Neue Entwicklungen in der systemischen Psychotherapie: Home Treatment Prof. Dr. med. Urs Hepp Patientennah – Engagiert – Vernetzt Neue Entwicklungen in der systemischen Psychotherapie: Home Treatment (ClinicalTrials.gov: NCT02322437) Unterstützt durch die Hugo & Elsa Isler-Stiftung Patientennah – Engagiert – Vernetzt Inhalt 1. Einleitung Hintergrund: Weshalb Home Treatment? Begriffsbestimmung: Was ist Home Treatment? 2. Methoden 3. Ergebnisse 4. Unterschiede in der Behandlung 5. Diskussion www.ipw.zh.ch | 3 3 Einleitung www.ipw.zh.ch | 4 Fallbeispiel 17-Jährige Patientin mit Manie Will keine Behandlung 4 Jahre später: 2. manische Episode Mittlerweile Mutter eines 3-jährigen Kindes, alleinerziehend Will auf keinen Fall in die Klinik Hausbesuch Wie weiter? www.ipw.zh.ch | 5 Home Treatment www.ipw.zh.ch | 6 6 Home Treatment Behandlung von schwer und krisenhaft psychisch erkrankten Patienten im häuslichen Umfeld statt in der psychiatrischen Klinik durch mobile und multi-professionelle Teams, die rund um die Uhr verfügbar sind. Home Treatment ist eine Alternative zur Klinikbehandlung, erfolgt episodisch und zeitlich begrenzt in akuten Krankheitsphasen und sollte die Länge eines Klinikaufenthaltes nicht überschreiten. www.ipw.zh.ch | 7 7 Gemeindepsychiatrische Versorgungsansätze Akuität nicht primär aufsuchend Home Treatment Crisis Intervention/ Resolution Teams CMHT Institutsambulanzen ICM Case Management primär aufsuchend ACT Sozialpsychiatrische Dienste Team Modifiziert nach: DGPPN. S3-Leitlinie «Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen». Berlin: Springer; 2013. www.ipw.zh.ch | 8 8 Finanzierung Duales Finanzierungssystem Stationär: Fixbetrag pro Pflegetag (ca. 50% Kanton, ca. 50% KK) Ambulant: TARMED Finanzierung nicht-stationärer Angebote ist nicht gesichert Innovative Versorgungsangebote (z.B. Case Management, Home Treatment, integrierte Behandlungen ambulant–mobil–teilstationär– stationär) sind über TARMED nicht finanzierbar www.ipw.zh.ch | 9 9 Ohne integrierte Versorgung Intensität Mit integrierter Versorgung Intensität Integrierte Versorgung stationär stationär ambulant Zeit www.ipw.zh.ch | 10 stationär Home Treatment Home Treatment Tagesklinik ambulant Arbeitscoaching Zeit 10 Versorgungsregion ca. 80% der Aargauer Bevölkerung erreichbar 30 Minuten www.ipw.zh.ch | 11 11 Betriebsdaten Rund um die Uhr-Erreichbarkeit Zwei-Schicht-System mit Pikett-Dienst Duale Fallführung (Arzt/Psychologin und Pflegefachperson) Bezugspersonenpflege Umsetzung nicht konsequent möglich («total team approach») Tägliche gemeinsame Rapporte (ausser Sa/So) Wöchentliches Reporting zu den Ergebnisvariablen www.ipw.zh.ch | 12 12 Stand der Forschung Behandlungsleitlinien: Höchster Evidenzgrad für «Akutbehandlung im häuslichen Umfeld» (DGPPN. S3-Leitlinie «Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen». Berlin: Springer; 2013). ABER: Evidenz für Home Treatment i.e.S. ist limitiert, inkonklusiv und nur fraglich auf Schweizer Versorgungs- und Finanzierungsstrukturen anwendbar Evaluation von Home Treatment mit stringenten, aber pragmatischen Studiendesigns www.ipw.zh.ch | 13 13 Stand der Forschung «Crisis intervention for people with severe mental illnesses» (Murphy et al. Cochrane Database Syst Rev. 2015;12) 8 RCTs (n=1144 Patienten): Kriseninterventionsmodelle ( Home Treatment) vs. Standardbehandlung (meist in Klinik) bei schweren psychischen Erkrankungen (i.d.R. Schizophrenie) in akuten Krisen: 5 RCTs: bereits älter (1964–1992) nur fraglich auf heutige Versorgungsstrukturen übertragbar. 