Uraufführung KASPAR HAUSER Ballett von Tim Plegge Tyler Schnese Und wehrlos bin ich gegen die kalten 2 Freundlichkeiten meiner Peiniger. Uraufführung KASPAR HAUSER Ballett von Tim Plegge Musik von Dimitri Schostakowitsch, Franz Schubert, Henryk Górecki, Thomas Larcher u. a. CHOR EOGR A FIE, LIBR ET TO Tim Plegge BÜHNE Sebastian Hannak KOSTÜME Judith Adam DR A M ATURGIE, LIBR ET TO Esther Dreesen-Schaback Uwe Fischer Gianluca Martorella K L A NG -COLL AGE Daniel Lett CHOR EOGR A FISCHE A SSISTENZ Uraufführung am 13. Februar 2016, Staatstheater Darmstadt Premiere Wiesbaden am 4. März 2016, Hessisches Staatstheater Wiesbaden Dauer ca. 130 Minuten, eine Pause 3 BILDER DER HANDLUNG I. Akt 1. Kaspar, wer bist Du? 2. Im Verlies 3. Der Weg 4. Menschen sind wie Wölfe 5. Lord Stanhope 6. Ein Zuhause 7.Musterung 8. Wer bin ich? 9.Erinnerung 10. Die Bedrohung II. Akt 1. Lernen und Werden 2. Bei Lord Stanhope 3. Wachsende Bedrohung 4. Die Reitergesellschaft 5. Hoffnung auf Zukunft – Kaspar und Lina 6. Das Attentat 7. Das Verbrechen 4 5 Taulant Shehu, Tyler Schnese HANDLUNG I. Akt Kaspar Hauser wird als Kind entführt und in ein Verlies eingesperrt. Lediglich ein Holzpferd dient ihm als Gegenüber. Viele Jahre sieht er kein Tageslicht. Er lernt keine Sprache, und sein Körper kann sich nicht natürlich entwickeln. Er verharrt an einem Fleck, umgeben von seinen seelischen Echos, die zum Ausdruck bringen, was er nicht zu äußern in der Lage ist. Franz Richter, der ihn bisher unerkannt mit dem Allernötigsten versorgt hat, tritt eines Tages in Erscheinung. Er bringt ihm Stehen und Gehen bei und schleppt ihn ins Freie. Unter Schmerzen legt Kaspar mit ihm einen langen Fußmarsch zurück. Zum ersten Mal nach vielen Jahren ist Kaspar Licht und Geräuschen ausgesetzt, was ihm körperliche Qualen bereitet. Trotz aufkommenden Mitgefühls lässt Franz ihn allein zurück. Bürger der nächstgelegenen Stadt begegnen dem Fremden auf unterschiedliche Weise. Kaspar Hauser ist heimat- und mittellos und auf die Hilfe der Fremden, deren Sprache er nicht sprechen kann, angewiesen. Immer wieder wird er angestarrt, ignoriert oder angegangen. Das Ehepaar Daumer nimmt Anteil an der Hilflosigkeit des Gestrandeten und bringt ihn zu sich nach Hause. Bei den Daumers erfährt Kaspar erstmals Wärme und Zuwendung. Doch auch hier ist er Bedrohung ausgesetzt. Wissenschaftler glauben ein außergewöhnliches Lebewesen erkannt zu haben und führen an ihm Untersuchungen durch. Kaspar und seine Echos schreien stumm. In einem emotionalen Ausbruch versucht Kaspar, sich seiner Identität bewusst zu werden. Frau Daumer beruhigt den erschöpften Jungen und bringt ihn ins Bett. Kaspar träumt von seiner Mutter in früher Kindheit. Eine rätselhafte Bedrohung wird um Kaspar spürbar. 6 II. Akt Kaspar findet sich in der neuen Welt langsam zurecht. Er ist Teil einer Gruppe von Schülern und lernt sich anzupassen. Als seltsamer Neuling wird er bewundert. Der einflussreiche Lord Stanhope ist auf der Suche nach einem neuen Gespielen. Genüsslich beobachtet er die Schüler und sucht sich Kaspar als interessante Beute aus. Er nimmt ihn mit zu sich und verführt ihn sowohl materiell als auch durch besondere Zuwendung. Auf einer von Stanhopes Gesellschaften präsentiert er seinen Schützling. Kaspar Hauser ist von den Anforderungen, sich angemessen zu verhalten, überfordert. Man macht sich über die neue Trophäe lustig. Doch hier begegnet er Lina. Eine zarte Liebe entsteht, die Lord Stanhope mit allen Mitteln zu verhindern sucht. Linas liebevolle Art löst in Kaspar Erinnerungen an seine Mutter und an das Leben vor der Entführung aus. Im Hintergrund wird erneut Bedrohung sichtbar. Kaspar wird attackiert und wankt