Zeitschrift für historische Bildung C 21234 ISSN 0940 – 4163 Heft 4/2002 Militärgeschichte Militärgeschichte im Bild: Bundesgrenzschutz Friedrich Paulus Der Untergang der 6. Armee Stalins V-2 Militärgeschichtliches Forschungsamt MGFA IMPRESSUM Editorial Militärgeschichte Zeitschrift für historische Bildung Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt durch Jörg Duppler und Hans-Joachim Harder Liebe Leserinnen und Leser, Redaktion: Andreas Groh (ag), Clemens Heitmann (ch), Herbert Kraus (hk), Andreas Kunz (ak) Anschrift der Redaktion: Militärgeschichtliches Forschungsamt Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam Telefon: (0331) 9714-531 Telefax: (0331) 9714-507 www.mgfa.de Manuskripte für die Militärgeschichte werden an diese Anschrift erbeten. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird nicht gehaftet. Durch Annahme eines Manuskriptes erwirkt der Herausgeber auch das Recht zur Veröffentlichung, Übersetzung u.s.w. Honorarabrechnung erfolgt jeweils nach Veröffentlichung. Die Redaktion behält sich Kürzungen eingereichter Beiträge vor. Nachdrucke, auch auszugsweise, fotomechanische Wiedergabe und Übersetzung sind nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung durch die Redaktion und mit Quellenangaben erlaubt. Dies gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Vervielfältigungen auf CD-ROM. Die Redaktion hat keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte derjenigen Seiten, auf die in dieser Zeitschrift durch Angabe eines Link verwiesen wird. Deshalb übernimmt die Redaktion keine Verantwortung für die Inhalte aller durch Angabe einer Linkadresse in dieser Zeitschrift genannten Seiten und deren Unterseiten. Dieses gilt für alle ausgewählten und angebotenen Links und für alle Seiteninhalte, zu denen Links oder Banner führen. © 2002 für alle Beiträge beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt Sollten nicht in allen Fällen die Rechteinhaber ermittelt worden sein, bitten wir ggfs. um Mitteilung. Die Nutzung des Namens »Militärgeschichte Zeitschrift für historische Bildung« erfolgt mit freundlicher Unterstützung des Verlages E.S. Mittler & Sohn. Herstellung: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Bernd Nogli, Marina Sandig, Aleksandar-S. Vuletić Layout: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Maurice Woynoski Druck: SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden ISSN 0940-4163 Das Team der »Militärgeschichte«: Maurice Woynoski, Clemens Heitmann, Marina Sandig, Aleksandar-S. Vuletić, Andreas Groh und Herbert Kraus I hnen liegt nun das vierte und letzte Heft der »Militärgeschichte« in diesem Jahr vor. Anfang des Jahres 2002 hatten wir Ihnen unsere neu gestaltete Zeitschrift erstmals vorgestellt. Seitdem erscheint die »Militärgeschichte« im blauen Einband; inhaltlich haben wir viele Anregungen unserer Leser – von innerhalb wie von außerhalb der Bundeswehr – aufgegriffen und neue Elemente eingeführt. So bieten wir Ihnen nun neben unseren bewährten Artikeln einen ausführlichen Serviceteil rund um die Militärgeschichte. Es ist unserer Auffassung nach jetzt noch zu früh, um ein endgültiges Urteil über unsere neue Zeitschrift zu wagen, doch das deutliche Überwiegen positiver Leserkritiken, die uns erreicht haben, lässt uns hoffen, auf dem richtigen Weg zu sein. Das vorliegende Heft 4/2002 der »Militärgeschichte« hat erstmals einen thematischen Schwerpunkt. Anlass ist der sechzigste Jahrestag des Kampfes und der Niederlage der deutschen Invasionstruppen in Stalingrad. Der vormalige Name der heutigen Stadt Wolgograd ist weltweit und vor allem in Russland und Deutschland das weit über den an Militärgeschichte interessierten Kreis hinaus bekannte Symbol für das Scheitern des deutschen Versuchs, Russland zu erobern und zu kolonialisieren. Gleichgültig, ob die Schlacht um Stalingrad tatsächlich die Wende im Zweiten Weltkrieg einleitete, im Bewusstsein der meisten Russen und Deutschen steht die Kapitulation der deutschen 6. Armee genau dafür. Und obwohl nach der Tragödie von Stalingrad im weiteren Verlauf des Krieges die Zahl der zu beklagenden Menschenopfer noch erschreckendere Ausmaße annehmen sollte, steht gerade Stalingrad auch beispielhaft für Kriegsleid und Kriegstod in beiden Ländern. Dies war für die Redaktion Grund genug, einen thematischen Schwerpunkt zu setzen. Solche »Themenhefte« sind auch in der Zukunft in einzelnen ausgewählten Fällen vorgesehen. Das bedeutet allerdings nicht, daß wir uns künftig auf einige wenige Themen beschränken wollen. Ganz im Gegenteil wollen wir Ihnen auch in Zukunft die gewohnte Breite an militärhistorischer Information durch Aufsätze und unseren Serviceteil bieten. Einer Anregung aus Ihren Reihen werden wir jedoch schon 2003 folgen: Der Anteil von Beiträgen unterschiedlicher Art zum Themenbereich deutsche Militärgeschichte nach 1945, auch zur Geschichte der Bundeswehr, soll merklich gesteigert werden. Die Redaktion wünscht allen Lesern ein frohes Weihnachtsfest, ein erfolgreiches Jahr 2003 und genügend Muße, die Zeitschrift »Militärgeschichte« auch künftig mit Gewinn zu lesen. Die Redaktion D i e A u t o r e n Inhalt Friedrich Paulus Ein Soldatenschicksal vor Stalingrad 4 Vor sechzig Jahren: Dr. Torsten Diedrich, geboren 1956 in Berlin, wiss. Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam Der Untergang der 6. Armee in Stalingrad Stalins V-2 18 Service 22 Das historische Stichwort: Der deutsche Generalstab 22 Medien online/digital 24 Lesetipp 26 Ausstellungen 28 Geschichte kompakt 30 Militärgeschichte im Bild 31 Der Transfer der deutschen Raketentechnik in die UdSSR Andreas Kunz M.A., geboren 1970 in Lüneburg, Archivreferendar im Bundesarchiv Bundesgrenzschutz Dr. Matthias Uhl, geboren 1970 in Nordhausen, wiss. Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte, Außenstelle Berlin 8 Grundausbildung beim Bundesgrenzschutz (BGS) in den fünfziger Jahren. Anders als die Rekruten der neu aufgestellten Bundeswehr sehen die abgebildeten »Grenzjäger« des BGS in ihrer Uniform mit dem markanten Stahlhelm den Soldaten der ehemaligen Wehrmacht recht ähnlich. Bild: Privatbesitz F. Schießl sen., Hamburg Foto: Stadtarchiv Nürnberg Friedrich Paulus Friedrich Paulus Ein Soldatenschicksal vor Stalingrad Paulus schwört den Eid als Zeuge gegen die Wehrmachtführung am 11. Februar 1946 vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg. »Ich war Soldat und glaubte damals, gerade durch Gehorsam meinem Volk zu dienen!« D er Mann, der dies angesichts der totalen Niederlage des Deutschen Reiches und nie da gewesener Schrecken und Verbrechen des Krieges formulierte, war einer der führenden Generäle der Wehrmacht. Persönlich belasteten ihn der Untergang seiner 6. Armee in Stalingrad und das sinnlose Opfer von etwa 165 000 seiner Soldaten. Der am 23. September 1890 in Breitenau im Hessischen geborene Friedrich Wilhelm Ernst Paulus wurde in einer kleinbürgerlichen Beamtenfamilie aufgezogen. Mit anerzogenen Beamtentugenden und von hoher Intelligenz schien Paulus für den von ihm erträumten Offizierberuf wie geschaffen. Nach bestandenem Abitur in Kassel lehnte die sich elitär dünkelnde Kaiserliche Marine Paulus 1909 jedoch ab. Daraufhin schrieb er sich zum Jura-Studium in Marburg ein, verließ die Universität jedoch schon im Februar 1910, um als Fahnenjunker im 3. Badischen Infanterie-Regiment (IR) Nr. 111 in Rastatt seine militärischen Karriereträume zu verwirklichen. Nach Abschluss der Kriegsschule Engers erhielt 4 Paulus 1911 das Leutnantspatent. 