weniger ist mehr LOW-TECH-KONZEPTE UND DIE KUNST DER VERKEHRUNG VON HERMANN-CHRISTOPH MÜLLER s gibt keine einzige Kunst, die nicht das Resultat einer technologischen Innovation gewesen wäre, einer Entdeckung, die aus einem bestimmten lebensnotwendigen Bedürfnis heraus erwuchs. Das gilt für die Höhlenmalerei ebenso wie für die elektronische Musik, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts in einer kompositionsgeschichtlichen Situation entstand, wo die theoretische Durchdringung des musikalischen Materials an einen Punkt gelangt war, an dem die Instrumentalmusik mit den kompositorischen Erfordernissen nicht mehr Schritt halten konnte. In dieser Situation versprach der technische Fortschritt in Form von Sinustongeneratoren, Filtern und Tonbandgeräten nicht nur die Forderung nach einem integralen und gleichzeitig unbegrenzten Klang zu erfüllen, er bescherte der Musik auch ein neues Medium. Dabei erscheint es rückblickend völlig unerheblich, ob die Komponisten dieses Medium zur Aneignung von Realität mittels konkreter Klänge (Paris) oder zur Realisierung synthetisch erzeugter Tongemische (Köln) verwendeten. Ein ums andere Mal handelte es sich um Tonbandmusik, die nicht länger von einem Interpreten aufgeführt, sondern von Lautsprechern wiedergegeben wurde, mit der Konsequenz, dass die Musik eigenartig körperlos und ohne Verbindung zu irgendeinem realen Ort in einem von schwingenden Membranen künstlich erzeugten Raum existierte. An der Abstraktheit, Tiefe und Leere dieses virtuellen Raums laboriert seitdem noch jede elektronisch erzeugte Musik, allerdings auf höchst unterschiedliche Art und Weise.1 Im Folgenden geht es um solche Musikkonzepte und Kompositionsansätze elektronischer Musik, die mehr oder weniger zwanglos unter den Begriff «LowTech» subsumiert werden können, weil sie einerseits den ästhetischen Normen und technischen Standards der Popmusikindustrie nicht entsprechen – oder ihnen bewusst widersprechen –, andererseits aber auch nicht den traditionell an Kunstmusik gestellten Ansprüchen genügen. Allen gemeinsam ist, dass sie mit einfachen Mitteln Klänge erzeugen. Wollte man die entsprechende künstlerische Haltung in eine Formel fassen, sie müsste lauten: Weniger ist mehr. Zumeist handelt es sich bei den musikalischen Mitteln um selbst entworfene Schaltkreise oder modifizierte Geräte der Unterhaltungselektronik wie Spielkonsolen, Kinderinstrumente oder HiFi-Geräte. Obwohl die Mittel einfach sind, können die Klänge einen Grad an Komplexität erreichen, der selbst mit modernster Technik nur schwer zu erzielen ist. Insofern hängen Wert und Evokationskraft E 16 der Musik nicht mehr vom Materialwert und Herstellungsaufwand ab. Neben der Materialreduktion gibt es zwei weitere Merkmale, die fast allen Konzepten und Ansätzen gemeinsam sind. Das ist zum einen der Einbezug des Zufalls in die Aufführung, sei es aktiv als Improvisation oder passiv als eigenwillige, unkalkulierbare Reaktion der technischen Apparaturen, und zum anderen die Tatsache, dass die elektronischen Geräte zumeist entgegen ihrem ursprünglich intendierten Gebrauch verwendet werden. Alle drei Aspekte lassen sich mehr oder weniger ausgeprägt an einer Reihe von Werken beobachten, deren Spektrum von der live-elektronischen Musik der sechziger Jahre, über selbst gebaute Synthesizer bis zu gegenwärtigen Strömungen wie circuit bending reicht. HOMEMADE ELECTRONICS Anfang der sechziger Jahre haben amerikanische Komponisten wie John Cage, David Tudor, Alvin Lucier, Gordon Mumma, Robert