zurück zu den Daumers. An seinem Sterbebett gehen alle, die ihm begegnet sind, noch einmal vorbei. Sie sind Teil des Verbrechens. Kaspar löst sich auf. Musik I. Akt Bernard Herrmann Vertigo (aus Citizen Kane); Béla Bartók Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta; Philip Glass Facades (aus Glassworks); Thomas Larcher Böse Zellen für Klavier und Orchester; Arvo Pärt Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte; Henryk Górecki Kleines Requiem für eine Polka; Wojciech Kilar Missing Book (aus The Ninth Gate); Franz Schubert Klavier Trio in Es-Dur; Friedhelm Döhl Winterreise nach Franz Schubert; Daníel Bjarnason Processions II; Franz Schubert Ständchen; Bernard Herrmann The Toys (aus Psycho) II. Akt Hauschka Elizabeth Bay (aus Abandoned City) Thomas Larcher Böse Zellen für Klavier und Orchester; Dimitri Schostakowitsch Suite Nr. 1 für Jazzorchester (arr. f. Violine und Klavier); Bernard Herrmann The Silence (aus On Dangerous Ground); Dimitri Schostakowitsch Suite Nr. 2 für Jazzorchester; Alfred Schnittke Die Kommissarin; Dimitri Schostakowitsch Sophiya Perovskaya; Dimitri Schostakowitsch Gadfly Suite; Dimitri Schostakowitsch Hamlet Suite; Bernard Herrmann Vertigo; Henryk Górecki Kleines Requiem für eine Polka 7 DIE CHARAKTERE Figurinen von Judith Adam Kaspar Franz Richter Stéphanie Er ist Kind, Fremder, Obdachloser, Adoptivsohn, Studienobjekt, Trophäe, Mensch – ein Rätsel seiner Zeit. Hält Kaspar auf Schloss Pilsach gefangen, verschleppt ihn nach Nürnberg. Möglicher Attentäter. Großherzogin de Beauharnais könnte Kaspars Mutter gewesen sein. Sie ist schemenhafte Erinnerung geblieben. 8 Lord Stanhope Ehepaar Daumer Lina von Stichenach Britischer Adliger, changiert zwischen Wohlund Übeltäter. Er fördert, formt, besitzt und verstößt. Verkörpern Schutz und neuen Zwang. Herr Daumer lässt am Ziehsohn Experimente machen. In ihr liegt die Hoffnung auf Leben. In Kaspars Tagebuch gibt es Notizen einer aufkeimenden Liebe. 9 Ich werde Wanderer, der sich selbst nicht findet. 10 11 Tyler Schnese, Tatsuki Takada, Vitek Kořínek EIN VERBRECHEN AN DER SEELE CHOR EOGR A F TIM PLEGGE IM GESPR ÄCH MIT PRODUK TIONS DR A M ATURGIN ESTHER DR EESEN-SCH A BACK „Kaspar, wer bist Du?“ Diese Frage haben sich seine Zeitgenossen im frühen 19. Jahrhundert ebenso gestellt wie wir es jetzt tun. Er tauchte als junger Mann ohne Vergangenheit und ohne Identität in Nürnberg auf. Als ein wildes Element, das plötzlich Teil einer Zivilisation wurde, hat er natürlich nicht nur freundlich gemeintes Interesse auf sich gezogen. Er war ein Aussätziger. Wie ein Wolfskind, das fern von jeder Zivilisation von Tieren großgezogen wurde, ist er plötzlich in Nürnberg erschienen. Ja, entweder das, oder einfach jemand, der sich alleine in der Natur durchgeschlagen hat. Auf jeden Fall war seine Erscheinung den damaligen Menschen fremd. Er ist wie ein Objekt abgestellt worden, hielt diesen Brief in der Hand, der nicht von ihm geschrieben und an den dortigen Rittmeister adressiert war – also an einen Mann in hoher Position. Das ist den Leuten, die ihm dann in dieser Schockstarre begegnet sind, wie eine Intrige vorgekommen. »Kaspar Dieser arme Mensch, der ja zu dem gehört einfach Zeitpunkt ein ganz junger Mann nicht dazu.