1912 heiratete der junge Offizier die rumänische Adlige Elena Constance RosettiSolescu. Als Adjutant des III. Bataillons des IR Nr. 111 erlebte Paulus kriegsbegeistert und kaisertreu den Beginn des Weltkrieges. Schnell erkannte man seine Begabungen als Stabsoffizier: Gewissenhaftigkeit, Organisationstalent, ausgeprägtes operatives Denken sowie Gewandtheit und Anpassungsfähigkeit im Umgang mit Vorgesetzten. Den Krieg erlebte Paulus fast nur in Stabsstellungen. Die deutsche Niederlage und der Sturz der Monarchie in Deutschland trafen den Monarchisten Paulus tief. Er empfand als Soldat die Schmach der Niederlage, seine Stellung zum Militär blieb jedoch vom Kriegserleben unberührt. Es gelang Hauptmann Paulus seine militärische Laufbahn in der Reichswehr fortzusetzen. Seiner Neigung entsprechend wurde er nach diversen Stabsverwendungen 1927 als Taktiklehrer für »Führergehilfen« – d.h. Generalsstabsausbildung eingesetzt. Im Herbst 1931 erfolgte die Versetzung ins Reichswehrministerium als Lehrgangsleiter für Taktik und Kriegsgeschichte. Hier verkörperte der Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 groß gewachsene, fast steif wirkende Paulus den Prototypen des Stabsoffiziers Seecktscher Prägung. Die Fähigkeit zum operativen Denken verband sich bei ihm mit der Abneigung zu jedweder politischen Stellungnahme. 1933 bekam Oberstleutnant Paulus das Kommando über die Kraftfahr-Abteilung 3 in Wünsdorf/Zossen übertragen. Unmittelbar in den Aufbau der neuen Waffengattung »Panzertruppen« Johannes Friedrich Leopold von Seeckt Geb. 22.4.1866, gest. 27.12.1936 Angesichts der chaotischen politischen Verhältnisse der Weimarer Republik entwickelte Seeckt als Chef der Heeresleitung (1920–1926) das Konzept einer Überparteilichkeit der Reichswehr. Jede politische Betätigung wurde dem Soldaten verboten, um eine parteiliche Ausprägung der Reichswehr auszuschließen. Seeckt führte die durch den Versailler Vertrag auf 100000 Mann Stärke begrenzte Armee aus der innenpolitischen Frontstellung heraus in eine Neutralität gegenüber gesellschaftlichen Gruppierungen und prägte in ihr den Gedanken einer »unpolitischen Staatsund Befehlstreue« aus. Foto: von Kutschenbach Foto: von Kutschenbach Der junge Hauptmann Paulus am Ende des Ersten Weltkrieges. Der Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Halder (dritter von links), und sein Oberquartiermeister Ia, Generalleutnant Paulus (links), 1941 bei einer Besprechung mit Hitler. einbezogen, erlebte Paulus Hitlers »Machtergreifung«. Instinktiv eher gegen den »Proleten« und dessen »Volkspartei« eingestellt, fühlte sich Paulus doch von den Versprechen Hitlers hinsichtlich der Entwicklung Deutschlands und der Armee angezogen, ohne jedoch Nationalsozialist zu werden. Er blieb der »unpolitische deutsche Offizier«. und operativer Berater des Generalstabschefs des Heeres sowie als Koordinator der Stabsbereiche und im Sonderauftrag. Halder brauchte diesen operativ fähigen und mit der Panzertaktik vertrauten Mann; Paulus war damit in die höchsten Führungskreise der Wehrmacht und in die unmittelbare Nähe Hitlers gerückt. Er vollendete die Arbeiten an dem »Barbarossa«-Feldzugsplan und demonstrierte in zwei Kriegsspielen vor der Wehrmachtführung die geplante Zerschlagung des »Russischen Kolosses auf tönernen Füßen«. Nach Hitlers Angriffsweisung gegen die UdSSR kümmerte sich Paulus um die Vorbereitung der Verbündeten Rumänien und Ungarn auf die Eroberungspläne des Dritten Reichs. Den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit dem Überfall auf Polen erlebte Generalmajor Paulus als Chef des Generalstabes der 10. Armee unter Generaloberst von Reichenau. Feldzüge gegen Polen, Belgien und Frankreich ließen die Kritik der Wehrmachtführung gegen den »Führer« schnell verstummen. Auch für Paulus war die Schmach des Versailler Vertrages getilgt, der »Erzfeind« besiegt und Deutschland zu neuer Geltung verholfen. Innerhalb der 10., später 6. Armee erwiesen sich Reichenau und Paulus als ideales Gespann. Der entschlussfreudige, heißblütige Reichenau fand in dem wie am Schachbrett wägenden, alle Möglichkeiten sezierenden Stabschef das optimale Pendant. Paulus verehrte Reichenau und nahm von dessen engen Bindungen an den Nationalsozialismus kaum Notiz. In Vorbereitung des Überfalls auf die UdSSR erkor Generalstabschef Halder im Spätsommer 1940 den Generalleutnant Paulus zum Oberquartiermeister I (OQu I) im Generalstab des Heeres. Der OQu I fungierte als Stellvertreter Paulus glaubte an die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem bolschewistischen Reich, dessen politisches System er strikt ablehnte. Er fragte nicht nach politischer Verantwortung, konzentrierte sich auf seinen Auftrag, den er als die persönliche Karrierechance erkannte. So wurde auch Paulus, wie so viele führende Militärs, zu einem willfährigen Werkzeug von Hitlers Aggressionspolitik. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 erfüllten sich Paulus‘ hochgesteckte Ambitionen als Generalsstabsoffizier, der vom Kartentisch aus die Operationen im Osten in großen Zügen zu leiten hatte. Immer stärker aber mischte sich Hitler in die mili- tärische Führung ein, riss diese an sich. Paulus aber war nicht der Mann, der opponierte. Er verstand Gehorsam als seine oberste Pflicht und vertraute durchaus auf das militärische Können des »Führers«. Hitler, von den Fähigkeiten aber auch von dem willigen Verhalten von Paulus angezogen, erwog den sich vornehm und exakt gebenden General in die höchste Führung des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) zu holen. Zuvor sollte sich dieser jedoch als Armeeführer bewähren. Der General der Panzertruppen erhielt somit am 16. Januar 1942 das vakant gewordene Kommando über die 6. Armee. Umgehend setzte er für die 6. Armee den verbrecherischen Kommissarbefehl Hitlers außer Kraft und hob den völkerrechtswidrigen HärteBefehl Reichenaus zum Vorgehen gegen die russische Bevölkerung und die Juden auf. Beide Befehle entsprachen nicht seinem Soldatenethos, an dem er zeitlebens festhielt. Im Verlauf der Sommeroffensive 1942 bewies Paulus seine Fähigkeiten beim Führen eines operativen Truppenkörpers; er erhielt das Ritterkreuz und befand sich in hoher Gunst des »Führers«. Im Kessel von Stalingrad begann Paulus seine Mitschuld am Tod seiner Soldaten, aber auch den Verrat der Menschenleben verachtenden nationalsozialistischen Führung an seiner Armee zu begreifen. Zum Opponieren gegen Hitler nicht fähig, im Unklaren über die Gesamtlage an der Südfront Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 5 Friedrich Paulus Der im März 1941 erlassene »Kommissar-Befehl« wies die Wehrmacht an, die Politkommissare der Roten Armee nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, sondern zu erschießen. Ebenso wie der im Mai 1941 ergangene »Barbarossa-Gerichtsbarkeitserlass«, der Zivilpersonen in den besetzten Ostgebieten aus der Rechtsprechung der Kriegsgerichte nahm und Übergriffe von Wehrmachtangehörigen gegenüber der Zivilbevölkerung nicht zwangsläufig unter Ahndung stellte, gehörte der Kommissar-Befehl zu Hitlers »Glaubenskrieg gegen den Bolschewismus«. Beide widersprachen dem Völkerrecht. Auf dieser Grundlage gab der Oberbefehlshaber der 6. Armee, Walter von Reichenau, am 10. Oktober 1941 seinen Härte-Befehl: »Verhalten der Truppen im Ostraum«, der das völkerrechtswidrige Vorgehen gegen die Bevölkerung unterstrich. gelassen und mit einer unterversorgten Armee auch militärisch nicht in der Lage, einen eigenständigen Ausbruch zu wagen, resignierte Paulus. Am 31. Januar 1943 traf Hitlers Beförderung zum Generalfeldmarschall einen in Lethargie gefallen Mann, der unwillig war, Hitlers Wunsch nach dem Freitod zu erfüllen, es aber auch nicht wagte, die längst überfällige Kapitulation zu befehlen. Sein Weg in die sowjetische Gefangenschaft