Auch Kinder, die sich in der Fürsorgeerziehung befänden, sollten deportiert werden. Die Mulfinger Kinder blieben zunächst davon verschont, denn Eva Justin, Mitarbeiterin der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« in Berlin, benutzte die Kinder für ihre Doktorarbeit, eine rassenbiologische Untersuchung, mit der sie die angebliche »rassische Minderwertigkeit« der »Zigeuner« beweisen wollte. Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma Die Veröffentlichung dieser Arbeit im Frühjahr 1944 und die Deportation der Mulfinger Sinti-Kinder fielen zeitlich fast zusammen: Am 19./20. Januar 1944 wurden vier Kinder abgeholt und mit einem Sammeltransport von Sinti aus Karlsruhe und Stuttgart nach Auschwitz gebracht. Am 9. Mai 1944 schließlich brachte man 33 Sinti-Kinder aus Mulfingen zusammen mit drei weiteren Kindern aus den Kinderheimen in Hürbel und Baindt zum Bahnhof in Crailsheim und deportierte sie von dort aus nach Auschwitz. Nur vier überlebten: Sie waren alt genug, um Zwangsarbeit leisten zu können. Die übrigen starben in der Nacht vom 2./3. August 1944 in den Gaskammern von Auschwitz. Kinder der Mulfinger St. Josefspflege mit einer Schwester des Heims, aufgenommen um 1940/41. 38 Nach: Johannes Meister: Schicksale der »Zigeunerkinder« aus der St. Josefspflege in Mulfingen, in: Württembergisch Franken 68, Jahrgang 1984, S. 197 f.; Stephan M. Janker: Die Geschwister Kurz – vier Stuttgarter Sinti-Kinder: Aus der Fürsorge in die Vernichtung, in: Harald Stingele und Die Anstifter (Hrsg.): Stuttgarter Stolpersteine. Spuren vergessener Nachbarn. Ein Kunstprojekt füllt Gedächtnislücken, Filderstadt 2006, S. 145 f. Politik & Unterricht • 3-2008 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord Erinnerungen einer Betroffenen Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma B9 Amalie Schaich, geb. 1929 Amalie Schaich, 1929 als Amalie Reinhardt geboren, berichtete über ihre Deportation: Am 10. Juni 1938 wurde ich im Allgäu von der Gendarmerie mit meinen Geschwistern Anton (geb. 1930), Scholastika (geb. 1933), Adolf (geb. 1937) und Emil (geb. 1926) unseren Eltern weggenommen. Ich war damals neun Jahre alt. Mein Vater kam sofort in ein KZ – nach Dachau –, meine Mutter wurde später deportiert. Zusammen mit meiner Schwester Scholastika kam ich in das Kinderheim Schönenburg bei Ulm. Meine Brüder Anton und Emil kamen nach Oggelsbeuren, mein Bruder Adolf in das Kinderheim Baindt bei Ravensburg. Im September 1939 brachte man mich mit anderen SintiKindern in das Kinderheim St. Josefspflege nach Mulfingen. Dort wurden wir als »Zigeuner« zentral zusammengefaßt. Wir dürften etwa 40 Sinti-Kinder in diesem Heim gewesen sein. Betreut wurden wir von Ordensschwestern und von der Lehrerin Johanna Nägele. Wir erhielten von ihr regulären Unterricht. Die 5. und 6. Klasse besuchte ich bei der Schwester Amandina. Als wir von unseren Eltern getrennt waren, haben wir zuerst noch Briefe ins Heim bekommen, aber nur Grüße, alles andere war durchgestrichen. Da hab ich die Schwester gefragt: »Warum schicken sie uns denn solche Briefe, in denen alles durchgestrichen ist?« Damals hab ich ja schon einiges gehört von den Zuständen im KZ. In Mulfingen wurden wir des Öfteren von einem Mann und einer Frau aufgesucht. Sie kamen vom Rassenhygiene-Institut in Berlin, das die Erfassung und Aussonderung aller Sinti im damaligen Deutschen Reich betrieb. Die Frau hieß Eva Justin. Der Mann war Dr. [Robert] Ritter. Beide versuchten, mit uns in unserer Sprache, auf Romanes, zu reden. Außerdem führte Frau Justin verschiedene Tests für ihre Doktorarbeit durch. Sie hat die Kinder immer mit Süßigkeiten angelockt, daß sie sich fotografieren lassen. Ich habe mich dagegen gewehrt, weil ich das Gefühl hatte, daß man uns mit diesen Versuchen vor den anderen herabsetzen wollte. Der Dr. Ritter und das Fräulein Justin haben uns ja behandelt, als wenn wir nicht ganz normal wären. Daß wir Sinti-Kinder genauso intelligent sind, das paßte nicht in ihre Köpfe. Damals waren wir schon 14-jährige Mädchen, aber wir mußten immer diesen Kinderkram machen. Zum Beispiel Politik & Unterricht • 3-2008 haben sie uns bunte Glaskugeln gebracht. Daraus sollten wir Ketten machen, wegen der Farbzusammenstellung. Aber was sollte das denn? Das war doch lächerlich. Einmal ist auch ein Schulrat aus Crailsheim gekommen, der hat sich alle Zeugnisse durchgeschaut. Und dann hat er mich aufgerufen. Der konnte es überhaupt nicht fassen, daß eine »Zigeunerin« so ein gutes Zeugnis hat. Deshalb hat er mich geprüft und alle Fächer abgehört. Aber dafür gab es kein Lob, nichts hat er gesagt. Bloß seine schmalen Augen, die haben mich immer so gemustert, daß ich mir vorkam wie ein Mensch zweiter Klasse. Am 9. Mai 1944 mußten wir morgens unsere Sachen packen. (...) Dann kam der Postbus. Der Abtransport war ein Chaos. Wie alle Kinder geweint haben. Denn instinktiv haben wir gespürt, da ist etwas im Gang. Offiziell hat man uns bloß gesagt: »Dort wo ihr hinkommt, geht es euch gut«. Am Abend vorher war extra der Pfarrer gekommen, zur Notkommunion. Da waren kleine Kinder dabei, die überhaupt nicht begreifen konnten, was eine Heilige Kommunion ist. Ich habe die Schwester Aurelia gefragt: »Was soll das? Es ist doch kein Weißer Sonntag? Warum kriegen die Kinder Erstkommunion?« Aber sie hat mir nicht geantwortet. Heute glaube ich schon, daß sie etwas gewußt hat. Wir mußten dann in den Bus steigen (...). Wir haben überhaupt nicht gewußt, was los ist. Die Schwestern haben uns nichts gesagt und auch die Polizei nicht. Ich erinnere mich, daß wir von uniformierten Polizisten begleitet wurden. Außerdem wurden wir von Frl. Nägele und von der Schwester Euphisia begleitet. In Crailsheim mußten wir dann in den Zug, in einen Gefängniswagen steigen. Zu uns kamen dann noch drei kleine Kinder aus dem Kinderheim Hürbel und eine schwangere Frau mit zwei oder drei kleineren Kindern. Meiner Erinnerung nach wurden wir ab Crailsheim von SS-Leuten begleitet. In Dresden haben wir einen Bombenangriff miterlebt. Es war Fliegeralarm. Die SS-Männer haben den Gefängniswagen einfach abgesperrt, auf dem Gleis stehen lassen und sind fortgelaufen. Und wir Kinder waren ganz allein. (...) Auf der Weiterfahrt habe ich einen SS-Mann so bearbeitet, bis er mir gesagt hat: »Ihr kommt zu euren Eltern, da geht‘s euch gut.« Von der schwangeren Frau habe ich jedoch gehört, daß wir in das KZ Auschwitz kämen. Nach etwa vier oder fünf Tagen trafen wir mit dem Zug in Auschwitz ein. Da ging plötzlich die Tür von unserem Waggon auf. Und vor uns auf der Rampe standen lauter SS-Leute mit dem Gewehr im Anschlag. Aber als sie uns Kinder sahen, haben sie die Gewehre sinken lassen. Nachdem unsere Namen registriert und uns die Häftlingsnummern auf den Arm eintätowiert worden waren, kamen wir in das sogenannte »Zigeunerlager«. (...) Zeitzeugenbericht (Archiv des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma), abgedruckt in: Romani Rose (Hrsg.): »Den Rauch hatten wir täglich vor Augen«. Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, Heidelberg 1999, S. 295 f. 39 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord B 10 Arbeitsalltag 1944 Maria Reif war 1944 als 17-Jährige Schreibkraft im Jugendamt Stuttgart und führte die Akten der Mulfinger Sinti-Kinder. Mitte der 1990er Jahre erinnerte sie sich: »Die Arbeitsgebiete waren nach dem Alphabet unterteilt. So fing das also an (...). Da mußte ich in die Akten eintragen: Verlegung von der Erziehungsanstalt St. Josefspflege Mulfingen nach Birkenau. Ein deutsches Wort, ein deutscher Ort – ich und sicherlich auch meine Kolleginnen haben sich weiter nichts dabei gedacht. Monate später, ich kann nicht mehr sagen, wie lange es gedauert hat, als wir alle diese Akten wieder auf den Tisch bekamen, mußten wir eintragen: »Die Fürsorgeerziehung endet wegen Tod«. Das mußten wir eintragen und Regierungsdirektor Mailänder hat es dann un- B 11 terschrieben. Nach der Unterschrift kamen die Akten wieder rauf auf den Arbeitsplatz, und wir haben auf den Aktendeckel ein Kreuz gemacht. Ich weiß nicht mehr, haben wir es zusammengebunden, buchstabenweise; haben sie in den Keller im Untergeschoß dieses Hauses hier transportiert und dort feinsäuberlich alphabetisch abgelegt.