Druckversion - Autismus-Therapie: Der Weg ins fast normale Leben - ... 1 von 3 http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/autismus-therapie-der-w... 28. Januar 2013, 08:44 Uhr Autismus-Therapie Der Weg ins fast normale Leben Von Jana Hauschild In eine reguläre Schule gehen, enge Freunde haben, Partnerschaften eingehen: Für viele Autisten ist das undenkbar. Doch es gibt immer mehr Therapiemethoden, um autistische Symptome schon bei Kleinkindern abzumildern - und ihnen damit ein fast normales Leben zu ermöglichen. Als Ron Breining* drei Jahre alt ist, kann er weder "Mama" noch "Papa" sagen. Anderen Menschen sieht er nicht in die Augen, er spielt mit sich allein und immer nur das Gleiche. Ron hat frühkindlichen Autismus. Knapp vier Jahre später besucht er eine reguläre Grundschule, fragt Klassenkameraden, ob sie mit ihm spielen wollen, kennt Zahlen und Buchstaben, kann schreiben. Wunderheilung? Keinesfalls. Dahinter steckt jahrelanges, intensives Training - zu Hause, im Kindergarten, mit Hilfe von Autismustherapeuten, Logopäden und geschulten Pädagogen. Mindestens 20 Stunden pro Woche übte Ron anfangs in Einzelsitzungen, Worte und später Sätze zu sprechen, Kontakt zu anderen Kindern aufzubauen und allein auf Toilette zu gehen. "Autismus ist zwar nicht heilbar, aber die Symptome können durch eine frühe und intensive Therapie deutlich reduziert werden", sagt die Psychologin Inge Kamp-Becker, die am Universitätsklinikum Marburg eine Spezialambulanz für Autismus-SpektrumStörungen leitet. Kostbare Zeit geht verloren In Deutschland wird Autismus immer öfter und früher bei Kindern erkannt. "Weil die Störung so komplex ist und Kinderärzten lange Zeit nicht bekannt war, dachten viele, die Symptome würden sich auswachsen oder es handle sich um eine andere Entwicklungsstörung wie ADHS", sagt Friedrich Nolte vom Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus. Heute wüssten Ärzte, wie unterschiedlich die Symptome von Autismus aussehen können und erkennen die Störung eher. Steht die Diagnose fest, haben es Autisten und ihre Eltern oft schwer, schnell einen Therapeuten zu finden - daran mangelt es. "Für Asperger-Autisten ist die Lage nicht gut, aber immerhin schon besser geworden, da vermehrt Gruppentherapien entwickelt und durchgeführt werden", sagt Christine Freitag. Anders sehe es aber für Kinder mit frühkindlichen Autismus aus. "Für sie gibt es viel zu wenig spezielle Frühförderungsangebote", so die Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters in Frankfurt am Main. Betroffene warten oft mehrere Monate auf einen Therapieplatz. Das ist kostbare Zeit: Mit jeder Woche, die ohne eine Behandlung vergeht, verfestigen sich die Probleme im Umgang mit anderen Menschen, und für Kinder wie Ron wird es immer schwerer, sprechen zu lernen. "Daher bekommen vor allem junge Kinder in der Regel schnellstmöglich einen Diagnostiktermin und anschließend einen Therapieplatz", sagt Kamp-Becker. Bizarre Methoden sind passé Viele Jahre tummelten sich bizarre Methoden auf dem Therapiemarkt, die Wunderheilungen versprachen. Wie etwa die Festhaltetherapie: Bei dieser Behandlung wurden autistische Kinder, die auf Berührung durch andere aggressiv oder stark verängstigt reagieren, trotz Gegenwehr fest von der Mutter umarmt. Irgendwann, so die Hoffnung, würde das Kind nachgeben und die Nähe der Mutter zulassen. Nicht nur ethisch, sondern auch wissenschaftlich ist diese Methode stark umstritten. Lange Jahre galt auch die Psychoanalyse als sinnvolle Therapiemethode. Inzwischen gehen Experten aber davon aus, dass sie bei Autismus nicht hilft. Ebenso spielen Medikamente bei der Behandlung nur eine Nebenrolle. Höchstens um einzelne Symptome wie Aggressivität einzudämmen, dürfen Arzneimittel verabreicht werden. Alltagsnahe Übungen und Rollenspiele Inzwischen setzen sich vermehrt Verhaltenstraining und alltagsnahe Übungen und Rollenspiele durch. Sie sollen autistischen Kindern und Jugendlichen ein möglichst selbständiges Leben ermöglichen. Die sogenannte angewandte Verhaltensanalyse, kurz ABA ("Applied Behavior Analysis"), ist einer der am 28.01.2013 11:24 Druckversion - Autismus-Therapie: Der Weg ins fast normale Leben - ... 