Jede Krebsdiagnose ist eine Abzweigung im Leben

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 Psycho-Onkologie
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„Jede Krebsdiagnose ist eine
­Abzweigung im Leben“
Im Gespräch mit krebs:hilfe! beleuchten die Dermato-Onkologin Priv.-Doz. Dr. Christiane Thallinger, Comprehensive
Cancer Center Wien, und der Psychiater und Psycho-Onkologe Dr. Alexander Bernhaut den Zusammenhang von
Das Gespräch führte Mag. Christina Lechner
Tumorerkrankungen und häufigen psychiatrischen Komorbiditäten.
Lernen Sie das in Ihrer Ausbildung?
Thallinger: Nein. Es hängt von jedem einzelnen Arzt ab, wie viel Empathie er dem
Patienten entgegenbringt, und nicht zuletzt leider auch davon, welchen Zeitrahmen die strukturellen Bedingungen an der
jeweiligen Institution für das Gespräch
mit dem einzelnen Patienten ermöglichen. An unserer Abteilung wie an den
meisten onkologischen Stationen steht
permanent ein psycho-onkologisches
Team zur Verfügung, welches eine optimale psychologische Betreuung garantiert.
Bernhaut: Die Bereitschaft der Patienten
für eine psycho-onkologische Beratung vari-
Bernhaut: „Psycho-Edukation kann Ängste vor
den bevorstehenden Behandlungszyklen relativieren und Depressionen bis zu einem gewissen
Grad verhindern.“
iert jedoch stark. Wenn wir es aber schaffen,
durch Psycho-Edukation bereits etwa die
Ängste vor den bevorstehenden Behandlungszyklen zu relativieren, so können wir
bis zu einem gewissen Grad reaktive depressive Episoden verhindern. Abgesehen davon
zeigen sich viele Patienten im Nachhinein
sehr dankbar, dass ihnen die psycho-onkologische Beratung bzw. auch eine psychiatrische Behandlung nahegelegt wurde.
Welche Rolle spielen konkrete Ängste
vor onkologischen Therapien – werden
sie vielleicht als noch schlimmer empfunden als die Therapie selbst?
Thallinger: Die Ängste von Krebspatienten
sind groß und vielgestaltig: Es sind Ängs­te
vor der Diagnose, vor dem Tod und para­
doxerweise auch die Angst vor dem Le­
ben – und zwar vor dem Leben mit der
Erkrankung. Besonders dann, wenn die
Erkrankung offensichtlich wird – sei es
durch Kachexie oder durch Nebenwirkungen der Therapien wie Haarausfall, Haut-
ausschläge oder Ödeme. Zusätzlich kommen noch soziale, nicht selten auch wirtschaftliche Ängste und Aspekte hinzu. In
Summe kostet die Erkrankung den Patienten sehr viel Energie auf verschiedenen
Ebenen. Jede Krebsdiagnose ist eine Abzweigung vom geplanten Lebenspfad des
Patienten.
Bernhaut: Aber auch unter diesem Aspekt
müssen wir einmal mehr auf die Individualität verweisen, nicht zuletzt auch auf
geschlechtsspezifische Unterschiede.
Kommen zu den erwähnten Belastungen
existenzielle Belastungen wie Atemnot
und oder andere traumatisierende Erfahrungen hinzu, dann sind Behandlungswege gefordert, um mit den Patienten ein
ganz neues Bewusstsein für sein Leben zu
erarbeiten.
Wie steht es um die Möglichkeiten der
psychopharmakologischen Behandlung, wo gerade Krebspatienten häufig
eine Reihe verschiedener Substanzen
erhalten?
