1 "Einen Ausweg bieten nur klassenorientierte Lösungen" Nach seinem großen Wahlerfolg sieht das griechische Linksbündnis SYRIZA im Frühjahr 2013 seinem Gründungskongress entgegen. In Meinungsumfragen erzielt SYRIZA höchste Zustimmungswerte. Dazu und zu einigen Grundfragen der Strategie und des Politikverständnisses befragte die australische Wochenzeitung „Green Left Weekly“ in Athen Yiannis Bournous, Mitglied des Zentralen Politischen Komitees von SYNASPISMOS, der stärksten politischen Organisation von SYRIZA, und Mitglied des Vorstandes der Partei der Europäischen Linken. Aus: Green Left Weekly, 14. 12. 2012 Mitte Oktober 2012 sagte SYRIZA-Vorsitzender Alexis Tsipras in einem Rundfunkinterview, dass "die Dreiparteienkoalition [an der Regierung] zerbrechen und die Zukunft des Landes von gesunden Kräften gestaltet werden wird". Wie nah ist die Koalition dem Zerfall? Zunächst einmal erleben wir bereits seit längerem eine Periode in Griechenland, in der man kaum sichere Voraussagen über zeitliche Abläufe machen kann. Mit dieser Erklärung hat der SYRIZA-Vorsitzende die Stimmung beschrieben, die wir in der Gesellschaft wahrnehmen. Menschen, die sich im Juni noch dazu entschlossen, die Befürworter des SparMemorandums und die Kräfte des Ausverkaufs zu unterstützen, erkennen nach und nach, dass sich die Versprechungen der Nea Demokratia und der beiden anderen Regierungsparteien in Luft auflösen. Die Regierungskoalition stimmte für das sogenannte Dritte Verständigungs-Memorandum. Sie verabschiedete ein weiteres Paket härtester Sparmaßnahmen, wodurch der Mindestlohn in der Privatwirtschaft auf unter 500 Euro gesenkt wurde. Gestrichen wurden faktisch alle Leistungen des bestehenden Sozialstaates und der sozialen Dienste in Griechenland, mit denen bisher Grundbedürfnisse der Bürger befriedigt wurden. Seit dem September und mit dem ersten Generalstreik erleben wir zunehmende Gegenwehr. Ein wachsender Teil der Gesellschaft ist entschlossen, die extreme Sparpolitik zu Fall zu bringen. SYRIZA hat offiziell erklärt, dass wir für das Abtreten dieser Regierung kämpfen. Das tun wir auf zwei Ebenen. Die eine ist die parlamentarische. Wir sind jetzt die stärkste Oppositionspartei. Wir unternehmen alles, um die reaktionären Sparmaßnahmen zu blockieren, zugleich legen wir eigene Alternativen vor. So hat SYRIZA ein Gesetzespaket eingebracht, das darauf abzielt, überschuldete Haushalte von der hohen Zinslast gegenüber privaten Banken zu befreien. Gleiches fordern wir für die überschuldeten kleinen und mittleren Unternehmen, die das Rückgrat der traditionellen griechischen Wirtschaft bilden. Die brachen schon unter der Last des ersten Sparprogramms vor zwei Jahren zusammen. Auf der zweiten, der gesellschaftlichen Ebene, im Bereich der sozialen Kämpfe, heizen wir kräftig ein. Seit SYRIZA sich als ein möglicher Regierungskandidat erwies, haben wir erklärt, dass wir im Falle eines Wahlsieges und der Umsetzung dessen, was wir als eine Regierung der Linken, eine Anti-Memorandums-Regierung, für notwendig halten, auch bei einem hohen Wahlergebnis ohne starke außerparlamentarische Unterstützung nicht in der Lage sein werden, tiefgreifende Veränderungen in der Wirtschaft zu erreichen. 