« war, der schon rund zehn Jahre in Gefangenschaft, ohne elterliche Zuwendung und ohne jeglichen sozialen Kontakt verbracht hatte, wurde – endlich in Freiheit – erneut Opfer, zum Spielball einer Macht oder von gesellschaftlichen Verhältnissen, die stärker und größer waren als er. 12 Der Moment, den Sie gerade angesprochen haben, war in der Stückentwicklung schon ganz am Anfang Gesprächsthema. Ich glaube, dass er ein ganz zentraler Augenblick in der Geschichte ist. Ein Mensch, der Hilfe benötigt, wird den gesellschaftlichen Strukturen ausgesetzt. Man weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, welche Richtung die Geschichte nimmt. Von da an vollzieht sich Kaspars Eingliederung. Sie beginnt mit dem Erlernen rudimentärer körperlicher Fähigkeiten und Erkenntnisprozesse. Er muss ja die gesamte Kindheitsentwicklung in kürzester Zeit nachholen. Vor allem steht für mich das Gefühl vom Fremdsein hier im Vordergrund. Kaspar gehört einfach nicht dazu. Das ist mir in dieser Radikalität klar geworden, und genau dies hat mich an der Geschichte so bewegt und interessiert – und gerade jetzt, wo das Fremdsein ein so wichtiges Thema unserer eigenen Zeit geworden ist. Die Aktualität und Brisanz habe ich nicht vorausgeahnt, als wir uns damals für das Stück Kaspar Hauser entschieden haben. Um das Fremdsein zu überwinden, versucht Kaspar Teil der Gesellschaft zu werden, in die er gesetzt wurde. Doch dies fühlt sich manchmal auch wie ein Gefängnis an. Zum Beispiel, wenn er als Studienobjekt untersucht wird, weil er eben anders ist. Kaspar passt sich an in gutem wie in schlechtem Sinne – bis zu einem Punkt, in dem er diese Anpassung, symbolisiert durch feine Kleidung, buchstäblich von sich reißt. Wie sind Sie dem Thema insgesamt choreografisch begegnet? Interessant für die choreografische Umsetzung ist die Tatsache, dass ich mit einem hochausgebildeten Tänzerkörper versuchen musste, eine Bewegungssprache zu finden, die jemand hat, der zehn Jahre lang nur gesessen hat. Wenn ich mit dem Tänzer des Kaspars im Ballettsaal bin, suchen wir ganz intensiv nach dem emotionalen, seelischen Zustand. Wir gehen von dem Gefühl der Figur aus, suchen nach Motivationen für die Handlung und übersetzen sie dann tänzerisch. Daraus ergibt sich eine Körperlichkeit. Bei den Pas de Deux hat das unterschiedliche Bewegungsqualitäten zur Folge: Bei Franz haben wir dadurch eine gewisse Schonungslosigkeit geschaffen. Er meint es zwar in dem Moment gut, wenn er Kaspar anzieht, er geht aber grob und zweckorientiert vor. Die Daumers hingegen bauen ihn eher seelisch auf. Sie unterstützen Kaspar liebevoll. Somit ist ihr Tanz sehr viel sanfter. 13 Sie haben für die Figur des Kaspars im Laufe des Stückes mehrere Soli kreiert, die sich natürlich situativ unterscheiden und damit auch tanzsprachlich verschieden sind. Das erste Solo findet im Verlies statt. Kaspar hat das Gehen und »Wir gehen von Stehen verlernt. Er beschäftigt dem Gefühl sich einzig mit dem Holzpferd. Das Solo findet tatsächlich der Figur aus.« gänzlich am Boden statt. Mehr oder weniger sitzend, sich mit mittlerer Kraft aufbäumend, aber das ist schon alles. Erst als Franz Richter ihn verschleppen will, richtet er Kaspar auf. Das zweite Solo ist kürzer. Kaspar hat von seinen Adoptiveltern Schuhe angezogen bekommen, die ihm offenbar fremd und unangenehm sind. Das dritte Solo ist sicherlich ein emotionaler Höhepunkt. Tatsächlich hat sich Kaspar zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal für kurze Zeit beschützt gefühlt, als die an ihm interessierten Wissenschaftler sich bei den Daumers einschleichen und Kaspar zum Versuchskaninchen degradieren. Es ist wirklich hochemotional. Ich habe bei den Vorbereitungen für das Ballett eine Abbildung gesehen: Jemand hat vor sich auf den Boden geschrieben. Dabei hat er nicht bemerkt, dass er seine eigenen Füße als Schreibfläche mit verwendet hat. Ähnlich ist es auch bei Kaspar Hauser. So, als ob er seine Körpergrenzen überhaupt nicht wahrnehmen könnte. Ich glaube, dass Kaspar in dieser Szene mit aller Kraft versucht zu spüren, wer er ist und wo seine eigenen Grenzen sind. Das Solo ist sehr kraftvoll. Ich wollte zeigen, dass er spürt, dass ihm Unrecht getan wird. Bis zu dem Zeitpunkt war er ja eher passiv und hat mehr verwundert und unsicher Degradierungen hingenommen. Wie würden Sie dann sein letztes Solo beschreiben? Mit Kaspars letztem Solo endet das Stück. Es ist, als würde er sich auflösen. Kein großer Knall, mehr ein Davonschweben, ein Verschwinden. 