« Aussage in: »Auf Wiedersehen im Himmel«. Die Sinti-Kinder der St. Josefspflege, ein Film des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Zusammenarbeit mit dem Südwestfunk 1995 Ein Verwaltungsvorgang Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma Schreiben der Kriminalpolizeistelle Stuttgart vom 14. Juni 1944 an das Landesjugendamt in Stuttgart mit der Transportliste der Kinder. 40 Politik & Unterricht • 3-2008 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord B 12 Gedenken und Erinnern heute Stephan M. Janker Landeshauptstadt Stuttgart, Jugendamt Denkmal für die Mulfinger SintiKinder im Jugendamt Stuttgart, Wilhelmstr. 3. Es entstand auf Initiative von Mitarbeitern des Jugendamtes. Geschaffen hat es der Stuttgart Künstler Wolfram Isele. Dargestellt sind 39 Aktenordner. die arge lola, Kai Loges + Andreas Langen Gedenktafel für die deportierten Kinder an der Pforte der St. Josefspflege in Mulfingen. Es wurde am 6. Juli 1984 durch den Rottenburger Weihbischof Franz Josef Kuhnle enthüllt. Demnach wurden 39 Kinder deportiert und 35 Kinder, deren Namen genannt werden, umgebracht. Neuere Forschungen haben aber gezeigt, dass am 9. Mai 1944 33 Kinder gemeinsam von Mulfingen nach Auschwitz deportiert wurden. Weitere Kinder und Jugendliche, die im Mulfinger Heim gewesen waren, kamen mit anderen Transporten nach Auschwitz. Stolpersteine für die Geschwister Kurz in der Badergasse 6 in Stuttgart-Bad Cannstatt. Der Text lautet: »Aus der Gemeinschaft dieses Heimes wurden am 9. Mai 1944 die hier lebenden 39 SintiKinder herausgerissen und in das KZ Auschwitz deportiert. Nur vier Kinder überlebten. Zur Erinnerung an die Opfer [es folgen 35 Namen].« ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 8 – B 12 ◗ Amalie Schaich (B 9) gibt in ihrem Bericht Hinweise auf die rassenideologische Überzeugung der Nationalsozialisten gegenüber den Sinti und Roma, die sich auch im Verhalten den Kindern gegenüber äußert. Stellt diese zusammen und erläutert sie mit Hilfe von B 8 und weiterer Recherchen. ◗ Welche Hinweise gibt der Text, dass die Deportationspläne in Mulfingen bekannt waren? Diskutiert die Handlungsspielräume der Betroffenen. Betrachtet dazu auch den Text in B 10. ◗ Informiert Euch bei der Stuttgarter Initiative »Stolpersteine« unter www.stolpersteine-stuttgart.de/index.php?docid=148 über das Schicksal der Geschwister Otto, Sonja, Thomas und Albert Kurz. Erstellt dazu eine Präsentation. ◗ Erläutert an ihrem Beispiel die Zielsetzungen national- Politik & Unterricht • 3-2008 sozialistischer Rassepolitik gegenüber Sinti und Roma. ◗ Stellt eine Liste derjenigen Personen zusammen, die wahrscheinlich bei der Erstellung, Bearbeitung und Verteilung der Verwaltungsdokumente (B 10, B 11) beteiligt waren. Diskutiert den Grad von Verantwortung dieser Personengruppe. ◗ Vergleicht und diskutiert die hier vorgestellten Formen der Erinnerung an die Mulfinger Sinti-Kinder (B 12). Überlegt dabei: Wer waren die Auftraggeber der Denkmale? Was waren ihre Motive? Vergleicht Form, Ort und Aussage der Denkmale. ◗ Sammelt Vorschläge: Wie würdet Ihr selbst ein Denkmal für die Mulfinger Sinti-Kinder gestalten? 41 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord B 13 »Euthanasie«-Verbrechen in Grafeneck Zum historischen Hintergrund der »Euthanasie« Das erklärte Ziel der nationalsozialistischen Gesundheits-, Sozial- und Rassenpolitik ist die Verwirklichung eines umfassenden Programms zur »Reinigung des Volkskörpers«. Zum Maßstab für den Wert eines Menschenlebens werden medizinische und ökonomische Kriterien. Wo keine Nützlichkeit erkennbar wird, endet das Recht auf Leben. Nicht mehr der leidende Mensch steht im Zentrum, sondern die überindividuelle Sozialstruktur: der Staat, die Nation, das Volk oder aber: die Rasse. (...) Die »Vernichtung unwerten Lebens« wird damit in letzter Konsequenz als eine Maßnahme zur Stärkung und Gesundung des »Volkskörpers« und der Rasse verstanden. Archiv Gedenkstätte Grafeneck Damit sollten die öffentlichen Finanzen entlastet, Nahrungsmittel eingespart und Ärzte und Pflegepersonal freigesetzt werden. Die Heil- und Pflegeanstalten sollten so in Lazarette, Kasernen, Krankenhäuser und andere kriegswichtige Einrichtungen umgewandelt werden können. Die Täter bezeichneten diesen Mord verharmlosend als »Euthanasie« – guter Tod – oder »Gnadentod«, in der Verwaltungssprache hieß es »Aktion T4« (nach der Adresse der zuständigen Behörde in Berlin: Tiergartenstraße 4). Ein »rassehygienisches« Propagandabild des Reichsnährstandes aus der Mitte der 1930er Jahre. Nach: Thomas Stöckle: Gedenkstätte Grafeneck. Dokumentationszentrum – Ausstellungsband, Grafeneck 2007 Archiv Gedenkstätte Grafeneck Das abseits auf der Schwäbischen Alb gelegene Schloss Grafeneck, seit 1929 ein Heim der Samariterstiftung Stuttgart, entsprach den Geheimhaltungskriterien der »Euthanasie«-Planer und bot die notwendigen räumlichen Arbeits- und Unterbringungsmöglichkeiten für die Täter und ihre Mitarbeiter. 1940 wurde es beschlagnahmt und zur Vernichtungsanstalt umgebaut. Zwischen Januar und Dezember 1940 wurden in einem hierfür auf dem Gelände des Schlosses errichteten Vergasungsschuppen 10.654 Frauen, Männer und Kinder ermordet. ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 13 ◗ Erläutert die ideologischen Grundlagen der nationalsozialistischen »Euthanasie«. 42 ◗ Warum wurde als Ort des Verbrechens gerade Grafeneck gewählt? Politik & Unterricht • 3-2008 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord B 14 Martin Bader: Eines von 10.654 Opfern der NS-»Euthanasie« Helmut Bader Martin Bader (1901 – 1940), aufgenommen in den 1930er Jahren Der folgende Text stammt aus der Lebensbeschreibung, die Helmut Bader, ein Sohn von Martin Bader, verfasst hat. Zusammenfassungen stehen in eckigen Klammern. Die Zitate sind von Martin Bader selbst. »Mein Name ist in Giengen und Umgebung gut bekannt. Ich, Martin Bader, bin geboren am 20. November 1901 in Giengen a. Brz. als Sohn des Fabrikarbeiter Joh. Bader und seiner Ehefrau Margarete geb. Geyer, beide gebürtig aus Asselfingen, Oberamt Ulm (...).« So beginnt mein Vater am 1. Februar 1930 seinen »Lebenslauf von 30 Jahren«, den er in einem dicken Oktavheft niederschreibt. In gestochener Handschrift und in einwandfreier Rechtschreibung gibt er über sein Leben Auskunft. Liebevoll und amüsant beginnt er mit Begebenheiten aus seiner Kindheit und Jugend: [Martin Bader arbeitet bereits neben der Schule als Laufjunge; nach dem Schulabschluss 1915 macht er eine Lehre als Schuhmacher. Wie damals für Handwerksgesellen üblich, geht Martin auf Wanderschaft, um seine Kenntnisse bei verschiedenen Meistern zu erweitern. Rund fünf Jahre verbringt er in Bayern; er ist Mitglied in zahlreichen Vereinen. 