2 Das heißt auch: Wir haben nicht die Absicht, das politische Klientel-System zu reproduzieren, das wir in den 35 Jahren seit dem Fall der Militärdiktatur erleben. Wir wollen neue gesellschaftliche Verhältnisse. Das ist eine gewaltige Herausforderung für uns. Welches sind die gesunden Kräfte, die Tsipras im Auge hat? Ich denke, die beiden aufeinanderfolgenden Wahlen vom Mai und Juni 2012 haben an alle politischen Kräfte eine neue Botschaft ausgesandt. Die extremen Sparprogramme der letzten drei Regierungen von PASOK und Nea Demokratia haben die Bedingungen in vielen Bereichen und für viele Klassen enorm verschlechtert. Das hat zu dem historischen Bruch zwischen den Parteien Nea Democratia und PASOK einerseits sowie den unteren und mittleren Klassen der griechischen Gesellschaft andererseits geführt und den entscheidenden Wählerwechsel ausgelöst. Es waren diese gesellschaftlichen Kräfte, die den beiden genannten Parteien in der Vergangenheit halfen, dreißig Jahre lang die absolute Mehrheit zu halten und nur die Plätze in Regierung und Opposition zu tauschen. Jetzt haben wir es mit einem ganz anderen politischen Szenario zu tun. Das sozialdemokratische Modell bricht zusammen. PASOK erzielt in Meinungsumfragen nur noch 5-6 Prozent. Nea Demokratia konnte zwar die Wahlen gewinnen, aber mit dem historisch schlechtesten Ergebnis. Es hat eine Befreiung der gesellschaftlichen Kräfte stattgefunden. Bei unserem Vorhaben einer alternativen Regierung streben wir ein neuartiges Bündnis mit diesen befreiten, emanzipierten gesellschaftlichen Kräften an – gleichgültig, wen sie in der Vergangenheit gewählt haben. Führende Vertreter von SYRIZA haben mehrfach erklärt, ein Austritt aus der Eurozone würde die griechische Wirtschaft zerstören. Was sagen Sie zu der kritischen Meinung mancher Linker, ein Verzicht auf den Euro sei die radikalere Lösung? Unsere Hauptlosung lautet: "Keine weiteren Opfer für den Euro". Die jüngsten Entwicklungen in Europa zeigen, dass es eine reale Gefahr des Ausschlusses Griechenlands aus dem Euro nie gegeben hat. Dieses Schreckgespenst wurde vor allem für die griechischen Wahlen gebraucht. Außerdem sollten damit die Steuerzahler in den anderen europäischen Ländern überzeugt werden, dass die Belastungen durch den "Rettungsschirm" notwendig seien, um ein Auseinanderbrechen der Eurozone zu verhindern. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um Abgaben zur Rettung der räuberischen Privatbanken. Dem griechischen Volk suchte man über die Medien einzureden, ein Austritt Griechenlands sei für Deutschland und die übrige Eurozone kein Problem, hätte jedoch verheerende Wirkung für die griechische Wirtschaft und Gesellschaft. Das war nichts anderes als eine große Lügenkampagne. Darauf erklärten wir, eine linke Regierung werde alles tun, um die sozialen Belange der griechischen Gesellschaft zu sichern. Wenn man eine falsche Frage zu beantworten sucht, wird jede auch noch so richtig klingende Antwort falsch. Die Frage nach der Auflösung der Eurozone steht nicht und hat nie gestanden. Ein paar neoliberale fundamentalistische Christdemokraten in Bayern, in Finnland oder den Niederlanden mögen mit diesem Gedanken gespielt haben, aber das hatte von Anfang an nur marginale Bedeutung. Eine reale Gefahr hat es nicht gegeben. Nun zum Wesen der sogenannten linken Kritik an unserem Standpunkt gegen den Austritt 3 Griechenlands und die Auflösung der Eurozone. Diese sogenannte linke Kritik, die die Rückkehr zur Drachme unterstützt, ist ein durch und durch keynesianischer Ansatz. Ich will kurz erklären, warum: Hinter der sogenannten linken Position für einen Austritt aus dem Euro steckt die Vorstellung: Wir scheiden aus dem Euroraum