14 So viele Schriftsteller, die dieses Thema bearbeitet haben, so viele Forscher, die sich damit beschäftigt haben, und es immer noch tun. Letztlich ist und bleibt die Geschichte Kaspar Hauser rätselhaft, nicht wahr? Ja, deshalb beginnt das Ballett auch mit der zentralen Frage: „Kaspar, wer bist Du?“ Es erinnert mich auch an Schuberts Winterreise: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.“ So ist es bei Kaspar auch. Er hatte keine Chance. Miyuki Shimizu, Tyler Schnese, Igli Mezini 15 TAGEBUCHEINTRAG NR. 1 Noch nicht lange ist es her, da wurde der Mann im Monde müde und schlief ein. Es war kurz vor Neumond, und er war noch nicht erwacht, als der Mond völlig verschwand. So fiel der Mann hinunter auf die Erde. Die Menschen entdeckten ihn und begannen ihn auszufragen. Fast alle fanden seine Worte fremd und konnten ihn nicht begreifen. Sie sahen nämlich alle Dinge von ihrem engen Standpunkte, während er die ganze Welt immer von unendlicher Höhe herab betrachtet hatte. Die Menschen nannten den Fremden Kaspar Hauser. Kaspar Hauser 16 … und ich fragte mich: Wer bin ich? 17 Guido Badalamenti als Kaspar Hauser, Ensemble DIE WÜRDE DES MENSCHEN Erniedrigung Nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention liegt eine erniedrigende Handlung dann vor, wenn Freiheitsentziehung, Angriffe auf die physische Integrität einer Person oder Indifferenz gegenüber der Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit eines Menschen festzustellen sind. Bedürfnis Aus dem Vorliegen eines Bedürfnisses, so die Grundannahme, ergibt sich ein Anspruch, dass es befriedigt werden soll. Freilich stellt dies die weitergehende Frage, welche Bedürfnisse in einem moralischen Sinne relevant sind und als Grundlegung für Forderungen der Gerechtigkeit dienen können. Universelle menschliche Bedürfnisse werden zur Begründung für Menschenrechte herangezogen und im Kontext von Fragen globaler Gerechtigkeit als Rechtfertigung von Ansprüchen verwendet. Unversehrtheit Körperliche Unversehrtheit gilt als zentrale Ermöglichungsbedingung menschlichen Lebens und Handelns. Der Schutz vor Übergriffen auf die physische Existenz stand daher immer wieder im Zentrum der Begründung moralischer und rechtlicher Normen. Körperliche Unversehrtheit ist an das Verständnis der Person als eines zur Selbstbestimmung befähigten Subjekts gebunden. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 2, wurde nach den humanitären Verbrechen verankert: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. 18 Freiheit Freiheit ist eine anthropologische Fundamentalkategorie. Als erster der drei Grundbegriffe der revolutionären Forderungen nach Neuordnung der Gesellschaft im Übergang zur Moderne (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) ist sie zugleich der wichtigste Baustein aller modernen demokratischen und pluralistischen Gesellschaften. Beschämung Beschämung stellt eine Form der Entwürdigung dar, die auf der psychologisch-emotionanlen Ebene wirkt. Sie ist so machtvoll, weil sie darauf zielt, eine der schmerzhaftesten Emotionen hervorzurufen: Scham. Der Satz aus dem Talmud: „Jemand öffentlich zu beschämen ist wie Blutvergießen“, wird durch die neurobiologische Forschung bestätigt: Scham ist mit existenziellen Ängsten verbunden. Beschämt wird eine Person etwa dadurch, dass