Bernhaut: Wir haben eine Reihe von
Möglichkeiten zur Verfügung, die wir im
Bedarfsfall auch nützen sollten: Moderne
Antidepressiva sind – wenn sie einschleichend dosiert werden und wir das Nebenwirkungsprofil beachten – für Krebspatienten mit begleitender Depression sehr
hilfreich. Auch sollten wir keine falschen
Berührungsängste vor dem Einsatz von
Benzodiazepinen haben. Werden Patienten von Angst und innerer Unruhe gequält, dann sind diese Substanzen immer
noch die besten Angstlöser und helfen, die
Situation zu bewältigen. Vorausgesetzt natürlich, dass die Patienten auch entsprekrebs:hilfe!
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FOTOs: Barbara Krobath, Privat
krebs:hilfe!: Wie gehen Menschen mit
der psychisch belastenden Diagnose
„Krebs“ um?
Dr. Alexander Bernhaut: Je nach Persönlichkeit gibt es die unterschiedlichsten Reaktionen. Es ist gewissermaßen ein Kontinuum, das bis zur reaktiven Depression
reichen kann. Wie der Einzelne reagiert
und ob es im Kontext einer Krebsdiagnose
zu einer psychiatrischen Störung kommt,
hängt letztlich von den zur Verfügung stehen Coping-Mechanismen und natürlich
auch von Vorerkrankungen ab.
Priv.-Doz. Dr. Christiane Thallinger: Ohne Zweifel ist die Diagnose Krebs ein einschneidendes Lebensereignis. Unabhängig
von der Prognose bedeutet es, eine Patientenkarriere vor sich zu haben, die auch mit
vielen frustranen Erlebnissen einhergeht.
Als Onkologen sind wir gefordert, rechtzeitig zu erkennen, ob und wie jemand mit
der Diagnose zurechtkommt und wer im
psychischen Bereich zusätzliche Unterstützung benötigt.
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chend begleitet werden. Leider werden
viele Patienten in dieser Hinsicht aber
selbst von Fachleuten wie Ärzten oder
Apothekern immer noch stark verunsichert, wenn sie ein entsprechendes Rezept
bekommen haben.
Thallinger: Tatsächlich bekommt ein
nicht zu vernachlässigender Prozentsatz
von Krebspatienten Psychopharmaka und
– wenn indiziert – auch Benzodiazepine
verordnet. Das ist gerechtfertigt, interdisziplinär akkordiert und kann dem Patienten große Erleichterung bringen. Generell
haben wir es in der Onkologie stets mit
unterschiedlichen Arzneimittelinteraktionen auch aufgrund einer Polymedikation
zu tun. Zusätzlich verändern nicht zuletzt
eingeschränkte Organfunktionen bei onkologischen Patienten im fortgeschrittenen Stadium Pharmakodynamik und -kinetik der verabreichten Medikamente.
Darum ist die enge Zusammenarbeit mit
anderen Fachbereichen für uns von sehr
großer Bedeutung. Die Furcht vor einer
Abhängigkeit sollte keinesfalls dazu führen, im Bedarfsfall von Psychopharmaka
Abstand zu nehmen. Ganz entscheidend
ist zudem die Einbindung des Patienten
in ein entsprechendes soziales und ärztliches Netz, wo für den Patienten Relevantes thematisiert und ausgesprochen werden kann.
Qualität und damit der Erfolg mit der
„Beziehungs-Chemie“ zwischen Therapeut und Patient steht und fällt. Um die
Qualität zu sichern, gibt es entsprechende
Ausbildungskriterien oder Supervisionsangebote.
Thallinger: „Ganz entscheidend ist die Einbindung des Patienten in ein entsprechendes soziales und ärztliches Netz.“
Die Effekte der psycho-onkologischen
Behandlung sind nur schwer zu quantifizieren, denn Psychotherapie und psychologische Beratung lassen sich nicht
plazebokontrolliert überprüfen. Könnte es daher sein, dass ihr Effekt womöglich noch unterschätzt wird?
Thallinger: Das ist sicher ein Grund, warum viele Studienautoren sagen, wir benötigen noch mehr Daten (siehe Kasten,
Anm.). Allerdings glaube ich nicht, dass
heute noch jemand ernsthaft den Nutzen
dieser Angebote bezweifelt. Wenn sie dem
Patienten keinen Nutzen bringen, dann ist
wohl mehr die Person dahinter als die Methode selbst zu hinterfragen.