führte Paulus in das Generalslager Woikowo. Während er in schweren inneren Auseinandersetzungen seine Mitschuld am Elend der 6. Armee begriff, blieb seine Überzeugung, dass er nur militärische, jedoch keine politische Verantwortung trage, noch unerschüttert. Paulus‘ Verhältnis zu der kommunistisch initiierten »antifaschistischen Bewegung« war 1943 voller Argwohn. Bis zum Sommer 1944 hielt Paulus alles Politische von sich fern. Am 24. Juli 1944 erfuhren die Gefangenen des Generalslagers von dem missglückten Attentat auf Hitler. Viele der Verschwörer kannte und schätzte Paulus, so die Generale Beck, Fellgiebel, Olbricht und Oberst Stauffenberg. Zugleich suggerierten die Sowjets dem 6 Feldmarschall, dass er nach dem Scheitern der Verschwörung der einzige sei, der Einfluss auf die Wehrmachtführung nehmen könne. Paulus begann die politischen Konsequenzen von NSRegime und Krieg für das deutsche Volk zu erahnen. Am 8. August 1944 unterzeichnete er einen Appell zur Beendigung des Krieges und wandte sich im Sender »Freies Deutschland« gegen Hitler und den Krieg. Der »Bund Deutscher Offiziere« (BDO) und das »Nationalkomitee Freies Deutschland« (NKFD) gewannen eine Galionsfigur hinzu, als ihre Bedeutung für die Sowjets bereits zu sinken begann. Paulus aber hatte seine Neutralität aufgegeben. Nach Kriegsende erregte der Generalfeldmarschall mit seinem Auftritt als Zeuge vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal erneut das Interesse der Weltöffentlichkeit. »Heute, wo über die Verbrechen Hitlers und seiner Helfer Gericht der Völker gehalten wird, sehe ich mich verpflichtet, alles, was mir aufgrund meiner Tätigkeit bekannt ist und als Beweismaterial für die Schuld der Kriegsverbrecher im Nürnberger Prozess dienen kann, der Sowjetregierung zu unterbreiten«, begründete er diesen Schritt. Mit seinen Aussagen gegen die Führung der Wehrmacht schuf er einen tiefen Graben zu vielen ehemaligen Kameraden, die seine Haltung als Verrat werteten. Am 24. Oktober 1953 kehrte Paulus aus sowjetischer Gefangenschaft nach Deutschland, in die DDR, zurück. Beeinflusst wurde diese Entscheidung, in den östlichen Teil Deutschlands und nicht in die Bundesrepublik zu gehen, von dem Tod seiner Frau im Jahre 1949. Denn nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 hatte Hitler die Inhaftierung aller Angehörigen von Offizieren, die sich aus sowjetischer Gefangenschaft heraus gegen Nationalsozialismus und Krieg aussprachen, verfügt. Paulus‘ Frau war daraufhin u.a. im KZ Dachau gefangen gehalten worden und hatte diese »Sippenhaft« nicht lange überlebt. Gewichtiger für Paulus war jedoch die Furcht vor der Auseinandersetzung um seine Person in Westdeutschland und seine in der sowjetischen Gefangenschaft entwickelten Vorbehalte gegen die Politik Adenau- Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 »Nationalkomitee Freies Deutschland« und »Bund Deutscher Offiziere« Das »Nationalkomitee Freies Deutschland« (NKFD) wurde am 12./13. Juli 1943 in Krasnogorsk bei Moskau auf Initiative der UdSSR durch deutsche Exilkommunisten und Kriegsgefangene zum Kampf gegen die Hitlerdiktatur und für die Beendigung des Krieges gebildet. Da mit dem kommunistisch geführten NKFD jedoch kaum höhere Offiziere für den ideologischen Kampf gegen Hitler gewonnen werden konnten, entstand am 11./12. September 1943 der »Bund Deutscher Offiziere« (BDO) in Lunjowo unter der Führung des Generals der Artillerie Walther von Seydlitz-Kurzbach und Generalleutnant Alexander Edler von Daniels. Trotz der ehrenhaften Ziele zur Beendigung des Krieges und Schaffung eines demokratischen Deutschlands blieb der BDO ein von Moskau abhängiges politisch-ideologisches Gebilde. NKFD und BDO verloren im Kriegsverlauf immer mehr an Bedeutung und wurden, als die UdSSR die Organisationen nicht mehr brauchte, Ende 1945 aufgelöst. Foto: Sammlung MGI/MGFA »Kommissar-Befehl« 31. Januar 1943. Der frisch zum Generalfeldmarschall beförderte Paulus trifft als Gefangener im Stab der sowjetischen 64. Armee in Beketowka ein. ers zur Wiederaufrüstung und Integration der Bundesrepublik in ein westeuropäisches Paktsystem. Paulus war nicht, wie oft behauptet, als General beim Aufbau der Kasernierten Volkspolizei der DDR (KVP) tätig, wurde aber als ziviler Leiter der Kriegshistorischen Forschungsabteilung der Hochschule der KVP in Dresden eingesetzt. Hier sollte sein Buch über Stalingrad entstehen. Foto: Sammlung MGI/MGFA Foto: Sammlung MGI/MGFA Europäische Verteidigungsgemeinschaft Aufgrund der nach Ausbruch des KoreaKrieges 1950 herrschenden Furcht vor einem kommunistischen Überfall führten die westeuropäischen Staaten Frankreich, Italien, die Benelux-Staaten und die Bundesrepublik Verhandlungen um den Aufbau einer »Europäischen Verteidigungsgemeinschaft« (EVG). Das im Mai 1952 unterzeichnete Vertragswerk scheiterte im August 1954 am »Nein« der französischen Nationalversammlung. Nur zwei Monate später unterzeichneten die USA, Großbritannien und Frankreich sowie die Bundesrepublik die »Pariser Verträge«, mit denen die Bundesrepublik ein (weitgehend) souveräner Staat und Mitglied der NATO wurde. Paulus war kein Kommunist, ein kommunistisches Deutschland wünschte er nicht, aber eine »friedliche Zukunft eines geeinten demokratischen Deutschlands«. Seine Schuld an der Tragödie von Stalingrad glaubte er mit dem Ringen um die Wiedervereinigung Deutschlands abtragen zu können. Mit Sensibilität nutzte die DDR Paulus‘ patriotisches Streben. Über Treffen ehemaliger Kriegsteilnehmer wollte die DDR ein gesamtdeutsches Bündnis gegen die Pariser Verträge schaffen. Paulus trat im Juli auf einer internationalen Pressekonferenz sowie im Dezember 1954 in einem Interview mit dem Deutschland-Sender in der Öffentlichkeit gegen EVG und Pariser Verträge auf. 1955 fungierte er als Galionsfigur der von der SED initiierten Treffen ehemaliger Wehrmachtoffiziere aus Wiedervereinigung als Wiedergutmachung. Ehrlichen Herzens ringt Paulus um ein einiges demokratisches Deutschland (Intern. Pressekonferenz 1954). West- und Ostdeutschland in Ost-Berlin am 29./30. Januar und 25./26. Juni 1955. Hier vertrat Paulus die Auffassung, dass die Weltkriegsteilnehmer eine tiefe Verantwortung für ein demokratisches Deutschland mittrügen, und stellte sich gegen eine Armee der Bundesrepublik unter »fremder Flagge«. Erneut politisch ausgenutzt, versuchte Paulus auch jetzt sich selbst treu zu bleiben und nur für Ziele einzutreten, die seiner Überzeugung entsprachen. Dabei negierte er, bewusst oder unbewusst, die Sowjetisierung und Aufrüstung in der DDR. Tief trafen Paulus Briefe ehemaliger Kameraden, die ihm Verrat an Deutschland und gemeinsame Sache mit den Kommunisten vorwarfen, aber auch jene von Angehörigen, die schmerzlich nach Soldaten der 6. Armee suchten. Alles ihm Mögliche tat er, um hier zu helfen, aber auch im Ringen um die Freilassung der verbliebenen deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR. Das nagte an seiner Gesundheit, vergrößerte sein seelisches Leiden an der Verantwortung, die er trug. Schwer von einer Krankheit gezeichnet, verschwand Paulus Ende 1955 aus dem politischen Rampenlicht. Am 1. Februar 1957 starb er in tiefer Depression, die ihn in den Monaten November bis Februar stets befiel. Selbst sein Todestag unmittelbar vierzehn Jahre nach dem Untergang seiner Armee spiegelte den tiefen Bruch in seinem Leben wider. Nach einer Trauerfeier mit staatlicher Anteilnahme in Dresden wurde Paulus in der Bundesrepublik in Baden-Baden neben seiner Frau beigesetzt. Das Wirken des Generalfeldmarschalls ist heute weder mit dem Stigma des gewissenlos Menschenleben opfernden Heerführers Paulus noch mit dem des kommunistischen Saulus zu fassen. Sein Handeln und sein Schicksal dokumentieren vielmehr eine die Verantwortung verdrängende und zum mechanischen Räderwerk des NS-Staates verkommene Wehrmachtführungselite. Dank seiner Intelligenz begriff Paulus dies und wollte in Gefangenschaft und in der DDR am deutschen Volke Wiedergutmachung leisten. Zwischen Verantwortungslast und politischem Druck der für ihn nicht vollends erfassbaren neuen Gesellschaften in Ost und West nach neuen Idealen suchend, blieb Paulus, der sich als »unpolitischer« Soldat verstanden hatte, eine hochpolitische Person. Letztlich wurden seine patriotischen Hoffnungen auf ein einiges, demokratisches Deutschland und sein Versuch, hier sein politisches Gewicht einzubringen, erneut ideologisch ausgenutzt. Einsam endete das Leben eines Mannes, der tragische deutsche Geschichte letztlich zweimal mitschrieb. n Torsten Diedrich Foto: von Kutschenbach Exilkommunist Wilhelm Pieck und Feldmarschall Paulus im Sommer 1943 im Park des Hauses der NKFD in Ljunow. Nach 15 Jahren Trennung. Wieder an der Seite seiner von ihm so geliebten Frau. Beisetzung 1957 im Familiengrab in Baden-Baden. Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 7 Stalingrad Vor sechzig Jahren: Der Untergang der 6. Armee in Stalingrad Transportmittel oder Nahrung? Logistik in Stalingrad Ende 1942. Bundesarchiv Bild 101/218/519/18A 8 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 M it einem knappen Satz begann am 3. Februar 1943 die im deutschen Rundfunk verlesene Tagesmeldung des Oberkommandos der Wehrmacht: »Der Kampf um Stalingrad ist zu Ende. Ihrem Fahneneid bis zum letzten Atemzug getreu«, so erfuhren die gebannt vor dem Radio sitzenden Menschen, »ist die 6. Armee unter der vorbildlichen Führung des Generalfeldmarschalls Paulus der Übermacht des Feindes und der Ungunst der Verhältnisse erlegen.« Die NS-Propaganda versuchte dem Untergang der mehrere Hunderttausend Mann starken Armee einen Sinn zu verleihen: »Das Opfer war nicht umsonst. Als Bollwerk der historischen Mission hat sie [die 6. Armee] viele Wochen hindurch den Ansturm von sechs sowjetischen Armeen gebrochen. Vom Feind völlig eingeschlossen, hielt sie in weiteren Wochen schwersten Ringens und härtester Entbehrungen starke Kräfte des Gegners gebunden. Sie gab damit der deutschen Führung die Zeit und die Möglichkeit zu Gegenmaßnahmen, von deren Durchführung das Schicksal der gesamten Ostfront abhing.« Bereits vier Tage zuvor, am 30. Januar, hatte Göring in einer Rede anlässlich des zehnten Jahrestages der Machtübernahme Hitlers den Kampf der 6. Armee als ein Bollwerk gegen die sogenannte bolschewistische Bedrohung aus dem Osten dargestellt. In den Ruinen von Stalingrad wurden Reden wie diese mittels noch vorhandener Wehrmachtfunkgeräte mitgehört. Der damalige Leutnant und Ordonnanzoffizier in der Abteilung Feindaufklärung (Ic) beim Stabe des VIII. Armeekorps, Joachim Wieder, beschrieb in seinen Erinnerungen seine und die Empfindungen seiner Kameraden: »Die widerliche Beweihräucherung des qualvollen Sterbens unserer Armee und die verlogene Heroisierung von Zuständen, die gegen alle Gesetze der Menschlichkeit verstießen, erfüllten mich mit Empörung, ja geradezu mit Ekel.« Die Propaganda stellte die Realität auf den Kopf, und noch heute erscheint die Legende vom Präventivkrieg gegen die Sowjetunion unausrottbar. Mit dem deutschen Angriff im Sommer 1941 »Mit der Kaukasus-Bahn nach Stalingrad« – der Vormarsch. Bundesarchiv Bild 101/217/466/13 hatte Hitler einen historisch beispiellosen rasseideologischen Eroberungs-, Raub- und Vernichtungskrieg vom Zaun gebrochen. Der deutsche Ostfeldzug war das Ergebnis einer zutiefst amoralischen und völkerrechtswidrigen Kriegführung. Weltanschauliche Enge, Brutalisierung und zunehmende Unmenschlichkeit prägten die Erfahrungen der Soldaten auf beiden Seiten. Lag hier eine der Ursachen dafür, dass die 6. Armee bis zur Handlungsunfähigkeit kämpfte? Die vorhersehbare Katastrophe D ie Ursachen für das Drama an der Wolga reichten weit zurück. Mit dem am 28. Juni 1942 begonnenen Sommerfeldzug hatte Hitler den erneuten Anlauf genommen, im Osten die Entscheidung herbeizuführen. Die Erwartung, dass die Alliierten im Verlauf des Jahres 1943 im Westen die sogenannte Zweite Front errichten würden, hatte die deutschen Planungen von Beginn an unter Zeitdruck gesetzt. Trotz beeindruckender Raumgewinne erlahmte die Stoßkraft Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 9 Stalingrad 3Infanterie, Sommer 1942, Südabschnitt der Ostfront. Bundesarchiv Bild 101/217/465/32A griffs, die Stadt als Rüstungszentrum und Verkehrsknotenpunkt auszuschalten, war längst erreicht. Hitlers Befehl indes, die Stadt vollständig einzunehmen, erforderte den Einsatz der kampfkräftigsten Verbände. der deutschen Offensive, während es der Roten Armee gelang, sich allen Einschließungsversuchen zu entziehen. Am 23. Juli spaltete Hitler die Offensive auf: Die Heeresgruppe B erhielt den Auftrag, den Vorstoß der Heeresgruppe A zu den strategisch wichtigen kaukasischen Ölfeldern durch den Aufbau einer Verteidigung entlang des Don abzudecken. Darüber hinaus sollte die Heeresgruppe die Wolga und die Landbrücke zum Don abriegeln und die Kräftemassierungen, die die Rote Armee in der Region von Stalingrad zusammenzog, zerschlagen. Die entlang dem inneren Don-Bogen gegen Kalatsch geführte deutsche Offensive entwickelte sich zunächst den Erwartungen entsprechend. Doch in den letzten Julitagen wurde deutlich, dass ein Durchbruch der Heeresgruppe B bis zur Wolga und die Einnahme Stalingrads nur in langwierigen Kämpfen gegen einen umfassend vorbereiteten Gegner möglich sein würden. Die sowjetische Führung hatte die zentrale Bedeutung des Stalingrader Raumes für Industrie und Verkehr rechtzeitig erkannt und die Zeit konsequent zur Vorbereitung der Verteidigung genutzt. Der 6. Armee unter General Paulus fiel die Aufgabe zu, frontal über den Don und gegen die Stadt anzugreifen. Da die zur Verfügung stehenden deutschen und verbündeten Kräfte nicht ausreichten, sollte die 4. Panzerarmee des Generalobersten Hoth mit dem Gros ihrer Kräfte durch einen zweiten, südlich des Don geführten Stoß unterstützen. Wochenlange Sommerhitze lag über Stalingrad (heute Wolgograd), das inmitten einer offenen Steppenlandschaft liegt. Die Stadt erstreckte sich auf über fünfzig Kilometern Länge auf dem hügeligen Westufer der Wolga. Das Stadtbild der verkehrsmäßig günstig gelegenen Industriemetropole war 10 geprägt von Raffinerien, Stahlwerken und Maschinenfabriken. Die erbitterten Kämpfe um die Ruinen ließen die Namen dieser Industrieanlagen später berühmt werden: das auf die Fertigung von Panzerstahl und Artilleriemunition spezialisierte Elektrostahlwerk »Roter Oktober«, das auf Panzerproduktion umgestellte Traktorenwerk »Dschersinski« oder die Geschützfabrik »Barrikady«. Der nicht abreißende Strom von Flüchtlingen hatte die Einwohnerzahl im Einzugsbereich der Stadt bis zum Frühjahr auf bis zu 900 000 Menschen ansteigen lassen. Schwere deutsche Luftangriffe am 23. und 24. August zerstörten große Teile Stalingrads und kosteten Tausende von Opfern unter der noch nicht evakuierten Zivilbevölkerung. Die Brände der Brenn- und Rohstofflager der Industriekombinate und in den aus Holzbauten bestehenden Vororten ließen die Stadt nächtelang wie eine riesige Fackel lodern. Erst Ende August wurden die letzten 300 000 Bewohner und Flüchtlinge evakuiert. Am 3. September erreichte das XXXXVIII. Panzerkorps das Kasernengelände am Südwestrand Stalingrads. Die Angriffsspitzen des LI. Armeekorps waren zu diesem Zeitpunkt noch ganze 8 Kilometer vom Stadtkern entfernt. Um die Einnahme