sie bloßgestellt, verhöhnt, gedemütigt, beschimpft, geringschätzig behandelt, „unter der Gürtellinie“ kritisiert, lächerlich gemacht, körperlich oder emotional missbraucht, vergewaltigt, verachtet, ausgegrenzt, erniedrigt, schikaniert, wie Luft behandelt, in ihrer Integrität gebrochen, zu einem Objekt oder einer Zahl gemacht wird. Strukturelle Beschämungen werden oft nicht bewusst wahrgenommen, da man sie als selbstverständlichen Teil des Alltags erlebt. Der Gegensatz dazu wäre eine „anständige Gesellschaft“, deren Institutionen die Menschen nicht demütigen. Kränkungen machen krank. Wörterbuch der Würde IST UNANTASTBAR 19 20 Sabine Groenendijk, Pablo Girolami, Vitek Kořínek, Aurélie Patriarca, James Nix 21 DREI FRAGEN AN DEN BÜHNENBILDNER SEBASTIAN HANNAK Sebastian Hannak, Ihr Bühnenbild hat durch die Drehbühne ein schlichtes aber starkes Element bekommen. Diese Entscheidung wirft für den übrigen Bühnenraum Folgefragen auf. Warum haben Sie sich dafür entschieden? Das Verwenden der Drehscheibe beinhaltet Verwandlung als Teil der Erzählweise. Die Veränderbarkeit des Bildes ermöglicht das Erscheinen von etwas Überraschendem, etwas Unkalkulierbarem. Es kann etwas erzeugen, das nicht enden will. Der Zuschauer kann verfolgen, wie sich die Darsteller in einem Zeitfluss befinden. So wird ein Erscheinen und Verschwinden von Figuren, aber auch von Szenen und von Erinnerungen möglich. Welche Bilder waren für Sie für dieses Stück von Bedeutung? Zuerst ein geschriebenes Bild: In Kaspar Hausers autobiografischen Texten beschreibt er oft seine Erinnerung des Einschlafens und wieder Aufwachens und dessen, was sich dazwischen verändert hat. Wichtiges Material war von Anfang an das Holz, das eine Natürlichkeit und Wärme mit sich bringt. Unverkennbar wichtig war auch das Gemälde Die Anatomie des Dr. Tulp von Rembrandt. Es verdeutlicht für mich den Wissensdurst nach der Erkenntnis, woraus und wie der Mensch gemacht ist – Teil des Rätsels »eine VersuchsKaspar Hauser, der zum wissenschaftlichen Objekt wurde. anordnung« Die Bilder in diesem Ballett haben immer etwas Analytisches. Woran liegt das? Ich habe ein Betrachtungssystem für die verschiedenen Stationen in Kaspar Hausers Leben geschaffen. Man kann von einer Versuchsanordnung sprechen, in die die Figuren eintauchen und ebenso wieder verschwinden können, um auch dem Rätsel, das es bis heute ist, Platz zu lassen. 22 DREI FRAGEN AN DIE KOSTÜMBILDNERIN JUDITH ADAM Judith Adam, Kaspar Hauser ist als Titelfigur sicherlich eine Herausforderung, weil er eine große Entwicklung durchmacht. Kaspar Hauser wächst außerhalb des menschlichen Zusammenlebens, der Zivilisation auf. Er ist absolut allein. Sein erstes Kostüm aus einfachem Hemd und Hose ist ein Rudiment menschlicher Kleidung und zeigt Spuren seiner Gefangenschaft und Isolation. Die Farbe nähert sich im Verlauf des Stückes der Farbe der Haut an. Dem sozialen Umfeld beraubt, bleibt das soziale Wesen Mensch nur Wesen, nur Körper. In der Be- und Entkleidung durch die Menschen, auf die er später trifft, wird dann die Akzeptanz seiner Andersartigkeit, Ausgrenzung, Fürsorge oder Bloßstellung aufgegriffen. »auffällige Unauffälligkeit« Die Gesellschaft, auf die Kaspar trifft, hat eine wichtige Funktion, weil er bis dahin niemandem begegnet ist. Für Kaspar ist das Zusammentreffen mit Menschen ein Schock. In den Kostümen der Bürger thematisiere ich ein Zuviel an Handwerk, an Mustern, an Lagen, an Details der Bekleidungsentwicklung wie Krägen, Knöpfen, Manschetten. Kaspar kann dieses Zuviel nicht filtern, die Bekleidungssprache nicht lesen. Die Adelsgesellschaft hebt sich von der bürgerlichen ab. Kalte, leuchtende, glänzende Farben schlagen Kaspar entgegen. Im Laufe seines kurzen Lebens begegnet Kaspar verschiedenen Vaterfiguren. Eine davon ist Lord Stanhope. Er ist die zwielichtigste von ihnen. Die „Stanhopes“, scheinbar konservative Respektspersonen, die unbemerkt die Fäden zu ihrem Amüsement führen, gab es zu jeder Zeit. Seine klassisch elegante Kleidung tarnt sein Treiben. Während er Kaspar beobachtet, trägt er einen Trenchcoat, das Kleidungsstück, das für auffällige Unauffälligkeit per se steht. Diskret aber mondän! 