2 RCTs: Fokus auf «crisis houses» oder «home-like acute residential facilities» 1 RCT: nicht ausschliesslich stationär behandlungsbedürftige Patienten (ca. 30% in Kontrollgruppe nicht hospitalisiert). «… only eight small studies… could be included and evidence for the main outcomes of interest is low to moderate quality. If this approach is to be widely implemented it would seem that more evaluative studies are still needed.» www.ipw.zh.ch | 14 14 Fragestellung www.ipw.zh.ch | 15 Fragestellung Führt das Home Treatment ohne Qualitätseinbussen zu einer Reduktion des stationären Behandlungsbedarfs und der direkten Behandlungskosten bei schwer psychisch kranken Menschen mit stationärer Behandlungsindikation? www.ipw.zh.ch | 16 16 Methoden www.ipw.zh.ch | 17 Einschlusskriterien Indikation für stationäre Behandlung Alter: 18-64 Jahre Fester Wohnsitz im Kanton Aargau ab Königsfelden mit dem Auto innert 30 Minuten erreichbar Hauptdiagnose (ICD-10): F2–F6, F8–F9 Keine Alkohol-, Kokain- oder Opiatabhängigkeit, keine hirnorganische Störung (F0), keine Intelligenzminderung (F7) (weder Haupt-, noch Nebendiagnose) www.ipw.zh.ch | 18 18 Systemintervention: Behandlungsmodelle Randomisierung Neues Behandlungsmodell mit optionalem Hometreatment Standardbehandlungsmodell Stationär (S) Stationär (S) Home Treatment (HT) Tagesklinisch (TK) Tagesklinisch (TK) Ambulant (A) Ambulant (A) Vergleich www.ipw.zh.ch | 19 19 Endpunkte Primäre Endpunkte: Anzahl stationäre Behandlungstage Anzahl Behandlungstage insgesamt (d.h. stationär und/oder zu Hause) Sekundäre Endpunkte: Anzahl Rehospitalisationen direkte Behandlungskosten Symptombelastung und soziales Funktionsniveau (HoNOS und BSCL) Patienten- und Angehörigenzufriedenheit (PoC-18) www.ipw.zh.ch | 20 20 Instrumente Health of the Nation Outcome Scales (HoNOS) Pflichterhebung bei Ein- und Austritt (ANQ) sowie alle 14 Tage (TARPSY-Pilotprojekt) Fremdeinschätzung durch Kliniker 12 Items (Skala: 0-4) Verhalten (3 Items) Beeinträchtigung (2 Items) Symptome (3 Items) Funktionsniveau (4 Items) www.ipw.zh.ch | 21 21 RCT zum Vergleich zweier Behandlungsmodelle Standardmodell Patienten mit stationärer Behandlungsindikation S S A S Stationär (S) S TK A Tagesklinisch (TK) S Ambulant (A) Neues Modell S HT TK 6-monatige «individuelle Moving Study Period» pro Patient S Tagesklinisch (TK) HT S HT HT S HT TK S Ambulant (A) S ITT-Vergleich: (stationäre) Inanspruchn. direkte Behandlungskosten Behandlungsqualität HT A S zweijähriger Follow-up einjährige Einschlussphase 4.2015 www.ipw.zh.ch | 22 4.2016 4.2017 22 4.2018 Randomisierung Ausschluss von «Refuser» kann externe Validität der Studienergebnisse limitieren Rekrutierung von Patienten in psychiatrischen Krisen/Notfällen als besondere Herausforderung: Urteilsfähigkeit? Möglichkeit der geordneten Gesprächsführung? «Single randomized consent design» (Zelen, 1992) TAU als qualitativ gute Standardbehandlung keine evidenzbasierten Kriterien für Hometreatment-Eignung Einschluss von Patienten mit initial nicht gegebener Einwilligungsfähigkeit Beschränkung auf administrative Daten/Routinedaten keine Mehrbelastung Blockrandomisierung (Blockgrösse variierend: 3-8) Adaptives