SINNE UND SINNESERFAHRUNG IN DER GESCHICHTE

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SINNE UND SINNESERFAHRUNG
IN DER GESCHICHTE
Forschungsfragen und Forschungsansätze
WOLFRAM AICHINGER
EINLEITUNG
Versuchen wir uns eine vergangene Epoche zu vergegenwärtigen, so
sind es vor allem Bilder, die sich aufdrängen: Burgen, Kathedralen,
Ansichten mittelalterlicher Städte, Bauernstuben, Brueghel, Hieronymus Bosch, Murillo, Velázquez … . Vorstellungen von der Vergangenheit entstehen aus Bildquellen, darüber hinaus aus Bildern, die durch
Texte hervorgerufen werden und aus filmischen Rekonstruktionen. Sie
sind geprägt von der Vorherrschaft des Sehsinns, einem Merkmal der
Neuzeit, wie KulturhistorikerInnen vermuten. Unterlegt sind visuelle
Vorstellungen von den Wörtern, den Klängen und Geräuschen, die wir
vergangenen Epochen zuschreiben: Hufgetrappel, Gezeter von Marktverkäufern, Schlachtengetümmel oder die Zwangshandlungen mancher Dokumentarfilme: Kein Mittelalter ohne den dunklen mönchischen Hintergrund gregorianischer Choräle.
Fragen wir uns aber etwa „Wie roch es in der mittelalterlichen Stadt?
Wie schmeckte das Essen einer Bäuerin?“, so ist Einfühlung viel schwieriger und noch mehr, wenn wir versuchen, taktile Empfindungen der
Vergangenheit nachzuempfinden: Die Spuren, die Werkzeuge, Rohstoffe, Erde und Pflanzen, Tierkörper, Kleider, Parasiten, Meeresbrise, Feuer
oder Winterkälte auf der Haut hinterließen; das Berühren, Spüren, Streicheln, Handauflegen, Packen, Festhalten, Verletzen, Foltern im zwischenmenschlichen Umgang. Ziel einer Geschichte der Sinneswahrnehmung ist es folglich, durch Einbeziehung des Geruchs, Geschmacks,
des Tastens und der Bewegungsempfindungen Vergangenheitsbilder
zu ergänzen und zu erweitern und darüber hinaus zu erkunden, war-
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um und wie sich Sehen, Schauen, Horchen und Hören im Lauf der
Zeit gewandelt haben.
Das Thema lädt also dazu ein, Quellen auf jene Wahrnehmungen
hin zu befragen, die in ihrer Bedeutung oftmals Wörtern und Bildern
untergeordnet sind: Dazu bieten sich Ego-Dokumente (Briefe, Tagebücher, Autobiographien) ebenso an wie literarische Texte – von den vielfältigen Sinnessignalen der höfischen Literatur etwa über die grausame Sinnenwelt des Simplicissimus bis zu den Geräusch- und Lärmobsessionen von Franz Kafka. Auch Bildquellen eröffnen unerwartete
Einblicke, wenn sie „synästhetisch“, also auf visualisierte Laute, Aromen und taktile Erfahrung hin betrachtet werden.
Eine solche Rekonstruktion kann helfen, soziale Gegebenheiten besser zu verstehen: Dass Blinde in der Frühen Neuzeit den Alltag Nichtblinder problemlos(er) teilen konnten, lag auch an der soundscape. Sie
konnten sich an der Vielfalt fein kontrastierender Geräusche in einer
Weise orientieren, wie es der hohe Geräuschpegel, verursacht durch
Maschinen, Straßen- und Fluglärm, heute nicht mehr erlauben würde
(Truax 1971:1; zum Umgang mit Sinnesbehinderung in der Gegenwart
vgl. den Beitrag von Eduard Fuchs in diesem Band).
Doch bloße Rekonstruktion sinnlicher Eindrücke bleibt einseitig,
wenn sie sich auf das konzentriert, was aus der Außenwelt als Ton,
Geschmack, Geruch, Bild, Zugriff oder Berührung auf Menschen einstürmte. Denn sie löst nicht das Problem, das Johan Huizinga (1872–
1945) im Herbst des Mittelalters mit einprägsamen Beispielen auf den
Punkt brachte: Welche Wirkung „ein einzelnes Lichtlein“, das in stockfinsterer Nacht aufleuchtete, welchen Eindruck ein einsamer ferner
Ruf in völliger Stille hinterließ, ist uns nicht nachvollziehbar (Huizinga
1975:2). Wir sind ganz unterschiedlichen klanglichen und visuellen
Umwelten ausgesetzt, Stärke, Sequenzen und Kontraste folgen anderen Mustern, unsere Sinne sind in anderer Weise erzogen, geschärft
oder abgestumpft. Was den mittelalterlichen Menschen stark reizte,
ist für uns möglicherweise schwacher Stimulus – oder umgekehrt. Vor
allem aber messen wir Erfahrungen andere Bedeutungen bei und bewerten sie unterschiedlich.
Damit sind Kernbereiche einer historischen Anthropologie der Sinne angesprochen: Sie fragt erstens nach dem Wandel der menschlichen Sensibilität in der Wechselwirkung mit geänderten Umwelten.
Zweitens erforscht sie den unterschiedlichen Gebrauch und das Zusammenspiel der Sinne in unterschiedlichen Kulturen und Epochen.
Drittens untersucht sie die wechselnden Bedeutungen, Werte und Normen, mit denen die Sinne und einzelne Sinneseindrücke verknüpft
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waren. Im Folgenden werde ich diese Punkte im Zuge einer Tour
d’Horizon einzeln behandeln, wobei ich mich vorwiegend auf die Debatte in der Geschichtswissenschaft und Anthropologie beziehe. Es
sollen dabei auch Aspekte und Themen angesprochen werden, welche
die übrigen Beiträge ausführlicher behandeln.
D E R W A N D E L D E R S I N N L I C H E N L E B E N S W E LT E N U N D
DER MENSCHLICHEN SENSIBILITÄT
Der Wandel des sinnlichen Inputs
Menschen leben und arbeiten in unterschiedlichen sinnlichen Welten
und können diese in vieler Hinsicht selbst gestalten (Radio Energy oder
Rolling Stones, Räucherstäbchen oder Chanel); doch der historische
Wandel der Lebens- und Arbeitsweise führte immer wieder zu großen
Veränderungen: So wandelte sich die europäische Klangwelt ganz entscheidend, als sich ab dem 6. Jahrhundert die Glocke verbreitete und als
das Schmettern der Orgeln nicht nur in Byzanz, sondern auch in Frankreich die Kirchen füllte. Neue Hörerfahrung stellte sich im Mittelalter
überall dort ein, wo Stein als Baumaterial und als Straßenpflaster eingeführt worden war und damit die Klänge der Hufe und Räder ungleich
stärker reflektiert wurden als zuvor durch Erdboden und Holzhäuser
(vgl. den Beitrag von Wolfgang Wagner in diesem Band; Corbin 1995).
