Anmerkungen zum Gutachten von Marcus Hawel über

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„Direkte Demokratie“ und die „Herrschaft des Volkes“ – Einige kritische Anmerkungen zu plebiszitären Demokratiekonzepten
von Friedhelm Grützner
Unzweifelhaft befindet sich die repräsentative Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland
in der Krise. Denn die repräsentative Demokratie lebt davon, dass sich die gesellschaftlichen
Konflikte auch im Parlament widerspiegeln und die parlamentarischen Majoritäten ihrerseits
gesellschaftliche Mehrheiten „repräsentieren“. Es war demokratietheoretisch gesehen ein
höchst bedenklicher Zustand, als anlässlich der Verabschiedung von Hartz IV und der Durchsetzung der Agenda 2010 zwischen den damaligen Bundestagsparteien in der Wirtschaft-,
Finanz- und Sozialpolitik ein prinzipieller Konsens deutlich wurde, den Deutschland in dieser
Einmütigkeit zuletzt am 4. August 1914 bei der Bewilligung der Kriegskredite erlebte, während zugleich Massendemonstrationen dagegen auf den Straßen der Republik stattfanden. Die
Vorstellung von der Repräsentation des Volkes durch seine parlamentarischen Vertreter
wurde seitens der damaligen „geschröderten“ Sozialdemokratie sogar offen verhöhnt, indem
sie die darauf folgenden desaströsen Wahlniederlagen als Antwort der Wähler auf ihre neoliberale Wende mit „Vermittlungsproblemen“ zu erklären versuchte, so als ob der Mandatierte
nicht vom Mandanten abhängt. Auf diese Weise wurde die Idee der repräsentativen Demokratie auf den Kopf gestellt und in ein autoritäres System verwandelt, in dem die gewählten
Volksvertreter nicht mehr den (durchaus vielfältigen!) Volkswillen kanalisieren und exekutieren, sondern kraft angemaßter „höherer Einsicht“ dem „beschränkten Untertanenverstand“ der
Wähler die Richtung weisen.
Es gehört zu den historischen Erfahrungen, dass immer dann, wenn die repräsentative Demokratie den in ihr eh angelegten Entfremdungs- und Oligarchisierungstendenzen zu erliegen
droht, populistische Gegenbewegungen1 entstehen und Forderungen nach mehr „direkter“
Demokratie mittels Plebisziten oder nach mehr „Bürgerbeteiligung“ laut werden. Allerdings
lebt das Konzept der „direkten Demokratie“ von einigen Mythen und Fiktionen, die es aufzuhellen gilt, weil sie es anfällig für autoritäre Entgleisungen macht.
1. Unterschwellig liegt dem Konzept der „Direkten Demokratie“ die Dichotomie des
„guten Volkes“ einerseits und der oligarchisch „entarteten“ Elite andererseits zugrunde. Richtig ist dabei die Beobachtung, dass alle Repräsentativsysteme in Vergangenheit und Gegenwart – mal mehr, mal weniger – oligarchisierenden Tendenzen ausgesetzt waren und sind. Aus diesem Grunde hat auch Jean Jacques Rousseau (unter Berücksichtigung des zu seiner Zeit besonders korrupten englischen Parlamentarismus)
in seinem „Contrat Social“ das Repräsentativsystem als mit der „wahren“ Demokratie
unvereinbar verworfen. Jedoch: Selbst wenn die Eliten oligarchisch „entartet“ sind ist das „Volk“ dann wirklich „gut“? Hier liegt m. E. die tiefere Wahrheit eines vielzitierten Satzes von Winston Churchill: „Democracy is the worst of goverments exept all
the others.“ Denn es geht nicht darum, dass die einen den anderen moralisch überlegen
sind, sondern um die prinzipielle Gleichheit aller Menschen als vernunftbegabte moralische Subjekte - und zwar unabhängig von ihrer jeweils beanspruchten oder zuge1
Den Begriff „Populismus“ gebrauche ich hier nicht pejorativ. Populistische Bewegungen – und zwar von links
bis rechts – sind stets ein Indiz dafür, dass das Verhältnis zwischen den Repräsentanten und den zu Repräsentierenden nachhaltig gestört ist. In dieser Situation können sie durchaus einen heilsamen Legitimationsdruck auf
oligarchisch verkrustete Repräsentationseliten ausüben. Außerdem muss zwischen einem Populismus „von unten“ und einem Populismus „von oben“ unterschieden werden. Der Populismus “von oben“ (beispielsweise die
verschiedenen Hetzkampagnen des Roland Koch) wird häufig von oligarchisierten Eliten genutzt, um in einer
Krise des Systems für sich selbst Legitimität zu beschaffen.