Randomisierungsverhältnis www.ipw.zh.ch | 23 23 Studienablauf Stationäre Zuweisungen Ausschluss Ausschluss Triagestelle: Stationäre Behandlungsindikation? Einschlusskriterien erfüllt? Zelen Design: «Randomization before consent» Blockrandomisierung Adaptives Randomisierungsverhältnis Randomisierung Standardbehandlungsmodell Stationäre Behandlung Neues Behandlungsmodell mit optionalem Home Treatment Keine Einwilligung Einwilligung Stationäre Behandlung Stationäre Behandlung u/o Hometreatment Intention to treat-Vergleich www.ipw.zh.ch | 24 24 Resultate www.ipw.zh.ch | 25 CONSORT Flowchart Rekrutierung Einschlusskriterien geprüft (n=2795 Patienten) Randomisiert (n=702 Patienten) Ausgeschlossen (n=2093 Patienten)1 • <18 oder ≥65 Jahre alt (n=737) • Kein fester Wohnsitz innerhalb von 30 Minuten (n=604) • Diagnose (z.B. organische psychische Störung) (n=1133) • Nicht Allgemeinpsychiatrie (z.B. Gerontopsychiatrie) (n=1365) • (Halb-)privates Versicherungsmodell (n=248) • Keine Deutschkenntnisse (n=103) • Anderes (z.B. Zuweisung in stationäres Psychotherapieprogramm) (n=86) 1MPro Patient können mehre Ausshclussgründe zutreffen Allocation Traditionelles Versorgungsmodell ohne Home Treatment-Option (n=292 Patienten) Neues Versorgungsmodell mit Home TreatmentOption (n=410 Patienten) Follow-Up Stationäre (Wieder-)Aufnahmen (n=554 Fälle) • davon ausgeschlossen (n=35 Fälle) Stationäre (Wieder-)Aufnahmen (n=378 Fälle) • davon ausgeschlossen (n=25 Fälle) Analysen (ITT) Analysiert (n=519 Fälle) www.ipw.zh.ch | 26 Analysiert (n=353 Fälle) 26 Primärer Endpunkt Durchschnittliche Anzahl Pflegetage pro Patient: Intention to treat-Analyse Durchschnittliche Anzahl Pflegetage pro abgeschlossenen (!) Fall: Intention to treatAnalyse p=.555 (.542 to .568) p=.541 (.528 to .553) p<.001 (.000 to .000) p<.001 (.000 to .000) 35 25 25 7.2 20 33.2 15 10 24.1 Pflegetage (M) Pflegetage (M) 30 30 20 5.8 15 10 27.3 18.5 5 5 0 0 Neues Modell Standardmodell (n=410) (n=292) Behandlungsmodell Kinikstation Home Treatment Neues Modell Standardmodell (n=497) (n=343) Behandlungsmodell Kinikstation Home Treatment Note: Mann-Whitney U-test: Monte Carlo method (99% CI) www.ipw.zh.ch | 27 27 Primärer Endpunkt Durchschnittliche Anzahl Pflegetage pro abgeschlossenen (!) Fall: As treated-Analyse 30 Pflegetage (M) 25 20 12.5 15 27.3 25.2 10 5 10.8 0 Neues Modell - mit Home Treatment (n=231) Neues Modell - ohne Home Treatment (n=266) Behandlungsmodell Kinikstation www.ipw.zh.ch | 28 Standardmodell (n=343) Home Treatment 28 Behandlungskosten für Leistungsfinanzierer Durchschnittliche Behandlungskosten pro Patient in den PDAG während der Follow-up-Phase1 30'000 25'000 Ambulant CHF 20'000 Teilstationär (Tagesklinik oder Tageszentrum) Stationär (Hometreatment) 15'000 10'000 5'000 Stationär (Klinikstation) 0 Neues Modell mit HT-Option (n=410 Patienten) Standardmodell ohne HT-Option (n=292 Patienten) Gesamtkosten Neues Modell vs. Standardmodell: -12.3% 1Berechnungsgrundlage: CHF 650.- für jeden verrechneten stationären Pflegetag, CHF 410.