2 von 3 http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/autismus-therapie-der-w... besten erforschten Ansätze. Therapeuten trainieren damit soziale Fähigkeiten, die Interaktion mit anderen und versuchen, stark störendes Verhalten schrittweise abzubauen. Die grundlegende Methode ist simpel: Erwünschtes Verhalten wird belohnt. Doch die Therapie braucht Zeit. "Kindern mit frühkindlichem Autismus das Sprechen beizubringen, dauert bei einigen sechs Monate, bei anderen bis zu fünf Jahre", erzählt die Sozialtherapeutin Juliane Succow vom Autismus Therapiezentrum in Berlin. Sie und eine Kollegin haben mit Ron dreimal in der Woche bei ihm zu Hause für mehrere Stunden sprechen, spielen und selbständiges Handeln geübt. In manchen Wochen lernte er nur ein Wort, in anderen auch mal mehrere. Mehr als zwanzig Übungen pro Nachmittag waren an der Tagesordnung. Einige dauern nur wenige Minuten, andere länger. Neben ABA gibt es noch zahlreiche ähnliche Verhaltenstrainings, manche legen ihren Fokus auf das Erkennen von Gefühlen, andere auf sozialen Umgang, wieder andere auf das Sprechenlernen. Wie gut die einzelnen Ansätze sind, sei noch nicht genügend erforscht, findet Christine Freitag - auch bei ABA. "Wir sehen Erfolge, und die einzelnen Therapeuten leisten wichtige und gute Arbeit. Doch wir sollten trotzdem regelmäßig durch Studien prüfen, ob all der Einsatz auch objektiv etwas bringt oder wo etwas verbessert werden müsste", fordert die Kinderpsychiaterin. Eltern spielen eine wichtige Rolle Wichtig für einen Erfolg ist auch die Mitarbeit des Umfelds. Das Kind muss die neuen Verhaltensweisen nicht nur in den Therapiestunden üben, sondern ebenso im Alltag zu Hause anwenden. Dazu bedarf es viel Einsatz und Geduld der Eltern. "Nicht alle können die Kraft dafür aufbringen. Doch wenn Eltern die Übungen nicht in den Alltag integrieren, kann auch unsere Behandlung nicht viel ausrichten", sagt die Therapeutin Succow. Rons Eltern holten sich zusätzlich Hilfe von einer Logopädin. Auch sie machte gezielte Sprachübungen ihrem Sohn. In seinem Integrationskindergarten trainierte eine speziell geschulte Erzieherin mit ihm. In der Schule unterstützt ihn jetzt eine Schulhelferin. "So eine Therapie ist viel Arbeit. Aber sie lohnt sich", sagt Succow. Anstatt in Förderschulen zu müssen, schafften es manche Kinder wie Ron, in einer regulären Schule zurechtzukommen. Anstatt ein Leben lang im Betreutem Wohnen unterzukommen, könnten einige durch die Trainings später für sich selbst sorgen. Nach der Schule hat Ron weiterhin dreimal pro Woche Therapiestunden. Dabei geht es nun vor allem darum, soziale Fertigkeiten für das Miteinander mit Schülern und Lehrern zu lernen. Inzwischen hat er einige Schulfreunde. Und er wurde auch schon zu Kindergeburtstagen eingeladen. *Name geändert URL: http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/autismus-therapie-der-weg-ins-fastnormale-leben-a-876742.html MEHR AUF SPIEGEL ONLINE: Autismus: "Oft wünschte ich, die Menschen wären nummeriert" (27.01.2013) http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/0,1518,877992,00.html Autismus-Spektrum-Störungen: Die verschiedenen Formen von Autismus (27.01.2013) http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/0,1518,879673,00.html Stimmungsstörung: Streit um Kinder-Krankheit DMDD (14.01.2013) http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/0,1518,876286,00.html Umstrittenes Psychologie-Werk: Katalog der Störungen (12.07.2012) http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/0,1518,838447,00.html ADHS, Burnout, Depression: Forscher warnen vor Millionen Scheinpatienten (06.06.2012) http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/0,1518,836033,00.html MEHR IM INTERNET Autismus Deutschland e.V.: Homepage des Bundesverbands zur Förderung von Menschen mit Autismus http://w3.autismus.de/pages/startseite.php 28.01.2013 11:24 Druckversion - Autismus-Therapie: Der Weg ins fast normale Leben - ... 3 von 3 http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/autismus-therapie-der-w... Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin: Homepage der Johann Wolfgang GoetheUniversität in Frankfurt a.M. http://www.kgu.de/index.php?id=1371 Spezialambulanz für Autismus-Spektrum-Störungen: Homepage der AG an der Philipps Universität Marburg http://www.uni-marburg.de/fb20/kjp/forschung/aut AutismusTherapieZentrum (ATZ) Der Steg: Gesellschaft zur Förderung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen http://www.dersteg.de/angebot/autismustherapiezentrum-atz.html SPIEGEL ONLINE ist nicht verantwortlich für die Inhalte externer Internetseiten. © SPIEGEL ONLINE 2013 Alle Rechte vorbehalten Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH 28.01.2013 11:24