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billigten „Güte“, „Weisheit“ oder „höheren Einsicht“ - , die als Freie und Gleiche nur
jene Regeln ihres Zusammenlebens als legitim erachten, an deren Zustandekommen
auch alle in einem gerechten Verfahren teilgenommen haben.
2. Unterbelichtet bleibt in Konzepten der „Direkten Demokratie“ häufig die Tatsache,
dass das „Volk“ keine homogene Einheit darstellt und der Vermittlung von Repräsentanten bedarf, um aus dem „Willen der Vielen“ einen „Allgemeinen Willen“ herauszudestillieren. Die soziale und kulturelle Heterogenität des „souveränen Volkes“ bedingt, dass gesellschaftliche Mehrheiten (die sich als Parlamentsmehrheiten wiederfinden sollen) stets „Koalitionsmehrheiten“ sein werden, deren durchgesetzte allgemeinverbindliche Entscheidungen mehrere Interessenlagen sozialer und kultureller Art
innerhalb eines kohärenten Politikkonzepts berücksichtigen müssen, um mehrheitsfähig zu bleiben.
Der „Koalitionscharakter“ gesellschaftlicher Mehrheiten und die verfassungsmäßigen
Rechte gesellschaftlicher Minderheiten führen auch unter idealen demokratischen Voraussetzungen fast automatisch zu Entfremdungserfahrungen. Denn keine gesellschaftliche Gruppe wird sich mit ihren speziellen sozialen und kulturellen Anliegen vollständig in den Mehrheitsentscheidungen wiederfinden (von den Minderheiten ganz zu
schweigen). Und an diesen Entfremdungserfahrungen setzte die Parlamentarismusund Pluralismuskritik der politischen Rechten an, wobei die politische Linke darauf
achten sollte, nicht den durchaus scharfsinnigen Überlegungen eines Carl Schmitt, eines Vilfredo Pareto oder eines Robert Michels auf den Leim zu gehen, die mit ihren
Elitetheorien den Parlamentarismus als großangelegten Volksbetrug zu entlarven versuchten und die „wahre“ Demokratie nur in einem plebiszitär akklamierenden homogenen Volke verwirklicht sahen, das zuvor die „Identität von Regierenden und Regierten“ durch die zwangsweise Ausscheidung alles Heterogenen sichergestellt hat.2
3. In der aktuellen Diskussion wird von neoliberaler Seite – und mit teilweiser Unterstützung naiver „Gesinnungslinker“ – das Konzept der „direkten“ und partizipativen Demokratie mit kommunitaristischen Gemeinwohlvorstellungen aufgeladen, womit der
Konfliktcharakter moderner demokratischer Verhältnisse in den Hintergrund rückt. Im
Zentrum steht der gemeinwohlorientierte Bürger in der Tradition der antiken Polis, der
das bonum commune gegen angebliche Partikularinteressen vertritt, wobei ungeklärt
bleibt, wer nun die Definitionshoheit über das „Gemeinwohl“ und die diesem entgegenstehenden „Partikularinteressen“ verfügt. Hierher gehören auch Diskussionen über
das „bürgerschaftliche Engagement“ und das Subsidiaritätsprinzip („jenseits von Staat
und Markt“), die Verehrenamtlichung sozialstaatlicher Aufgaben sowie die Forderung
nach einer „Bürgerarbeit“ für Langzeitarbeitslose, welche während der Debatte um die
Agenda 2010 von den Grünen doch tatsächlich als emanzipatorisches Projekt ins Gespräch gebracht wurde.3
4. Partizipative Demokratievorstellungen unterliegen der Gefahr, unpolitische
gesellschaftliche Harmoniesehnsüchte zu bedienen – gewissermaßen nach dem Motto:
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Die linke und die rechte Parlamentarismuskritik überschneidet sich mitunter auch in den Personen. So verfasste
der Elitetheoretiker Robert Michels in seinen jungen Jahren als linker Sozialdemokrat seine „Soziologie des
Parteienwesens“, in der er das „eherne Gesetz der Oligarchie“ enthüllte, um dann nach einem Abstecher bei den
Anarchosyndikalisten im faschistischen Umfeld zu landen. Und auch Carl Schmitt fand bei linken Intellektuellen
wie Walter Benjamin und Otto Kirchheimer heimliche und offene Bewunderer. Im Frankfurter SDS soll es Ende
er 60er Jahre einen Kreis um Hans Joachim Krahl gegeben haben, der sich recht intensiv mit dem Werk des
„Meisters“ beschäftigte und für den linken Diskurs fruchtbar zu machen versuchte.
