4.2.5 Die Destabilisierung der Versailler Ordnung in den 30er Jahren Galt für die 20er Jahre schon, daß die internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit entscheidend vom Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland geprägt wurden, so muß sich jede Darstellung der 30er Jahre zentral auf den Radikalrevisionismus Deutschlands konzentrieren. In jener Phase gelang der politischen Führung des Dritten Reiches der Wiederaufstieg Deutschlands zu einer Großmachtposition in Europa. Längere Zeit schien sich die nationalsozialistische Außenpolitik in der Tradition des Weimarer Revisionismus zu bewegen; erst allmählich kam hinter den scheinbar „konventionellen“ außenpolitischen Forderungen eine rassenideologisch begründete Expansionspolitik zum Vorschein. Die ersten außenpolitischen Maßnahmen der Berliner „Regierung der nationalen Konzentration“ entsprachen ganz den seit über zehn Jahren vorgetragenen deutschen Forderungen. Auch der Rückzug Deutschlands von der Genfer Abrüstungskonferenz und der Austritt aus dem Völkerbund (1933) lagen auf der Linie einer forcierten Revisionspolitik. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß diese scheinbar die traditionelle deutsche Großmachtpolitik fortsetzende Strategie im Grunde nur Voraussetzung für weiterreichende Ziele war: nämlich die „Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung“. In den 30er Jahren präsentierte sich die internationale Lage längere Zeit unübersichtlich, was auch damit zusammenhing, daß an die Stelle multilateraler Beziehungen wieder das Prinzip Abb. 16: Der Hitler-Stalin-Geheimpakt Abb. 17: Sowjetische Annexionen 1939/1940 bilateraler Abkommen trat. Mussolini mit seinem „Friedensplan“ und Hitler mit der berühmt gewordenen „Friedensrede“ vom Mai 1933 bekundeten demonstrativ Friedenswillen. Im September 1933 schlossen Italien und die Sowjetunion einen Nichtangriffs- und Freundschaftspakt, was einerseits zur weiteren Auflockerung der außenpolitischen Isolierung der Sowjetunion führte, andererseits das europäische System unkalkulierbarer machte. Das nationalsozialistische Deutschland wiederum schloß im Januar 1934 mit Polen, das bis dahin Hauptziel des deutschen Revisionismus gewesen war, einen Nichtangriffs- und Freundschaftspakt. Durch das deutsch-britische Flottenabkommen von 1935 gelang der Reichsregierung sogar die Zustimmung Großbritanniens zur (im Widerspruch zum Versailler Vertrag stehenden) maritimen Aufrüstung Deutschlands. Diese Pakte verschafften den unterzeichnenden Staaten vorübergehend Spielraum, sie waren nicht Ausdruck ehrlicher Verständigungsbereitschaft. Die westlichen Mächte aber wurden in Zugzwang gesetzt: Frankreich etwa schloß mit der Sowjetunion 1935 einen Beistandspakt, womit die französischrussische Sicherheitspartnerschaft aus der Zeit vor dem Weltkrieg wieder aufzuleben schien. Die ersten revisionspolitischen Erfolge Deutschlands waren auch deshalb möglich, weil sich seit Beginn der 30er Jahre die Rahmenbedingungen geändert hatten: Die Großmächte wandten sich vom Prinzip der kollektiven Sicherheit ab, der ökonomisch und politisch bedingte Machtverlust Frankreichs führte zu einer Schwächung der Versailler Ordnung. Zwar fanden 1935 in Stresa – nach der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland – die europäischen Großmächte noch einmal eine gemeinsame Linie („Stresafront“), das Bündnis war aber von Anfang an brüchig und konnte weitere Revisionsschritte Berlins nicht verhindern. Der Abessinienkrieg Italiens (1935/36) und der Spanische Bürgerkrieg (1936–1939) verhinderten ebenfalls eine gemeinsame Haltung der europäischen Staaten gegenüber dem Berliner Revisionismus, da Italien auf der einen und Großbritannien sowie Frankreich auf der anderen Seite divergierende Politiken betrieben. Als Hitler durch den Einmarsch in die entmilitarisierte Zone des Rheinlands (1936) die beschränkenden Klauseln des Versailler Vertrages abermals verletzte und die Garantiemächte sich nicht zu konkreten Gegenaktionen aufraffen konnten, bedeutete dies eine wichtige Veränderung der strategischen und politischen Gewichte auf dem Kontinent. Das sowjetisch-tschechoslowakische Bündnis von Mai 1935 beendete praktisch die der ˘ CSR ursprünglich zugedachte Rolle als Glied im cordon sanitaire gegenüber der Sowjetunion und verminderte damit auch merklich das Interesse der westlichen Demokratien an diesem Staat. Dieses Sicherheitsbündnis zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion war eine Reaktion auf die neue Lage, die mit der NS-Machtergreifung in Deutschland entstanden war. Das tschechoslowakische Verhältnis zum Deutschen Reich verschlechterte sich in der Folgezeit zusehends. Von entscheidender Bedeutung sollte schließlich die sudetendeutsche Frage werden: Seit Gründung der Tschechoslowakei hatte es Auseinandersetzungen um die Rechte der deutschen Minderheit (etwa 3.2 Millionen Personen) gegeben. In den 30er Jahren wurde dieses Problem immer mehr internationalisiert und schließlich zum friedensbedrohenden Konflikt zwischen dem Deutschen Reich und der ˘ CSR. Hitler nutzte die sudetendeutsche Frage als Vorwand für seine Expansionspolitik. Die internationalen Beziehungen zwischen Status quo und Radikalrevisionismus Bald sollte der „gemäßigte“ Revisionismus der Diktatoren in einen aggressiven umschlagen. Im Oktober 1935 überfielen die Italiener das Völkerbundmitglied Abessinien (Äthiopien); trotz der vom Völkerbund beschlossenen Sanktionen (Waffenembargo, Kredit- und Rohstoffsperre) ließen die Großmächte Italien faktisch freie Hand, Deutschland unterstützte Mussolini außerdem mit Rohstofflieferungen. Im Mai 1936 erklärte Italien die Annexion Abessiniens, König Vittorio Emanuele nahm den Titel „Kaiser von Äthiopien“ an. Kurz danach griffen sowohl das nationalsozialistische Deutschland als auch das faschistische Italien in den Spanischen Bürgerkrieg ein (Juli 1936) und verhalfen dem Aufstandsgeneral Francisco Franco zum schließlichen Sieg (1939). Im Oktober 1936 ließ der deutsch-italienische Vertrag, der die „Achse Berlin- Rom“ begründete, die innen- und außenpolitische Gewaltbereitschaft der Diktatoren deutlich werden. In der Folge schlossen Deutschland und Japan im November 1936 den Antikominternpakt, dem später Italien (1937) und Spanien (1939) beitraten. Die Versailler Friedensordnung wurde somit nicht nur von deutscher Seite bedroht. Seit Beginn der 30er Jahre war klar, daß drei Großmächte (Deutschland, Italien, Japan) die nach dem Ersten Weltkrieg etablierte Weltordnung nicht mehr anerkannten und sich anschickten, sie zu bekämpfen. Der Friede war damit akut gefährdet. Wegen der Schwäche der französischen Außenpolitik (aufgrund der inneren Probleme des Landes) mußte es in Europa im wesentlichen der britischen Politik überlassen bleiben, der Expansionsdynamik des nationalsozialistischen Deutschland (und des faschistischen Italien) entgegenzutreten. Großbritannien reagierte jedoch auf die neue Situation, indem friedliches Entgegenkommen zumindest für die Gebiete signalisiert wurde, in denen britische Interessen nicht oder kaum tangiert wurden, etwa in Osteuropa. Hintergrund dieser zurückhaltenden Politik war die veränderte internationale Position des Inselreichs. Der Erste Weltkrieg hatte das britische Weltreich in seinen Grundfesten erschüttert, die außenpolitischen Rahmenbedingungen wurden zu Ungunsten des Vereinigten Königreichs verändert. Der machtpolitische Niedergang der europäischen Kolonialmächte schwächte die Kolonialherrschaft und förderte die Dekolonisierung. Großbritannien zeigte sich deshalb (vor allem in der zweiten Hälfte der 30er Jahre) zu weitreichenden Zugeständnissen an Deutschland, nicht jedoch zum Rückzug vom Kontinent und damit zur Duldung einer deutschen Hegemonie bereit. Im Prinzip wollte London an der internationalen Ordnung und am bestehenden Kräftefeld festhalten; friedliche Veränderungen sollten allerdings im Rahmen eines allgemeinen Abkommens zur Stabilisierung der internationalen Politik möglich sein. Großbritannien ging es ganz zentral um Rüstungsbegrenzung, Entspannung und Friedenswahrung, da nurbei einer friedlichen Entwicklung der weltweite Machtverlust des Inselreichs aufgehalten werden konnte. Zum fundamentalen Interesse am Frieden trat das nicht minder wichtige Interesse an der Aufrechterhaltung der internationalen Machtstrukturen; beide Interessen sollten sich nicht in Übereinstimmung bringen lassen, nachdem sich 1936/1937 abzeichnete, daß Japan, Deutschland und Italien zu potentiellen Feindmächten zu werden drohten. Diesen drei Staaten ging es um eine Revolutionierung des internationalen Systems. Angesichts der faschistischen Herausforderung in Europa und der zunehmend aggressiven Hegemonialpolitik Japans im asiatisch-pazifischen Raum fiel es der britischen Politik schwer, eine klare Linie zwischen Appeasement und Containment zu finden. Auch die Haltung gegenüber der Sowjetunion