aus, kehren zur nationalen Währung zurück und sind dann in der Lage, diese mehrfach abzuwerten. Das hätte allerdings eine noch drastischere Senkung von Löhnen und Renten zur Folge. Dann – so die Theorie – werden wir beim Export wettbewerbsfähiger, und die großen Exporteure, die davon profitieren, lassen den Gewinn auf magische Weise zurückfließen. Das ist Keynesianismus reinsten Wassers. Mit einem radikalen Standpunkt hinsichtlich der Existenz und Funktion der Eurozone und ihrer Wirtschaften hat das überhaupt nichts zu tun. Außerdem wird tatsächlich die falsche Frage beantwortet. Man spielt das Spiel des Gegners, indem man die Währung als das Hauptproblem hinstellt. Wir wollen aber nicht die Währung wechseln, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Machtverhältnisse ändern, die diese Währung widerspiegelt. Darum rufen wir auch nicht nur zum Kampf im nationalen Rahmen auf. Wir wissen, dass die nationale Ebene für den Klassenkampf grundlegend ist. Aber selbst wenn wir in Griechenland gewinnen und eine linke Regierung bilden, wird eine linke griechische Regierung ein [einsames] "Dorf in Gallien“ bleiben, wenn wir nicht auch auf europäischer Ebene wenigstens gewisse Veränderungen der Kräfteverhältnisse erreichen. Es wäre natürlich ein historischer Umbruch, wenn es plötzlich eine Regierung gäbe, die sich gegen den neoliberalen autoritären Kurs zur Wehr setzt. Und wir haben die Forderung nach einer europaweiten Widerstandsfront erhoben. Darum war für uns die Mobilisierung zum 14. November in ganz Europa sehr wichtig. Ich denke, das war ein historischer Durchbruch für die sozialen Bewegungen Europas. Ich glaube, dass die Bewegung auf den Plätzen [die Occupy-Bewegung] einen fruchtbaren Nährboden für eine neue Art von Internationalismus in den sozialen Kämpfen geschaffen hat. Das ist für uns von großer Bedeutung, denn ohne massiven koordinierten Widerstand kann man vielleicht ein paar Anstöße geben, aber nicht bei weitergehenden Veränderungen vorankommen. In der Linken wurde SYRIZA auch für die Forderung nach einer Nachverhandlung der griechischen Schulden statt einer schlichten Zahlungsverweigerung kritisiert. Können Sie SYRIZAs Haltung dazu erläutern? In unseren Augen ist die Frage der Schulden eine politische und keine technische Frage. Die Schulden wurden zur Rechtfertigung aller Sparprogramme benutzt. Wie viele europäische Staaten hat auch Griechenland jahrelang Schulden angehäuft. Selbst Deutschland hatte Staatsschulden, die die Kriterien des Stabilitätspaktes überschritten. Auf ein politisches Problem muss man eine politische Antwort geben. Seit Beginn der Krise haben wir gesagt, dass dies nicht nur eine griechische Angelegenheit ist. Wir haben es mit einer strukturellen europäischen Krise des Weges zu tun, wie die EU und die Eurozone konstruiert wurden. Daher haben wir darauf bestanden, dass es für ein europäisches Problem keine nationale Lösung geben kann. Gemeinsam mit den anderen Kräften der europäischen Linken haben wir ein europäisches Abkommen zur Krise der Staatsschulden 4 vorgeschlagen, das alle verschuldeten Staaten Europas einschließt. Es würde dem Modell folgen, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland angewandt wurde. Dabei geht es um zwei Dinge: Das eine ist die Erlassung eines großen Teils der Schulden. Wir haben eine Untersuchung der griechischen Staatsschulden vorgeschlagen. Es gilt festzustellen, welcher Teil auf Korruption, spekulative Zinsraten