DRZE_15 (48593) / p. 1 / 9.9.13 Ethik in den Biowissenschaften – Sachstandsberichte des DRZE Band 15: Gentherapie Im Auftrag des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften herausgegeben von Dieter Sturma, Dirk Lanzerath und Bert Heinrichs www.drze.de VERLAG KARL ALBER A DRZE_15 (48593) / p. 2 / 9.9.13 Unter dem Begriff »Gentherapie« werden therapeutische Verfahren verstanden, die fremde Gene in menschliche Körperzellen oder in menschliches Gewebe einfügen. Mit der Entwicklung gentherapeutischer Verfahren eröffnen sich neue medizinische Wege für die Behandlung von schweren Erkrankungen. Allerdings handelt es sich bei der Gentherapie nach wie vor um ein experimentell geprägtes Verfahren, dessen Einsatz mit gravierenden Nebenwirkungen verbunden sein kann. In den einschlägigen ethischen, juristischen und naturwissenschaftlichen Debatten zeichnet sich bislang noch keine eindeutige Lösung ab, welche Kriterien bei der Bewertung der Gentherapie zur Anwendung kommen sollen. Der vorliegende Band stellt die medizinisch-naturwissenschaftlichen, rechtlichen und ethischen Grundlagen zum Thema dar. The term »gene therapy« denotes therapeutic methods, which insert alien genes into human somatic cells or tissue. Through the development of gene therapy, new medical procedures become available for the treatment of severe diseases. However, gene therapy is still an experimental method the application of which may have serious side effects. Relevant ethical, legal and scientific debates show no consensus yet, which criteria are to be considered for the evaluation of gene therapy. The present report pictures the medical-scientific, legal and ethical basics on the subject. DRZE_15 (48593) / p. 3 / 9.9.13 Christopher Baum / Gunnar Duttge / Michael Fuchs Gentherapie Medizinisch-naturwissenschaftliche, rechtliche und ethische Aspekte Verlag Karl Alber Freiburg / München DRZE_15 (48593) / p. 4 / 9.9.13 Diese Publikation wird als Vorhaben der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste im Rahmen des Akademienprogramms von der Bundesrepublik Deutschland und dem Land Nordrhein-Westfalen gefördert. Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Redaktion: Lisa Tambornino unter Mitarbeit von Roman Wagner und Ann-Sophie Holz Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48593-4 DRZE_15 (48593) / p. 5 / 9.9.13 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. 9 Medizinisch-naturwissenschaftliche Aspekte Christopher Baum 1. Konzeptionelle Grundlagen . . . . . . . . . . . . . 2. Gentherapeutische Wirkprinzipien . . . . . . . . . 3. Transgendesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Virale Genvektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Physikochemische Genvektoren . . . . . . . . . . . 6. Akzessorische Technologien . . . . . . . . . . . . . 7. Präklinische Verfahrensentwicklung und Toxikologie 8. Ethische Fragen und Regulation . . . . . . . . . . . 9. Realisierung wissenschaftlicher Zielsetzungen und klinische Erfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Forschungsprogramme und Entwicklungspotenzial . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Aspekte Gunnar Duttge Gentherapie – »gateway to the future«? . . . . . . . . . . Vom Standes- zum Arzneimittelrecht . . . . . . . . . . . Gentherapeutika als Arzneimittel . . . . . . . . . . . . . Zulassungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herstellungserlaubnis bzw. allgemeine Anzeigepflicht . . Klinische Prüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbleibender Handlungsspielraum für den »individuellen Heilversuch« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 13 14 16 22 25 25 30 31 33 34 41 . . . . . . 41 . . 60 . . . . . . 45 48 49 51 53 5 DRZE_15 (48593) / p. 6 / 9.9.13 Inhalt 4. Weitere Anforderungen durch das GenTG . . . . . . 5. Verbot der Keimbahntherapie . . . . . . . . . . . . . 6. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Gesetze, Verordnungen und europäische Richtlinien Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. . . . . . . . . . . . . 64 66 67 . . . . . . . . Ethische Aspekte Michael Fuchs Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Konzept der somatischen Gentherapie als Ergebnis einer normativen Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Öffentliche Wahrnehmung der Forschung . . . . . . . . . . 3. Therapeutisches Potential, Risiken und Unsicherheiten: Erfahrungen und grundsätzliche Einschätzung . . . . . . . . 4. Zu den Modellen der Urteilsbildung über experimentelle Gentherapien und zur Frage der adäquaten Regulationsinstanzen . 5. Keimbahneingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Intrauteriner Gentransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Anwendung des Gentransfers außerhalb therapeutischer Zielsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Der Gesichtspunkt der finanziellen Kosten verändernder gentechnischer Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise zu den Autoren und Herausgebern . . . . . . . . . . 6 63 68 69 77 77 78 80 85 92 100 107 110 115 116 118 128 DRZE_15 (48593) / p. 7 / 9.9.13 Vorwort Unter Gentherapie wird das Einbringen von Genen in menschliche Zellen zu therapeutischen Zwecken verstanden. Durch das gentechnische Einwirken auf pathogenes Gewebe soll der Krankheitsverlauf angehalten oder aufgehoben werden. Mit der Entwicklung gentherapeutischer Verfahren verbindet sich die Erwartung, dass sich neue medizinische Wege für die Behandlung von schweren und schwersten Erkrankungen eröffnen. Allgemein lässt sich die Gentechnik dem Bereich der so genannten Anthropotechniken zurechnen, mit denen der Mensch gleichsam von außen auf sich selbst einwirkt. Es ist das Charakteristikum von Anthropotechniken, dass sich mit ihnen hohes Entwicklungs- und Gefährdungspotenzial verbindet. Das zeigt sich auch im Fall der Gentherapie. In der normativen Bewertung der Gentherapie stehen Abwägungen im Mittelpunkt, die sich auf den jeweils zu erwartenden Nutzen einerseits und die Erfassung des mit dem Eingriff verbundenen Risikos andererseits beziehen. Das Feld möglicher Anwendungen von gentherapeutischen Verfahren ist weit gefächert. Es reicht von der Behandlung schwerer monogenetischer Erkrankungen bis zu Interventionen, die keinen unmittelbaren therapeutischen Anlass haben. Forschung im Bereich der Gentherapie ist hochgradig innovativ. Ihr Innovationspotenzial birgt die Gefahr, dass vorschnell Erwartungen im Hinblick auf konkrete therapeutische Optionen geweckt werden. Bereits in der Frühphase der Forschung ist davon gesprochen worden, dass auf gentechnischen Verfahren größte Hoffnungen der modernen Medizin ruhten. Bei der Gentherapie handelt es sich aber nach wie vor um eine experimentell geprägte Methode, deren Einsatz von nicht vorhergesehenen beziehungsweise nicht vorhersehbaren Wirkungen begleitet wird. Gerade in einer Experimentalphase sind Fehlschläge unvermeidlich, die aufgrund der Eingriffstiefe und langfristigen Folgen der Gentechnik schwerwiegend sein können. Vor allem mit Eingriffen in die Keimbahn verbindet sich eine Vielzahl von Vorbehalten, die auf das hohe Risiko und die Nichtkalkulierbarkeit der mittel- und langfristigen Folgen abheben. 7 DRZE_15 (48593) / p. 8 / 9.9.13 Vorwort Gegen gentechnische Verfahren werden häufig grundsätzliche Vorbehalte erhoben. Um ihr Gefährdungspotenzial kenntlich zu machen, werden Konfliktsyndrome zwischen innovativer Forschung auf der einen Seite und Anstrengungen zur Bewahrung der Schöpfung oder Natürlichkeit auf der anderen Seite erzeugt. Solche Konfrontationen bewegen sich zwar selten innerhalb des Rahmens von bioethischen Diskursen, die sich methodisch standardisierten Rechtfertigungsverfahren verpflichten, es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Risiken gerade im Fall von Keimbahninterventionen nicht klar erfassen lassen. Die normative Bewertung gentherapeutischer Verfahren kann nicht bei der Anwendung der medizinethischen