23 24 David Cahier TAGEBUCHEINTRAG NR. 17 Ich bin ein Seidenkleid, mit dem Gott durch den Schneesturm rast – Ein südlicher Vogel, den ein unverständiger Grönländer am Nordpol gefangen hält. Ich bin ein Spinngewebe, von einer kranken Spinne im tosenden Wasser ausgespannt, Eine Weintraube, die der Gärtner am Gipfel der Alpen gepflanzt hat. Mich verwunden das Licht und die Kälte und die eisigen Worte der Menschen. Krank macht mich der Lärm der Städte, Und wehrlos bin ich gegen die kalten Freundlichkeiten meiner Peiniger. Wie hinter einem Glase sehe ich die bunte Phantasmagorie des Lebens. Was alle fürchten, lockt mich mit Sirenengesang: Ein kleines Grab, mit Blumen bewachsen, unter sonnigem Hügel, Ein Hof des Friedens, fern, fern von dieser unselig entweihten und unbegreifbaren Welt. Kaspar Hauser 25 26 Taulant Shehu, David Cahier 27 Tim Plegge wurde in Berlin geboren und – nach einem Austauschjahr an der École de Cirque de Bordeaux – in den Niederlanden und an der Ballettschule Hamburg Ballett John Neumeier zum Tänzer ausgebildet. Nach Engagements als Tänzer nahm er ein Choreografiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin auf. Es folgten Assistenzen bei Helena Waldmann und Christian Spuck. Von 2006 an entstanden Arbeiten für das Ballett Kiel, das Badische Staatsballett Karlsruhe und das Staatsballett Berlin, von denen das 2012 in Karlsruhe uraufgeführte Ballett Momo besondere Beachtung erfuhr, ebenso das mit dem Maler Norbert Bisky geschaffene und im Berliner Club Berghain aufgeführte Stück They. Letzteres steht beispielhaft für Plegges Interesse, unterschiedliche Kunstformen über das Medium Tanz in einen kreativen Dialog zu bringen. In diesem Zusammenhang ist sowohl sein Debüt als Opernregisseur mit Igor Strawinskys Die Nachtigall als auch das mit der Medienkünstlerin Elke Reinhuber erarbeitete Tanzstück Orpheus zu sehen – beide im Badischen Staatstheater Karlsruhe. Plegge wurde im Jahrbuch 2013 der Zeitschrift tanz unter den Hoffnungsträgern der Tanzkünstler geführt, »die hoffentlich die Zukunft bewegen«. TIM PLEGGE Zur Spielzeit 2014/2015 wurde Tim Plegge zum Ballettdirektor und Chefchoreografen des neu gegründeten Hessischen Staatsballetts berufen. Die Eröffnungspremiere Aufwind mit seiner Uraufführung Vom Anfang und das Handlungsballett Aschenputtel waren ein großer Erfolg. 28 Der Bühnenbildner Sebastian Hannak studierte an der Kunstakademie Stuttgart bei Jürgen Rose und Martin Zehetgruber. Währenddessen verbrachte er einen Arbeitsaufenthalt bei David Hockney in Los Angeles und war in Darmstadt, Hamburg und Zürich u. a. für Klaus-Michael Grüber, John Neumeier und Johann Kresnik tätig. Seine Raumgestaltungen für Oper, Schauspiel, Tanztheater und Ballett führten ihn an namhafte Häuser im deutschsprachigen Raum. Er arbeitete mit Christof Nel, Florian Lutz, Martin Nimz, Tim Plegge, Jörg Mannes, Reginaldo Oliveira, Eun-Me Ahn, Hansgünther Heyme, Michael von zur Mühlen, u. a. am Staatstheater und Staatsballett Karlsruhe (Momo, Mythos, Jakob der Lügner, Gas I und II, Glasperlenspiel), Oper Dortmund (Hamlet/Jost), Staatstheater Braunschweig, schauspielfrankfurt, Theater Heidelberg (La Boheme, Louder, Polifemo), Oper Halle (Arabische Nacht, Phaedra), Nationaltheater Mannheim (Hoffmanns Erzäh­lungen), Prinzregententheater München (Faust, Fairy Queen), Ruhrfestspiele Recklinghausen, Staats­oper Stuttgart, Landestheater Salzburg und The­ater am Neumarkt Zürich. Seine Arbeiten wur­den zum »Raum des Jahres« nominiert und ausgestellt, u. a. auf der Weltbühnenbildausstellung Prager Quadriennale im deutschen Pavillon. Zudem engagiert er sich in verschiedenen Gremien für Szenografie, war 2015 Juror für die Akademie Musiktheater Heute, veröffentlicht in Fachzeitschriften und hält Vorträge, zuletzt an der Universität Stuttgart. SEBASTIAN HANNAK 29 Judith Adam studierte an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee Mode-Design. JUDITH ADAM Während des Studiums lernte sie Tim Plegge kennen, mit dem 2004 eine intensive künstlerische Freundschaft mit zahlreichen gemeinsamen Arbeiten begann, so z. B. die abendfüllenden Handlungsballette Momo (2012) und Orpheus (2014) am Staatsballett Karlsruhe und auch Aschenputtel für das Hessische Staatsballett. Sie arbeitete mit Choreographen und Performern wie Gabriele Reuter (tourist – a de-centred play), Amigo Kadir Memis (Cabdance), Reginaldo Oliveira (Der Fall M.) und Helena Waldmann (Made in Bangladesh) zusammen. 2015 entwarf sie die Kostüme für Antoine Jullys Jurassic Trip am Oldenburgischen Staatstheater. Neben ihrem großen Interesse für den zeitgenössischen Tanz arbeitet Judith Adam seit 2006 als Kostümbildnerin für das Musiktheater. Hier entstanden z. B. Kostüme für La Bohème am Theater Aachen, Der Liebestrank in der Regie von Vera Nemirowa an der Oper Bonn, Herzog Blaubarts Burg (2011) und Don Pasquale (2013) in der Regie von Corinna Tetzel am Theater Ulm. 2015 setzten sie ihre Zusammenarbeit mit der Neukomposition über den Nahostkonflikt An unserem Fluss an der Oper Frankfurt fort. Judith Adam arbeitet außerdem mit Regisseuren wie Elmar Ottenthal (SnoWhite, Oper Bonn), Michaela Dicu (Rocky Horror Show, Deutsches Theater Göttingen), Annette Leistenschneider (Anatevka, Eutiner Festspiele) und Dominique Caron (Der Vogelhändler, Eutiner Festspiele) zusammen. Darüber hinaus ist sie tätig für Filmproduktionen und als Gastdozentin an der Kunsthochschule Dresden. 30 Esther Dreesen-Schaback stammt aus SchleswigHolstein und studierte in Hamburg Neuere Deutsche Literatur/Englische Literatur und Kultur (Magisterarbeit Getanztes Erzählen am Beispiel von John Neumeiers Ballett „Nijinsky“). Zwischen 1996 und 2000 hospitierte und assistierte sie wiederholt Angela Dauber, Ballettdramaturgin des Hamburg Balletts. Danach war sie ein Jahr beim Bayerischen Staatsballett unter Ivan Liška und Bettina WagnerBergelt als Assistentin der Dramaturgie (insbes. Portrait Kylián, Portrait Neumeier) sowie drei Jahre an der Oper Kiel als Assistentin der Intendanz tätig. ESTHER DREESENSCHABACK Als freischaffende Ballettdramaturgin arbeitete sie für die Stuttgarter Hauschoreografen Christian Spuck und Marco Goecke. Mit Christian Spuck entstanden Sleepers Chamber (Stuttgarter Ballett), Don Q, getanzt von Egon Madsen und Eric Gauthier (Theaterhaus Stuttgart) und Leonce und Lena (Aalto Ballett Theater Essen). Die enge Zusammenarbeit mit Marco Goecke begann bereits 1999 in Hamburg. Er engagierte Esther Dreesen-Schaback als Produktionsdramaturgin für Beautiful Freak (Hamburg Ballett), Viciouswishes (Stuttgarter Ballett), Sonett (Leipziger Ballett), Orlando (Stuttgarter Ballett), Dancer in the Dark (Stuttgarter Ballett) und für sein jüngstes Projekt Nijinsky (Gauthier Dance), das im Juni 2016 im Theaterhaus Stuttgart uraufgeführt wird. Von 2009 bis 2013 war Esther Dreesen-Schaback als Ballettdramaturgin am Badischen Staatsballett Karlsruhe unter Birgit Keil engagiert, wo sie Tim Plegges erstes abendfüllendes Handlungsballett Momo dramaturgisch begleitete. Es folgte Aschenputtel für das Hessische Staatsballett. 