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Ich erinnere mich noch gut, dass der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, Volker Beck,
einst Hartz IV als Befreiung der Langzeitarbeitslosen aus einer „Kultur der Abhängigkeit“ bezeichnet hat.
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wenn man nur die tugendhaften und gemeinwohlorientierten Bürger machen lasse
(und diese nicht ständig von volksfremden Politikern sowie Vertretern der Partikularinteressen behindert würden), dann wäre eitel Freude und Wohlergehen. Einher gehen
diese Harmoniesehnsüchte mit dem gerade in Deutschland berühmt-berüchtigten AntiParteien-Affekt, dessen sich die politische Rechte häufig zu autoritären Zwecken bediente.4 In den Volksgemeinschaftsdiskursen der politischen Rechten ist es „der Parteien Zank und Hader“, der das Volk entzweit und seine „wahre“ Souveränität als homogenes souveränes Subjekt, das die „Identität von Regierenden und Regierten“ sicherstellt, verhindert. Die Verankerung des Art. 21 im Grundgesetz geschah gerade in
der Absicht, solchen Vorstellungen entgegenzutreten und die Parteien aus der
Schmuddelecke des „nur Partikularen“ herauszuholen.
Bei aller berechtigten Kritik an Oligarchisierungs- und Verstaatlichungstendenzen des
derzeitig bestehenden deutschen Parteiensystems sollte die Linke den im politischen
Widerlager gepflegten Anti-Parteien-Affekt nicht bedienen. Denn da das souveräne
Volk sozial und kulturell nicht homogen ist, wird es sich stets in Parteiungen untergliedern. Wenn wir den Begriff der Partei soziologisch weiter fassen als die enge verfassungsrechtliche Definition, dann sind alle gesellschaftlichen Gruppierungen mit einem klar konturierten politischen Willen als Parteien aufzufassen. Dies gilt für Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände (Tarifparteien), für Arbeitsloseninitiativen,
Umweltverbände und all die anderen Organisationen, die gemeinhin als „zivilgesellschaftliche“ Zusammenschlüsse bezeichnet werden. Denn sie alle stehen nicht für „das
Ganze“, sondern vertreten einen Teil gegen andere Teile der Gesellschaft. Sie sind
folglich alle – wenn wir die lateinische Wurzel zugrundelegen (pars = Teil) - „Partei“.
Aufgabe der Parteien im engeren verfassungsrechtlichen Sinne ist es, diese in den gesellschaftlichen Parteiungen artikulierten Interessen zu aggregieren, sie in einem kohärenten politischem Gesamtkonzept zu bündeln und in das politische System einzuspeisen. Die soziale und kulturelle Heterogenität des „Volkes“ bringt es dabei mit sich,
dass beispielsweise die FDP andere (und entgegengesetzte) gesellschaftliche Interessen aggregiert als DIE LINKE. Hierbei ist von fundamentaler Bedeutung, dass die politischen Parteien selbst keine Interessen erzeugen, sondern eine dienende und vermittelnde Funktion gegenüber den ihnen vorgelagerten außerparlamentarischen gesellschaftlichen Parteiungen ausüben. Sowohl die dahingeschiedenen leninistischen
Avantgardeparteien als auch die Agenda-SPD haben sich – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlicher Absicht - dieser Grundeinsicht verschlossen, was sie entweder mit ihrem historischen Untergang oder mit ihrer derzeitigen Marginalisierung zu bezahlen hatten.