Prinzipien haltmachen, sie muss auch die Ziele der Interventionen miteinbeziehen. Bei der Bewertung der Gentherapie kommt es zu Ungleichgewichtungen zwischen den medizinethischen Prinzipien der Autonomie, des Wohltuns beziehungsweise der Fürsorge, der Schadenvermeidung und der Gerechtigkeit. In der Experimentalphase erhalten die Schadenvermeidung und die im Autonomiebegriff enthaltenen Schutzfunktionen eine vorrangige Bedeutung. In welchem Maße es gerechtfertigt ist, unter den Bedingungen epistemischer Unsicherheit und eines hohen Gefahrenpotenzials gentherapeutische Verfahren einzusetzen, wird überdies entscheidend von der jeweiligen Anwendung bestimmt. In Heilversuchen bei Schwersterkrankungen ist im Einzelfall vieles hinnehmbar, was in Forschungssituationen nicht gerechtfertigt werden kann. Allgemein gilt für gentechnische Eingriffe, dass sie dann gerechtfertigt werden können, wenn sie im Rahmen eines kontrollierten Verfahrens erfolgen, über ein gutes Nutzen-Risiko-Verhältnis verfügen und ihre Ziele gut begründet sind. Allerdings erweist sich im Fall der Gentherapie die Risikofeststellung im Hinblick auf mittel- und langfristige Folgen für den menschlichen Organismus als überaus schwierig. In derartigen Fällen ist ein Entsprechungsverhältnis zwischen epistemischer Unsicherheit und praktischer Zurückhaltung geboten. Der Sachstandsbericht stellt die medizinisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen sowie die Eingriffs- und Wirkungsweisen der Gentherapie dar und gibt einen Überblick zum gegenwärtigen Forschungsstand. Weiterhin wird die aktuelle Rechtslage in Deutschland skizziert und der neue Regelungsbedarf kenntlich gemacht. Daran schließt sich die Darstellung der ethischen Problemstellungen und der entsprechenden Lösungsoptionen an. Der vorliegende Band berücksichtigt die Entwicklungen bis zum Frühjahr 2013. Dieter Sturma 8 DRZE_15 (48593) / p. 9 / 9.9.13 I. Medizinisch-naturwissenschaftliche Aspekte Christopher Baum 1. Konzeptionelle Grundlagen Der menschliche Körper besteht aus etwa 1013 Zellen, von denen die überwiegende Mehrzahl einen Zellkern besitzt und somit das Zellverhalten über die im Zellkern vorhandenen Gene steuern kann. Gene sind die Träger der Erbinformation. Sie enthalten regulatorische Bereiche, welche die Genaktivität bestimmen und kodierende Regionen, von denen die biologisch relevanten Funktionsträger, biologisch aktive Ribonukleinsäuren (RNA) oder Proteine, abgelesen werden. Es gibt auch zahlreiche Gene, die nicht-kodierende RNA mit regulatorischen Funktionen kodieren. Alle Körperzellen nutzen die gleiche Erbinformation, die bei der Befruchtung durch die Addition der beiden einfachen Chromosomensätze der Ei- und Samenzelle und nachfolgende Rekombinationsereignisse entstanden ist. Allerdings kommt es bei jeder Zellteilung zu einigen wenigen Mutationen, sodass mit zunehmender Größe und Alter des Organismus die Körperzellen eine zunehmende genetische Diversität aufweisen. Die ca. 25.000 proteinkodierenden Gene jeder kernhaltigen Zelle sind in unterschiedlicher Dichte auf die Chromosomen verteilt, wobei jeweils eine mütterliche und eine väterliche Variante vorhanden ist. Die Identität und Funktion der Zellen im komplexen multizellulären Organismus wird durch die epigenetische Genregulation (Steuerung der Genaktivität) sowie die Art der Umgebungssignale bestimmt. Durch angeborene oder erworbene Mutationen und auch durch Störungen der epigenetischen Genregulation kann es zu Fehlfunktionen von Körperzellen kommen. Krankheiten können entstehen, wenn solche Mutationen oder Fehlregulationen in einer für die Aufrechterhaltung einer Organfunktion kritischen Zellzahl vorliegen. Sofern Mutationen bereits in der befruchteten Eizelle bestehen, betreffen sie alle Körperzellen; sind bedeutende Genfunktionen betroffen, resultieren Erbkrankheiten. Die zunehmenden Einblicke in die Bedeutung angeborener oder erworbener Mutationen und epigenetischer Fehler und die damit verknüpfte 9