31 32 33 Tyler Schnese, Leander Menzel, Lara Misó Peinado HESSISCHES STAATSBALLETT Ballettensemble Claudia Ortiz Arraiza Guido Badalamenti Anissa Bruley David Cahier Seraphine Detscher Pablo Girolami Sabine Groenendijk Clémentine Herveux Ezra Houben Stellina Nadine Jonot Denislav Kanev Ludmila Komkova Vitek Kořínek Valeria Lampadova 34 Igli Mezini Lara Misó Peinado James Nix Carolinne de Oliveira Aurélie Patriarca Jean-B. Plumeau Raphaëlle Polidor Emanuele Rosa Tyler Schnese Aaron Shaw Taulant Shehu Miyuki Shimizu Tatsuki Takada Sophie Vergères Shelby Williams Tenald Zace 35 Wir können nicht tanzen. Wir können aber ausgezeichnet gestalten. Über 70 nationale und internationale Preise für erfolgreiches Kommu­ nikations­design hat unsere Agentur schon erhalten. Eine Auszeichnung ist uns dabei aber noch wichtiger: die Zufriedenheit unserer Kunden. red dot award iF Communication Design Award gregor international calendar award Designpreis der BR D German Design Award DDC Gute Gestaltung European Design Award Creativity International Award Berliner Type Zu diesen Kunden zählt auch das Hessische Staatsballett, für das wir seit seiner Gründung kreativ tätig sind – vom Schriftzug bis zur Website. Wollen Sie mehr über Q erfahren? Gehen Sie ins Netz: www.q-home.de IMPRESSUM Spielzeit 2015/16 H E R AUS GE BE R Hessisches Staatsballett Staatstheater Darmstadt I N T E N DA N T Karsten Wiegand GE S C H Ä F T S F Ü H R E N DE R DI R E K T OR Jürgen Pelz Hessisches Staatstheater Wiesbaden Uwe Eric Laufenberg I N T E N DA N T GE S C H Ä F T S F Ü H R E N DE R DI R E K T OR © Schott Music, London Musikverlag Hans Sikorski, Hamburg Dunvagen Music Publishers Boosey & Hawkes Bote & Bock GmbH, Berlin für Boosey & Hawkes Music Publ. Ltd. Breitkopf & Härtel, Wiesbaden S TA N D 10. Februar 2016 Bernd Fülle R E DA K T ION Esther Dreesen-Schaback GE S TA LT U NG Q, www.q-home.de PRODU K T ION Komminform, www.komminform.de BI L DN AC H W E IS E Die Produktionsfotos wurden von Bettina Stöß während der Probe am 5. Februar 2016, sowie von Regina Brocke (S. 17, 20/21, 26/27) am 9. Februar 2016 aufgenommen. Titel: Tyler Schnese, Ensemble T E X T N AC H W E IS E Die Texte sind Originalbeiträge für das Programmheft. Die Gespräche führte Esther Dreesen-Schaback. S. 18/19, R. Gröschner u.a. (Hg): Wörterbuch der Würde, W. Fink, München, 2013. Die Tagebuch-Zitate sind aus B. Lewandowsky: Kaspar Hauser Tagebuch. M US I K R E C H T E Melodie der Welt GmbH & Co. KG, Frankfurt am Main C.F. Peters Ldt. & Co. KG, Leipzig Sony/ATV Music Publishing Needle Wood Publishing Edition vertreten durch Bosworth Music GmbH/ The Music Sales Group 38 BA L L ET TDIR EK TOR UND Tim Plegge Bruno Heynderickx CHEFCHOR EOGR A F K UR ATOR BA L L ET TBETR IEBSDIR EK TOR Johannes Grube BA L L ET TMEISTER Uwe Fischer, Gianluca Martorella KOR R EPETITOR Waldemar Martynel MUSIK A L ISCHER A SSISTEN T Daniel Lett PRODUK TIONSL EITUNG Simon Kranz DR A M ATURGIE Josefine Sautier Hessisches Staatsballett www.hessisches-staatsballett.de [email protected] www.facebook.com/ hessisches.staatsballett Staatstheater Darmstadt Georg-Büchner-Platz 1 64283 Darmstadt Telefon +49(0)6151. 2811-311 www.staatstheater-darmstadt.de Hessisches Staatstheater Wiesbaden Christian-Zais-Straße 3 65189 Wiesbaden Telefon +49(0)611. 132-278 www.staatstheater-wiesbaden.de Partner des Hessischen Staatsballetts eosphysio ∙ Wilhelmstraße 58A ∙ 65183 Wiesbaden ∙ Tel 0611-36017900 ∙ www.eosphysio.de 40 www.hessisches-staatsballett.de