1924 kehrt er in die Heimat zurück, legt die Meisterprüfung ab, heiratet und übernimmt im Oktober die Schuhmacherwerkstatt seines Stiefvaters, die er mit Gesellen und Lehrlingen betreibt. Doch die Folgen einer »Kopfgrippe«, die zwischen 1916 und 1919 in Mitteleuropa als Epidemie auftrat und mit der er sich 1918 infizierte, zwingen ihn zu Einschränkungen.] Bei meinem Vater entwickelt sich mit der Zeit ein ParkinsonSyndrom, das sich in einem Zittern der linken Hand und später auch in einem Nachziehen des linken Beines äußert. Natürlich leidet er zunehmend auch psychisch unter seiner Behinderung. Nie aber zeigen sich Anzeichen einer Geisteskrankheit, im Gegenteil: Alle seine schriftlichen Hinterlassenschaften zeugen von einem wachen und klaren Verstand. »Nun kommt das Traurige, nämlich es stellte sich 1926 ein Nervenzittern auf meiner linken Körperhälfte ein als Folgezustand von meiner Kopfgrippe von 1918. (...) Im Sommer 1927 war ich, infolge meines Leidens, gezwungen, meinen Beruf aufzugeben. (...) [Erst Ende 1930] fing ich wieder an, auf meinem Handwerk zu arbeiten (...).« Politik & Unterricht • 3-2008 Auch in den folgenden Jahren zwingt die Krankheit meinen Vater immer wieder, die Arbeit in seinem Beruf zu unterbrechen und im regelmäßigen Abstand von zwei Jahren Heilung in der Psychiatrischen Klinik in Tübingen zu suchen. Er kehrt jedes Mal gebessert zurück. Aber unter der ständigen Wiederkehr der Krankheit leidet selbstverständlich auch die Psyche. Die Krankenakten der Klinik in Tübingen beschreiben seine Erregungszustände und Reizbarkeit. Sie betonen aber immer wieder, dass er durch die Behandlung ein freundliches und ruhiges Verhalten zeige und immer gerne Witze erzähle. Im September 1938 – meine Mutter liegt wegen einer Operation im Krankenhaus – weist ihn der behandelnde Arzt in die Heilanstalt Schussenried ein. Wir Kinder werden inzwischen von der Großmutter versorgt. Die Familie kann im guten Glauben sein, dass er in der Heilanstalt am wirksamsten Hilfe erfahren könne. [Aus der Heilanstalt haben sich Briefe des Vaters erhalten:] Schussenried, den 9. September 1939 »Meine Lieben! Da ich fast vergehe vor Not, muß ich Euch heute wieder schreiben. Denn jetzt, wo die meisten Männer fort sind, muß ich hier sitzen und nichts tun u. draußen gäbe es so viel Arbeit. Jetzt gäbe es doch sicher einen Posten für schriftliche Arbeiten. Die Hauptsache, um was mir es zu tun ist, ist das, daß ich für Euch sorgen u. etwas verdienen kann u. Dir l.[iebe] Marie die große Last helfen tragen darf.« »L.[iebe] Marie! Ich komme mit einer herzlichen Bitte an Dich heran. Gehe mit diesem Brief zu Herrn Direktor Höfle u. frage ihn, ob er nicht einen Posten für mich hätte. Gestützt auf prima Schulzeugnisse, habe ich doch im 1. u. 2. Jahr der Gewerbeschule eine Belobung erhalten u. im 3. Jahr einen Preis bekommen, ferner auf den Erfolg der Meisterprüfung im Schuhmachergewerbe, auch beherrsche ich die amerikan. Buchführung, getraue ich mir einen Posten für schriftl. Arbeiten zu übernehmen. Ich wäre mit ganz wenigem Gehalt zufrieden. Möge sich das Sprichwort bewahrheiten: Dem Aufrichtigen läßt es Gott gelingen. Es grüßt Euch Euer Vater« (...) Auch im März schreibt Martin Bader zufrieden: »Ganz überrascht und mit großer Freude habe ich Euer Paket erhalten (...). Zu gleicher Zeit erhielt ich von Josef und Sofie ein großes Paket. Nun kann ich 14 Tage flott leben. Im übrigen schlauche ich den ganzen Tag das Kanapee, was ich nicht einmal daheim tun dürfte. Also ich habe es wirklich gut.« (...) Die letzte erhaltene Nachricht ist eine Postkarte vom 1. Mai 1940, auf der er sich für ein Paket bedankt. (...) Helmut Bader: Martin Bader – »Mein Name ist in Giengen und Umgebung gut bekannt«, in: »Das Vergessen der Vernichtung ist ein Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, hrsg. von Petra Fuchs u. a., Wallstein Verlag, Göttingen 2007, S. 105 f. 43 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord B 15 Direktor Dr. Götz: Einer der Täter? Zentrum für Psychiatrie Bad Schussenried Liste der aus der Heilanstalt Schussenried nach Grafeneck »verlegten« Euthanasie-Opfer. Es handelt sich hier nicht um ein Dokument aus der NSZeit, sondern um eine auf richterliche Anordnung Ende 1947 erstellte Liste derjenigen Personen, die »zu Euthanasiezwecken« »verlegt« wurden. Bearbeiter war ein Arzt der Anstalt; nur die Angaben in den Spalten 2 bis 5 gelten als gesichert. Die Anstalten mussten im Herbst 1939 Meldebögen zur Erfassung der Kranken ausfüllen, die von »ärztlichen Gutachtern« geprüft wurden. Diese entschieden mit einem Plus oder Minus auf den Bögen über deren Leben oder Tod. Zu Opfern wurden Menschen mit eingeschränkter oder fehlender Arbeitsfähigkeit, Langzeitpatienten, gerichtlich eingewiesene Patienten sowie jüdische Patienten und Sinti und Roma. Am 14. Juni 1940 wird Martin Bader zusammen mit 55 anderen Männern aus Schussenried nach Grafeneck transportiert und noch am gleichen Tag ermordet. Es ist der zweite von neun Transporten, die insgesamt 624 Patienten von Schussenried nach Grafeneck bringen. Am 24. Juni 1940 erhält Frau Bader die folgende Nachricht der Direktion der Heilanstalt Schussenried: »Geehrte Frau! Ihr Mann wurde vor einigen Tagen in eine andere Anstalt verlegt, deren Namen mir nicht bekannt ist. B 16 Ich kann Ihnen deshalb keine Auskunft über das gegenwärtige Befinden Ihres Mannes zukommen lassen. Heil Hitler! gez. Dr. Götz« Der unwissende Direktor Dr. Götz wusste sehr wohl, in welche »Anstalt« seine Patienten verlegt wurden. Er wurde bereits am 16. Februar 1940 in Stuttgart durch Ministerialrat Stähle, damals der höchste Medizinalbeamte von Württemberg, über die »Euthanasie« informiert und zum Schweigen verpflichtet. Transport in den Tod: Die »grauen Busse« Archiv Gedenkstätte Grafeneck Mit den grauen Bussen (ursprünglich rote Busse der Reichspost, die der T4-Organisation überlassen wurden) wurden die Patienten nach Grafeneck gebracht. Das Foto eines unbekannten Fotografen (wohl eines Mitarbeiters der Einrichtung) entstand heimlich in der Heil- und Pflegeanstalt Stetten im Remstal während einer der sechs Deportationen, bei denen im September und November 1940 insgesamt 769 Heimbewohner (Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer) nach Grafeneck »verlegt« wurden. Die abgebildeten Personen sind ebenfalls unbekannt. 44 Politik & Unterricht • 3-2008 B • NS-Rassenideologie: Ausgrenzung, Gewalt und Mord B 17 Handlungsspielräume in der Diktatur Erster Direktor der im Aufbau befindlichen Landespflegeanstalt Grafeneck sollte Dr. med. Werner Kirchert werden; er sollte deren »Ausgestaltung übernehmen, den gesamten Ablauf überwachen und die Morde (...) vornehmen«. Kirchert, geb. 1906, arbeitete zu dem Zeitpunkt als Nervenarzt in Berlin. Im Herbst 1939 wurde er durch Dr. Grawitz, Reichsarzt SS, in die »Euthanasie«-Planungen eingeweiht und beauftragt, die Reichsstatistik der Heil- und Pflegeanstalten zu bearbeiten. 1963 sagte Kirchert als Zeuge in einem Euthanasieverfahren: »Etwa im letzten Drittel des September 1939 erteilte mir der Reichsarzt SS Dr. Grawitz den Auftrag, anhand des MedizinalKalenders die Zahl der Anstalten und die Bettenzahl dieser Anstalten festzustellen und diese Zahlen in einer Liste zu erfassen. Zweck der Feststellungen sollte etwa folgender sein: Man wollte einen Überblick wegen der bevorstehenden Räumung der Anstalten im Westwall-Gebiet haben. Dr. Grawitz belehrte mich dem Sinne nach darüber, daß es sich um eine geheimzuhaltende Angelegenheit handelte.« [Über Dr. Grawitz erhielt Dr. Kirchert Kontakt zur Kanzlei des Führers (K.d.F.). In der Folgezeit gab es verschiedene Besprechungen:] »Ich erfuhr dem Sinne nach, daß auf Befehl des Führers die unheilbar Geisteskranken, die im psychiatrischen Sinne als ›siech‹ zu bezeichnen waren, den Gnadentod erhalten sollten. Ich sollte die Leitung einer der ersten Euthanasieanstalten übernehmen. Die Auswahl der zu Tötenden sollte durch Gutachterkommissionen erfolgen. Auf der nächsten Besprechung, wieder in der K.d.F., wurden im wesentlichen technische Fragen besprochen. Ich machte darauf aufmerksam – damit hatte man sich offenbar nicht beschäftigt –, daß auch eine standesamtliche Beurkundung würde erfolgen müssen. (...) Bald danach – das muß nach meiner Erinnerung Anfang Oktober gewesen sein – brachte ich Dr. H. gegenüber zum Ausdruck, daß ich aktiver Sanitätsoffizier der Waffen-SS sei und meine Aufgabe an der Front sehe. Ich brachte meine Ablehnung auf diese Weise zum Ausdruck, also nicht ausdrücklich. Dr. H. verlangte von mir, daß ich einen Ersatzmann benenne. Ich erinnerte mich meines alten Schulkameraden Dr. Schumann, bei dem er anfragen sollte. (...) Am 7. 