Supernormales Sehvermögen

Werbung
M E D I Z I N
Supernormales
Sehvermögen
Theo Seiler, Hans-Peter Iseli, Farhad Hafezi,
Michael Mrochen
Zusammenfassung
Neben den refraktiven Fehlern des menschlichen Auges wie Myopie, Hyperopie und Astigmatismus existieren auch optische Fehler höherer Ordnung wie Koma und sphärische Aberration. Diese optischen Aberrationen verschlechtern die optische Qualität des Bildes, das in der
Netzhaut entworfen wird und können mit herkömmlichen optischen Hilfsmitteln (Brille und
Kontaktlinse) nicht oder nur schlecht korrigiert
werden. In vielen Fällen begrenzen sie die Qualität des Sehens und so wird der maximal mögliche Visus von 2,0 und mehr nur selten erreicht. Mithilfe neuer Excimer-Laser und der
wellenfrontgeführten Ablation sind die Aberrationen des menschlichen Auges nun ebenfalls korrigierbar. Dies eröffnet neue Möglichkeiten, führt aber auch zu einem Paradigmenwechsel in der refraktiven Chirurgie.
D
as menschliche Sehen hat verschiedene Qualitäten: Der Mensch
kann Formen erkennen, Farben
unterscheiden und Bewegung bemerken. Diese drei Qualitäten des Sehens
entsprechen morphologisch drei primär
wechselwirkungsfreien Übertragungspfaden für Informationen vom Auge
Grafik 1
Schlüsselwörter: Excimer-Laser, Lasertherapie,
Sehstörung, Aberration, Ophthalmochirurgie
Summary
Supernormal Visual Acuity
Aside from refractive errors like myopia, hyperopia, and astigmatism the human eye also
suffers from optical errors of higher order
such as coma and spherical aberration. These
optical aberrations may deteriorate the optical
quality of the retinal image and cannot be corrected by means of spectacles and contact lenses.
In many cases, optical aberrations limit the
quality of vision and, therefore, the maximal
visual acuity of 20/10 and better is not obtained. With the advent of new excimer laser systems and wavefront-guided ablation, however, optical aberrations of the individual eye
can be also corrected. This opens new horizons
in refractive surgery.
Key words: excimer laser, laser therapy, visual
disturbance, aberration, ophthalmic surgery
Bei Vorliegen eines aberrationsfreien (optisch idealen) Auges werden einfallende
Lichtstrahlen in einem Punkt F fokussiert und
die Wellenfronten liegen auf konzentrischen
Kreisen um diesen Punkt. Bei normalen Augen ist dies allerdings fast nie der Fall, die
Wellenfronten weichen nach Durchtritt durch
Hornhaut und Linse von der Idealform ab, und
der Bildpunkt ist unscharf und verzogen.
zum visuellen Kortex, wo sie dann zu einer visuellen Wahrnehmung verarbeitet
werden.
Bei einem Standardbesuch beim
Augenarzt wird über den Visus üblicherweise nur die Formerkennung, von
der in diesem Artikel die Rede ist, geprüft. Die Formerkennung selber wird
bei der Visuserhebung allerdings auch
nur unvollständig untersucht, da übliInstitut für Refraktive und Ophthalmo-Chirurgie (IROC)
(Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. med. Dr. rer. nat.Theo Seiler),
Zürich, Schweiz
A 700
cherweise nur der Hochkontrastvisus
gemessen wird, bei dem Werte um 1,0
(100 Prozent) als normal und gut bewertet werden. Der Visus bei niedrigem Kontrast oder das Dämmerungssehen (mesopisches Sehen) gehören
dagegen nicht zur Standarduntersuchung. Andererseits haben viele Patienten zum Beispiel nach refraktiven
Eingriffen zur Korrektur einer Fehlsichtigkeit (beispielsweise Myopie)
nach sowie vor der Operation zwar einen vollen Visus, klagen aber über eine
schlechtere „Qualität des Sehens“, besonders auffällig in der Dämmerung
und bei Nacht. Offensichtlich verschlechtert sich bei Erweiterung der
Pupille die optische Qualität des Bildes, das vom optischen Apparat des
Auges (Hornhaut und Linse) auf der
Netzhaut entworfen wird. Auch mit einer optimalen Brille lässt sich dieser
Zustand meist nicht bessern.