Aus den Frühzeiten des Konstitutionalismus ist uns folgende Formel über die monarchische
Souveränität überliefert: „Der König herrscht, aber er regiert nicht“. Analog müsste man
heute sagen: Das Volk herrscht, aber es regiert nicht. So wie der konstitutionelle Monarch
jederzeit und begründungslos seine Minister austauschen und damit einen Politikwechsel herbeiführen konnte, so kann unter demokratischen Vorzeichen eine gesellschaftliche Mehrheit
des Volkes seine Repräsentanten entlassen und durch neue ihr genehmere ersetzen. Aber die
operative Politik bleibt in beiden Fällen in den Händen der Beauftragten, die allerdings stets
vom Souverän abhängig bleiben und seiner Kontrolle unterstehen. Wie die alten konstitutionellen Verfassungen die Souveränität des Monarchen einschränkten (Ministerverantwortlichkeit, Budget- und Gesetzgebungskompetenz des Parlaments), so begrenzen auch unsere Verfassungen die Souveränität von Mehrheiten, soweit es um die Grundrechte und die Rechte
von unterlegenen Minderheiten geht. Aber diese konstitutionellen Hemmnisse beruhen wie4
Vgl. Friedhelm Grützner, Die Zivilgesellschaft – Volksgemeinschaft der Gutwilligen?, in: Vorgänge 155/2001,
S. 256 - 265
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derum auf einer Entscheidung des Volkssouveräns, der sich in freier Willkür selbst diese Beschränkungen auferlegt.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass der Volkssouverän in allen Fragen, die seine Souveränität berühren, das letzte Entscheidungsrecht in Form von Volksabstimmungen haben
muss. Dies betrifft sowohl die Abgabe von Kompetenzen nach Brüssel oder an die Privatwirtschaft als auch auf der anderen Seite die Okkupierung von Souveränitätsrechten
(Rekommunalisierungen, Verstaatlichung von Wirtschaftszweigen). In der operativen Politik
des „Regierens“ bestehen dagegen ernsthafte und ganz praktische Schwierigkeiten, wenn sie
sich auf Plebiszite stützen soll – sofern diese nicht allein als pseudodemokratische Legitimationsattrappen für ein autoritäres Regime dienen.
Oben wurde schon ausgeführt, dass gesellschaftliche Mehrheiten stets heterogen zusammengesetzt sind. Um politisch wirksam zu werden, bedürfen sie eines ausgehandelten kohärenten
Politikkonzeptes, das mehrheitsfähig ist und bleibt. Dieser Zwang, aus heterogenen Gruppen
eine politische Mehrheit zu bilden, steht auch hinter der Vorstellung vom freien Mandat des
Parlamentariers. Im Gegensatz zum imperativen Mandat der alten Ständeversammlungen, wo
jeder Abgesandte ausschließlich seinen „Kirchturm“ - und sonst nichts – vertrat, soll das freie
Mandat (und verbunden damit die Fiktion, wonach jeder Abgeordneter das „ganze Volk“ vertritt) die Bildung politischer Parlamentsmehrheiten ermöglichen, ohne dass durch das imperative Mandat gebundene partikulare „Kirchturminteressen“ dies behindern.
In diesem Zusammenhang besteht die Gefahr, dass eine politisch austarierte gesellschaftliche
Mehrheit durch mehrere plebiszitär herbeigeführte isolierte Einzelentscheidungen, die auf
einer rein dezisionistischen Ja/Nein-Ebene unter Ausschaltung aller Vermittlungs- und Verhandlungsstrukturen (die eine gesellschaftliche Mehrheit braucht!) gesprengt wird. Es gibt
nun mal Leute, die zwar in sozioökonomischen Fragen links „ticken“, aber kulturell eher
rechts stehen und beispielsweise für law and order eintreten. So kann es – wie in der Schweiz
beim Minarettplebiszit – zu ganz merkwürdigen einmaligen links-rechts-Abstimmungskoalitionen kommen, welche einen wichtigen Eckstein aus einem kohärenten Politikentwurf
herausbrechen, die aber nie und nimmer eine auf Dauer angelegte gesellschaftliche Mehrheit
bilden werden, so dass die politischen Akteure mit völlig entgegengesetzten und logisch widersinnigen Entscheidungen umgehen und diese auch umsetzen müssen. In Hamburg trat im
Plebiszit um die Schulpolitik eine ähnliche Situation ein, wo ansonsten aufgeklärte und wohl
friedenspolitisch eher uns nahestehende „bessere“ Kreise mit der bürgerlichen Rechten
stimmten, weil sie nicht wollten, dass ihre Kinder sich länger als unbedingt notwendig mit
„Krethi und Plethi“ in einer Klasse befinden. In dem Augenblick, wo Ein-Punkt-Entscheidungen auf plebiszitärer Ebene außerhalb eines kohärenten Politikkonzeptes das Übergewicht
gewinnen, wird die Heterogenität und Vielfältigkeit politischer Motivlagen deutlich, und die
eventuell vorhandene gesellschaftliche Mehrheit löst sich in eine politisch nicht mehr handlungsfähige amorphe „Menge“ auf.