Drastische Auswirkungen auf die Hörerfahrung hatte Jahrhunderte
später das Aufkommen industrieller Produktionsweise (vgl. die Beiträge von Robert Jütte und Peter Payer in diesem Band). Eine völlig veränderte visuelle Erfahrungswelt brachte das elektrische Licht: Glühbirnen leuchteten Innenräume gleichmäßig aus; mit Kerze, Fackel oder
Petroleumlampe verschwanden daher nicht nur flackernde Schatten
und Halbdunkel, sondern auch Phantasiewelten: die Furcht vor Geistern und Unholden, die sich in diesen Zwischenbereichen tummelten
(Arnold 1986).
Geschmäcker wandelten sich in der Neuzeit und Moderne mit dem
Verkümmern der vormals reichen Gewürzkultur, mit der Verbreitung
exotischer Nahrungs- und Genussmittel (Kaffee, Kakao, Tabak), mit
der drastischen Zunahme des Zuckerverbrauchs in allen Schichten,
mit der unterschiedlichen Konjunktur alkoholischer Getränke, schließlich mit dem Aufkommen künstlicher Aromastoffe und Geschmacksverstärker und in der jüngsten Vergangenheit durch Fast Food, Nouvelle
Cuisine und die Internationalisierung der Küche (Jütte 2000:229-234;
271-283; vgl. den Beitrag von Nikola Langreiter in diesem Band).
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Als Klassiker gilt heute Alain Corbins Buch Pesthauch und Blütenduft: Es beschreibt den Kampf gegen den Gestank der Kloaken, den
die Eliten Frankreichs im 18. Jahrhundert begannen und die daraus
entstehenden sozialhygienischen und städtebaulichen Maßnahmen des
19. Jahrhunderts sowie die desodorierte Umwelt der Moderne (Corbin
1984).
Unterschiedliche Faktoren bewirkten also einen nachhaltigen Wandel der Sinneswelt für viele: Städtebau und Stadtplanung, technische
Neuerungen, der Wandel der Arbeitstechniken und Arbeitsweisen und
kultureller und religiöser Praktiken. Ein Schlüsselfaktor waren schließlich die Medien: Man stelle sich nur Klangsphären ohne Radio, Telefon, Fernsehen vor, Bildwelten ohne Fotoapparat, Film, Fernsehen,
Zeitungen und Zeitschriften (vg. den Beitrag von Angelika Klampfl in
diesem Band).
In diesem Sammelband ist vor allem von Westeuropa die Rede. Doch
möchten wir ausdrücklich Anschluss-Stellen für interkulturellen Vergleich öffnen: Claudia Leitner untersucht in ihrem Beitrag die Auswirkungen und Rückwirkungen kolonialer Expansion in den Westen. Hier
sei als Beispiel die historische soundscape im osmanischen Reich genannt: Unterschiedliche Transportmittel führten dort zu einer Klangumwelt, die sich deutlich von der west- und zentraleuropäischen unterschied (wenn wir einmal von Venedig absehen). Im Gegensatz zum
„rattling, rowling, rumbling“ englischer Städte waren Besucher Istanbuls befremdet von der Stille der Straßen, was sich auch aus unterschiedlichen historischen Entwicklungen des Verkehrswesens im Osmanischen Reich erklären lässt. Vorherrschaft des Kamels und des
Maultiers, geringe Bedeutung von Wägen und Kutschen, die Lasttiere
waren gewöhnlich nicht beschlagen, so fehlte auch das Hämmern der
Hufschmiede, die in Westeuropa den Stellenwert heutiger Autowerkstätten hatten. Bis ins 20. Jahrhundert empfinden Orientreisende den
Kontrast zwischen dem lärmenden Bazar und der Stille der Wohnviertel, in denen sie nur spielende Kinder, Hundegebell oder die Stimmen
der Ausrufer hörten (Stoianovich 1994:74-77).
Aufschlussreich kann auch ein Vergleich der Techniken zur Konservierung von Lebensmitteln sein. So bewirkte das Frischhalten durch
Kühlen und Einfrieren eine ganz andere Geschmacks- und Geruchskultur als sie aus Pökeln, Räuchern oder dem Konservieren durch Gewürze, wie es in arabischen Regionen üblich war, hervorgeht (Howes
1990a:5).
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Wandel der Sensibilität?
Der Wandel der sinnlichen Umwelt lässt sich in groben Zügen rekonstruieren. Viel schwieriger zu beantworten ist die anschließende Frage, ob und in welcher Weise sich damit auch die Qualität sinnlicher
Wahrnehmung beim Menschen selbst veränderte. Die Frage also: Wie
wurde wahrgenommen? Die Wechselbeziehung zwischen Mensch und
Lebenswelt bewegt sich dabei in der Spannung von Reizung, Überreizung, Gewöhnung, Resignation oder Entfernung des Reizes, damit einher geht eine Intensivierung, Schärfung, Abstumpfung, Trübung, Verarmung oder auch das völlige Aussetzen des betroffenen Sinnesorgans.
Zugleich ändern sich die Reizschwellen, die Toleranzgrenzen und die
Bewertungen, also etwa die Vorstellung davon, welche Gerüche unerträglich und welcher Krawall ohrenbetäubend ist. Lassen sich hier großflächige Tendenzen beschreiben?
Die Antworten, die sich in vielen historischen Quellen anbieten, sind
offenkundig geprägt von Vorurteilen (vgl. C. Leitner in diesem Band):
So galt es den Eliten als selbstverständlich, dass die schwieligen Hände des Bauern oder der Arbeiterin oder das von Salzwasser und Wind
gegerbte Gesicht des Matrosen völlig abgestumpft, gefühllos und daher nicht mehr fähig waren, feine Nuancen der Umwelt wahrzunehmen (Corbin 1993:205f).
Gelehrte arbeiteten mit Körpermodellen, die den Geschlechtern
unterschiedliche Empfindsamkeit zuschrieben. Noch 1853 konstatiert
der königliche Leibarzt Carl Gustav Carus, dass „ein Körper mit zartem leichtem oder minder hartem Knochengerüst […] allemal das Symbol abgeben werde einer Seele, welche wesentlich die Eigenschaften
des Weibes besitzt, folglich durch geringere Willensenergie, durch
Weichheit des Gemüts und mehr Sensibilität als Geistesstärke sich auszeichnen werde“ (Jütte 2000:154).