Aberrationen des
menschlichen Auges
Bei der optischen Korrektur einer
Fehlsichtigkeit mittels Brille oder
Kontaktlinse wird die Myopie oder
Hyperopie (Sphäre) und gegebenenfalls der Astigmatismus (Zylinder,
Achse) ausgeglichen. Jedoch hat das
menschliche Auge, wie alle optischen
Apparate, zusätzlich noch Fehler
höherer Ordnung, so genannte optische Aberrationen, wie zum Beispiel
die sphärische Aberration und die Koma. Was sind dies für Fehler und wie
machen sie sich bemerkbar?
Von den verschiedenen Möglichkeiten optische Aberrationen zu beschreiben sind in der physiologischen Optik
zwei besonders nützlich und instruktiv:
die Point-spread-Funktion und die
Wellenfrontdarstellung. Fallen paralle-
 Jg. 100
 Heft 11
 14. März 2003
Deutsches Ärzteblatt
M E D I Z I N
le Lichtstrahlen in ein Auge, dann werden sie im idealen, aberrationsfreien
Fall in einem Punkt fokussiert, der im
emmetropen (normalsichtigen) Auge
in der Netzhaut liegt. Beim Vorliegen
einer Koma oder sphärischen Aberration ist der Punkt wie in Grafik 1 dargestellt verzogen beziehungsweise verwischt (point spread). Betrachtet man
das Licht dagegen als elektromagnetische Welle, dann liegen im aberrations-
Jahren ist es klinisch möglich geworden die Aberrationen mit so genannten Aberrometern zu vermessen und
seit etwa zwei Jahren ist auch die Korrektur von Aberrationen mittels Laser
möglich (1).
Größere Studien an Augen mit normalem Sehvermögen zeigten, dass
Standardwerte für „gute“ Optiken
(zum Beispiel das Marechal-Kriterium), wie sie in der technischen Optik
üblich sind, vom einzelnen
menschlichen Auge nicht erreicht werden. Das Durchschnittsauge hingegen genügt
ungefähr dem Marechal-Kriterium und zeigt so eine im
technisch-optischen
Sinne
gute Optik. Der prinzipielle
Aufbau des menschlichen
Auges führt also im Durchschnitt zu einer guten Optik,
bei der individuellen Realisierung dagegen hapert es.
Insbesondere bei weiten PuAbbildung 1: Wellenfrontkarte eines emmetropen (nor- pillen spielen die Aberratiomalsichtigen) Auges mit einem Visus von 1,25 (125 Pronen eine gewichtigere Rolle,
zent).
was dazu führt, dass dann,
wenn sich die Pupille erweifreien Fall die Wellenberge/täler (also tert, die größten Einbrüche zu verdie Wellenfronten) auf konzentrischen zeichnen sind. Lichtkränze um LichtKreisen um den Fokus. Beim Auge mit quellen bei Nacht, so genannte Halos,
Aberrationen weicht die Wellenfront gehören zu üblichen Klagen von Pativon der Kreisform ab (Grafik 1) und enten und sind direkte Manifestatiodiese Wellenfrontabweichungen kön- nen der Point-spread-Funktion. Es wurnen als Wellenfrontkarten über der Pu- de auch gezeigt, dass nach refraktiven
pille dargestellt werden (Abbildung 1). Eingriffen, zum Beispiel nach MyopieDer Physiker Frits Zernike hat in den korrektur, die Aberrationen um Fakto30er-Jahren des letzten Jahrhunderts ren von 3 bis 10 zunehmen (4), was als
eine mathematische Klassifizierung Erklärung für die eingangs beschriebeder Wellenfrontaberrationen vorge- ne Verschlechterung der „Qualität des
schlagen, die seither in der technischen Sehens“ herangezogen wird.
Optik und neuerdings auch in der physiologischen Optik Verwendung findet. Die Aberrationen des menschli- Geometrische Grenzen
chen Auges führen also zu einer Ver- der Auflösung
schlechterung der Qualität des retinalen Bildes, was wegen der Verwischung Die Güte des Sehens hängt aber nicht
und Verzerrung der einzelnen Bild- nur von der Optik alleine ab sondern
punkte, je nach Ausprägung, zu einer auch vom Verhältnis der Größe der reVerschlechterung des Sehvermögens tinalen Rezeptoren zur Bildgröße. Zur
Verdeutlichung kann die Entwicklung
führen kann.