der Stadt entwickelten sich Zeit und Kräfte raubende Orts- und Häuserkämpfe. Tagelang wurde um einzelne Gebäude oder Geländepunkte wie beispielsweise den Mamaew-Hügel oder den Hauptbahnhof gerungen. Die Soldaten der Roten Armee, aber auch Zehntausende bewaffneter Zivilisten, sowie Angehörige von Arbeitermilizen und Volkswehrabteilungen leisteten erbitterten Widerstand. Unter dem Schutz des westlichen Steilufers und auf dem Ostufer der Wolga zusammengezogener Artillerie wurden kontinuierlich Reserven nachgeführt. Das eigentliche Ziel des deutschen An- Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 Derweil waren die Flanken der Heeresgruppe weitgehend entblößt. Geschwächt war nicht nur die Ostflanke der 4. Panzerarmee. Die Nordflanke der Heeresgruppe dehnte sich über 800 Kilometer, weitgehend dem Verlauf des Don folgend, von der Grenze zur Heeresgruppe Mitte bis zur Wolga. Diese Frontlänge wurde gesichert von der 2. Armee im Nordwesten und der 6. Armee im Südosten. Dazwischen eingeschoben waren die ungarische 2. sowie die italienische 8. Armee, deren Abschnittsbreiten allerdings in keinem Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Kampfkraft standen und die entgegen aller deutschen Versprechungen auf Unterstützung in einem Besorgnis erregenden Zustand geblieben waren. Das Gleiche galt für die Verbände der 3. rumänischen Armee, die im Oktober deutsche Verbände für den Einsatz gegen Stalingrad abgelöst hatten und mit unzureichenden Kräften einen zudem taktisch unvorteilhaft gelegenen Abschnitt verteidigen sollten. Angesichts der bevorstehenden Herbst- und Winterperiode stellte sich die Frage, ob die 6. Armee unter logistischen Gesichtspunkten in der Lage war, den Kampf aus ihrer exponierten Stellung fortzusetzen. Für einen Verbleib in Stalingrad sprachen die Schutz- und Unterbringungsmöglichkeiten, die die Stadt trotz der Zerstörungen im Gegensatz zur offenen und fast unbesiedelten Steppe bot. Doch die Armee war nicht winterfest. Das logistische Debakel des Vorjahres, als der russische Winter die sommerbekleidete Wehrmacht überrascht hatte, sollte sich zwar nicht wiederholen. Die geringe landwirtschaftliche Nutzung der russischen Steppe hatte indes zur Folge, dass Verpflegung und Nachschub über riesige Entfernungen herangeführt werden mussten. Der inzwischen notorische Betriebsstoffmangel hatte bereits zu Verzögerungen beim Angriff geführt. Die Schlammperiode musste wei- tere drastische Einbrüche in der Versorgung der Truppe befürchten lassen. Lange vor der Einschließung lebte die 6. Armee buchstäblich von der Hand in den Mund. Bis Mitte November hatte weniger als die Hälfte ihrer Soldaten spezielle Kälteschutzbekleidung erhalten. Auch der Materialzufluss für Stellungs- und Unterkunftsbau, insbesondere Kohle und Holz, geronn immer spärlicher. Allein unter logistischen Gesichtspunkten gesehen hätte die Armee in absehbarer Zeit ihre Stellungen an der Wolga räumen müssen. Es waren vor allem nicht-militärische Gründe, die Hitler aus der Sicht der Generäle starrhalsig und den Umständen zum Trotz an der Eroberung Stalingrads festhalten ließen. Wochenlang hatte die NS-Propaganda den Fall der Stadt, die den Namen des personifizierten Erzfeindes trug, vorweggenommen. Ein Abbruch der Kämpfe würde ihn, so musste Hitler befürchten, mit dem Odium des Verlierers belasten. Dieser Umstand wog umso schwerer, als die für die Meinungsforschung zuständigen Stellen des NS-Staates seit Monaten Risse im Führermythos, eine tragende Säule von Hitlers Herrschaft, registrierten. Aus machtpolitischen Gründen, aber auch wegen der Signalwirkung auf die mit dem Reich Verbündeten, kam ein Abbruch der Offensive für ihn nicht in Frage. Artillerieeinsatz (10,5-cm-leichte Feldhaubitze 18) beim Angriff auf das Stadtgebiet. Bundesarchiv Bild 101/218/529/6A Indem es ihr gelungen war, den deutschen Vormarsch zu verlangsamen, hatte die Rote Armee Zeit für den Ausbau der Verteidigung gewinnen und Reserven bilden können. Seit Mitte Oktober liefen auf sowjetischer Seite die Planungen für eine Gegenoffensive. Es konnte wenig überraschen, dass als Ansatzpunkte die schwächsten Stellen der deutschen Front, die Verbündeten, gewählt wurden. In ihren Planspielen bereitete die sowjetische Führung eine großräumige Zangenoperation vor, mit der sie die 6. Armee und die 4. Panzerarmee einkesseln und vernichten zu können hoffte. Unter Zuführung frischer Kräfte sollte die Offensive bis zur Zerschlagung der deutschen und verbündeten Truppen am Mittelauf des Don ausgeweitet werden. Ein daran anschließender Stoß in Richtung Rostow zielte schließlich darauf, Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 11 Stalingrad 3Der Winter beginnt. Infanterie im Straßenkampf. der Heeresgruppe A den Rückzug abzuschneiden und somit den gesamten Südflügel der deutschen Ostfront zum Einsturz zu bringen. Der von den drei für die Operation vorgesehenen Heeresgruppen besetzte 850 Kilometer lange Frontabschnitt wies, abgesehen von einer starken Massierung an Luftstreitkräften, eine im Vergleich zur gesamten Ostfront nur leicht überdurchschnittliche Kräftekonzentration auf. Die Planungen sahen jedoch eine konsequente Schwerpunktbildung vor: Beispielsweise verfügte die sowjetische Südwestfront bei einer Frontlänge von 250 Kilometer über Verbände in einer Stärke von insgesamt 25 Divisionen; 12 davon wurden auf einen nur 22 Kilometer breiten Durchbruchsraum konzentriert. Die Einschließung A m frühen Morgen des 19. November 1942 traten 30 sowjetische Divisionen aus ihren Brückenköpfen Kletskaja und Bolschoi 30 zum Angriff gegen die rumänische 3. Armee an, durchbrachen deren Front und standen am Abend desselben Tages 35 Kilometer tief in der Flanke der 6. Armee. 24 Stunden später überwanden zwei sowjetische Armeen im Raum südlich von Iwanowka innerhalb weniger Stunden die Linien des rumänischen VI. Armeekorps. Der Vormarsch der gegnerischen Panzerspitzen schritt so schnell voran, dass das Oberkommando der 6. Armee seinen Gefechtsstand in Golubinski fluchtartig und unter chaotisch anmutenden 12 Szenen verlegen musste. In der Nacht vom 21./22. nahm eine Vorausabteilung des sowjetischen 26. Panzerkorps die Don-Brücke bei Kalatsch handstreichartig in Besitz und bildete einen Brückenkopf jenseits des Flusses – im Rücken der 6. Armee. Kurz darauf wurde die von Rostow nach Stalingrad führende Bahnlinie, die Lebensader der 6. Armee, unterbrochen. Am frühen Nachmittag des 23. trafen die Angriffskeile bei Sowjetski aufeinander. Etwa 22 Divisionen und über 160 selbstständige Truppenteile der 6. und Teile der 4. Panzerarmee, aber auch Rumänen und Zehntausende sogenannter russischer ›Hilfswilliger‹, die im Dienste der Wehrmacht standen, waren eingeschlossen worden. Da die sowjetische Führung mit sofortigen Ausbruchsversuchen rechnete, wurde der äußere Einschließungsring um 150 bis 200 Kilometer nach Westen vorgeschoben. Die Südwest- und die Woronesch-Front wurden angewiesen, Stöße sowohl nach Süden auf Rostow als auch nach Westen in Richtung Lichaja gegen die italienische 8. Armee zu führen. Die Liquidierung des Kessels, die ursprünglich für den 10. Dezember vorgesehen war, wurde vorerst verschoben. Das Risiko, das von der schwachen Don-Front ausging, war Hitler und seinen Generälen bekannt gewesen. Da jedoch aus strategisch-operativen Gründen eine Schwächung der Heeresgruppe A oder die Verlegung von Kräften etwa aus dem Westen nicht in Betracht kam, hatte sich Hitler statt Maßnahmen zu ergreifen auf Weisungen beschränken müssen, die im Kern den Kampf bis zur letzten Patrone forderten. In ihrer Feindlagebeurteilung war die Abteilung Fremde Heere Ost im Generalstab des Heeres zwar von der