Referat von Heimo Hanke als PDF

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Liebe Diplomandinnen, liebe Diplomanden, werte Angehörige, Kollegen, alle die da sind
Als der VV003 mich als ihr Anatomielehrer gebeten hat, einige Worte auf dieser Diplomfeier zu
sagen, hab ich mich natürlich gefreut. Das gewünschte Thema sollte lauten: Migration und Ethik im
Verhältnis zueinander. Ethik und Migration... wie passt das zusammen? Ich versuche mal, einige
Gedanken zusammenzutragen...
Momentan ist ein gewaltiger Strom von Migranten in Richtung Europa unterwegs. Da hab ich mir
gedacht, ich schlüpf mal in beide Häute hinein und denk dann nach.... ausserdem spar ich mir so
eine power-point Präsentation.
Also… Wie stehen Ethik und Migration zueinander? Als Vergleich (ich kann nicht anders, ein
bisschen Vorlesung muss sein ) stell ich Migration als Osmose vor. Osmose ist Diffusion durch
eine semipermeable Membran... Wasser kann durch, Salz nicht. Dies bestimmt die
Strömungsrichtung. Sie erinnern sich an‘s erste Semerster.... Mit diesem Bild im Rücken kann man
Migration als Armutsausgleich... aber auch als Wohlstandsausgleich... durch eine semipermeable
Membran verstehen. Also eine Grenze, wie wir sie bei den Nationalstaaten auch finden und heute
wieder sehr aktuell geworden ist. Habe ich einen EU Pass oder ein Visum, dann komm ich durch
die Membran durch, sonst nicht.
Im Vergleich mit der Osmose zeigt sich Migration nicht als gut oder schlecht, gar böse... sondern
als gesellschaftliches Phänomen, das einfach vorhanden ist.
Der Begriff „Migration“ gehört sicher zu den Reizbegriffen unserer Gesellschaft. Nicht nur an den
Stammtischen löst er heftige Reaktionen aus. Auch in den politischen Parteien, in den Verbänden
und auch in vielen kirchlichen Gruppen wird heftiges Erregungspotential freigesetzt, wenn von
Wanderung und Zuwanderung die Rede ist. Migration ist ein emotional hochbesetzter Begriff. Er
löst geradezu reflexhafte Verlust- und Überfremdungsängste aus.
Diese Beobachtung gilt natürlich nicht nur für die Schweiz. Wer den Blick auf die anderen
europäischen Länder, auf Nordamerika oder Australien richtet, sieht sich mit sehr ähnlichen
Phänomenen konfrontiert. Und selbst die letzte oder vorletzte Einwanderergeneration ist vor
Abwehrreflexen denen gegenüber, die neu ins Land wollen, alles andere als gefeit. In seinem
Essay „Die große Wanderung“ hat Hans-Magnus Enzensberger dieses Phänomen mit der
Situation in einem Zugabteil verglichen: Argwöhnisch und übellaunig wird der Neuankömmling, der
einen Sitzplatz zu ergattern sucht, von allen gemustert, die sich bisher den Raum teilten – auch
wenn sie schon seit Stunden dort sitzen oder auch erst vor wenigen Minuten eingetroffen sind.
Die konkreten Befürchtungen und die eher diffusen Ängste, die sich an Zuwanderung und
Zuwanderern festmachen, sollte man nicht allzu schnell abtun – schon gar nicht durch moralische
Diskreditierung. Diese Ängste sind zunächst einmal ein Faktum, mit dem die Gesellschaft und die
Politik konfrontiert sind und das sich nicht einfach aus der Welt hinausschweigen lässt. Wer Ängste
abbauen will, kommt um geduldige Arbeit nicht herum (im BZPflege leisten wir solche Arbeit).
Sachliche Informationen, nachvollziehbare Argumente und einsichtige ethische Abwägungen, die
auch die Interessen der schon länger ansässigen Bevölkerung berücksichtigen, sind hier
unerlässlich. Nur so können Antworten auf die Herausforderung der Migration gegeben werden,
die auch gesellschaftlich belastbar sind. In diesem Sinne verstehe ich Ihre Einladung an mich als
Aufforderung, unter dem Thema „Migration und Ethik“ einige Hinweise für einen angemessenen
Umgang mit einem schwierigen Thema zu geben.
Migration - ein uraltes Phänomen
Migration gibt es, seit es Menschen gibt. Wie sonst wäre zu erklären, dass die Menschheit sich aus
dem südlichen Afrika über alle Erdteile und in alle klimatischen Regionen ausgebreitet hätte.