In der Geschichtsschreibung waren Johan Huizinga und die französische Annales-Schule Pioniere in der Erforschung dieser Frage: So
schließt Lucien Febvre (1878–1956) aus den starken und plötzlichen
sinnlichen Kontrasten der Frühen Neuzeit auf eine Gefühlskultur, die
von der heutigen sehr verschieden ist:
„Der Gegensatz von Tag und Nacht – was bedeutet er uns Menschen
des 20. Jahrhunderts? Nichts oder so gut wie nichts. […] Die Menschen des Mittelalters? Oder die des 16. Jahrhunderts? Sie waren nicht
Herren über Tag und Nacht, jedenfalls nicht die Armen, die nicht einmal Öllampen besaßen, nicht einmal Kerzenlicht, wenn die Nacht hereinbrach. […] Tag und Nacht, Hell und Dunkel, Totenstille und lär-
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mende Betriebsamkeit – wie sollte es bei den Menschen dieselben geistigen Gewohnheiten, dieselben Weisen des Denkens, Fühlens, Wollens,
Agierens und Reagierens erzeugt haben wie unser gesichertes, behütetes, von Anstößen und schroffen Gegensätzen bereinigtes Leben. […]
Wer im 16. Jahrhundert im Januar sein Haus betrat, spürte, wie die
Kälte auf ihn niedersank, die stehende, klamme, finstere Kälte der
unbeheizten Mauern. Schon beim Hereinkommen schlotterte man. So
wie man zuvor in der Kirche geschlottert hatte. Wie man im Palast des
Königs schlotterte, trotz der hohen Kamine, in die man ganze Bäume
schob. Und das erste, was ein Heimkommender tat, war nicht, sein
Wams abzuwerfen, sondern einen Überrock anzulegen, der noch wärmer war als sein Ausgehrock, und eine Pelzmütze aufzusetzen, die dicker war als die Straßenmütze.“ (Febvre 1988:86f)
Febvre und auch Huizinga sehen solche Lebenswelten in Zusammenhang mit einem Haushalt der Emotionen, der gekennzeichnet war
von heftigem Aufwallen und Umschwung der Gefühle, von Hass, Rachsucht, rasender Grausamkeit einerseits, Großmut, tiefer Rührung und
pathetischem Mitleid andererseits (Febvre 1988:96f; Huizinga 19659).
Leicht „reizbar“ war nach eigenem Zeugnis ein Intellektueller der
anbrechenden Neuzeit, Francesco Petrarca (1304–1374): Er klagte über
die ihn umgebende, oder genauer über die von ihm gefilterte Hörlandschaft: „Wer litte nicht unter den Kämpfen der Nachtvögel, der Eulen und der Käuze, unter dem allzu langen Wachen der Hunde, die den
Mond anbellen, und der Katzen, die zwischen den Dächern mit schrecklichem Miauen ihre Händel austragen und uns mit Höllenstimmen aus
dem ruhigen Schlaf reißen; unter dem lästigen Knirschen und Nagen
der Mäuse und allem anderen, was nächtens Krawall schlägt […] und
vor allem das Grunzen der Schweine, die Rufe und Stimmen des Volkes
[…], das launige Singen der Betrunkenen – nichts könnte trauriger sein –
und die Händel der Streithähne, und das Keifen der Alten und ihr Geschrei, und der Zank und das Weinen der Kinder, und die vergnügten
Hochzeitstafeln mit ihren Tänzen, und die frohen Tränen der Frauen,
die zum Schein um ihre Männer weinen und die wahrhaftigen Klagen
der Eltern am Grab ihrer Kinder.“ (Gilman 1974:259, Übersetzung W.A.)
Diese grellen Töne und vielfältigen Kontraste, schärften sie das
Sinnesvermögen oder ließen sie die Sinne abstumpfen? Der Wortschatz
deutet darauf hin, dass Menschen in der Vergangenheit eine größere
Vielfalt an Wahrnehmungen unterschieden. So zeigt Jütte in seinem
Beitrag, dass man in der Frühen Neuzeit eine reichere Palette von
Wörtern verwendete, um unterschiedliche Geruchsnoten zu beschreiben (vgl. den Beitrag von Robert Jütte in diesem Band).
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Literarische Texte, Essays und Ego-Dokumente sind voll der Klagen
über Lärm und Gestank oder zeugen von der Lust an Duft, Geschmack
und Berührung, doch sie vermitteln keine absoluten Werte und die
Grenze zwischen dem Authentischen und der sprachlichen Formel ist
oft schwer auszumachen: Was meinte Miguel de Cervantes (1547–1616),
wenn eine Frauenfigur seiner Zwischenspiele ausruft, der Mund ihres
Liebhabers dufte wie tausend Orangenblüten (Cervantes 1998:271)?
Was empfand Michel de Montaigne (1533–1592), wenn er, so sein eigenes Zeugnis, den Geruch der gierigen und klebrigen Küsse seiner
Jugendlieben (les étroits baisers de la jeunesse, savoureux, gloutons et
gluants) stundenlang in seinem Schnurrbart aufbewahrte und mit sich
trug (Montaigne 2002:235). Der katalanische Franziskanermönch
Francesc Eiximenis wiederum hat im 14. Jahrhundert zum Geruch folgende Anekdote in der Feder: Orfiton, König von Tunis, beobachtet seinen Kammerdiener Fezel vom Fenster aus, während dieser in seine Achseln und an seinem Schweiß riecht – und an seinen Fingern, mit denen
er die Zehen gesäubert hat. Orfiton lässt Fezel sofort entlassen, denn
sein Verhalten deute klar auf ein animalisches Wesen. Welche Geruchsvorstellung hatte der König dabei im Kopf (Eiximenis 1981:383)?
Seit dem 19. Jahrhundert versucht man, subjektive Urteile durch
„objektive“ Messungen zu ersetzen und so die Auswirkungen von
Fabriksarbeit und Straßenlärm zu ermitteln (vgl. die Beiträge von Peter Payer und R. Jütte in diesem Band). Doch das Problem, dass Sinneserfahrung mit kulturellen und individuellen Konnotationen untrennbar verknüpft ist, bleibt damit bestehen: Die einen assoziieren den Lärm
von Motorrädern mit Sommer und Freiheit, die anderen finden ihn
aufreibend (vgl. den Beitrag von P. Payer in diesem Band).