grundsätzlichen Fähigkeit der Roten Armee zu großräumigen Angriffsoperation ausgegangen, hatte deren Zielsetzungen jedoch im Mittel- und Nordabschnitt vermutet. Die Halbherzigkeit, mit der in den Folgemonaten die Don-Verteidigung vorangetrieben worden war, wird somit plausibel. Erst um die Monatswende zum November hatte das Bild der Feindlage vor der Heeresgruppe schärfere Konturen angenommen. Doch nicht nur der Zeitpunkt, sondern auch der tatsäch- Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 Bundesarchiv Bild 101/732/129/27 liche operative Schwerpunkt des Gegners waren den Experten der Feindaufklärung verborgen geblieben. Klarheit darüber war erst eine Woche vor dem Beginn des sowjetischen Angriffs eingetreten. Die von der Heeresgruppe nun hektisch eingeleiteten Maßnahmen sollten sich als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein erweisen. Überhaupt scheint das Ausmaß der sowjetischen Offensive jenseits der Vorstellungswelt der zuständigen deutschen Stellen gelegen zu haben: Die Möglichkeit einer doppelt angelegten Einschließungsoperation war Fremde Heere Ost erst am 18. November zu Bewusstsein gekommen! Obwohl sofort erkannt wurde, dass der sowjetische Angriff auf die Einschließung der 6. Armee zielte, wirkte die deutsche Führung aus der Rückschau betrachtet wie gelähmt. Zwar begann die 6. Armee umgehend damit, sich angesichts der taktischen und logistischen Lage »einzuigeln«, bei gleichzeitiger Vorbereitung eines Ausbruchs nach Südwesten. Doch alle weiterreichenden Reaktionen des Armeeoberkommandos und der Heeresgruppe auf die grundlegende Lageänderung hingen von den Weisungen Hitlers und des Oberkommandos des Heeres (OKH) ab. Paulus‘ Ersuchen um Handlungsfreiheit beantwortete Hitler zunächst mit inhaltsleeren Weisungen, die jedoch erkennen ließen, dass er nicht den Ansatz eines Ausbruchs zur Lösung der Krise verfolgte. Hitlers Meinungsbildung wird sich nicht mehr exakt rekonstruieren lassen. Sie dürfte nicht nur von politischen Prestigeerwägungen bestimmt gewesen sein. Hinzu kam Hitlers dogmatische Überzeugung, dass Halten allemal besser sei als Weichen – eine Auffassung, die sich der Diktator nach den Erfahrungen des Vorjahreswinters angeeignet hatte. Schließlich verkannten Hitler und seine militärischen Berater die Wucht des sowjetischen Angriffs. Er überschätzte die eigenen operativen Möglichkeiten und ging von der irrigen Annahme aus, dass sich das Beispiel der fast viermonatigen Luftbrücke nach Demjansk auf die nun eingetretene Situation übertragen ließ. In klarer Kenntnis der bedrohlichen Entwicklung im Südabschnitt der Ostfront ernannte Hitler am 20. November Gene- ralfeldmarschall von Manstein zum Oberbefehlshaber der neu zu bildenden Heeresgruppe Don. Manstein, der wegen seiner operativen Erfolge während des Sommerfeldzuges das besondere Ansehen Hitlers genoss, wurden die 4. Panzer- und die 6. Armee sowie die Reste der beiden rumänischen Armeen unterstellt. Mansteins Einweisung im Stab der Heeresgruppe B erfolgte am 24. November. Im Gegensatz zu den vor Ort verantwortlichen Oberbefehlshabern des Heeres und der Luftwaffe legte Manstein zunächst eine große Zuversicht hinsichtlich der Versorgungsmöglichkeiten und des Durchhaltevermögens der 6. Armee an den Tag. Dabei war Manstein nicht einmal über die Gesamtzahl der im Kessel befindlichen Soldaten genau informiert. Zu einer ersten Aussprache mit dem Oberbefehlshaber der zuständigen Luftflotte 4 fand Manstein erst drei Tage nach dem Abfassen seiner ersten Lagebeurteilung die Zeit. Doch genau die bestärkte fatalerweise Hitler in der ihm psychologisch genehmen Auffassung, die 6. Armee in Stalingrad zu belassen. Ausbruch oder Entsatz? E benfalls am 24. November verpflichtete Hitler Paulus zum Ausharren bis zum Entsatzangriff. Bis dahin sollte die 6. Armee aus der Luft versorgt werden. Der Oberbefehlshaber beurteilte die Leistungsfähigkeit der Luftwaffe und die Möglichkeiten zum Schlagen eines Korridors zur eingeschlossenen Armee skeptisch. Manstein ermahnte Paulus zum Gehorsam: »Der Befehl des Führers entlastet Sie von der Verantwortung, die über die zweckmäßigste und willensstärkste Durchführung des Befehls des Führers hinausgeht. Was wird, wenn die Armee in Erfüllung des Befehls des Führers die letzte Patrone verschossen haben sollte, dafür sind sie nicht verantwortlich.« Ausgerechnet Manstein, der im Heer größte Autorität genoss und dem mitnichten eine naive Führergläubigkeit unterstellt werden kann, gab ein Beispiel dafür ab, dass aus seiner Sicht Hitler nicht nur Oberster Befehlshaber der Soldaten war. Zumindest für einen Teil der Wehrmachtgeneralität war der Diktator auch zur Stalingrad – Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges? Viele der Zeitgenossen empfanden die Niederlage an der Wolga als eine tiefe Zäsur des Krieges. Doch leitete der Untergang der 6. Armee eine Wende des Kriegsverlaufs insgesamt ein? Eine solche Vorstellung gründet auf der Annahme, dass sich die Wehrmacht bis dahin auf der Straße des Sieges befunden habe. Insofern stellt Stalingrad das Ereignis dar, von dem ab sich ein dahin vermeintlich gewinnbarer Krieg nun in einen aussichtslosen gewandelt habe. Aus der rückschauenden Perspektive des Historikers sind an dieser Sichtweise Zweifel angebracht. Der Lauf der Geschichte folgt zwar keinen Gesetzmäßigkeiten, die Entwicklungen und Ereignisse quasi vorherbestimmen. Es dürfte für das Deutsche Reich jedoch kaum eine reale Chance gegeben haben, den Krieg als Ganzen im Sinne Hitlers siegreich zu beenden. Als einige Gründe seien erwähnt: die Maßlosigkeit der Hitlerschen Ziele, die frühe Ausweitung zum Weltkrieg, die personelle und materielle Überlegenheit der Alliierten, der amerikanische Vorsprung in der Nuklearwaffenentwicklung und schließlich die feste Entschlossenheit der Alliierten, den ihnen aufgezwungenen Krieg nicht vor einer deutschen Niederlage zu beenden (Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation). Betrachtet man hingegen den Verlauf der Kriegsereignisse im Osten, so gilt dieser Befund nur eingeschränkt. Zweimal, im Herbst 1941 vor Moskau und im Sommer 1942 im Südabschnitt der Front, hatte ein Zusammenbruch der Roten Armee im Bereich des Möglichen gelegen. Mit der Niederlage von Stalingrad hatte die Wehrmacht jedoch endgültig die Fähigkeit verloren, vergleichbare strategische Entscheidungssituationen noch einmal herbeizuführen. Stalingrad markierte, wie es der Historiker Bernd Wegner formuliert hat, »den Schlusspunkt eines Prozesses sich verringernder Siegesoptionen im Osten«. Seit dem Frühjahr 1943 begründeten auch operative Teilerfolge keine Hoffnungen mehr auf einen Sieg im Osten. Zu dieser Einsicht kamen auch Hitler und seine militärischen Berater – entgegen allen offiziellen ›Endsieg‹-Verlautbarungen. Es gehört zu den herausragenden Merkmalen der Kriegführung des ›Dritten Reiches‹, dass die Einsicht in die Niederlage keine Wende, sondern das Gegenteil, die weitere Radikalisierung der Kriegsanstrengungen, auslöste. Nach Stalingrad sollte der Krieg noch weitere zweieinviertel Jahre dauern. Und es folgten Monate, in denen mehr deutsche Soldaten denn Tod fanden als in den Monaten um die Jahreswende 1942/43. Lufttransport im Winter. Bei der Versorgung Stalingrads gingen 269 Ju 52 verloren. Bundesarchiv Bild 101/540/403/9 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 13 Stalingrad osten aufzurollen. Mansteins überlieferte Äußerungen lassen den Eindruck entstehen, dass dieser selbst nicht von der Möglichkeit eines durchschlagenden Erfolges des unter der Bezeichnung »Wintergewitter« anzusetzenden Entsatzangriffs überzeugt war. Tatsächlich stellte sich heraus, dass