10. 1939 begab ich mich zur Division nach Dachau. (...) Irgendwelche Nachteile sind mir aus der Ablehnung der Teilnahme nicht erwachsen.« [Dr. Kirchert machte danach eine steile Karriere: Am 7. Oktober 1940 rückte er als Hauptsturmführer der Waffen-SS bei einer Sanitätskompanie ein. Seit Mai 1941 war er persönlicher Referent von Dr. Leonardo Conti, dem Reichsgesundheitsführer und Staatssekretär im Reichsinnenministerium; 1943 wurde er leitender Arzt des Reichssicherheitsamtes, danach stellvertretender Leiter des Kriminalbiologischen Instituts des Reichskriminalpolizeiamtes bei Dr. Robert Ritter.] Thomas Stöckle: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland, Silberburg-Verlag, 2. Aufl. Tübingen 2005, S. 52 – 54 mit Anm. 39 ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 14 – B 17 ◗ Beurteilt die privaten und beruflichen Tätigkeiten und Leistungen Martin Baders vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rassenideologie (B 14). ◗ Heute befindet sich in Grafeneck wieder ein Samariterstift für Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Ist eine derartige Nutzung am Ort einer ehemaligen Tötungsanstalt gerechtfertigt? Diskutiert in Gruppen und erläutert Eure Meinung. ◗ Die Organisatoren der »Euthanasie«-Morde strebten eine weitgehende Geheimhaltung der Vorgänge an. Inwieweit konnte ihnen das gelingen? Stellt anhand sämtlicher Textund Bildquellen die Hinweise zusammen, die auf das Wissen des Personals der verschiedenen Pflegeanstalten, aus denen die Ermordeten kamen, und der Bevölkerung schließen lassen. Politik & Unterricht • 3-2008 ◗ Stellt am Beispiel von Dr. Kirchert (B 17) Vermutungen an über die Möglichkeiten des Mitmachens und des NichtMitmachens unter den Bedingungen der NS-Diktatur. ◗ Informiert Euch auf der Website der Gedenkstätte Grafeneck über den in B 17 genannten Arzt Dr. Schumann, über Christian Wirth, den ersten Büroleiter in Grafeneck, und über Gerhard Kurt Simon, den stellvertretenden Büroleiter in Grafeneck. Erläutert deren berufliche Stationen und verdeutlicht daran die Zusammenhänge zwischen Grafeneck und den Vernichtungslagern wie z. B. Auschwitz. Diskutiert den Grad der Verantwortung und der Schuld der angeführten Personen. 45 C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit Materialien C 1 – C 14 Das Konzentrationslager Natzweiler und seine Außenlager © 8421medien.de C1 Stammlager Natzweiler-Struthof Sitz der Kommandantur (nach Auflösung des Stammlagers im September 1944) KZ-Außenlager des Stammlagers 46 Politik & Unterricht • 3-2008 C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit C2 Die Konzentrationslager »vor der Haustür« Alice Peeters-Barrau ßenkommandos der zentralen Konzentrationslager, die damit zu »Stammlagern« wurden. Die allermeisten dieser KZ auf dem Boden des heutigen Baden-Württemberg unterstanden als Außenlager der Kommandantur des 1941 im Elsass gegründeten Stammlagers Natzweiler-Struthof. Jacques Barrau (1925 – 1997) gehörte von März 1942 bis Juni 1944 der französischen Résistance an. In Toulouse wurde er von der deutschen Polizei verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau und später nach Neckarelz deportiert. Hier fertigte er zahlreiche Zeichnungen an. Der Diplomingenieur der Agronomie und Doktor der Naturwissenschaften arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg als Professor am Pariser Nationalmuseum für Naturgeschichte. Für seine weltweit bedeutenden Forschungen erhielt er internationale Preise und Ehrungen. Diese Zeichnung von Barrau, die heute im Daimler-Benz-Museum in Stuttgart gezeigt wird, heißt »Im Stollen. Bei der Arbeit«. Barrau selbst schrieb dazu: »Diese Zeichnung entstand in einem Stollengang, in dem bereits Beton- und Mauerkonstruktionen hochgezogen waren, und ist eine von denen, deren Ausführung mir am meisten Vorsicht abverlangte. Das Risiko dabei war, irgendeiner Form der Spionage oder der Vorbereitung eines Fluchtversuchs beschuldigt zu werden! Man beachte auf dem Bild die Haltung meiner drei Kameraden. Während einer sich ausruht, stützen sich die beiden anderen auf ihre Schaufeln, um beim leisesten Geräusch eines Schrittes, sei es eines Wachpostens, eines Vorarbeiters oder eines Kapos, weiterzuarbeiten.« Dachau, Auschwitz, Buchenwald ... drei Namen, die fast jeder schon einmal gehört hat und die im Zusammenhang mit Konzentrationslagern, kurz KZ, fallen. Neben diesen »großen« Namen werden jedoch oft die vielen relativ kleinen Lager vergessen, die es auch in Baden-Württemberg gab. Sie lagen gewissermaßen »vor der Haustür«: In Mannheim-Sandhofen, Mosbach-Neckarelz, Leonberg, Haslach, Bisingen, Schömberg, Hessental und in weiteren (kleinen) Ortschaften gab es KZ. Warum gerade hier? Für die Antwort ist ein Blick auf den Verlauf des Zweiten Weltkriegs notwendig. Ab Frühjahr 1944 verstärkten die Alliierten ihre Luftangriffe auf die deutsche Flugzeug- und Treibstoffindustrie, was zu einem erheblichen Rückgang der Produktion führte. Um die verursachten Schäden zu beheben, wurde mit der Verlagerung der gefährdeten Fabriken, aber auch der Schaffung »bombensicherer« Fabrikationen in Höhlen, ehemaligen Bergwerken, Schächten, Tunnels usw. begonnen. Dafür wurden Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen eingesetzt. Vor Ort entstanden unzählige neue Konzentrationslager als Außenlager bzw. AuPolitik & Unterricht • 3-2008 Der Komplex der »Neckarlager« Daimler-Benz lieferte 1944 ungefähr die Hälfte der Flugmotoren für die Luftwaffe. Die Daimler-Benz-Flugzeugmotorenfabrik in Genshagen bei Berlin, die Anfang März 1944 von Bomben getroffen wurde, wurde deshalb als einer der ersten Betriebe umgesiedelt. Dafür bot sich die Gipsgrube »Friede« in Obrigheim wegen ihrer Größe von etwa 50.000 m2 Stollenfläche an. Der Stolleneigentümer Portland-Zement AG Heidelberg wurde enteignet. Als Tarnname für das Verlagerungsprojekt wurde »Goldfisch« gewählt. Für den Ausbau der Gipsgrube zu einer Fabrikhalle, welcher nach Plan innerhalb von acht Wochen abgeschlossen sein sollte, waren KZ-Häftlinge vorgesehen (siehe Abbildung). Sie wurden von den Konzentrationslagern Natzweiler-Struthof, dem von Obrigheim nächstgelegenen KZ, sowie von Dachau, Groß-Rosen und Oranienburg angefordert. Die Wachleute stammten vom KZ Natzweiler-Struthof. Ferner standen die Lagerführer der Außenlager unter der Befehlsgewalt des Lagerkommandanten im Hauptlager. Aus Zeitgründen verzichtete man auf die Errichtung neuer Unterkünfte für die Gefangenen und funktionierte die Schule im benachbarten Neckarelz zum KZ um. Als dort kein Platz mehr für die Unterbringung weiterer Zwangsarbeiter vorhanden war, wurden diese in der Umgebung »einquartiert«: im alten Bahnhof von Neckarelz, in Neckargerach, in Asbach, in Neckarbischofsheim und in Bad Rappenau. Dadurch entstanden allein sechs kleine KZ in der Region. Auch sie waren dem Stammlager Natzweiler unterstellt. Die Häftlinge in den Neckarlagern stammten aus ganz Europa. Die größten nationalen Gruppen bildeten Polen, Russen und Franzosen, aber auch Spanier, Griechen, Belgier und Norweger waren in diesen Lagern inhaftiert. Alles in allem kann man Häftlinge aus 24 Nationen nachweisen. Zwischen Natzweiler und den Neckarlagern gab es ein ständiges »Kommen und Gehen«: Häftlinge, die krank oder verletzt und für den Arbeitseinsatz unbrauchbar geworden waren, wurden in der Regel in das Stammlager abgeschoben; andere, die von dort kamen, sollten die »Verbrauchten« ersetzen. Ab November 1944 brachte man diese auch in das sogenannte Sterbelager Vaihingen/Enz. Das Stammlager Natzweiler rückte den Neckarlagern bald auch räumlich näher. Denn im August 1944 wurde die Gegend um das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof zum Kriegsgebiet. Am 31. August 1944 beschloss man, das Lager zu evakuieren. Dabei kamen unter anderem die Lagerverwaltung, der sogenannte Kommandanturstab, nach Guttenbach, die Bekleidungskammer nach Binau ins Schloss. 