Für Corbin steht am Ende von sozialhygienischen Maßnahmen und
dem Bau von Kanalisationssystemen die desodorierte Umwelt der Gegenwart. Der Geruchssinn, der Sinn der Nähe und der Übergänge –
Blühen, Reifen, Gären, Verfaulen, Verwesen – verarmte. Doch hat er
damit seine Wirkung auf Hirn und Psyche verloren? Kann von einer
verarmten geruchlichen Umgebung einfach auf einen verkümmerten
Geruchs-Sinn geschlossen werden, wie das Corbins Darstellung nahe
legt?
Folgen wir den Studien von Annick le Guérer, so ist das keineswegs
sicher (Le Guérer 1990:25-44): Die Autorin geht der Rolle von Gerüchen
in drei Bereichen nach: in sozialen, auch intimen Beziehungen, in der
Medizin und der Erkenntnis. Ihre Folgerungen: Heute wie in der Vergangenheit füllt jeder Mensch die ihn umgebende Luftschicht mit
Geruchsstoffen, die Botschaften über soziale und kulturelle Zugehörig-
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keit (und damit Lebensgewohnheiten, Geschmack, finanzielle Möglichkeiten), aber auch etwa die Gesundheit enthalten. Durch Gerüche ließ
und lässt sich soziale Ein- und Ausgrenzung ausdrücken. (1930 behauptet, um nur ein Beispiel zu nennen, der Literat Somerset Maugham, die
Entwicklung der Demokratie gehe mit der Durchsetzung der Morgendusche in allen Gesellschaftsschichten einher [Le Guérer 1990:26]). Gerüche wirken und sie können Verhalten steuern, oft unterhalb der
Bewusstseinsschwelle, so etwa im Bereich der Sexualität.
Und wenn auch den Philosophen von der Antike bis zur Gegenwart
der sprachlich schwer fassbare, allzu gefühlsbeladene und immer an
konkrete Situationen gebundene Geruchssinn suspekt war, so anerkannten sie doch seine einzigartige Kraft, Erinnerungen wachzurufen, ja
mit einem Zauberschlag versunkene Welten heraufzubeschwören.
In der Heilkunst verloren allerdings Gerüche mit der Verbreitung
der Erkenntnisse von Pasteur über Mikroorganismen ihre zentrale
Bedeutung. Zuvor wurde ihnen die Fähigkeit, Krankheiten zu übertragen zugeschrieben, ja man stellte sich etwa die Pest als geruchsstoffliches Phänomen vor. Auf der anderen Seite galten Aromen als wichtige Heilmittel, und neueste naturwissenschaftliche Erkenntnisse scheinen den alten Auffassungen in mancher Hinsicht Recht zu geben.
Aus der Analyse der drei genannten Bereiche zieht Le Guérer den
Schluss, dass Corbins These von der Verkümmerung des Riechens präzisiert und relativiert werden müsse. Statt von Verarmung des Geruchssinns sei es eher angebracht, von einer übermäßigen Empfindlichkeit
der Nase zu sprechen, die einseitig abstoßenden Körperausdünstungen
nachspüre. Dem stehe keine reiche und variierte Aroma- und Duftkultur mehr gegenüber, wie sie ferne Zeiten und Kulturen kannten/kennen. Die Kontroverse zwischen Corbin und Le Guérer entstand auch
daraus, dass menschliche Innenwelt und Außenwelt vermischt wurden: Spricht Corbin von der desodorierten Moderne, dann meint er
wohl die Geruchsumwelt, während Le Guérer vom Geruchsvermögen
an sich spricht. Interessiert sich Corbin für Schrift und Rede über Gestank und seine üblen Folgen, so studiert Le Guérer auch die Wirkungen von Duftstoffen im vorbewussten und außersprachlichen Bereich.
Exkurs in die Sinnesbiologie
An dieser Stelle kann ein kurzer Abstecher in die Wahrnehmungspsychologie und Sinnesbiologie nützlich sein: Klänge entstehen nicht
im Ohr und Bilder nicht im Auge, sondern als Repräsentationen der
Umwelt erst im Gehirn. Sie sind das Ergebnis von Selektion – nur ein
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verschwindender Bruchteil dessen, was wir an Reizen empfangen, wird
mental verarbeitet und ein noch geringerer Teil findet Eingang ins Langzeitgedächtnis. Außerdem heißt Wahrnehmen immer Interpretieren
(Barth 1989, 2003). Es werden also neue Eindrücke auf der Grundlage
erlernter Modelle gedeutet und verarbeitet. (Dass Wahrnehmen aktive
Konstruktion ist, wird besonders deutlich bei veränderten Bewusstseinszuständen, ausgelöst etwa durch Fasten, Schlafentzug oder Drogenkonsum: Dann überfluten die inneren Bilder das Bewusstsein und
werden unmittelbar in die Außenwelt projiziert. Auch das Traumbewusstsein schützt den Schlaf, indem es Körperreize zu Traumbildern
verarbeitet.) Die Art und Weise, in der Sinneseindrücke gedeutet werden, ist nicht nur biologisch, sondern in hohem Maße kulturell bedingt. Wahrnehmungsmuster entstehen vor allem in der Kindheit und
prägen nachfolgend die Weltbilder eines Menschen. Wesentliches Merkmal menschlichen Wahrnehmungsvermögens ist schließlich die Fähigkeit, Sinneserfahrung zu imaginieren, das heißt Erlebtes wachzurufen
und mental neu zu vernetzen (vgl. die Beiträge von Michael Kimmel
und Gerhard Neuweiler in diesem Band).
Der Sinnesbiologie zufolge gibt es das Riechen oder das Tasten nicht
als starre unveränderliche Potenz. Vielmehr sind Sinnesfähigkeiten stets
an bestimmte Verhaltensprogramme geknüpft. Sie sind zielgerichtet
und geleitet vom gerade verfolgten Interesse und dem daran gekoppelten Verhaltensprogramm (Barth 1989:30-35). (So gibt es etwa „das
Sehen“ der Bienen nicht. Vielmehr wird Farbsehen aktiviert, wenn sie
eine Blumenwiese bearbeiten, bei Langstreckenflügen dagegen verhalten sie sich, als wären sie farbenblind.) Die Neuronen, die für Wahrnehmung zuständig sind, sind nicht „fest verkabelt“, sondern arbeiten
situationsabhängig höchst flexibel, weshalb auch bisher Computersimulationen gescheitert sind (Barth 2003).