das Unternehmen angesichts der vorhandenen Kräfte und der operativen Lage von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Am 12. Dezember begann das LVII. Panzerkorps den Angriff über die Entfernung von 120 Kilometern. Am 19. gelang es, zwei Brückenköpfe über den Fluss Myschkowa zu bilden; mit letzter Kraft, wie sich kurz darauf zeigen sollte. Wenig mehr als 50 Kilometer vom Südrand des Kessels entfernt blieb der Entsatzangriff liegen. Das Unmögliche sollte versucht werden und im Nachhinein erscheint das Unternehmen wie eine Demonstration, alles zum Freischlagen der 6. Armee unternommen zu haben. Vergeblich versuchte Manstein Hitler dazu zu bewegen, den Gesamtausbruch der 6. Armee nach Südwesten (»Donnerschlag«) zu befehlen. moralisch höchsten Instanz geworden. Viele Soldaten betrachteten die Einschließung nur als vorübergehend und schenkten der von der Armeeführung ausgegebenen Parole »Drum haltet aus, der Führer haut uns raus« zunächst Glauben. Für den Kommandierenden General des LI. Korps, General von Seydlitz-Kurzbach, bedeutete militärische Verantwortung aber mehr als deren Verengung auf den reinen Gehorsam. Dem Grundsatz zu selbständigem Handeln insbesondere in Krisensituationen verpflichtet, forderte er in einer an Paulus gerichteten Denkschrift: Angesichts der zu erwartenden »völligen Vernichtung von 200000 Kämpfern und ihrer gesamten 14 Materialausstattung« gebe es für die Armee »keine andere Wahl«, als »sich die durch den bisherigen Befehl verhinderte Handlungsfreiheit selbst zu nehmen«! Der Appell blieb wirkungslos; das Zeitfenster schloss sich. Mit jedem Tag, der verstrich, verringerten sich die logistischen Möglichkeiten der Armee, mit eigener Kraft den Einschließungsring zu öffnen bzw. aus diesem auszubrechen. Am 1. Dezember erteilte Hitler der Heeresgruppe Don die Weisung, mit der Masse der Kräfte der 4. Panzerarmee ostwärts des Don aus dem Raum Kotelnikowski anzugreifen und die gegnerischen Kräfte nach Nord- Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 Warum riskierte Paulus nicht spätestens jetzt, auf dem Höhepunkt der Entsatzoffensive, eigenmächtig den Aus bruch? Der Befehlswirrwarr, der sich zwischen Hitler, dem Generalstab des Heeres, Manstein und der 6. Armee entwickelte, dürfte ihn nicht davon abgehalten haben. Die taktische und logistische Lage der 6. Armee hatte »Donnerschlag« längst alle Voraussetzungen genommen. Betriebsstoff- und Munitionsmangel schränkten den Wirkungsradius derart ein, dass bei einem Ausbruchsversuch schon nach wenigen Kilometern Panzer, Geschütze, Kraftfahrzeuge und schweres Gerät hätten stehen gelassen werden müssen. Das Absetzen der Armee als Ganze bei allenfalls kurzfristiger Verbindung mit den Entsatzkräften bezeichnete Paulus am 21. Dezember als »Katastrophenlösung«. Paulus, dem die Aussicht vor Augen stand, dass sich die Truppe durch die deckungslose Steppe gegen einen materiell und personell überlegenen Gegner hätte durchschlagen und dabei eine große Zahl Verwundeter hätte zurücklassen müssen, wusste scheinbar noch nicht, dass »Wintergewitter« gescheitert war! notwendig, da Auflösung an einzelnen Stellen schon beginnt.« Indirekt stellte Paulus damit die Frage nach der Einstellung der Kämpfe. Auch Manstein regte in einem Ferngespräch mit Hitler Verhandlungen mit der Roten Armee an, sofern diese sich zur Einhaltung der Genfer Konventionen verpflichtete. Hitlers Reaktion war kurz und bündig: »Eine Kapitulation der 6. Armee ist schon vom Standpunkt der Ehre aus nicht möglich [...]«. General Paulus (rechts) und Gen.Major v. Seydlitz-Kurzbach auf einer Beobachtungsstelle im nördl. Abschnitt Stalingrads. Aufnahme: PK-Berichter Jesse / Bundesarchiv Bild 71/70/73 Der Alternative Kapitulation oder Vernichtung konnte die 6. Armee zu diesem Zeitpunkt nicht mehr entrinnen. Die dramatischen Veränderungen der operativen Gesamtlage in der letzten Dezemberdekade zerstörten alle Illusionen. Am 16. Dezember hatte die Rote Armee die Front im Bereich der italienischen 8. Armee durchbrochen, die mangels eigener Reserven und trotz großer Verluste den Angriff nicht abriegeln konnte. Manstein erkannte, dass er der 6. Armee angesichts der Kräfteverhältnisse vor der Front seiner Heeresgruppe und der sich alsbald abzeichnenden sowjetischen Umfassungsoffensive gegen seinen linken Flügel nicht mehr helfen konnte. Am Heiligen Abend musste die 4. Panzerarmee ihre Stellungen an der Myschkowa unter dem Druck weit überlegener Feindkräfte aufgeben. Das Sterben der 6. Armee H atte man sich bis dahin trügerischen Hoffnungen, die durch verzerrte Lagedarstellungen von außen genährt worden waren, hingegeben, so setzte in der Führung der 6. Armee nun Resignation ein. Über 240000 Mann umfasste die Armee zu diesem Zeitpunkt noch, davon allenfalls ein Zehntel Infanteristen. Die Zahl der auf den Lagekarten eingetragenen Verbände stand in keinem realen Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Kampfkraft. Mit den vorhandenen Kräften würde man, wie Paulus am 26. Dezember Manstein meldete, keinem massierten Angriff der Roten Armee standhalten können. Und trotzdem: Als am 8. Januar 1943 der Oberbefehlshaber der sowjetischen Don-Front, Generalleutnant Rokossowski, die 6. Armee zur Kapitulation aufforderte, bat Paulus Hitler erneut um Handlungsfreiheit, hoffte auf Entsatz und befahl seinen Soldaten die Fortsetzung des sinnlosen Widerstandes. Nach heftigem Artillerieeinsatz begann am 10. Januar der Angriff gegen die Nordwest- und Südfront des Kessels. In weniger als einer Woche wurde dieser auf ungefähr ein Drittel seines früheren Umfangs eingeengt, wenngleich Paulus und sein Stab den Zusammenhalt ihrer zusammenschmelzenden Verbände wahren und die Aufspaltung des Kessels verhindern konnten. Die großenteils unbeweglich gewordenen schweren Waffen mussten meist zurückgelassen werden. Als der Roten Armee am 22. Januar ein breiter und tiefer Durchbruch der Südwestfront gelang, fragte Paulus in einem Funkspruch an das OKH: »Welche Befehle soll ich den Truppen geben, die keine Munition mehr haben und weiter mit starker Artillerie, Panzern und Infanteriemassen angegriffen werden? Schnellste Entscheidung Wochenlang unternahm das VIII. Fliegerkorps, dessen Kräfte auch andernorts in die Kämpfe eingreifen mussten, große Anstrengungen, die 6. Armee aus der Luft zu versorgen. Die Besatzungen flogen ohne Rücksicht auf klimatische Bedingungen und die sowjetische Luftabwehr. Die Luftwaffe verlor in den Kämpfen um Stalingrad vom 24. November bis zum 3. Februar über 7200 gefallene und vermisste Soldaten des nichtfliegenden und etwa 1000 Soldaten des fliegenden Personals. 