47 C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit C3 Arbeit für Daimler-Benz im KZ-Außenlager Neckarelz Alice Peeters-Barrau Transport des Abraums aus dem Stollen, Zeichnung von Jacques Barrau. Er schrieb dazu: »Eine der anstrengendsten Arbeiten war der Transport von Schlamm und Gestein mit Loren, die wir bis zum Stollenausgang ziehen und schieben mußten. Dort im Freien befanden sich die Abladevorrichtungen, streng von Wachposten mit Maschinengewehren kontrolliert, um jeden Fluchtversuch zu unterbinden.« Der bei Daimler-Benz beschäftigte deutsche Architekt Kiemle nannte dies am 26. Dezember 1944 »Baumethoden wie bei den alten Ägyptern«. Heute wird diese Zeichnung im Mercedes-Benz Museum in Stuttgart gezeigt. Der Franzose Albert Geiregat, geb. 1927, berichtet im Jahr 1998 über die Arbeit im Stollen von Neckarelz, die er als Siebzehnjähriger leisten musste: »Wir treten in die Grube ein, durch eine Art großen Tunnel, ungefähr 100 Meter, der in einen großen runden Raum mündet, von dem zahlreiche Stollengänge abgehen. Diese sollen wir freilegen. Deutsche Zivilisten, Ingenieure und ältere Baustellenleiter teilen unsere Arbeit ein. Was uns betrifft, haben wir (...) schnell das Hantieren mit Hacke und Schaufel gelernt. Wir beladen Loren, die auf zwei parallelen Gleisen laufen, wir bringen Steine und Erde nach draußen, im Gegenzug zu Zementsäcken oder Betonträgern, die für unsere schwachen Kräfte furchtbar schwer aufzuladen sind, obwohl es an mageren und ausgemergelten Armen nicht mangelt. All diese Arbeit wird untermalt vom Lärm der Presslufthämmer, dem Brüllen der Kapos, die, den Schlagstock in der Hand, wahllos in die Menge der Häftlinge Schläge austeilen, wenn der Arbeitsrhythmus sich verlangsamt. ergoss. Der Kapo sprang auf ihn drauf und prügelte ihn mit dem Knüppel am ganzen Körper, bis er nicht mehr aufstehen konnte. Wir haben ihn in dem besagten Karren transportiert und ihn nie mehr auf der Baustelle gesehen. (...) Abends ging es zurück ins Lager; der Karren mit den Häftlingen fuhr auf der Straße; wir gingen, wohlgeordnet nach Kommandos, gezählt und nochmals gezählt, auf dem metallenen Fußweg der Eisenbahnbrücke, die den Neckar überspannte. Dies kürzte die Strecke um mindestens zwei Kilometer ab. Dort, am Ende, kletterte oft ein SS-Mann, stets derselbe, auf die ersten Verstrebungen des Fußwegs und schlug mit einem Knüppel, weit ausholend und mit voller Kraft, auf die Häftlinge ein, die unter seinen Schlägen vorbei mussten. Das war seine tägliche Gymnastik, oft machte er das morgens und abends. Viele Kameraden haben schwere Schädelverletzungen davongetragen.« Unveröffentlichte Quelle. Übersetzung: Dorothee Roos Gegen 8.30 Uhr bekommen wir eine »Brotzeit«: ein Laib Brot, oft im Innern klitschig, für zehn Häftlinge, das sind für jeden ca. 150 Gramm, dazu ein Würfelchen Margarine. Nach zehnminütiger Pause geht es wieder an die Schaufel. Viele Kameraden sinken erschöpft um, am Ende ihrer Kräfte; die Krankheiten beginnen ihren Tribut zu fordern. Im kleinen Lastkarren, von Häftlingen des Kommandos gezogen, liegen oft am Abend drei bis vier Körper ausgestreckt, Kranke, Sterbende, zum Verschwinden Verurteilte, die hier für die Arbeit im Stollen nicht mehr taugen. (...) All diese Arbeit wurde von den Kapos und Wächtern überwacht, die gerne den Vorgang beschleunigten. Ich erinnere mich daran, wie ein Italiener verprügelt wurde, der im Schlamm ausgeglitten war. Er hatte das Unglück, seinen Zementsack fallen zu lassen, sodass dessen Inhalt sich auf den Boden 48 Politik & Unterricht • 3-2008 C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit C4 Leben bei der Arbeit Alice Peeters-Barrau Die Suppe für den Stollen, Zeichnung von Jacques Barrau. Er schrieb dazu: »Zum Stollen wurde die Suppe in großen Metallkannen gebracht. Da ich des öfteren zum Tragen dieser Kannen eingeteilt war, kann ich bestätigen, daß ihr Transport nicht leicht war und zudem viel Aufmerksamkeit erforderte, um nicht zu stolpern und die wertvolle Brühe zu vergießen; denn das wäre ein schwerwiegendes Vergehen gewesen.« C5 (Über-)Lebensmittel? Diese dauernde Beschäftigung mit dem Essen ist wie eine Obsession. Einen gräulichen Brei zu kauen, dem man den Namen ›Brot‹ gibt, wird zur körperlichen Lust. Sobald man die Vespermahlzeit verschlungen hat, denkt man an die Suppe zu Mittag. Man denkt an nichts anderes, gekrümmt unter der Last der Zementsäcke oder über die Schaufel gebückt, mit der man den Sand aus der endlosen Reihe der Loren herausschippt. Man denkt an nichts anderes und man redet von nichts anderem. Wir sind nur noch Röhren, die verdauen. Unsere einzige Sorge ist ›essen‹ – essen und unsere Koliken und Durchfallanfälle zu kurieren. Wir waren freie Menschen. Wir hatten Ideale, Hoffnungen: das Vaterland befreien, eine neue Welt erschaffen. Und jetzt, was ist jetzt unsere einzige Hoffnung? Die Suppe ... Es ist Mittag. Sie kommt – die Suppe!« Aus: Roger Farelle: Je suis un rescapé des bagnes du Neckar. Veröffentlicht als Zeitungsserie in »L‘Aurore«, April/Mai 1945, Wiederveröffentlichung bei Edition Les Volets Verts, Paris 2000 (Übersetzung: Dorothee Roos) Politik & Unterricht • 3-2008 Alice Peeters-Barrau »Um neun Uhr gab es ein Vesper ... 150 Gramm Brot und ein Stückchen Margarine. Jeder versuchte, dieses Vergnügen so weit als möglich zu verlängern – das Vergnügen nämlich, zu essen. Verschiedene Techniken konkurrierten dabei, zur Perfektion entwickelt von ausgehungerten Lebewesen. Manche schnitten ihr Brot in dicke Scheiben, um dann stundenlang darauf herumzukauen. Es gab die Anhänger der ganz feinen Scheiben, die man eine nach der anderen verzehrte, langsam und ehrfürchtig. Auskratzen der Suppenreste, Zeichnung von Jacques Barrau. Er schrieb dazu: »Nichts wurde übrig gelassen, und nachdem die Suppe ausgeteilt war, vergaben der Kapo oder der Stubenälteste als Sonderzulage das Recht, die Reste aus der Kanne oder dem Kübel zu kratzen.« 49 C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit Privatarchiv Kurt Heuberger Die Allgegenwart des Konzentrationslagers Privatarchiv Kurt Heuberger C6 Die KZ-Häftlinge, die im Stollen arbeiteten, waren teilweise im Gebäude der Volksschule von Neckarelz untergebracht. Neckarelz in den 1930er Jahren: Am rechten Rand die Volksschule. Der Stollen befand sich auf der anderen Seite des Neckars. Alice Peeters-Barrau Der Blick von innen: Winterlandschaft 1945: Häuser in Neckarelz, von der Schule aus gesehen. Zeichnung von Jacques Barrau. Zu diesem Bild schrieb er: »Die Fenster der Schule, die zu den Häusern des Dorfes wiesen, waren verrammelt, aber zwischen den Brettern gab es schmale Spalte. Während ich in der Nachtschicht arbeitete und tagsüber in einem der Schulzimmer ausruhte, konnte ich von einer der oberen Pritschen aus, die in der Nähe eines Fensters stand, durch eine Ritze die Winterlandschaft draußen beobachten und zeichnen. Dabei fielen mir – und daran erinnere ich mich noch sehr genau – die Verse Verlaines ein: ›O Gott, dort ist das Leben, in Einfalt und Ruh ...