Darüber hinaus kann ein und dieselbe Sinneszelle ganz unterschiedliche Signale vermitteln, wobei Hormonhaushalt, oder Jahreszyklus
ebenso eine Rolle spielen wie die Gelüste, die gerade im Vordergrund
stehen (Barth 1989:20ff, 2003). (Wer mehrere Tage gefastet hat, kennt
die ungeahnte Intensität der Düfte und Verlockungen, die plötzlich aus
jedem Gasthaus dringen, um Nasenflügel und Phantasie zu umschmeicheln.)
Ich denke, dass diese Modelle auch der Kulturgeschichte Denkanstöße geben können. Vielleicht sollte auch sie von variierenden Sensibilitäten
in ein und derselben Kultur, innerhalb ein und derselben sozialen Gruppe ausgehen und je nach Lebenssituation und Interessenlage differenzieren. Dabei wären folgende fünf Bereiche zu unterscheiden:
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1) Die Gestalt der sinnlichen Umwelt.
2) Die Funktion und Leistung der äußeren Sinnesorgane (der „sensorischen Peripherie“).
3) Die Verarbeitung, Deutung und Bewertung von Sinneseindrücken
in Gehirn und Zentralnervensystem.
4) Die ausdrücklichen Normen und der bewusste soziale Gebrauch der
Sinnesfähigkeiten und schließlich:
5) Die Funktion von Sinneserfahrungen in der symbolischen Ordnung
einer Kultur.
Die letzten beiden Punkte erweisen sich wohl als jene Felder, die kulturwissenschaftlicher Forschung am leichtesten zugänglich sind. Hier lassen sich auch am ehesten kulturelle Unterschiede festmachen. Ich greife
sie im Folgenden auf.
WANDEL DES SINNES-GEBRAUCHS
Hierarchie und Zusammenspiel der Sinne
Sinneseindrücke strömen nicht auf uns ein, wir machen aktiv von Auge,
Ohr, Nase, Haut und Zunge Gebrauch. Sinneserfahrung entsteht aus
Interaktion mit der Lebenswelt, auch wenn uns das nicht immer
bewusst ist. Bereits die antike Philosophie beschrieb nicht nur das
Greifen, sondern auch das Sehen und Hören als gerichtete Tätigkeiten: Pythagoras (um 570–500) fasste das Hören „als einen nach außen
wirkenden Vorgang […], bei dem von der Seele ein warmer, feiner Luftstrom ausströmt. Den Sehvorgang erklärte er sich so, dass aus den
Augen eine Art unsichtbares Feuer hervorgehe, das die wahrzunehmenden Objekte berühre und ihre Formen und Farben erfasse.“ (Jütte
2000:41) Der Sehsinn ist hier zugleich Tastsinn, Sehen heißt auch Spüren (Böhme 2001:13).
Eine solche Auffassung von Wahrnehmung erinnert an heutige Auffassungen der Sinnesbiologie und kann auch historisch-anthropologische Forschung anregen; allerdings wird diese kulturelle Normen und
Vereinbarungen, die den Sinnesgebrauch regeln, in den Vordergrund
stellen. Sie wird also fragen, warum Wahrnehmung in einer Gesellschaft auf bestimmte Phänomene gelenkt wird, während andere abgeschirmt bleiben oder mit Tabu belegt sind. Sie wird untersuchen, welche Sinne besonders aktiviert, erzogen, geschult und welche vernachlässigt oder unterdrückt werden. Als Beispiel sei hier die Architektur
religiöser Bauten genannt, der Ablauf religiöser Handlungen und die
Art und Weise, in der dabei Blicke gesteuert werden: Der Höhepunkt
Sinne und Sinneserfahrung in der Geschichte
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der Eucharistie, die Wandlung, findet in der Westkirche vor aller Augen statt (historisch war diese Hostienschau von größter Bedeutung);
in der Orthodoxie wird sie hinter der Bilderwand vollzogen, in einem
Raum, der den Augen der gewöhnlichen Gläubigen nicht einsehbar ist
und durch das Öffnen von Vorhängen nur teilweise enthüllt wird
(Mitterauer 1998:74-77); die heilige Handlung wird als akustisches
Erleben nur durch begleitenden Gesang vermittelt.
Bewusste Schulung und Lenkung der Sinne steht auch in Zusammenhang damit, wie diese von einer Kultur oder ihren Eliten bewertet
und in welche Rangordnung sie gebracht werden. Platon und die Kirchenväter stellten den noblen Gesichtssinn über die anderen: Er ermöglicht Wahrnehmung in die Ferne und entbindet den aufrechten
Menschen von schnüffelnder Bodennähe. Diese Auffassung wirkte
durch die Jahrhunderte fort und findet sich etwa noch bei Darwin und
Freud (Corbin 1984:15f; Jütte 2000:72-83). Den Gegenpol bilden dann
Geruch, Geschmack und Tasten, die dem Tierischen näher sind und
niedrigere Aufgaben erfüllen: Kant etwa hielt das Riechen für die
entbehrlichste Sinnesfunktion, einzig im Wittern von Schadstoffen und
Giften erweise sie ihren Nutzen (Kant 1943:67f).
Eine solche Bewertung und Rangordnung der Sinne stützte auch
die Geschlechterordnung in dreifacher Hinsicht: Erstens galt das Denken als männlich, die Verhaftung im Sinnlichen dagegen als Teil weiblicher Geschlechtsnatur. Zweitens wurden die „Sinne der Nähe“, Riechen, Schmecken und Tasten, weiblich markiert und damit auch bestimmte Praktiken. Der „Blick der Herrschaft“ wurde männlich besetzt,
der interaktive, behutsame und teilhabende Tastsinn dagegen der Frau
zugeordnet. Das hatte weitreichende Folgen bis hinein in die Ästhetik:
Frauen blieben von den sozial hoch bewerteten visuellen Künsten (Malerei, Architektur) ausgeschlossen und entfalteten ihre Kreativität bei
der vom Tastsinn bestimmten Handarbeit im häuslichen Innenbereich.
Drittens wurde innerhalb jeder einzelnen Sinnesaktivität ein typisch
männlicher von einem minderwertigeren weiblichen Gebrauch geschieden: Männer benutzten den Sehsinn für intellektuelle Anstrengung,
Frauen dagegen zur Befriedigung ihrer Putzsucht oder um sich im
Spiegel zu betrachten. Männer nutzten das Auge für Abstraktion und
Erfassen von Formen, Frauen delektierten sich an der sinnlichen Qualität der Farben (vgl. den Beitrag von Constance Classen in diesem
Band).