Immer war Migration von dem Ziel bestimmt, neue Lebensräume zu entdecken, um das Überleben
der eigenen Gattung zu sichern. Migration ist eines der Kernmerkmale des Menschseins. Es ist
hier nicht der Ort, der Geschichte der Migration nachzugehen. Ich benenne wenigstens die großen
und im europäischen Kontext wichtigen Migrationsereignisse: die Völkerwanderungen in der
ausgehenden Antike, die Wanderungen infolge konfessioneller Streitigkeiten und Bürgerkriege in
der frühen Neuzeit - dies betrifft auch die Schweiz oder die wirtschaftlich bedingten großen
Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts, ohne die die Weltmachtstellung der Vereinigten
Staaten im 20. und 21. Jahrhundert schlichtweg undenkbar wäre.
Die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts bringt eine nochmalige Dynamisierung des
Wanderungsgeschehens mit sich. Zentrales Merkmal dieser Entwicklung ist ihre globale
Ausprägung. In großen Teilen der sogenannten „Dritten Welt“ verschärften sich die politischen,
wirtschaftlichen und sozialen Probleme und trieben unzählige Menschen in die Flucht. Vielfach ist
das 20. Jahrhundert als Jahrhundert der Flüchtlinge beschrieben worden. Zwar fanden diese
Flüchtlingsbewegungen – was hierzulande meist gar nicht registriert wird – bis heute vorwiegend
innerhalb regionaler Großräume statt: Viele Länder des Südens sind mit weit größeren
Flüchtlingsströmen konfrontiert worden als die Wohlstandsgebiete der nördlichen Hemisphäre. Bis
jetzt. Zunehmend breitet sich das Phänomen der Wanderung in den Norden aus. Menschen
fliehen vor unmittelbarer Verfolgung, vor Krieg und Bürgerkrieg, sie verlassen ihre Heimat als
Armuts- oder auch als Umweltflüchtlinge, die für sich und ihre Familien zu Hause keine
Lebensgrundlage mehr sehen. Ziel sind jene Länder, die als Hort von Frieden, politischer Stabilität
und wirtschaftlicher Prosperität ins Blickfeld rücken.
Diese Situation verschärft sich noch einmal drastisch durch ein massives Wachstum der
Bevölkerung. Im 19. Jahrhundert war Europa der Kontinent der Bevölkerungsexplosion, und die
Auswanderung nach Nord-, zum Teil auch nach Südamerika wurde zum Ventil, um den
entstehenden Druck auf die europäischen Gesellschaften zu verringern. In dem Maße, wie der
medizinische Fortschritt im 20. Jahrhundert auch die Entwicklungsländer erreichte, schnellten dann
auch dort die Bevölkerungszahlen nach oben. Hundert Jahre später als in Europa (wo sich die
Bevölkerungsdynamik inzwischen bekanntlich sogar umgekehrt hat) macht sich zwar mittlerweile
auch in Asien, Afrika und Lateinamerika ein demographischer Wandel bemerkbar, so dass zur
Mitte unseres Jahrhunderts mit einem ungefähren Stillstand des Bevölkerungswachstums
gerechnet wird. Bis dahin wird sich die Zahl der auf unserem Globus lebenden Menschen jedoch
noch einmal von derzeit gut 7 Milliarden auf dann circa 11 Milliarden erhöht haben. Dass dieser
Prozess weiteren Migrationsdruck – auch nach Europa, auch in die Schweiz – auslösen wird,
sofern es nicht gelingt, in den problematischen Regionen einigermaßen stabile Verhältnisse zu
schaffen, ist offenkundig.
Migration erscheint in dieser Perspektive oft als eine Bewegung, die ausschließlich von den
Zuwandernden (oder denen, die zuwandern wollen) ausgeht und von den Ländern, die sie
aufnehmen oder aufnehmen sollen, als Bedrohung angesehen wird. Daneben gibt es jedoch auch
die Erfahrung der klassischen Einwanderungsländer (USA, Kanada, Australien), deren
Wohlergehen gerade auf einer Jahrhunderte anhaltenden Zuwanderung beruht. Auch die Schweiz
hat mit den Anwerbeverträgen für die sogenannten „Fremdarbeiter“ zeitweilig eine Förderung der
Arbeitsmigration betrieben, von der man jedoch – fälschlich und wohl illusionär – geglaubt hatte,
dass sie nicht zu einer dauerhaften Ansiedlung in unserem Lande führen würde. Auch heute
stehen wir vor der Frage, ob nicht eine gezielte und gesteuerte Zuwanderung eine Voraussetzung
für den künftigen Wohlstand in der Schweiz darstellt. Migration ist keineswegs nur und
notwendigerweise eine Belastung für die traditionell ansässige Gesellschaft. Sie kann, und zwar
auch in einem schlicht materiellen Sinne, durchaus eine Bereicherung bedeuten. In unseren
Kursen sehen wir das ja mit einem recht hohen Anteil an Migranten.