‹« C7 Der Weg zum Stollen An anderer Stelle beschreibt Jacques Barrau den Arbeitsweg der KZ-Häftlinge zum Stollen: »Der Gipsstollen, den wir zu einer unterirdischen Fabrik ausbauten, befand sich in einem Berghang am anderen Neckarufer und lag Neckarelz und der Schule, die uns als Lager diente, gegenüber. Die Schule gehörte zu den öffentlichen Gebäuden der Ortschaft. Mehrmals am Tag, auf dem Weg zur Mine oder auf dem Rückweg, nach dem Verlassen der Schule oder wieder auf dem Weg dorthin, liefen Kolonnen von Häftlingen in den nicht zu übersehenden gestreiften Anzügen und begleitet von bewaffneten Soldaten durch einen Teil des Dorfes und überquerten den Neckar auf einer Eisenbahnbrücke 50 nahe der Ortsgrenze. Auf unserem Weg trafen wir zwangsläufig auf Bewohner des Dorfes, aber sie schienen uns nicht zu sehen. Ein merkwürdiges Gefühl, keines Blickes gewürdigt zu werden!« Jacques Barrau: Dessins d‘un camp: le camp de Neckarelz/ Zeichnungen aus einem Lager: Das Konzentrationsaußenlagerkommando Neckarelz, Karlsruhe 1992 (2. Aufl. Stuttgart 2006), S. 29 Politik & Unterricht • 3-2008 C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit C8 »Zebra-Kontakte«: Zeitzeugen erinnern sich »Schon der Klang, wenn die da anmarschiert sind. 500 Mann oder wie viel das da waren. Und dann ging das: klapp, klapp, klapp. Das war schon eine Musik für sich.« (K. F., geb. 1931) barriere. Häftlinge aus westlichen Ländern verfügten manchmal über einige Deutschkenntnisse, aber bei Häftlingen aus dem slawischen Sprachraum war das meistens problematisch. Da half dann nur die Zeichensprache. »Es fällt nicht ganz leicht, solche Erlebnisse nach über sechzig Jahren aus dem Gedächtnis zu Papier zu bringen ... Je länger der Krieg dauerte, umso schwieriger wurde es für die Bauern in unserer Region, wegen Arbeitskräftemangel die Ernten rechtzeitig unter Dach und Fach zu bringen. So auch im Herbst 1944, als die Kartoffel- und Rübenernte anstand. Da außer Kriegsgefangenen und zwangsverpflichteten Ausländern kaum Arbeitskräfte zur Verfügung standen, lag es nahe, auch von den in den Lagern in Neckarelz untergebrachten KZ-Häftlingen kleinere Gruppen zum Ernteeinsatz bei den Bauern in der Umgebung abzukommandieren. So kamen auch solche Gruppen in Obrigheim zum Einsatz. Leichter mit Kontakten zu den Häftlingen wurde es, als die Fremdarbeiter-Wohnbaracken an der Kirstetter-Straße, außerhalb des Eisenbahnviadukts, gebaut wurden. Da konnten wir Jungen von der Straße aus mit den KZ-Häftlingen Kontakt aufnehmen und kleine »Geschäfte« mit ihnen machen (natürlich nur, wenn das Wachpersonal das duldete). Diese Geschäfte bestanden darin, dass die Häftlinge uns kleine Spielsachen und Schmuckgegenstände, wie zum Beispiel Fingerringe aus Münzen oder Kupferrohr, im Tausch gegen Nahrungsmittel und Tabak anboten. Wann und wo sie diese Gegenstände angefertigt hatten und mit welchen Mitteln, das blieb uns ein Rätsel, aber es kann wohl nur in ihrer karg bemessenen Freizeit gewesen sein. Manchmal waren darunter richtige kleine Kunstwerke. (...) Diese Kommandos waren bei den Häftlingen außerordentlich beliebt, da sie bei den Bauern meistens ausreichend zu essen bekamen, und auch die Wachleute kamen dabei nicht zu kurz. Auch wir älteren Schüler wurden in den Ferien bei den Erntearbeiten eingesetzt (ich war damals 14 Jahre alt), und so ergab es sich zwangsläufig, dass man mit den »Zebras« genannten KZ-Häftlingen näher in Berührung kam und die anfängliche Scheu ablegte. Diese Kontakte waren sehr abhängig von dem jeweiligen Wachpersonal, da nicht alle Wächter solche Annäherungen duldeten (SS-Leute). Für Erwachsene war es nahezu unmöglich, mit den Häftlingen Kontakt aufzunehmen, während man bei Kindern eher ein Auge zudrückte. Die größte Schwierigkeit war die Sprach- C9 P.S.: Das ganze Elend dieser halbverhungerten KZ-Häftlinge wurde uns erst nach und nach bewusst. Da Erwachsenen jeglicher Kontakt strengstens verboten war, schickten manche Eltern ihre Kinder vor, um den Häftlingen etwas zukommen zu lassen, nur durfte so etwas auf keinen Fall publik werden.« (E. M., geb. 1930 in Obrigheim, am 27. Dezember 2004 über seine Kontakte zu den Zwangsarbeitern) Quelle: Archiv der Gedenkstätte Neckarelz (Über-)Lebensmittel Alice Peeters-Barrau skizzieren und sie nach Rückkehr in die Schule in der relativen Ruhe des Zimmers auszuarbeiten. Manchmal bot sich mir eine Gelegenheit, die eine raffiniertere Ausführung erlaubte. Einige Male mußte ich aus der Erinnerung zeichnen. (...) Wenn man zeichnet, identifiziert man sich notgedrungen mit dem, was man hervorbringt, um es den anderen mitzuteilen. Das Zeichnen ist eine Botschaft, und diese Skizzen aus der Haft wurden für mich zum Rettungsring. Ich glaube, ich habe mich mehr oder weniger bewußt an die Hoffnung geklammert, sie eines Tages in meine Welt hinüberzuretten. Auf Papierabfällen und auf einseitig bedruckten Formularen fertigte Jacques Barrau (1925 – 1997) mit Bleistiftstummeln seine Zeichnungen an, die er vor den Wachmannschaften verbergen musste. »Es war nicht leicht, diese Zeichnungen zu machen; oft mußte ich mich damit zufrieden geben, die Motive sehr schnell zu Politik & Unterricht • 3-2008 Natürlich haben einige meiner ersten Skizzen aufgrund der empfindlichen und schlechten Qualität der benutzten Materialien und unter den primitiven Bedingungen ihrer Ausführung und ihres Verbergens gelitten. Da ich mich sehr gut an das, was ich gesehen und erlebt hatte, erinnerte, konnte ich einige von ihnen nach meiner Befreiung und während der darauffolgenden Monate im Krankenhaus nachbessern.« Jacques Barrau: Dessins d‘un camp: le camp de Neckarelz/Zeichnungen aus einem Lager: Das Konzentrationsaußenlagerkommando Neckarelz, Karlsruhe 1992 (2. Aufl. Stuttgart 2006), S. 23 51 C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit C 10 Aus der Ukraine nach Neckarelz Ein Foto überlebender KZ-Häftlinge. Alexander W. Rudenko, sitzend, weil sein Bein amputiert ist. Die Aufnahme ist aus dem Sommer 1945. Alexander W. Rudenko, geboren am 28. Juli 1925, stammt aus dem Dorf Rim in der südlichen Ukraine, die Mitte 1942 von der deutschen Wehrmacht erobert worden war. Am 12. Juni 1942 wird er von Einsatzgruppen aufgegriffen und nach Berlin zur Zwangsarbeit verschleppt. Nach einem missglückten Fluchtversuch wird er von der Gestapo gefoltert und in das KZ Sachsenhausen verbracht. Im Frühjahr 1944 wird er für die Rüstungsproduktion von Daimler-Benz in Obrigheim ausgesucht. In Briefen und bei seinem Besuch in Neckarelz im Jahr 1999 erinnert er sich: »Das Lager in Neckarelz war nicht besser als die anderen KZLager (...). Auch in Neckarelz schlug man, folterte, schoss und erhängte. (...) Im KZ-Lager Neckarelz waren Stöcke und Peitschen immer für die Gefangenen bereit. Die SS-Leute badeten uns im Schnee, begossen uns mit kaltem Wasser. Für den Löffel voll grüner Suppe musste man schwerste Arbeit machen. Wegen solchen Lebens warfen sich manche Häftlinge in den Stacheldraht oder versuchten die Flucht zu ergreifen. Aber für jeden zurückgeholten Gefangenen erhielten die Aufseher zwei Wochen Urlaub und die Zivilbevölkerung 450 Mark Belohnung.