war lange Zeit von Mißtrauen und Konzeptionslosigkeit geprägt. Und zum Völkerbund sowie zum Prinzip kollektiver Sicherheit entwickelte Großbritannien von Anfang an ein eher zwiespältiges Verhältnis. Zweifellos fehlte es der internationalen Ordnung an Legitimität, was wesentlich dazu beitrug, daß die Briten (bis zu einem gewissen Grad auch die Franzosen) den Forderungen Hitlers so weit und so lange entgegenkamen. Daß die deutsche Expansion in den 30er Jahren zunächst Erfolg hatte, war gerade auf die Schwäche der internationalen Staatenordnung nach dem Ersten Weltkrieg zurückzuführen. Ab 1930 läßt sich sodann in verschärfter Form eine Labilität der internationalen Ordnung feststellen, was zum einen mit der Weltwirtschaftskrise, zum anderen mit den Rückwirkungen nationaler Krisen auf das Versailler System zusammenhing. Als die Nationalsozialisten im Januar 1933 die Macht übertragen bekamen, befand sich daher die europäische Nachkriegsordnung von 1919 schon längst im Verfall. Der Versailler Vertrag hatte Deutschland nicht in die Friedensordnung integriert, aber auch nicht dauerhaft entmachtet. Die weltpolitische Gesamtlage bot Hitler ideale Bedingungen für seinen außenpolitischen Start: Großbritannien war mit seinem Empire beschäftigt, Frankreich innerlich geschwächt, die USA und die Sowjetunion kümmerten sich primär um ihre eigenen wirtschaftsund sozialpolitischen Probleme. In den folgenden Jahren wurde das deutsch-britische Verhältnis zur Achse der europäischen Entwicklung bis zum Kriegsausbruch. Hitler ging es darum, ein Bündnis mit Großbritannien zu erreichen, das ihm freie Hand für die deutsche Hegemonie auf dem Kontinent und für die Eroberung neuen „Lebensraums“ im Osten verschaffen sollte. Die Briten waren zwar bereit, den Status quo von 1919 durch ein neues General European Settlement abzulösen; die Verständigung mit Hitler sollte jedoch ihre Grenze an alten Gleichgewichtsinteressen Großbritanniens finden. In der zweiten Hälfte der 30er Jahre, als die Unvereinbarkeit des britischen und des deutschen Konzeptes immer deutlicher wurde, wandelte sich sodann die britische Deutschlandpolitik schrittweise von anfangs wohlwollender Berücksichtigung deutscher Revisionswünsche über die Doppelstrategie von Abmachungen und Aufrüstung hin zum Streben nach Zeitgewinn zur Herstellung eines neuen militärischen Gleichgewichts. Bis Ende 1938 waren die wesentlichen Beschränkungen des Versailler Vertrags aufgehoben, die deutsche Großmachtposition in Europa war wiederhergestellt und gegenüber der Vorkriegszeit sogar ausgebaut worden, das Dritte Reich hatte einen außenpolitischen Erfolg nach dem anderen errungen. Die ostmitteleuropäischen Staaten orientierten sich inzwischen außen- und wirtschaftspolitisch an Deutschland. Mitte März 1939 „erledigte“ Hitler dann, die Beschlüsse der Münchner Konferenz von 1938 mißachtend, die „Rest-Tschechei“, die zum „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ wurde, während die Slowakei zu einem deutschen Satellitenstaat absank. Das vom tschechoslowakischen Außenminister Bene˘s in den vorhergehenden Jahren sorgfältig geknüpfte Sicherheitsnetz hatte sich als nutzlos erwiesen. Spätestens mit dem „Griff nach Prag“ war den Westmächten jedoch deutlich geworden, daß die deutschen Revisionsforderungen und die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht lediglich Vorwände zur Eroberung von „Lebensraum“ im Osten waren. Als Reaktion auf den abermaligen Wortbruch Hitlers gaben Großbritannien und Frankreich nun Garantieerklärungen für die Unabhängigkeit Polens, Rumäniens und Griechenlands sowie eine Beistandsgarantie für die Türkei ab. “Die in den internationalen Krisen der Jahre 1938 und 1939 sich abzeichnende Verhärtung in der Haltung der Westmächte und die sich hieraus ergebende Einengung der deutschen Aktionsmöglichkeiten konnte Hitler dann durch einen außenpolitischen Coup durchbrechen, der noch einmal seine taktische Wendigkeit deutlich werden ließ, nämlich den Pakt mit dem bisherigen machtpolitischen und ideologischen Hauptgegner des Dritten Reiches, der Sowjetunion.“ Der Vertrag vom 23. August 1939 mit Moskau schaltete die Gefahr eines möglichen Zweifrontenkriegs für Deutschland aus, gab dem Dritten Reich freie Hand gegenüber Polen und legte (im geheimen Zusatzprotokoll) die Aufteilung Ostmitteleuropas zwischen Deutschland und der Sowjetunion fest. Damit war für Hitler die entscheidende Bedingung zur Entfesselung des Krieges erfüllt.