Die Auflösung einer auf soziale Gerechtigkeit und sozioökonomische Veränderungen orientierten gesellschaftlichen Mehrheit durch Ein-Punkt-Plebiszite kann durchaus ein machtstrategisches Kalkül unserer politischen Gegner werden. So können sie ganz bewusst Volksbegehren und Volksentscheide an Sollbruchstellen dieser Mehrheit initiierten. Im Zweifel verfügen
sie über ausreichend finanzielle Mittel und mediale Unterstützung (mit BILD an vorderster
Front), um an diesen Sollbruchstellen kampagnenmäßig einen „Aufstand der Anständigen“
oder Vergleichbares loszutreten und mit Hilfe eines gepushten Einzelthemas die gesellschaftliche Mehrheit zu spalten. Die Schweizer Anti-Minarett-Mehrheit bestehend aus fremdenfeindlichen Reaktionären, fundamentalistischen Laizisten und linken Feministinnen sollte hier
eine Mahnung sein.
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Alle diese kritischen Anmerkungen ändern aber nichts an der Tatsache, dass sich das bundesdeutsche Repräsentativsystem in der Krise befindet. Die Frage ist nur, ob Elemente der „Direkten Demokratie“ das richtige Mittel sind, dieser Krise zu begegnen. Der Typ des Berufspolitikers – der als solcher natürlich auch Eigeninteressen vertritt, was die Tendenzen zur
Oligarchisierung befördert – ist Ergebnis der Arbeitsteilung in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. Und der Honoratiorenpolitiker des 19. Jahrhunderts, der ehrenamtlich
und ohne Diäten fünf bis sechs Monate im Jahr seine parlamentarischen Pflichten erledigte,
kann ja wohl nicht die Alternative sein. Das von Robert Michels formulierte „Gesetz der
ehernen Oligarchie“ ist zwar kein zwangsläufiges „Gesetz“, es bezeichnet jedoch eine Tendenz, der es immer wieder entgegenzuwirken gilt. Aber auch in gesellschaftlichen Organisationen des außerparlamentarischen Feldes entwickeln sich – wenn man nicht aufpasst –
„Oligarchien“ aus Daueraktivisten und Vielrednern. Das „Gesetz der ehernen Oligarchie“ ist
folglich (wenn wir mal von seiner angeblich zwangsläufigen „Gesetzmäßigkeit“ absehen) für
alle politischen Organisationen ubiquitär, und die Parteien sind nur ein Teil davon.
Der Einzug der Partei DIE LINKE in die Parlamente zeigt, dass die repräsentative Demokratie immer noch in der Lage ist, auf gesellschaftliche Veränderungen mit einer Neugruppierung
des Parteiensystems zu antworten. Allerdings setzt diese Erkenntnis voraus, dass DIE LINKE
sich nicht umstandslos als eine Art „Abteilung für soziale Abmilderung bestehender Grausamkeiten“ ins bestehende Kartell einbinden lässt. Denn wenn DIE LINKE ihren Ursprüngen
als Vertreterin der durch die marktradikale Politik marginalisierten Gruppen untreu wird, hat
sie ihre Legitimität verspielt. DIE LINKE ist groß geworden gegen den Widerstand der neoliberalen Kartellparteien, gegen den hegemonialen marktradikalen Diskurs und gegen die diesen marktradikalen Diskurs propagierenden Medien. Diese Gegnerschaft sollte sie pflegen!
Denn wenn ihre Vertreter nicht mehr als „populistische“ Sozialdemagogen und „Retro-Sozialisten“ beschimpft, sondern von ihren bisherigen Gegnern als ganz „normaler“ Teil des politischen Getriebes betrachtet werden, dann haben sie irgendwo was falsch gemacht.
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