« [Eine Beinverletzung, die er sich bei einem missglückten Fluchtversuch und den nachfolgenden Strafmaßnahmen zugezogen hatte, behindert ihn in seiner Beweglichkeit. Nach einem weiteren Unfall im Februar 1945 muss das Bein unter primitivsten Verhältnissen amputiert werden. Er überlebt. Mit anderen nicht marschfähigen Häftlingen wird er beim Herannahen der US-amerikanischen Armee Ende März 1945 mit dem Zug evakuiert und bei Osterburken befreit. Nach einem Aufenthalt in einem amerikanischen Auffanglager in Frankfurt und dann in einem Lazarett wurde er im September 1945 in seine Heimat zurückgebracht. Eine Anerkennung als Verfolgter des Nazi-Regimes erfolgt nach dem Krieg nicht. Als Betreuer von geistig behinderten Kindern verdient er zu wenig, um sich einen Rollstuhl leisten zu können. Auch 52 KZ-Gedenkstätte Neckarelz KZ-Gedenkstätte Neckarelz Alexander W. Rudenko kehrte nach mehr als fünfzig Jahren an den Ort des Terrors zurück und besuchte im Oktober 1999 die KZ-Gedenkstätte Neckarelz. die Anerkennung als Kriegsgeschädigter, die er als Rentner beantragt, wird nicht ausgesprochen.] »Man sagt mir: Du hast bei den Deutschen gearbeitet, bei ihnen musst du auch Rente bekommen. (...) Nach dem Krieg bin ich der Organisation der antifaschistischen Kämpfer beigetreten. Ich war Vorsitzender der Organisation in Werchnedneporwsk. In dieser Stadt von 13.000 Einwohnern waren 20 KZ-Häftlinge und 200 Zwangsarbeiter. So lange ich lebe, kämpfe ich gegen das Böse. Ich habe die Lager überlebt. Die jungen Leute, alle, sollen wissen, wie es damals war. Man muss dazu beitragen, dass sich so etwas nie wiederholt. Noch oft habe ich Alpträume. Manchmal sehe ich in der Nacht im Traum, dass ich im Lager bin und ausbrechen will und gejagt werde. Ich wache dann in Schweiß gebadet auf und bekomme einen Herzanfall. Nach meiner Rückkehr nach dem Krieg mussten mich mein Vater und meine Mutter oft nachts wecken, weil ich im Schlaf schrie und um mich schlug. Ich sah, wie man mir das Bein abhackte, wie man mich mit Peitschen schlug und mit Strom folterte. Als meine Mutter noch lebte, tröstete sie mich, wenn ich schreiend nachts aufwachte. Noch heute muss ich weinen, wenn ich mich an all das erinnere. Ich zittere und kann nicht weiter schreiben. Das sind die Nerven.« [Neckarelz, eine der Stätten, wo Alexander W. Rudenko seine »Jugend und Gesundheit« gelassen hatte, hat er erstmals 1999 besuchen können. Auf dem Schulhof, dem ehemaligen Appellplatz, erinnert ein Baum an ihn, der in die »gesegnete Heimaterde« gepflanzt wurde, die er aus der Ukraine mitgebracht hatte. Er starb am 25. Mai 2004.] Zusammengestellt und zitiert nach: Georg Fischer: Alexander Rudenko. Ein Häftlingsschicksal. 2. Aufl. Mosbach 2004, S. 11 f. (KZ-Gedenkstätte Neckarelz) Politik & Unterricht • 3-2008 C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit C 11 Handlungsspielräume in der Diktatur Dr. Hans Wey, geb. 1903 rausgegangenen Vorstoß, Quarantänebaracken aufgestellt. Auch versorgte er die Häftlingsärzte mit Medikamenten, Verbandsmaterial usw. KZ-Gedenkstätte Neckarelz Trotz seines Gesundheitszustandes – er litt seit 1936 an Tuberkulose – engagierte er sich auch nach seiner »Entlassung« weiterhin ehrenamtlich für die Häftlinge. Denn ab Oktober/November 1944 sollte er sich auf Anordnung der SS – ihm soll in diesem Zusammenhang die Einweisung in ein KZ angedroht worden sein – nicht mehr um die Häftlinge kümmern. Dem widersetzte er sich aber erfolgreich. Er selbst bewertete diese Tätigkeit mit den Worten: »Dies war die traurigste, aber auch befriedigendste Arbeit meines bisherigen Lebens.« Und durch diese Erfahrungen distanzierte er sich zunehmend vom Nationalsozialismus. Die Lebensgeschichte von Dr. Hans Wey zeigt exemplarisch auf, »dass auch in einer Diktatur ein anderer Weg als der der Anpassung möglich war, der der Humanität und Nächstenliebe« – so seine Tochter in einem Brief vom 4. Mai 2001 an den Verein der Gedenkstätte Neckarelz. Dr. Hans Wey wurde am 17. Mai 1903 in Mannheim geboren und unterhielt seit 1930 eine Arztpraxis in Neckarelz. Im März 1944 wurde ihm zusätzlich die Betreuung des SSWachpersonals des Außenkommandos Neckarelz vom Lagerkommandanten übertragen. In dieser Funktion setzte er sich aber auch für die Häftlinge ein, um deren medizinische Versorgung durch die Häftlingsärzte zu verbessern. Seine außergewöhnliche Fürsorge als verantwortungsbewusster und rechtschaffener Mediziner zeigte sich in vielen Angelegenheiten: Er setzte sich für Zusatzverpflegung für die Schwerkranken ein und konnte Wesentliches dazu beitragen, die Seuchen einzudämmen. So wurden beispielsweise auf Veranlassung von Daimler-Benz, aber durch seinen vo- C 12 Nach dem Krieg wurde ihm wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft die Approbation [staatliche Zulassung zum Arztberuf] entzogen. Bis 1948 durfte er seine Arztpraxis nicht betreiben. Viele überlebende Häftlinge gaben für seine Rehabilitierung Aussagen ab, die sein positives Wirken als Arzt bei den Häftlingen bezeugten. (...) Zusammenfassend kann man sein großes Verdienst um die Häftlinge folgendermaßen beschreiben: Dank seiner Hilfe und seines Einsatzes trug er Wesentliches dazu bei, dass die Sterberate in Neckarelz im Vergleich zu anderen Lagern relativ niedrig ausfiel. Angelika Stephan: Die KZ-Gedenkstätte in Neckarelz – ein Lernort für den Geschichtsunterricht. Wissenschaftliche Hausarbeit, Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Realschulen nach RPOI vom 24. August 2003, Pädagogische Hochschule Heidelberg 2007 (Ms.), S. 36 f. Erklärung von Jacques Barrau für Dr. Hans Wey (1945) »Ich Unterzeichneter Jacques Barrau, Student an der Universität Toulouse, ehemals charge de mission de 33 classe du Bureau central de renseignement de forces français libres, medaillé de la résistance, ehemals Häftling im Lager zu Dachau und Neckarelz, bescheinige, daß Dr. Wey durch seine Tätigkeit sehr zur Rettung des Lebens zahlreicher Häftlinge beigetragen hat, 1. indem er bei der SS-Lagerführung vorstellig wurde, sodaß eine hygienisch einwandfreie Ernährung zur Verteilung kam, 2. indem er persönlich das Revier mit den notwendigen Arzneien versorgte, 3. indem er die Tätigkeit der französischen Häftlingsärzte Dr. Romer, Dr. Bent, Dr. Salladier unterstützte, die einige Male im Krankenhaus Mosbach operieren konnten, 4. indem er die Anwendung der Vernichtungsmaßnahmen bei arbeitsunfähigen Kranken vermied, wie sie in anderen KZ-Lagern angewendet wurden. Politik & Unterricht • 3-2008 Ich bitte inständig, daß die an Dr. Wey begangene Ungerechtigkeit wieder gutgemacht wird in Anbetracht der uns Häftlingen erwiesenen Dienste und in Anbetracht der in unserem Interesse übernommenen Gefahren, die bei weitem seine Mitgliedschaft bei der NSDAP wieder ausgleichen. Ich bin jederzeit bereit, diese Aussage laut zu wiederholen.« gez. Jacques Barrau [In mehr als zwanzig Schreiben setzten sich nach 1945 ehemalige Häftlinge des KZ Neckarelz für Dr. Hans Wey und die Wiedererlangung seiner Approbation ein.] Quelle: Archiv der Gedenkstätte Neckarelz 53 C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit Evakuierungswege der KZ-Häftlinge in Südwestdeutschland im Frühjahr 1945 Lucia Winckler, 2008 C 13 Die Räumung der Konzentrationslager zog sich von April 1944 bis Mai 1945 hin. Sie zeichnete sich durch eine ungeheure Brutalität und immense Todeszahlen aus; die »Evakuierungsmärsche« werden zu Recht als Todesmärsche bezeichnet. Zwei Marschrouten lassen sich erkennen: die Südroute, deren Ziel die sogenannte Alpenfestung war, sowie die sogenannte Nordroute, die in der »Festung Nord« enden sollte. Während die »Alpenfestung« als reines Trugbild anzusehen ist, scheint sich hinter der »Festung Nord« ein Ziel verborgen zu haben. Offenbar planten die Verantwortlichen, die KZ-Häftlinge nach Norwegen zu verschleppen – zu welchem Zweck auch immer. (…) 54 Wohl mindestens ein Drittel der im Januar 1945 über 700.000 registrierten KZ-Häftlinge oder gar die Hälfte starb auf den Todesmärschen oder in den Sterbelagern. Karin Orth: Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien. 2. Aufl., Wallstein Verlag, Göttingen 2002, S. 30 f. Politik & Unterricht • 3-2008 C • Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler: Vernichtung durch Arbeit C 14 Die »Todesmärsche« bei