oder Ähnliches zurückzuführen ist. Zugleich müssen die Kleinanleger geschützt werden, z. B. private Haushalte, die ihre Lebensersparnisse für Staatsanleihen ausgegeben haben, oder soziale Fonds, die Staatsanleihen besitzen. Diese wurden beim „Schuldenschnitt“ für Griechenland im vergangenen Jahr nicht berücksichtigt. Die ersten Betroffenen, die der „Schuldenschnitt“ fast in den Bankrott getrieben hat, waren die kleinen Haushalte, die griechischen Sozialfonds und die Universitäten. Deswegen sagen wir, dass unser Programm und unsere Strategie klassenorientiert sind. Man muss die schützen, die nicht Schuld an der Krise sind, und die strafen, die sie verursacht haben. Für die übrigen Schulden fordern wir eine Erleichterung der Rückzahlungsbedingungen – ebenfalls nach dem Vorbild der Abkommen mit Deutschland vom Jahre 1953. Das ist die Voraussetzung für jegliches Wirtschaftswachstum. In Jahren, da die Wirtschaft unseres Landes wieder wächst, können Rückzahlungen getätigt werden, in Jahren tiefer Depression – wie jetzt im sechsten Jahr einer Rezession – nicht. Um das zu verstehen, muss man kein Ökonom sein. Wenn man in einer Rezession steckt, ist es unmöglich, Zinsen und geliehenes Kapital zurückzuzahlen und zugleich Geld für öffentliche Investitionen aufzutreiben, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Man muss sich also entscheiden, wenn man Europa als Ganzes erhalten will. Wir haben uns dafür entschieden, die Politik zu verteidigen und zu fördern, die Europa aus der Rezession führt: Schaffung von Arbeitsplätzen, öffentliche Investitionen, gesellschaftliche Kontrolle strategischer Bereiche (Banken, Energie, Verkehr usw.) und Sicherung der sozialen Daseinsfürsorge. Aber das reicht nicht aus, denn wir haben es mit einer strukturellen Krise zu tun. Wir sagen, dass die europäischen Verträge die EU in die Lage gebracht haben, in der wir uns jetzt befinden. Gebraucht werden radikale Änderungen der Verträge, grundlegende Änderungen an den Statuten der Europäischen Zentralbank, damit sie ein 'Letzter Kreditgeber' wird, der an überschuldete Staaten Anleihen zu sehr niedrigen Zinsen ausreicht, wie sie es heute gegenüber privaten Banken tut. Die Partei der Europäischen Linken hat den Vorschlag eingebracht, eine europäische öffentlichen Bank für soziale und ökologische Entwicklung zu gründen. Diese Bank soll zinslos oder zu sehr niedrigen Zinsen ausschließlich öffentliche Investitionen finanzieren, die auf ökologisch nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze gerichtet sind. Alexis Tsipras wurde mit der Aussage zitiert: "Das Sparsamkeitsregime versagt nicht, weil es nicht umgesetzt wird, sondern, im Gegenteil, wegen des verschärften Sparens". Was ist SYRIZAs Alternative zur Sparpolitik? 5 Dies ist das erste Mal in unserer Geschichte, dass die Gesellschaft uns zwingt, konkrete Alternativen für den nächsten Tag vorzulegen. Das bedeutet einen grundlegenden Wandel der Rolle einer linken Partei in Griechenland. Die Fragestellung ist von großem Gewicht. Wenn wir eine linke Regierung bilden, müssen dringend Finanzmittel beschafft werden. Wir haben zum Beispiel vor, großes Kapital, Großunternehmen und Großvermögen sofort mit einer Sondersteuer zu belegen. Zugleich brauchen wir eine rasch wirkende Strategie für die Veränderung des griechischen Steuersystems, das gegen die Verfassung verstößt. In der Verfassung ist eine progressive Besteuerung festgeschrieben. Jeder Bürger muss