Der vielleicht gewichtigste Beitrag der jüdisch-christlichen Tradition zur Entwicklung der
Menschheitsgeschichte und zugleich die Grundlage für das Verständnis des Fremden ist die Idee
der Einheit der Menschheitsfamilie als Summe aller Menschen und der gleichen Würde aller. Jeder
Mensch ist gleichermassen mit Würde und Lebensrecht ausgestattet. Es ist dieser Urgrund, aus
dem – vermittelt durch die europäische Aufklärung – auch die modernen Menschenrechte
hervorgegangen sind, wie wir sie etwa in der Verfassung finden.
Unsere Verfassung ist aufgrund ihrer ethischen Gehalte ein brauchbarer Kompass für den
politischen und gesellschaftlichen Umgang mit Zuwanderung und Migranten. Schon in Art. 7 richtet
sie das Gemeinwesen an der Würde eines jeden Menschen aus: „Die Würde des Menschen ist zu
achten und zu schützen.“ Die Menschenrechte – und dazu zählt auch das Recht politisch oder
religiös Verfolgter auf Asyl - stellen eine Entfaltung dieses grundlegenden Gedankens dar. Weil
jeder eine unantastbare Würde hat, ist er ursprünglicher Träger von Grundrechten – unabhängig
von Geschlecht, Religion, Staatsangehörigkeit usw.
Um ein friedliches Zusammenleben von lange Ansässigen und Zugewanderten zu sichern, hat der
Staat die Verpflichtung, die Rahmenbedingungen zu schaffen. Diese Integration, die uns in der
Schweiz – so finde ich und habe es selbst so erlebt, ganz gut gelingt, kann aber nur erfolgreich
sein, wenn sie als wechselseitiger Prozess verstanden wird. Sie muss fehlschlagen, wenn
Zugewanderte Parallelgesellschaften aufbauen, in denen die Wertebasis der Verfassung (z.B. die
gleichen Rechte für Mann und Frau) nicht geachtet wird. Integration wird aber auch dann
missglücken, wenn die Migranten genötigt werden, sich mit Haut und Haaren der eingesessenen
Bevölkerung anzuverwandeln.
Wenn wir Migration als gesellschaftliche Osmose betrachten, dann können wir vielleicht sagen,
dass Ethik das gesellschaftliche Naturgesetz als Triebkraft dazu ist. Neben den drei ethischen
Individualkriterien Autonomie, Gutes tun, Schaden vermeiden, gibt es das gesellschaftliche
Kriterium der Gerechtigkeit, dies meint hauptsächlich die gerechte Verteilung der Ressourcen auf
all die Menschen, die sie brauchen. Gerechtigkeit ist somit nicht Gleichheit, sondern die
begründete Ungleichbehandlung.
Wenn wir uns den Migrationsstrom anschauen, der gerade Europa erreicht, dürfen wir uns nicht
einseitig und meist emotional und sentimentalisierend einer Meinung zuwenden – polarisierend pro
oder kontra – sondern müssen rational nach Lösungen suchen, die sowohl der einheimischen
Bevölkerung nutzen als auch der Migrationsbevölkerung. Ich glaube, nur so – auf rationale,
vernunftorientierte Weise – können gewalttätige Konflikte vermieden werden, die zumindest als
dunkle Wolken über Europa schweben.
Wir haben uns bemüht, Ihnen, lieber VV003, dieses ethische und soziokulturelle Rüstzeug in der
Ausbildung mitzugeben.
Persönlich möchte ich mich bei Ihnen nochmals bedanken für Ihr erfolgreiches Engagement, sich
für den Standort Thun einzusetzen, weshalb ich ja mein Büro immer noch dort hab.
Ihnen, liebe Anwesende, danke ich für die Aufmerksamkeit und Geduld. Sie haben jetzt eine kleine
Vorstellung davon bekommen, was der VV003 ertragen musste, wenn er mal acht Lektionen
Anatomie bei mir hatte.
Uns wünsche ich noch eine schöne Feier.
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