der Evakuierung der Konzentrationslager Centre européen du résistant déporté, Natzweiler Die Aufnahme der US-Armee von Anfang April 1945 zeigt den verlassenen Deportationszug zwei Kilometer vor dem Bahnhof Osterburken nach der Befreiung von etwa 850 Häftlingen des KZ-Komplexes Neckarelz. Kurz vor Kriegsende trieb die SS mehr als 20.000 KZ-Häftlinge vor den anrückenden Alliierten – meist zu Fuß – quer durch Süddeutschland in frontferne Lager. Bei diesen berüchtigten »Todesmärschen« spitzte sich die Situation der Häftlinge durch Hunger und Erschöpfung, durch Krankheiten, durch das kühle Wetter und nicht zuletzt auch durch Luftangriffe der Alliierten dramatisch zu. Viele der Häftlinge befanden sich kurz vor dem Tod durch Auszehrung. Es wird geschätzt, dass in Südwestdeutschland etwa 5.000 Häftlinge vor Schwäche starben oder ermordet wurden, weil sie nicht mehr weitermarschieren konnten. Entlang der Route der »Todesmärsche« wurde auch die Zivilbevölkerung mit dem Leiden der Häftlinge konfrontiert. Die Menschen reagierten darauf vor allem verunsichert. Überlebende Häftlinge berichten von tiefer Verachtung, aber auch von aufkommendem Mitleid und von Versuchen, den Häftlingen heimlich Nahrungsmittel zuzustecken. Als ab März 1945 US-amerikanische und französische Soldaten den Südwesten Deutschlands befreiten, trafen sie nur noch auf rund 2.500 Häftlinge des KZ Natzweiler: etwa 850 konnten in einem Evakuationszug der Neckarlager bei Osterburken befreit werden. Im Sterbelager Vaihingen/Enz trafen die Soldaten auf 600 Häftlinge, am Bodensee auf 600 Häftlinge aus den »Wüste«-Lagern auf der Schwäbischen Alb sowie auf weitere 100 Häftlinge, denen die Flucht gelungen war. Nach: Georg Fischer: Die Todesmärsche bei der Auflösung der Außenlager des K.L. Natzweiler, in: Konrad Pflug/Ulrike RaabNicolai/Reinhold Weber: Orte des Gedenkens und Erinnerns in Baden-Württemberg, Stuttgart 2007, S. 270 ff. ARBEITSAUFTRÄGE ZU C 1 – C 14 ◗ Erläutert anhand der Texte und Bilder die Arbeits- und Lebensbedingungen im Lager Neckarelz. ◗ Bildet zwei Gruppen und erklärt in eigenen Worten jeweils in einem kurzen Essay die Begriffe »KZ-Außenlagersystem« und »Vernichtung durch Arbeit«. ◗ In Bezug auf die KZ-Außenlager wird auch von der »Allgegenwart des Konzentrationslagers« gesprochen. Gemeint sind damit vor allem die Kontakte, die sich im Alltag zwischen Häftlingen und ansässiger Bevölkerung ergaben. Stellt aus den Materialien die Aspekte zusammen, die diese »Allgegenwart« belegen. ◗ Überlegt und sammelt Begründungen: Wer musste in einer kleinen Ortschaft wie Neckarelz von der Realität im Lager noch alles gewusst haben? ◗ Beschreibt und beurteilt die Handlungsmöglichkeiten der ansässigen deutschen Bevölkerung. ◗ Die Behandlung der Häftlinge durch die SS zielte darauf, ihre Persönlichkeit zu zerstören. Stellt die Hinweise darauf in den verschiedenen Texten und Bildern zusammen. Politik & Unterricht • 3-2008 ◗ Welche Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang das Zeichnen für den KZ-Häftling Jacques Barrau (C 9)? ◗ Wie beurteilt Ihr den Quellenwert der Zeichnungen von Jacques Barrau für die Zustände im KZ Neckarelz? ◗ Nennt die Folgen, die die Zwangsarbeit in Deutschland auf das weitere Leben von Alexander W. Rudenko hatte. ◗ Im Gemeinderat wird diskutiert, ob eine Straße in Neckarelz nach Dr. Hans Wey benannt werden soll. Sammelt hierfür Pro- und Contra-Argumente. Wie würdet Ihr entscheiden? ◗ Recherchiert in Literatur und Internet zu den Todesmärschen auf dem Gebiet des heutigen Landes Baden-Württemberg. Erstellt eine Präsentation mit Bildern und Fotos, die die Todesmärsche als Quellen dokumentieren oder Denkmäler und Gedenkorte zeigen. ◗ Diskutiert mögliche Reaktionen der Siegermächte auf Berichte über die Zustände in den befreiten Konzentrationslagern und über die Todesmärsche. 55 Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77 [email protected], www.lpb-bw.de Direktor: Lothar Frick Referenten des Direktors: Sabina Wilhelm/Thomas Schinkel Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ Stabsstelle Marketing Leiter: Werner Fichter Öffentlichkeitsarbeit: Joachim Lauk -60 -62 -40 -63 -64 Abteilung Zentraler Service Abteilungsleiter: Günter Georgi -10 Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer -12 Personal: Ulrike Hess -13 Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14 Siegfried Kloske, Haus auf der Alb, Tel.: 07125/152-137 Abteilung Demokratisches Engagement Abteilungsleiter/Gedenkstättenarbeit: Konrad Pflug* -30 Politische Landeskunde: Dr. Iris Häuser -20 Bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement: Dr. Jeannette Behringer -23 Schülerwettbewerb des Landtags: Monika Greiner* -25 Thomas Schinkel* -26 Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel -29/-32 Freiwilliges Ökologisches Jahr: Steffen Vogel* -35 Anke Schütze*/Charlotte Becher* -36/-34 Stefan Paller* -37 Abteilung Medien und Methoden Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ -40 Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs: Dr. Reinhold Weber -42 Deutschland & Europa: Jürgen Kalb -43 Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe: Siegfried Frech -44 Politische Bildung Online/E-Learning: Susanne Meir -46 Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik, Haus auf der Alb, Tel.: 07125/152--136 Internet-Redaktion: Klaudia Saupe -49 Außenstelle Freiburg Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg Telefon: 0761/20773-0, Fax -99 Leiter: Dr. Michael Wehner Jennifer Lutz -77 -33 Außenstelle Heidelberg Plöck 22, 69117 Heidelberg Telefon: 06221/6078-0, Fax -22 Leiter: Wolfgang Berger Angelika Barth Peter I. Trummer -14 -13 -17 Außenstelle Tübingen Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach Telefon: 07125/152-133, -148; Fax -145 Leiter: Rolf Müller Klaus Deyle -135 -134 * Bürositz: Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart Telefon: 0711/164099-0, Fax -55 LpB-Shops/Publikationsausgaben Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0 Montag bis Freitag 8.00 –12.00 Uhr und 13.00 –16.30 Uhr Abteilung Haus auf der Alb Tagungsstätte Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach Telefon 07125/152-0, Fax -100 www.hausaufderalb.de Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik: Dr. Markus Hug Schule und Bildung/Integration und Migration: Robert Feil Internationale Politik und Friedenssicherung/ Integration und Migration: Wolfgang Hesse Europa – Einheit und Vielfalt: Dr. Karlheinz Dürr Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann Hausmanagement: Erika Höhne Außenstellen Regionale Arbeit Politische Tage für Schülerinnen und Schüler Veranstaltungen für den Schulbereich Freiburg -146 -139 -140 -147 -121 -109 Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-10 Dienstag und Donnerstag 9.00 –17.00 Uhr Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11 Dienstag, 9.00 –15.00 Uhr Mittwoch und Donnerstag 13.00 –17.00 Uhr Stuttgart Stafflenbergstraße 38, Telefon 0711/164099-66 Montag und Donnerstag 14.00 –17.00 Uhr Newsletter »einblick« anfordern unter www.lpb-bw.de/newsletter POLITIK & UNTERRICHT IM INTERNET Aktuelle, ältere und vergriffene Hefte zum Downloaden: www.politikundunterricht.de BESTELLUNGEN Alle Veröffentlichungen der Landeszentrale (Zeitschriften auch in Klassensätzen) können schriftlich bestellt werden bei: Landeszentrale für politische Bildung, Marketing, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax 0711/164099-77 [email protected] oder direkt im Webshop www.lpb-bw.de/shop Bitte beachten Sie die Lieferbedingungen: Bei Bestellungen kostenfreier Produkte gehen ab 1 kg die Versandkosten zu Ihren Lasten. 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