Hier finden sich Analogien zu Klassen- und Rassenideologien: ArbeiterInnen und BäuerInnen wurde im herrschenden Denken oftmals
verminderte Fähigkeit für das Sehen und Hören zugeschrieben. Man
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ging davon aus, dass sie besondere Affinität zum Schnüffeln hätten
und ihr Streben allein auf Gaumenfreuden gerichtet sei oder einfach
darauf, sich den Bauch zu füllen. In ähnlicher Weise behauptete die
Ideologie des Kolonialismus und Rassismus, dass außereuropäische
Kulturen zum einen stärker von Sinneslust getrieben wären, zum anderen stärkeren Gebrauch von den niederen Sinnen machten (vgl. die
Beiträge von C. Classen und C. Leitner in diesem Band). Solche Ansätze sind offenkundig von Herrschaftsinteressen geleitet.
Das wechselnde Zusammenspiel der Sinne
Doch die Frage danach, ob Sinne in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen Unterschiedliches leisten, fasziniert bis heute und neue Strömungen der Geschichtsforschung versuchen, sich wandelnden Sinnesgebrauch der Vergangenheit zu rekonstruieren, ohne dadurch Vorurteile zu stützen oder theoretisch zu verdoppeln.
Elizabeth Harvey wendet in einer neuen Studie über Berührung in
der Frühen Neuzeit Kerngedanken von Norbert Elias auf den Wandel
des Tastsinns an (Elias 1969). Sie meint, dass Tasten und Fühlen zunehmend diszipliniert und gleichzeitig verinnerlicht wurden. Aus dem
Fühlen wurde Ge-fühl. In zunehmendem Maße war das Fühlen nicht
mehr über die gesamte Haut und letztlich den gesamten Körper verteilt, sondern konzentrierte sich in der zupackenden und manipulierenden Hand (Harvey 2003:8f).
Als richtungsweisend gelten die Arbeiten der Medienhistoriker Marshall McLuhan und Walter Ong. Der erste prägte die These vom „Kaleidoskop der Sinne“ (McLuhan 1968), also davon, dass sich die Gewichtung im Orchester der Sinne im Verlauf der Geschichte gewandelt hat.
Dabei kam den Kommunikationsmedien eine entscheidende Rolle zu.
Jedes neue Medium erweiterte und privilegierte eine bestimmte Sinnesfähigkeit: Afrikanische sprechende Trommeln (talking drums) etwa
verlängerten die Reichweite des Ohrs und „vernachlässigten“ den Sehsinn (Howes 1990b:99-115). Mit der Erfindung der Schrift und noch
stärker mit dem Buchdruck verlor mündliche Kommunikation an Bedeutung, gleichzeitig trat das Hören gegenüber der visuellen Fähigkeit
zurück. Folgen wir McLuhan oder auch Walter Ong, dann wandelte
sich damit die gesamte Einstellung zur Welt: Denn das Ohr erfasst die
Gesamtheit klanglicher Umwelt, das Gehör vermag auch dort einzudringen, wo dem Auge der Zutritt versperrt ist – den Inhalt eines geschlossenen Behälters können wir nur akustisch erschließen (Ong
1987:74f). Während folglich „auditives Denken“ auf Synthese und Ganz-
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heit zielt, bleibt „visuelles Denken“ an der Oberfläche der Phänomene,
die es analytisch trennt und aufgliedert: Sehen ist daher assoziiert mit
Linearität und Abstraktion; eine auditive Kultur lebt in der Unmittelbarkeit mündlichen Austausches, der situationsbezogen und stärker
emotional geladen ist (Howes 1990b:99-115).
Für Ong war es kein Zufall, dass sich westliches Denken vor allem in
Metaphern des Sehens selbst beschreibt (Ong 1977:121-144): Ein-sicht,
Blick-winkel, an-schau-lich usw. (vgl. den Beitrag von Angelika Klampfl
in diesem Band.)
Der sensual turn in der Anthropologie
Kritisiert wurde am Ansatz der Medientheorie die einseitige Fixierung
auf technologischen Wandel und auf den Gegensatz von Auge und Ohr.
Die Idee vom sich wandelnden Sensorium jedoch versuchen Anthropologen wie Cheryl Olkes, Paul Stoller und David Howes fruchtbar zu
machen, ja Howes spricht von einem sensual turn in der anthropologischen Forschung. Dieser habe die textbestimmten Methoden der 1980erJahre abgelöst. Für diesen Ansatz stehen etwa die AutorInnen des Bandes The Varieties of Sensory Experience. A Sourcebook in the Anthropology
of the Senses (Howes 1991), herausgegeben von David Howes. Sie verfolgen ein bemerkenswertes Projekt: Im Kulturvergleich soll das unterschiedliche Zusammenspiel der Sinne im historischen Wandel dargestellt werden. Wir lesen von Gesellschaften, in denen Tasten, Riechen, Schmecken und das Hören von Rhythmen und Klängen vielfältige Botschaften enthielten. Besonders die Einleitung To Summon all
the Senses (3-21) bietet für eine reflexive Anthropologie und Geschichtsforschung brisante Denkanstöße. Howes verfolgt darin die Methodendebatte der Anthropologie seit den 1970er-Jahren. Clifford Geertz’
(1973) Konzept der „Dichten Beschreibung“ sei demgemäß vom Geist
der distanzierten Beobachtung geprägt gewesen. Geertz fasse kulturelle Manifestationen als Texte auf, die ForscherInnen entziffern, indem
sie den natives „über die Schulter blickten“. Dagegen setzten Theoretiker wie James Clifford und George Marcus (1986) das „diskursive Paradigma“, es fasst Kultur „auditiv“ als Zusammenspiel von „Stimmen“
und als Spannungsfeld unterschiedlich verorteter Äußerungen. Der neue
gesamtsinnliche Ansatz zielt auf die „sensorische Dimension“ von Kultur, auf das „shifting sensorium“. Wir können uns, so Howes, fernen
Zeiten und Kulturen nur annähern, wenn wir die Gewichtsverteilung
und das Zusammenwirken der Sinne in unserer eigenen Kultur reflektieren und uns für die kulturell unterschiedlichen Akzente in anderen
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Wolfram Aichinger
sensibilisieren – was eben verstärkte Aufmerksamkeit für das Tasten,
Fühlen, Riechen, Schmecken zur Folge hätte.