- für jeden verrechneten Home Treatment-Pflegetag, CHF 390.für jeden verrechneten teilstationären Pflegetag sowie alle (ambulanten) TARMED-Leistungen und alle verrechneten (Halb-)Tagespauschalen für Tageszentren. www.ipw.zh.ch | 29 29 Wer wird zu Hause behandelt? Neues Behandlungsmodell Behandlung (phasenweise) zu Hause Behandlung ausschliesslich auf Station 231 (46.5%) 266 (53.5%) Alter (in Jahren), M (SD) 40.4 (11.9) 38.2 (13.2) .053 Geschlecht, n (%)1 männlich weiblich 95 (41.3%) 135 (58.7%) 119 (44.7%) 147 (55.3%) .468 Fürsorg. Unterbringung, n (%) ja nein 48 (20.8%) 183 (79.2%) 51 (19.2%) 215 (80.8%) .655 Hauptdiagnose (ICD-10)2,3 F2 F3 F4 F6 Andere (z.B. Z) 66 (48.9%) 128 (56.1%) 27(30.0%) 5 (15.6%) 2 (22.2%) 69 (51.1%) 100 (43.9%) 63 (70.0%) 27 (84.4%) 7 (77.8%) <.001 13.9 (6.0) 14.5 (7.0) .330 Abgeschl. Behandlungen, n (%) HoNOS-Eintritt (Total Score) , M (SD) 4 1n=1 fehlender Wert; 2Austrittsdiagnosen; 3n=28 fehlende Werte; 4n=37 fehlende Werte www.ipw.zh.ch | 30 30 p Weshalb kein Home Treatment? Gründe für das Ausbleiben von Home Treatment n (%) Ablehnung durch Patient 104 (39.1%) Kurzer stationärer Aufenthalt (≤7 Tage) und/oder keine stationäre Behandlungsindikation mehr 71 (26.7%) Klinisches Zustandsbild (z.B. akute Suizidalität) 51 (19.2%) Schwierige oder unklare Wohnverhältnisse (z.B. häusliche Gewalt oder gekündigte Wohnung) 19 (7.1%) Verlegung in andere Klinik oder spezialisierte stationäre Psychotherapie 18 (6.8%) Ablehnung durch Angehörige 7 (2.6%) Anderer Grund (z.B. Übertritt in betreutes Wohnen geplant) 5 (1.9%) Einschlusskriterien nicht (mehr) erfüllt 3 (1.1%) Kein freier Behandlungsplatz 2 (0.8%) Unklarer Grund 3 (1.1%) Fehlende Angabe 7 (2.6%) Anmerkung: n=266 abgeschlossene Behandlungen mit Home Treatment-Option, aber ohne Behandlung im häuslichen Umfeld. Mehrfachnennungen möglich. www.ipw.zh.ch | 31 31 Stationäre Behandlung vs. Hometreatment Therapeutische Beziehung www.ipw.zh.ch | 32 Was ist anders im Hometreatment Die Behandler sind zu Gast bei den Patienten Die Angehörigen und das Umfeld sind „automatisch“ involviert Kinder psychisch kranker Eltern können nicht übersehen werden Die Behandlung erfolgt im gewohnten Umfeld – unmittelbare Qualitätskontrolle Kulturelle Unterschiede zwischen stationären und aufsuchenden Behandlungsteams www.ipw.zh.ch | 33 33 Schlussfolgerungen www.ipw.zh.ch | 34 Limitationen Vorläufige Befunde Pragmatische, realitätsnahe Studie mit relativ liberalen Einschlusskriterien, aber wenigen (dafür «harten») klinischen Endpunkten Systemintervention: Keine spezifischen Behandlungsprotokolle, individuell angepasste Behandlungsstrategie Keine Verblindung der Patienten, Behandler und Rater www.ipw.zh.ch | 35 35 Preliminäre Schlussfolgerungen Home Treatment führt zu Reduktion der stationären Behandlungstage Gesamtdauer der Akutbehandlung nimmt durch Home Treatment nicht zu «echte» Substitution der stationären Akutbehandlung (verbunden mit geringeren direkten Behandlungskosten). HomeTreatment scheint (zumindest kurzfristig) nicht mit erhöhten Wiedereintrittsraten einherzugehen Knapp die Hälfte der Patienten können (früher oder später im Behandlungsverlauf) mit Home Treatment behandelt werden Abgesehen von einem fehlenden «Home» sowie akuter Selbst- oder Fremdgefährdung bisher kaum Hinweise auf absolute Kontraindikationen (z.B. Diagnosen oder FU). Home Treatment kann stationäre Versorgung nicht vollständig ersetzen («balanced care»)! www.ipw.zh.ch | 36 36 Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Prof. Dr. med. Urs Hepp [email protected] Dank: Niklaus Stulz, Lea Wyder, Lienhard Maeck, Matthias Hilpert, Helmut Lerzer, Eduard Zander Hometreatment Team www.ipw.zh.ch | 37