Bereits im 19. Jahrhundert waren der Digitalkameras der letzten Jahre
die optischen Aberrationen des herangezogen werden, wo die Anzahl
menschlichen Auges bekannt und wur- der Pixels der CCD-Chips die Güte der
den unter anderem durch von Helm- erhaltenen Bilder bestimmt: Mit der
holtz, von Tscherning und Gullstrand Abnahme der Pixelgröße wurde die
qualitativ untersucht. Seit etwa zehn Qualität der Digitalfotos besser.
A 702
Der Durchmesser der Photorezeptoren in der Makula, und dort wird das
scharfe Formensehen geleistet, beträgt etwa 5 µm. Zwei Punkte werden
noch als unterschiedlich wahrgenommen, wenn dazwischen mindestens ein
Photorezeptor nicht angeregt wird
(Grafik 2). Dies entspricht einer maximal erreichbaren Sehschärfe beim
Menschen von 2 bis 2,5. Bei Raubvögeln ist ein Visus von 5 bis 10 möglich
(Adleraugen), was durch eine andere
Struktur der Makula aber auch der
Optik des Vogelauges erklärt wird. In
der menschlichen Retina wird zusätzlich auch noch eine „subpixel“-Bildverarbeitung in den inneren Netzhautschichten (retinale Ganglienzellen)
gewährleistet, was die so genannte Noniussehschärfe ermöglicht, die deutlich höher liegt bei Visuswerten bis
4,0.
Aufgrund solcher geometrischen
Betrachtungen sollte beim Menschen
also eine Sehschärfe von 2,0 und besser
in der Regel möglich sein. Da diese
Sehschärfe aber nur sehr selten erreicht wird (und deshalb als supernormaler Visus bezeichnet wird) muss
wohl die Qualität des optischen Bildes
auf der Netzhaut den Visus begrenzen
(3). Mindestens teilweise sind also die
optischen Aberrationen des Auges
dafür verantwortlich, dass ein supernormaler Visus in der Regel nicht erreicht wird.
Grafik 2
Projektion eines E-Hakens auf die Netzhaut.
Das „E“ kann dann noch aufgelöst werden,
wenn zwischen den Querstrichen noch jeweils
ein Photorezeptor liegt, der nicht angeregt
wird. Aus dieser geometrischen Überlegung
lässt sich ein maximaler Visus von 2,0 bis 2,5
(200 Prozent bis 250 Prozent) ableiten.
 Jg. 100
 Heft 11
 14. März 2003
Deutsches Ärzteblatt
M E D I Z I N
Korrektur von Aberrationen
In der technischen Optik können Aberrationen durch asphärische Linsen und
vorgeschaltete adaptive Optiken ausgeglichen werden, wie die Abbildung 2 am
Beispiel des Hubble Teleskops zeigt.
Die Aberrationen des Auges können
durch Brillen oder Kontaktlinsen allerdings nicht korrigiert werden, da das
Auge beweglich ist und eine Aberra-
gen wurden 1999 in Dresden im Rahmen von Kurzsichtigkeitskorrekturen
durchgeführt (2) und haben überraschende Ergebnisse gezeigt. So trat in
den weitaus meisten Fällen die sonst
übliche Verschlechterung des mesopischen Sehens nicht ein. In Einzelfällen
war der Visus signifikant erhöht bis auf
Werte von 2,0. Diese Ergebnisse wurden im letzten Jahr von verschiedenen
Arbeitsgruppen weltweit verifiziert,
Abbildung 2: Fotografische Aufnahmen von einer Galaxie ohne und mit optischer Aberrationskorrektur beim Teleskop. M100 Galactic Nucleus. Hubble Space Telescope. Wide Field Planetary
Camera 2. a) Wide Field Planetary Camera 1. b) Wide Field Planetary Camera 2. (Mit freundlicher
Genehmigung von Dr. Ray Applegate).
tionskorrektur augenzentriert erfolgen
muss. Es bleibt als Option also nur die
Korrektur mittels refraktiver Hornhautchirurgie, wofür in den letzten Jahren entsprechende Excimer-Lasersysteme, zuerst in Deutschland, entwickelt
wurden. Notwendig sind dazu so genannte Scanning-spot-Laser, bei denen
ein circa 1 mm großer Laserfleck über
die Hornhaut gerastert und dabei selektiv Hornhautgewebe entfernt wird.