David Howes versucht diese These vom changing sensorium in seinem jüngsten Buch anzuwenden, indem er zwei melanesische Kulturen modellhaft gegenüberstellt (Howes 2003:160-172). Den Lebensraum
der ersten, der Massim, bilden Dschungel und Meer, diese Gesellschaft
ist nach außen orientiert und bedacht, soziale Beziehungen zu erweitern. Die Kwoma dagegen leben im Gebirge und Sumpfland und haben eine defensive Einstellung zur Umwelt. Lebensraum und Lebensform stehen Howes zufolge in Wechselwirkung zur Organisation des
Sinnesgebrauchs: Die Kwoma bringen sich Narben bei, um die Haut
härter und resistenter zu machen, die Massim dagegen streben nach
einer geschmeidigen, glatten Haut. Bei den Kwoma unterliegen Berührungen strenger Kontrolle, Ehemann und Ehefrau schlafen getrennt,
während der Menstruation ist es Frauen verboten, Gegenstände des
Mannes zu berühren. Eine solche strikte Kontrolle der Berührungen
fehlt bei den Massim. Den Massim gilt auf die Ferne gerichtetes Hören
als höchster Sinn, den Kwoma das Sehen, das jedoch genauen Regeln
unterworfen ist: Es gibt strenge Codes für Blickkontakt, traditionell
Ersatz für Kleidung. Heilige Gegenstände sind vor den Blicken von
Frauen und Kindern abgeschirmt. Bei den Massim rangiert der Geschmack als unterster Sinn, der Auffassung folgend, dass Essen Leichtigkeit und Mobilität behindert.
Hier wäre eine Debatte darüber anzuschließen, wie eine Anthropologie der Sinne sinnliche Erfahrungen im Feld in Wort und Text übersetzt und welche Textauffassung dahinter liegt; ein Dialog mit Methoden der Diskursanalyse könnte dabei ertragreich sein.
S I N N E S E R FA H R U N G U N D K U LT U R E L L E B E D E U T U N G
Sensual Turn heißt, dass sich AnthropologInnen, anstatt über Möglichkeiten des „Schreibens von Kultur“ zu debattieren, wieder der teilnehmenden Beobachtung aussetzen. Dahinter steckt nicht zuletzt der
Wunsch, die Trennung von Empfinden und Denken, wie sie die westliche Philosophie kennzeichnet, als trügerisch zu entlarven und den Körper als Erzeuger und Träger von kultureller Bedeutung zu rehabilitieren: „Perhaps we should make much more use of description of the
way things look, sound, feel, smell, taste and so on – drawing on the
realm of bodily experiences – simply for heuristic purposes, to remind
readers that most of our material is taken from the world of non-explicit
expert practice and does not only come from linear, linguistic thought“,
Sinne und Sinneserfahrung in der Geschichte
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schreibt der Anthropologe Maurice Bloch in seinem Buch über Formen außersprachlicher Wissensvermittlung und Wissensverarbeitung
(Bloch 1998:15; vgl. den Beitrag von Michael Kimmel in diesem Band).
Ziel ist es folglich, das jeweilige Sinnesmodell einer fremden Kultur,
also den Zusammenhang zwischen Sinneserfahrung und kultureller
Ordnung zu rekonstruieren. In der Formulierung von Constance Classen: „Das Sehen kann mit Vernunft oder mit Hexerei assoziiert sein,
der Geschmack kann als Metapher für ästhetische Verfeinerung oder
für sexuelle Erfahrung dienen, ein Geruch kann Heiligkeit oder Sünde
anzeigen, politische Macht oder sozialen Ausschluss. Diese sinnlichen
Deutungen bilden zusammen ein sensorielles Modell, dem eine Gesellschaft anhängt und mit Hilfe dessen die Mitglieder dieser Gesellschaft
die Welt ‚interpretieren‘ oder Sinneswahrnehmungen […] in eine spezifische ‚Weltsicht‘ einfügen.“ Auch Abweichler würden ihren Widerstand immer auf der Basis dieses grundlegenden Modells äußern
(Classen 2000:2; Übersetzung W.A.).
In diesem Sinne untersuchten Paul Stoller und Cheryl Olkes ein komplexes System kulinarischer Codes in Niger. In der dort lebenden Gesellschaft der Songhaïs ist es üblich, ferneren Bekannten dicke, reichhaltige, stark gewürzte Saucen zu servieren, während enge Bekannte
als Gäste ein klares, dünnes und fades Gericht erhielten. Wie die Autoren anlässlich eines Streits herausfanden, wurde diese Norm von Köchinnen immer wieder absichtlich durchbrochen, etwa um Protest und
Unzufriedenheit auszudrücken. Diese gustative Sprache kann Wörter
bestärken, ihnen aber genauso gut widersprechen. Mit dieser Erkenntnis, auf die sie erst nach langjährigem „Mitleben“ und durch Zufall
stießen, stellen sich Stoller und Olkes gegen die anthropologische Tradition, die Speisen und Speisefolgen beobachtet, visualisiert und klassifiziert, jedoch Aspekten wie Geschmack, Würze und Konsistenz keine Beachtung schenkt (Stoller/Olkes 1990:60; vgl. den Beitrag von N.
Langreiter in diesem Band).
Die Symbolik nicht-visueller Erfahrungen und historische Forschung
Neben Strömungen innerhalb der Anthropologie zeugen auch historische Forschungen der letzten Jahrzehnte von gesamtsinnlichem Interesse: Bartolomé Bennassars Bücher zur spanischen Geschichte etwa
enthalten zahlreiche Passagen zur sich wandelnden Empfindsamkeit.
Besonders aufschlussreich sind für den Autor Reiseberichte: Die Sinnesorgane Reisender empfingen eine Fülle nicht vertrauter Signale,
was sie oftmals als Zumutung empfanden und sie hoben in ihren Be-
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Wolfram Aichinger
richten das hervor, was den Ansässigen allzu vertraut und gar keiner
Erwähnung wert war, wiewohl es prägendes Merkmal der Kultur sein
konnte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts berichtete beispielsweise der
englische Spanienreisende Blanco White über die Glocken, die in den
Städten zur Tag- und zur Nachtzeit von den Kirchtürmen ertönten und
das Gehör „verletzten“ und über den beklemmenden Gegensatz, den
die plötzliche Stille des Gründonnerstags, Karfreitags und Karsamstags
dazu bildete (Bennassar 1976:35; vgl. zur Glocke auch Corbin 1995).