Ashley und David Behrman damit begonnen, einfache elektronische Geräte wie Schallplattentonabnehmer, Tonbandschleifen und selbstgebaute Tongeneratoren in ihre experimentellen Kompositionen einzubeziehen. Daraus entstand, was heute im Unterschied zur Tonbandmusik als live-elektronische Musik bezeichnet wird. Mit ihr betritt die elektronische Musik erstmals die Bühne und knüpft an das Konzert als Institution an. Raumbezogenheit, klangliche Flexibilität und vor allem die körperliche Präsenz des Composer-Performers sind ihre wesentlichen Merkmale. Ein Beispiel für diese neue Form elektronischer Musik ist David Behrmans Komposition Runthrough für vier Spieler und so genannte homemade electronics – selbstgebaute Synthesizer mit Sinus-, Dreieck- und Sägezahnwellen-Generatoren, sowie Frequenz- und Ringmodulatoren, eingebaut in kleine Aluminiumkästen. Die selbst entwickelten Schaltungen sind Teil der Komposition, die wiederum erst im Verlauf der Aufführung ihre endgültige Klanggestalt annimmt. Eine Besonderheit des Stücks besteht in der räumlichen Verteilung des Klangs mit Hilfe von lichtempfindlichen Sensoren in einem abgedunkelten Raum. Mit seiner Konzeption der homemade electronics schuf Behrman eine im wahrsten Sinn tragbare Elektronik und reagierte damit nicht zuletzt auf die ökonomischen Zwänge der Produktion und Reproduktion elektronischer Musik der sechziger Jahre. Allerdings bestand der Gegensatz zwischen «Low-Tech» und «High-Tech», wie er sich heute darstellt, damals noch nicht. Die Erfinder der ersten analogen Synthesizer Bob Moog und Don Buchla galten als ebensolche Einzelgänger wie die Komponisten, die sich der neuen Technik bedienten.2 CIRCUIT BENDING 18 Ganz anders verhält es sich dagegen mit dem circuit bending, einer in den vergangenen Jahren immer stärker gewordenen Bewegung. Geprägt wurde der Begriff von Qubais Reed Ghazala, der in den neunziger Jahre in der Zeitschrift Experimental Music Instruments in einer Reihe von Artikeln beschrieb, wie aus elektronischen Billiggeräten exotisch klingende Musikinstrumente werden können. Die Methode ist ebenso simpel wie bestechend: Auf den Platinen der geöffneten Geräte werden mit Hilfe von Krokodilklemmen und Kabeln zufällige Verbindungen hergestellt, so dass die vormals stabilen Schaltkreise kollabieren und in einen chaotischen Zustand übergehen. Durch diese Methode, die vorzugsweise an Elektronikspielzeug wie Speak & Spell oder Mini-Keyboards wie dem Casio SK 1 praktiziert wird, lassen sich die vorprogrammierten Samples, Sounds und Patterns in Geräuschkaskaden und chaotische Klangmuster überführen. Bei all dem spielt der Überdruss an konfektionierten Sounds ebenso eine Rolle wie die geheime Lust, den Konstrukteuren der Musikgeräteindustrie ein Schnippchen zu schlagen, und schließlich entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn aus kitschigen Sounds mit nur wenigen Handgriffen komplexe Klanggebilde entstehen. Das Konzept des circuit bending ist allerdings nicht so neu, wie es auf den ersten Blick erscheint. Schon Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts entwickelten die Klangkünstler Andy Guhl und Norbert Möslang, die unter dem Namen «Voice Crack» auftraten, eine ähnliche Materialästhetik, für die sie den Begriff der «geknackten Alltagselektronik» wählten. Dass sich mit der Technik des circuit bending neue Klang- und Ausdrucksmöglichkeiten erschließen lassen, belegen die Arbeiten des Klangdesigners und Improvisators Joker Nies. Mitte der neunziger Jahre bekam er