Bei einer solchen aberrationsgeführten Operation wird das Auge zuerst mit
einem Aberrometer vermessen. Aus
dieser Messung kann dann der Betrag
des zu entfernenden Hornhautgewebes
an jedem Ort der Hornhaut berechnet
werden, das so genannte Ablationsprofil, und dann der Gewebeabtrag mittels
des Scanning-spot-Lasers erfolgen. Es
handelt sich also um eine individuell für
jedes Auge „maßgeschneiderte“ (im
englischen: customized) Behandlung,
die allerdings auch noch die durch die
Operation induzierten Aberrationen
berücksichtigen muss. Die weltweit ersten wellenfrontgeführten Behandlun-
A 704
weshalb die „customized ablation“ inzwischen Thema von ganzen Kongressen wurde. Insbesondere wurden in den
USA staatlich kontrollierte Studien
durchgeführt und aufgrund der guten
Ergebnisse darf eine Freigabe von Seiten der FDA (Food and Drug Administration) in nächster Zukunft erwartet
werden.
Die Ergebnisse der wellenfrontgeführten refraktiven Operation sind also
durchaus viel versprechend, haben aber
auch einige Fragen aufgeworfen, die in
den nächsten Jahren mittels prospektiver Langzeitstudien beantwortet werden müssen:
> Eine Verbesserung der optischen
Qualität des retinalen Bildes führte
nicht zwangsläufig zur Visusverbesserung. Muss das Gehirn erst lernen besser zu sehen oder gibt es in vielen Fällen
einfach eine „Amblyopie“ (zentral bedingte Schwachsichtigkeit) bei einem
Visus von 1,0 ?
> Gibt es gute und schlechte Aberrationen? Messungen bei amerikanischen
Kampfpiloten haben ergeben, dass eine
gewisse Koma durchaus mit einem supernormalen Sehvermögen von 2,0 und
besser vereinbar oder sogar notwendig
ist.
> In wieweit verändert der Alterungsprozess und die Akkommodation
die Aberrationen menschlicher Augen?
> Welche Rolle spielt die chromatische Aberration?
Nicht zuletzt ist auch zu fragen, ob
ein Sehvermögen von 200 Prozent überhaupt nützlich oder von Vorteil ist.
Obwohl also heute mit der aberrationsgeführten Ablation ein mächtiges
optisches Heilmittel zur Verfügung
steht, das sogar einen supernormalen
Visus erreichbar macht, ist die Tragweite eines solchen Vorgehens noch nicht
klar zu ermessen. Es ist zum Beispiel
nicht entschieden, ob der wellenfrontgeführten Behandlung in Einzelfällen
nicht auch ein kurativer Wert zukommt.
Eines ist aber heute schon sicher: Die
neue Technologie der Wellenfrontvermessung des menschlichen Auges hat
einen Paradigmenwechsel mindestens
in der refraktiven Chirurgie herbeigeführt. Stand bisher der Wegfall von Brille oder Kontaktlinse im Vordergrund
bei refraktiven Operationen, so verlangen heute Patienten und Ärzte zusätzlich eine Verbesserung oder mindestens
aber den Erhalt sowohl des photopischen als auch mesopischen Sehvermögens. Kurzum: Die „Qualität des Sehens“ soll durch refraktive Eingriffe
nicht mehr leiden.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2003; 100: A 700–704 [Heft 11]
Manuskript eingereicht: 14. 10. 2002, angenommen:
21. 10. 2002
Literatur
1. Maeda N: Wavefront technology in ophthalmology.
Curr Opin Ophthalmol 2001; 12: 294–299.
2. Mrochen M, Kaemmerer M, Seiler T: Wavefront-guided
laser in situ-keratomileusis: early results in 3 eyes.
J Refract Surg 2000; 16: 116–121.
3. Schwiegerling J: Theoretical limits to visual performance. Surv Ophthalmol 2000; 45: 139–146.
4. Seiler T, Kaemmerer M, Mierdel P et al.: Ocular optical
aberrations after photorefractive keratectomy for
myopia and myopic astigmatism. Arch Ophthalmol
2000; 118: 17–21.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Theo Seiler
Institut für Refraktive und Ophthalmo-Chirurgie (IROC)
Zollikerstraße 164, 8008 Zürich, Schweiz
E-Mail: [email protected]
 Jg. 100
 Heft 11
 14. März 2003
Deutsches Ärzteblatt
Herunterladen