Zur Symbolkraft von Gerüchen, Geschmäckern und Berührungen
in der westlichen Kultur sind in den letzten Jahrzehnten bedeutende
Studien erschienen:
In ihrem Buch The Color of Angels (1998) lüftet Constance Classen
„den dicken Mantel“, den der „Visualismus der Moderne über den
gesamtsinnlichen Glanz früherer Epochen“, als „der Himmel von Musik ertönte“ und „die Planeten und die Erde vielfältige Düfte und Geschmäcker verströmten“, gelegt hat. In drei Abschnitten – Kosmologie, Gender, Ästhetik – untersucht sie die kulturellen Modelle, die Bedeutungsketten und Bedeutungshierarchien, die über die Sinne hergestellt wurden, von der mittelalterlichen Mystik (Hildegard von Bingen)
bis zur Frühen Neuzeit. Erst im 18. Jahrhundert, als man versuchte,
Sinneseindrücke naturwissenschaftlich zu objektivieren, ging laut
Classen die reiche Symbolik der Düfte, Farben und Geschmäcker verloren. Zur Debatte um Sinne und Ästhetik vgl. etwa Iser 2003:194).
Zu nennen sind vor allem die Bücher von Piero Camporesi, Literaturprofessor in Bologna. Mit Hilfe unterschiedlichster Textsorten (medizinische Traktate, Poesie, Chroniken) und mit großer Eindringlichkeit
beschwört der Autor Intensität, Schönheit und Grauen einer verlorenen
Sinneswelt herauf: Die beunruhigende Sinneskraft der Gärten in Renaissance und Barock, deren Gewächse, Früchte, Blüten, Brunnen, Düfte
und Exhalationen mit den geheimnisvollen Ursprüngen und Metamorphosen des Kosmos assoziiert waren; oder aber die sinnliche Unmittelbarkeit, den Geruch und Geschmack von Blut und Fleisch bei öffentlichen Hinrichtungen (Camporesi 1993); oder die üppigen Phantasien vom
Schlaraffenland, von Völlerei und endlosem Essen als Teil eines Lebens,
das immer wieder vom Hunger heimgesucht wurde (Camporesi 1990).
Was Camporesi erstehen lässt, ist die Welt von Hieronymus Bosch (1450–
1516): Auf der einen Seite der „Garten der Lüste“, auf der anderen die
raffinierten Folterqualen der Hölle (Camporesi 1994).
Camporesi bringt zahlreiche Indizien dafür, dass der vormoderne
Mensch Phänomene der Welt stärker auf Grund nichtvisueller Eigenschaften wahrnahm und daran Symbolisierungen knüpfte: Der Apfel
Sinne und Sinneserfahrung in der Geschichte
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mit seiner perfekten Form, seinem saftigen Fleisch, seiner glatten Haut,
seinem Wohlgeruch und seinen Verwandlungen war vielfältiges Symbol – für Lebenskraft und Lust, aber auch für Sünde, Fäulnis, Hexerei:
„Its flesh is chaste and sweet-smelling. Its twin soul (in Italian it can be
either the feminine mela or the masculine pomo) exudes an equivocal
and androgynous sensuality which is both heavenly and infernal,
exhilarating and disturbing, virtuous and sinful. It gives out a sense of
physical well-being, but also a certain malignancy that corrupts and
disorders the humours if tasted when still sharp or out of season. It is
a suitable object for sorcery and enchantment.“ (Camporesi 1994:1)
Käse faszinierte als Produkt des Gärens von Milch (das lange mit
Verfaulen gleichgesetzt war) und Resultat einer quasi-alchimistischen
Verwandlung. Aber er verbreitete üblen Geruch und übler Geruch verdarb die als lebendig und empfindsam aufgefasste Luft und wirkte krankmachend. Traktate des 17. Jahrhunderts warnten daher vor dem schädlichen und verfluchten Käse (caseus blasphematus) und sahen ihn als
Teil bäurisch-animalischer Lebensweise (Camporesi 1994:37-63).
Die gegenwärtige „Wiederentdeckung der Sinne“ (Jütte 2000:255344) in der westlichen Welt – Dufttherapie, Klangschalen, heilende Hände – ist auch geprägt von der Sehnsucht nach der Sinnlichkeit der „Natur“, die nur positiv gedacht wird und den Kontrast zur negativen Sinneswelt von Industrielärm, Abgasen und Müllhalden bildet. Die finsteren,
dämonischen Naturkräfte sind unserer Erfahrung (meist) so weit entrückt, dass wir sie nicht mehr berücksichtigen. Die Lektüre von
Camporesi macht deutlich, wie sehr sich unser sinnliches (oder eben
sinnesfernes) Naturerleben von dem der Vergangenheit unterscheidet.
Stärkere Aufmerksamkeit für die Sinne kann die Forschung vielfältig bereichern. Als Beispiel möchte ich zuletzt eigene Untersuchungen
zum Heiligenkult in Mittelalter und Früher Neuzeit anführen: Im Zentrum steht der hl. Antonius eremita, der ab dem Mittelalter für das
Antoniusfeuer, die Gangrän der Gliedmaßen, ausgelöst durch vergifteten Roggen, zuständig war. Gewiss wurde sein Kult durch Sprache und
Bilder vermittelt. Doch dahinter standen vielfältige sinnliche Erfahrungswelten: Da war etwa die hungrige Bäuerin, die von Not getrieben
Brot aus unreinem Korn buk, als Folge von brennenden Schmerzen in
den Gliedern befallen wurde, erleben musste, wie Arme und Beine abfaulten und vom Körper abgestoßen wurden; die sich auf Krücken oder
Prothesen zu einem heiligen Ort schleppte, um die Reliquie des Heiligen zu berühren und damit an dessen Wunder- und Heilkraft teilzuhaben; da waren die brandigen Gliedmaßen, mit „heiligem Wein“ bestrichen, die unerträglichen Gestank verbreiteten, sodass man stets um
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Wolfram Aichinger
das Leben der Chirurgen in den Hospitälern fürchtete, und da waren
die Wunden, die nach einer Amputation mit glühendem Eisen verschlossen wurden. Einfühlung in diese Sinnes-Welt ist sehr schwierig. Dennoch kann eine Aufmerksamkeit für die vielfältigen auch nichtvisuellen
Sinneserfahrungen und Sinnessignale das Verständnis von kulturellen
Formationen fördern.
Dazu bedarf es eines verfeinerten Umganges mit den eigenen Sinnesfähigkeiten. Diese Forderung nach „Erziehung zu historischer Sensibilität“ findet sich bereits bei dem großen Historiker Marc Bloch (1886–
1944). Sie setzt eine Reflexion der Sinneswelt der Gegenwart voraus:
„Denn nur [hier,] in der Gegenwart kann das pulsierende menschliche
Leben, das wir unter Aufbietung aller Phantasie den alten Texten einzuhauchen versuchen, von unseren Sinnen unmittelbar wahrgenommen werden.“ (Bloch 2002:51f)
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