entsprechend seinen Möglichkeiten einen Beitrag leisten. Aber die Steuer auf die Gewinne von Großunternehmen wurde in einer Zeit, da Griechenland im sechsten Jahr in Folge in einer Rezession steckt, vom früheren PASOKMinisterpräsidenten Georgios Papandreou gesenkt. Aus einer offiziellen Analyse geht hervor, dass die Gewinne der 500 größten griechischen Unternehmen in den letzten beiden Jahren der Rezession um 19 Prozent gewachsen sind. Hier muss sofort etwas geändert werden. Unser grundlegendes Ziel ist, dass die Reichen zahlen und nicht die Armen. Denn die unteren und mittleren Klassen können nichts beitragen. Sie haben ihre Häuser und Arbeitsplätze verloren. Athen hat inzwischen 25 000 Obdachlose. Die Zahl der Selbstmorde wegen wirtschaftlicher Aussichtslosigkeit schießt in die Höhe. All das macht es unumgänglich, bei der Erhebung von Staatseinnahmen radikale Veränderungen einzuführen. Wir brauchen ein Gesetz zur Besteuerung der Immobilien der Kirche, der größten Grundbesitzerin Griechenlands. Wir brauchen Beschlüsse zur Besteuerung der Großreeder. Sie besitzen die zweitgrößte Handelsflotte der Welt. Zugleich hinterziehen sie ganz offiziell Steuern, weil frühere Regierungen sie von 70-75 Prozent der Steuern befreit haben. Wenn man nicht mit klassenorientierten Lösungen beginnt, wird man die griechische Wirtschaft nie aus dem tragischen Zustand herausführen, in dem sie heute steckt, denn dafür fehlen dem Staat die Einnahmen. Die faschistische Partei „Goldene Morgenröte“ erhält derzeit 13Prozent der Wählerstimmen. Man hat das mit dem Aufkommen des Faschismus in Deutschland in den 1930 Jahren verglichen. Wie stellt sich SYRIZA zu dieser Situation? Das Wachstum der „Goldenen Morgenröte“ stellt eine komplexe Angelegenheit dar. Es ist nicht einfach damit zu erklären, dass 500 000 griechische Wähler etwa über Nacht Faschisten geworden sind. Die „Goldene Morgenröte“ bietet radikale, das System in Frage stellende Lösungen an. Unter anderem deswegen haben viele Jugendliche sie gewählt. Der Nährboden für das Aufkommen neofaschistischer Ideen wurde bereits von der PASOKRegierung geschaffen, die eine rassistische, fremdenfeindliche Rhetorik in die politische Debatte gebracht hat. Von einer „sozialistischen“ Regierung wurden die Leute an fremdenfeindliche Konzepte gewöhnt. Sie verfallen leicht solchen [faschistischen] Lösungen, wenn man die allgemeine Krise der politischen Repräsentanten und die Ablehnung des ganzen politischen Systems in einen Zusammenhang bringt. Die „Goldene Morgenröte“ ist ein komplexes Netzwerk. Was einige ihrer wirtschaftlichen Auffassungen betrifft, so sind sie „nationale Sozialisten“. Sie fordern die Verstaatlichung der Banken. Im Widerspruch dazu haben sie im Parlament von der Regierung verlangt, den Großreedern keine neuen Steuern aufzuerlegen, denn diese seien "Patrioten, die unserem 6 Heimatland helfen können". Wir wissen, dass sie erfolgreich dabei sind, ihren Einfluss in Gymnasien, Fußballvereinen, bei den Türstehern von Nachtklubs oder in Spezialeinheiten der Armee auszubauen. Über ihre Gewaltaktionen hinaus sind sie in weitere kriminelle Aktivitäten verwickelt. Dieses Netzwerk ist nicht leicht zu fassen und zu zerschlagen. Arbeiterkämpfen steht die „Goldene Morgenröte“ extrem feindselig gegenüber. Das hat sich u.a. beim großen Streik der Stahlarbeiter von Chalivourgia im letzten Jahr gezeigt. Die „Goldene Morgenröte“ war gegen den Streik, aber dann modifizierte sie ihr