Bernhaut: Jene, die seriös im psychologischen oder psychotherapeutischen Setting tätig sind, wissen nur zu gut, dass die
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„Keine einfachen Lösungen“
Anpassungsstörungen, Depressionen oder Angsterkrankungen treten bei Krebspatienten deutlich häufiger auf als im Bevölkerungsdurchschnitt. Allerdings gibt es ein Kontinuum von der nicht pathologischen Trauerreaktion über subklinische bis hin zur klinisch
manifesten „Major Depression“, schreiben etwa Traeger et al. in einem rezenten Übersichtsartikel im „Journal of Clinical Oncology“ (2012). Auch sie verweisen in diesem Zusammenhang auf die individuelle Vulnerabilität: „Eine Angststörung (bei Krebspatienten,
Anm.) dürfte häufiger eine Reaktivierung einer vorbestehenden Störung sein als eine neu
auftretende psychische Erkrankung.“
Ähnlich wie auch Li et al. (2012) im Kontext von depressiven Störungen betonen Traeger
et al. zudem die Bedeutung psycho-pharmakologischer Interventionen bei onkologischen
Patienten, vor allem aber die Notwendigkeit gemeinsamer psychiatrisch-onkologischer
Forschungsarbeiten: Es gebe sicher keine einfachen Lösungen, wesentlich sei es jedoch,
die Bedürfnisse der Patienten überhaupt bzw. rechtzeitig zu erkennen. Schon ein routinemäßiges Screening der psychischen Belastung oder die richtige und rechtzeitige
­Information der Patienten könne helfen, psychische Probleme zu erkennen. Patienten,
die unvollständig informiert sind, können nur schwer wichtige Therapieentscheidungen
treffen – umso mehr, wenn sie durch Depressionen oder Ängste beeinträchtigt sind.
krebs:hilfe!
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Oft wird noch übersehen, dass eine Depression erst dann manifest werden
kann, wenn der Patient als geheilt gilt
und die Therapien hinter sich hat.
Thallinger: Auch daran zeigt sich ganz
deutlich, dass das Leben nach einer Krebsdiagnose nie mehr so ist wie vorher. Während der Therapie hat der Patient engen
Kontakt zu seinem betreuenden Onkologen und ist sich oft der Unterstützung und
Zuwendung seiner Familie und Freunde
sicher. Nach Abschluss der Therapie oder
in Therapiepausen ist der Patient mehr
sich selbst überlassen, die Aufmerksamkeit
und Zuwendung seiner nahen Umgebung
kann über die Zeit abnehmen. Dies ist umso relevanter, da viele Tumorerkrankungen
durch die Fortschritte der letzten Jahre zu
chronischen Erkrankungen wurden.
Bernhaut: Wenn während der Therapie
die Psyche durch den Mechanismus der
Verdrängung vielleicht noch geschützt war,
so zeigt sich oft erst nach der Therapie, dass
sie unser stärkstes „Organ“ ist. Die Herausforderung liegt darin, prophylaktische
Konzepte zu entwickeln und zu sehen:
wann fühlt sich der Patient seelisch gut
und wann nicht – auch wenn man es angesichts der momentanen Situation vielleicht
gerade ganz anders erwarten würde.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Alexander Bernhaut ist niedergelassener
Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie
Psychoonkologe in Wien, der auch Krebspa­
tienten und deren Angehörige behandelt und
begleitet.
Priv.-Doz. Dr. Christiane Thallinger ist Dermato-Onkologin am Comprehensive Cancer Center
Wien, Klinische Abteilung für Onkologie, Universitätsklinik für Innere Medizin I, Wahlärztin
für Dermatologie in Murau und Konsiliardermatologin am LKH Stolzalpe, Steiermark
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