ein Omnichord geschenkt, eine Art elektrischer Auto-Harp mit Akkordknöpfen für jeweils neun Dur-, Moll- und Septimakkorde, deren dünner Klang an billige Kinderorgeln aus den siebziger Jahren erinnerte. Schon nach wenigen Versuchen stelle sich heraus, dass die integrierten Schaltkreise eine wahre Flut von ungewöhnlichen Klängen erzeugen können – vorausgesetzt die Schaltungen werden entsprechend neu verdrahtet. Nies hat das Omnichord zu einem so genannten body contact instrument umgebaut, bei dem die Schaltkreise über den Hautwiderstand der Finger geschlossen werden. Damit können die Klänge nicht nur gezielt abgerufen und zu immer neuen Gebilden kombiniert werden, sie lassen sich durch minimale Bewegungsänderungen auch sehr fein modulieren und der jeweiligen musikalischen Situationen anpassen. ANGELPUNKT ELEKTRONISCHE MUSIK Die Zweckentfremdung von Alltagsgegenständen hat in der modernen Kunst eine lange Tradition, die mit den historischen Avantgardebewegungen des vergangenen Jahrhunderts beginnt. Doch muss man gar nicht bis zu Marcel Duchamps ready mades oder den Intonarumori der italienischen Futuristen zurückgehen, um jenen Motiven nachzuspüren, die Künstler dazu veranlassen, im allzu Bekannten das Unbekannte aufzuspüren. Geradezu habituell ist dieser Impuls bei John Cage geworden, der es sich nicht nehmen ließ, alles ihn Umgebende auf seinen möglichen Kunstgehalt hin zu befragen. Geradezu legendär sein Auftritt bei der Fernsehshow Lascia o Radoppio im italienischen Fernsehen, wo er mit Schnellkochtopf, Gummifisch, Wachtelpfeife und einer Flasche Campari seinen Water Walk aufführte und das Fernsehen zur Bühne umfunktionierte. Wann immer es darum geht, aus den gegebenen Umständen das Beste zu machen, kann Cage als prototypischer Künstler gelten. Allseits bekannt ist die Tatsache, dass er in Ermangelung eines Schlaginstrumentariums den lediglich zur Verfügung stehenden Flügel in ein Perkussionsinstrument verwandelte und so das prepared piano erfand. Das sprichwörtliche «Aus der Not eine Tugend machen» zieht sich wie ein roter Faden durch sein Schaffen und lässt sich an einer ganzen Reihe von Werken nachweisen. Stellvertretend sei hier die Living Room Music genannt, die man zu Hause mit dem Inventar seines Wohnzimmers aufführen kann. (Es gibt keine Pauke? Gut, dann schlagen wir eben die Türen zu!) Und schließlich ist da noch der Aspekt des Experimentellen, der sich in Form einer eigenartigen Verdrehung zeigt. Häufig werden Instrumente und Objekte nicht zweckgemäß, sondern entgegen ihrem intendierten Gebrauch eingesetzt, Produktionsabläufe umgekehrt oder ganze Institutionen auf den Kopf gestellt. Auch hierfür sind die Beispiele hinlänglich bekannt, angefangen bei den umfunktionierten Testschallplatten der Imaginary Landscapes bis zur Dekonstruktion der Gattung Oper in den Europeras.3 MUSIQUE ÉLECTRONIQUE CONCRÈTE Zumeist erfolgt die Ästhetisierung des Banalen dadurch, dass die alltäglichen Objekte in einen neuen Kontext gestellt und umgedeutet werden. Dieses Kunstgriffs bedient sich auch die musique électronique concrète, wobei sie aber einen Schritt weiter geht, indem sie die Grenze zwischen Produktion und Reproduktion verschiebt. Mitte der siebziger Jahre beginnt der französische Komponist René Bastian damit, das unterdrückte Innenleben analoger HiFi-Geräte zu erforschen und die Störgeräusche, die beim Abspielen von Schallplatten, Tonbändern und Musikkassetten zwangsläufig entstehen, nicht länger zu ignorieren… … mehr erfahren Sie in Heft 2007/01