Vorgehen und brachte den Streikenden sogar Essen. Die offizielle Haltung gegen den Streik änderte sich jedoch nicht. In einer Fabrik rief sie die Arbeiter dazu auf, wieder an die Arbeit zu gehen. Die „Goldene Morgenröte“ ist ein Produkt der kapitalistischen Krise. Sie stellt sich selbst als eine anti-systemische Kraft dar, die sie in Wirklichkeit nicht ist. Ein komplexes Problem wie dieses erfordert ein mehrgleisiges Vorgehen. Einige Anarchisten hatten die Vorstellung, schnell Gegengruppen zu schaffen, wonach sich dann Trupps der Nazis und ihrer Gegner jede Nacht prügelten. Wir sind dabei, breite antifaschistische Komitees zu schaffen, zum Beispiel an Schulen zusammen mit den Lehrergewerkschaften oder mit den Bürgern in Wohngebieten, besonders in Athen, wo das Problem größer ist als anderenorts. Im Zusammenwirken mit Künstlern und Intellektuellen organisieren wir Kulturveranstaltungen, um so eine andere Art der Kultur zu entwickeln. Wichtig sind uns auch die Netzwerke der Solidarität, die wir in Wohngebieten geknüpft haben. Sie helfen den Menschen beim Überleben und sind zugleich eine neue Form der sozialen Organisation, die auf Solidarität aufbaut. Die Nazis dagegen setzen auf die Isolierung der Menschen, auf ihre Angst vor Kriminalität, vor dem Hunger und gesellschaftlichen Zuständen, wie wir sie jetzt erleben. Wir wollen einen kollektiven Umgang mit sozialen Problemen erreichen, was heißt, mit dem Migrantennachbarn zusammenzuarbeiten. Das ist keine Philanthropie, kein Unterordnungsverhältnis, kein Machtspiel zwischen dem, der hat und anbietet und dem, der nichts hat und abhängig ist. Es ist vielmehr eine Art horizontaler Beziehung. In unseren Netzwerken der Solidarität und über das Angebot von untentgeltlichem Essen und Bekleidung hinaus entstehen Beziehungen des Austauschs ohne Vermittlung des Geldes. Ausgetauscht werden Güter und Dienstleistungen. Wenn der Migrantennachbar zuvor auf dem Bau gearbeitet hat und jetzt arbeitslos ist, kann er kommen und dir das Haus streichen. Du kannst ihm dafür einen Kanister Olivenöl geben oder ihm kostenlose Nachhilfe für seine Kinder anbieten. Hier sind auch strategische Fragen angesprochen. Denn wenn man über die Vision von einem Sozialismus mit Freiheit und Demokratie spricht, gilt es das Modell dieser Gesellschaft durch die Öffnung solcher kleinen Fenster zu fördern. Wir wollen keinesfalls den staatlichen Dienstleistungen Konkurrenz machen. Das sagen wir den Menschen, die in den Netzwerken der Solidarität mitwirken. Durch die Gründung eines lokalen freiwilligen Gesundheitszentrums wollen wir kein öffentliches Krankenhaus ersetzen. Wir helfen einander, gemeinsam zu überleben. Zugleich ermutigen wir die Menschen, die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse kollektiv einzufordern. Dies ist auch eine Waffe gegen den Faschismus. Es ist eine kollektive antirassistische, 7 kulturelle Antwort auf die Konzepte, welche die „Goldene Morgenröte“ zu ihrer eigenen Stärkung verkündet. Es wurde öffentlich angeprangert, dass die Faschisten Verbindungen zu den Polizeikräften unterhalten. Können Sie das bestätigen? Das sind nicht nur Verdächtigungen. Dafür haben wir Beweise. Es gab wiederholt Vorkommnisse, die das belegen. Nicht nur die Toleranz der Bereitschaftspolizei gegenüber den Faschisten bei Zusammenstößen mit Antifaschisten, sondern auch bei Demonstrationen. Es sind Polizisten auf Motorrädern mit historischen griechischen Symbolen auf der Rückseite ihrer Helme gesehen worden, die von den [deutschen] Nazis oder von Königstreuen benutzt wurden. Auf Polizeirevieren ist es wiederholt zu rassistischer Gewalt gekommen. Amnesty International hat derartige Vorfälle untersucht. In einem Fall, bei dem antifaschistische Demonstranten und Mitglieder der „Goldenen Morgenröte“ aneinandergerieten, hat die Polizei 15 Antifaschisten verhaftet und gefoltert. Der Guardian hat einen Artikel darüber geschrieben, in dem der Einsatz von Elektroschockwaffen und die Menschenwürde verletzende Praktiken angeprangert wurden. Darauf reagierte der für die Innere Sicherheit verantwortliche Minister mit der Drohung, er werde die Zeitung wegen Falschinformation verklagen. In zwei Orten Griechenlands beteiligten sich Parlamentsmitglieder der „Goldenen Morgenröte“ an Attacken auf Migranten als Verkäufer auf Flohmärkten. Ihre Stände wurden verwüstet und die Betroffenen geschlagen. Es ist erwiesen, dass an einem solchen Angriff in der Stadt Messologi neben Mitgliedern der „Goldenen Morgenröte“ auch Polizisten in Zivil beteiligt waren. Eine Untersuchung wurde eingeleitet, aber wir wissen, wie diese Art von Untersuchungen enden. Die Auswertung der Wahlergebnisse zeigt, dass in bestimmten Wahllokalen nahe zentraler Polizeiämter nach Schätzungen etwa 50Prozent der Athener Polizisten für die „Goldene Morgenröte“ gestimmt haben. Zu alledem kommt die Theorie von den "zwei Extremismen", die alle Regierungsparteien, leider auch die Demokratische Linke, benutzen. Als extremistisch werden einerseits die „Goldene Morgenröte“ und andererseits SYRIZA sowie all diejenigen bezeichnet, die gegen die derzeitige Regierungspolitik demonstrieren und sich ihr widersetzen. Die Regierung benutzt nicht nur diese Rhetorik, sondern stellt sich genau in die Mitte zwischen den "beiden Extremismen“. Der Minister für Bürgerschutz gibt gegen beide provokatorische Erklärungen ab. Eine weitere Gefahr geht von Linken aus. So hat die Generalsekretärin der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) nach den Wahlen im Juni in einem Interview erklärt, vor der „Goldenen Morgenröte“ sollte man keine Angst haben. Die sei jetzt im Parlament, trage Schlips und Kragen und passe sich dem System an. Das ist ein tragischer Irrtum. Die Geschichte hat uns die bittere Lehre erteilt: Wenn Institutionen mit dem Faschismus zusammenkommen, dann werden die Institutionen dem Faschismus angepasst, nicht umgekehrt. Wir haben dieses Argument bereits vor den 8 Wahlen zurückgewiesen. Wir haben den Wählern klar gesagt: Auch wenn ihr mit SYRIZA nicht übereinstimmt, wenn ihr meint, wir vertreten nicht eure Interessen – wählt nicht die „Goldene Morgenröte“. Wir waren die einzige Partei, die sich so eindeutig geäußert hat. Nach einer jüngsten Meinungsumfrage ist SYRIZA die stärkste Partei. Wann erwartet SYRIZA Neuwahlen? Damit kehren wir zur Eingangsfrage zurück. Wir sind kein Orakel. Aus unserer Sicht hängt alles vom Engagement und der Einsatzbereitschaft der Bewegung des gesellschaftlichen Widerstandes ab. Wenn es genug aktive Menschen gibt, die die Regierung bedrängen, dann sind rasche politische Entwicklungen möglich. Mangelt es an dieser Mobilisierung, dann wird es keine schnellen Veränderungen geben, und die heute Regierenden werden sich noch längere Zeit an der Macht halten können. Ich habe bereits auf unsere offizielle Erklärung hingewiesen, dass wir diese Regierung zu Fall bringen wollen. Aber das kann nur durch gesellschaftlichen Druck geschehen. Wenn es dazu kommt, sind wir bereit, unsere historische Verantwortung zu übernehmen. Im Mai kommenden Jahres werden Sie den Gründungskongress von SYRIZA als einer frisch vereinten Strömungspartei abhalten. Wird diese sich auf Neuwahlen vorbereiten? Seit den Wahlen im Juni hat die Mitgliedschaft von SYRIZA permanent Wahlkämpfe geführt. Für uns ist dies ein wichtiger Teil des Widerstandes. Es war ja erst der gesellschaftliche Druck, der zwei Regierungen zum Aufgeben brachte und Wahlen erzwang. Hier unternehmen wir verstärkte Bemühungen. Am Tag nach der Wahl im Juni haben wir unseren Wählern für die 27 Prozent Zustimmung und die Übertragung einer so großen Verantwortung an SYRIZA gedankt und zugleich erklärt, dass SYRIZA in organisatorischer Hinsicht noch eine Partei der 4 Prozent ist. Wir müssen uns selbst verändern und zu einer offenen, umfassenden, demokratischen und radikalen Partei der Linken entwickeln. Und das nicht nur, um die 27 Prozent zusammenzuführen, die für uns gestimmt haben, sondern auch, um ihren Auftrag zu erfüllen. Damit meine ich die bereits erwähnten breiten gesellschaftlichen Bündnisse, die in der letzten Zeit immer größeren Zulauf finden. Für uns ist es eine gewaltige Herausforderung, ob wir in der Lage sein werden, SYRIZA zu einem geschlosseneren politischen Akteur zu machen oder nicht. Wir leben in einer Zeit, da das Modell ideologisch monolithischer Parteien gescheitert ist. Dies ist nach den letzten Wahlen in Griechenland noch klarer geworden, als der Dogmatismus und das Sektierertum der Kommunistischen Partei zu ihrer politischen Marginalisierung geführt haben. Wir glauben aber an eine politische Einheit der sozialen Bedürfnisse. Diese aufzubauen – daran arbeiten wir. Die ersten Signale der Vorbereitungsetappe sind gut. SYRIZA hat ihre Mitgliedschaft seit den Wahlen verdreifacht. Wir haben jetzt über 30.000 Mitglieder und bewegen uns auf die 40.000 zu. Das ist die höchste Mitgliederzahl, die eine Partei links von der Sozialdemokratie in Griechenland in den letzten 20 Jahren erreicht hat. Die Analyse der neuen Mitglieder zeigt eine wachsende Bereitschaft, sich auf die Ideen einer pluralen, radikalen Linken einzulassen. 9 Wir sprechen Menschen unterschiedlichster politischer Herkunft an. Sie kommen aus dem gesamten sozialen Spektrum der Verteidigung elementarer sozialer Bedürfnisse. Selbstverständlich ohne Einschluss der extremen Rechten. Das gibt uns den Optimismus und die Kraft, SYRIZA bis zum Gründungskongress weiter zu stärken. Ähnlich positive Signale gehen von den Wahlen in verschiedenen Branchengewerkschaften aus. Bei der Aufstellung von einheitlichen Listen der Linken kommen wir voran. Das ist für uns sehr wichtig, denn wir wollen die Menschen überzeugen, dass das traditionelle Gewerkschaftsmodell des letzten Jahrzehnts – welches Korruption, Bürokratie und Konservatismus einschloss – sich verändern muss. Dieser Wandel kann nur gelingen, wenn die Kräfte gestärkt werden, die eine alternative Vorstellung davon haben, was von den Gewerkschaften heute erwartet wird. Wie kann z. B. Gewerkschaftsarbeit die prekär Beschäftigten einschließen, die es heute in Griechenland in großer Zahl gibt, die aber nicht in die Gewerkschaften eingebunden sind? Die Zeichen sind positiv. Wir glauben, dass wir in der Übergangszeit bis zum Gründungskongress Ende Mai oder Anfang Juni in der Lage sein werden, unseren Einfluss weiter auszubauen.