168 Flugzeuge wurden total zerstört, 112 galten als vermisst und 215 Maschinen hatten Bruch gemacht. Doch der Munitions- und Betriebsstoffverbrauch lag um ein Vielfaches höher als der eingeflogene Nachschub. Seit dem 5. Januar war die 6. Armee praktisch unbeweglich und konnte streckenweise nicht einmal mehr den eigenen Versorgungsbetrieb aufrechterhalten. Das mit Abstand schlimmste Problem war die zusammenbrechende Versorgung der Soldaten mit Verpflegung. »Seit Wochen bekommen wir 200g Brot, 15g Fett und 40g Kunsthonig für den Tag«, hatte ein Soldaten bereits am 19. Dezember nach Hause geschrie- Deutsche Soldaten im Kessel von Stalingrad, Dezember 1942. Bundesarchiv Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 15 Stalingrad Soldatentums. Einem Funkspruch vom 25. Januar zufolge wurde die Hakenkreuzfahne auf dem höchsten Gebäude des Stalingrader Stadtkernes gehisst, »um unter diesem Zeichen den Kampf zu führen«. Tags zuvor hatte die Armee »grauenhafte Zustände« im Stadtgebiet von Stalingrad gemeldet: Starkem feindlichen Artilleriefeuer fast pausenlos ausgesetzt, suchten »etwa 20000 unversorgte Verwundete« in den Häuserruinen Schutz; dazwischen »ebenso viele Ausgehungerte, Frostkranke und Versprengte meist ohne Waffen«. ben: »Pferdefleisch ist selten geworden; außerdem kann man es auch nicht roh essen; denn mitten in der baumlosen Steppe gibt es kein Brennholz«. In den folgenden Wochen trieb der Hunger die Soldaten zur Verzweiflung: Augenzeugen berichten, dass zum Schluss sogar das für den menschlichen Körper ungenießbare Hartöl aus der Metallverarbeitung als Delikatesse gehandelt wurde. Am 28. Januar ordnete die Armee an, an Verwundete und Kranke keine Verpflegung mehr auszugeben, damit, so die Begründung, »die Kämpfer erhalten blieben«. Die Soldaten hausten in mehr oder weniger ausgebauten Stellungen und Erdbunkern. Unterernährung, fehlendes Heizmaterial und in vielen Fällen eine unzureichende Bekleidung ließen die Soldaten bitterlich frieren. Die durchschnittlichen Temperaturen, die tagsüber bei 0 bis minus 5 Grad und nachts bei minus 10 Grad lagen, wurden, auch wegen des schneidenden Steppenwindes, noch kälter empfunden als sie ohnehin schon waren. Katastrophale hygienische Bedingungen hatten zur Folge, dass die Armee zunehmend verlauste. Schon vor der Einschließung im November waren Fälle von durch Ungeziefer übertragenem Fleckfieber und andere Infektionskrankheiten aufgetreten, die in den Kriegsgefangenenlagern Zehntausende Opfer fordern sollten. Der Umstand, dass eine Kompanie am 23. Januar für den Marschweg von nur vier Kilometern Luftlinie von morgens 6 Uhr bis in die Abenddämmerung benötigte, veranschaulicht den körperlichen Verfall der Soldaten. Katastrophal waren die psychologi- 16 schen und logistischen Folgen des Verlustes der Flugplätze. Als sich die Front dem verbliebenen Flugplatz Gumrak, in dessen Nähe sich das zentrale Lazarett des Kessels befand, näherte, spielten sich apokalyptische Szenen ab: Abfliegende Maschinen wurden von Verwundeten gestürmt; nur mit vorgehaltener Waffe konnte mitunter die Passagierzahl verringert und dadurch der Start ermöglicht werden. Ein Arzt erinnert sich an die Fahrt von Gumrak in die Stadt: »Auf dem ausgefahrenen, vereisten Weg nach Stalingrad [...] lagen an den Straßen überall und in grauenhaftem Umfang Verwundete, Erfrorene und Erfrierende, die unseren langsam fahrenden Wagen den Weg mit ihren Leibern versperrten, die sich mitten auf die Fahrbahn gewälzt hatten. Ihre Schreie, sie zu überfahren oder mitzunehmen, wiederholten sich in ähnlichen Bildern über die ganze Strecke.« Hitlers Kapitulationsverbot löste bei Paulus und seinem Stab Reaktionen aus, die rational nur schwer zu begreifen sind. Eine Zeit lang flüchtete man sich vielleicht in die Vorstellung, dass der Kampf feindliche Kräfte band und auf diese Weise zur Rettung der Heeresgruppe A und zur Neuformierung der Abwehrfront im Süden beitrug. Mit bizarren Treuebekundungen für »Führer« und Nationalsozialismus versuchten Armeeoberkommando und einzelne Truppenführer schließlich dem Sinnlosen einen Sinn zu vermitteln. Sie stilisierten den Untergang der 6. Armee zu einem Lehrstück über die Standhaftigkeit nationalsozialistischen Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 Seit der Kessel am 26. Januar aufgespalten worden war, war an einen koordinierten Widerstand nicht länger zu denken. Welche Gedanken beherrschten die Köpfe der Soldaten, die in den letzten Januartagen in der Trümmerund Schneewüste Stalingrads dahinvegetierten? In seinen Erinnerungen beschrieb Joachim Wieder, der bereits zu Beginn des Beitrages erwähnte junge Offizier, die unterschiedlichen Reaktionen auf die Erfahrung, dass die soldatischen Tugenden der Tapferkeit, der Hingabe, der Treue und der Pflichterfüllung schändlich missbraucht worden waren. Sofern die Soldaten aufgrund körperlicher und seelischer Erschöpfung nicht ohnehin der Gefangennahme apathisch entgegen dämmerten, habe mancher, so berichtet Wieder aus eigener Anschauung, »in seiner Verzweiflung angesichts des Zusammenbruchs einer ganzen Welt von Vorstellungen und im Hinblick auf die Sinnlosigkeit der Katastrophe zur Pistole gegriffen und seinem Leben ein Ende gemacht«. Nicht wenige versteckten ihre innere Angst und geistige Leere hinter »einer verkrampft soldatischen Haltung« oder gar hinter »einer betonten Landsknechtsgesinnung«: »Wenn sie nun schon einmal dazu verurteilt seien ›draufzugehen‹«, erinnerte sich Wieder, »dann wollten sie wenigstens bis zuletzt ihre Haut teuer verkaufen und noch möglichst viele Russen ›mitnehmen‹.« Anderen wiederum öffneten die grauenvollen Erlebnisse und Bilder des Unterganges einer ganzen Armee die Augen für das von Lüge, Hass, Gewalt, Unrecht und Unmenschlichkeit bestimmte Regime Hitlers und seines Krieges. Auch Wieder erkannte: »Wir hatten Wind gesät, jetzt mussten wir Sturm ernten.« Es muss der Spekulation überlassen bleiben, warum Paulus nicht die moralische Stärke fand, aus eigenem Entschluss die Einstellung der Kämpfe zu befehlen, obwohl er als Armeeoberbefehlshaber bei anderen Anlässen charakterliche Integrität bewiesen hatte. Die Initiative dazu blieb schließlich den Kommandierenden Generalen, Divisions- und Regimentskommandeuren überlassen. Einige Offiziere versuchten, sich mit kleineren Kampfgruppen über Hunderte von Kilometern zu den eigenen Linien durchzuschlagen. Die Generalkommandos des IV. und LI. Korps gaben Weisungen aus, die es ihren Kommandeuren freistellten, je nach örtlichen Verhältnissen den Kampf einzustellen. Andere, wie der Kommandierende General des VIII. Korps, befahlen noch in den letzten Tagen, dass jeder, der kapituliere oder die weiße Fahne zeige, zu erschießen sei. In Lethargie gefallen, war der Oberbefehlshaber der 6. Armee weder fähig, das sinnlose Blutvergießen zu verhindern, noch Hitlers Forderung nach Selbstmord nachzukommen. Die hatte der Hitler subtil in Paulus’ Beförderung zum Generalfeldmarschall gekleidet. Der Rest des Stabes der 6. Armee hatte Unterschlupf bei der 71. Infanteriedivision gefunden, die ihren Gefechtsstand in einem ehemaligen Kaufhaus im Stadtzentrum Stalingrads eingerichtet hatte. Deren Kommandeur nahm am 30. Januar Verbindungen mit der sowjetischen Seite auf. Nach kurzen Verhandlungen, denen Paulus‘ Chef des Stabes beiwohnte, an denen der Oberbefehlshaber jedoch keinen Anteil hatte, wurden am darauffolgenden Tag die Kämpfe eingestellt. Formell kapitulierte die 6. Armee nie, ihr Oberbe- fehlshaber begab sich ausdrücklich nur als Privatperson in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Im Nordkessel kämpften die Reste des XI. Armeekorps noch zwei Tage länger einen sinnlosen Kampf. Mit letzter Gewissheit wird sich nicht mehr feststellen lassen, wie viele Soldaten im Kessel umkamen; zu stark weichen die amtlichen Unterlagen, so sie denn noch vorhanden sind, voneinander ab. Jüngeren Schätzungen zufolge wurden etwa 195000 deutsche [!] Soldaten im November 1942 eingeschlossen. 25000 von ihnen wurden im Laufe der Kämpfe ausgeflogen, vermutlich 60 000 starben im Kessel. Von den geschätzten 110 000, die Anfang Februar den langen Weg in die Gefangenschaft antraten, kamen schon auf dem Marsch in die ersten Lager und Lazarette wahrscheinlich 17 000 ums Leben. Zehntausende sollten der körperliche Erschöpfungszustandstand und Krankheiten in den Folgemonaten dahinraffen. Nur etwa 5000 ehemalige Stalingrad-Kämpfer kehrten Jahre später in ihre Heimat zurück. Die Meldungen vom Ende der 6. Armee lösten im Reich lähmendes Entsetzen aus. Seit Spätsommer 1942 hatte das Thema Stalingrad die deutsche Öffentlichkeit beherrscht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man den Menschen vorgegaukelt, dass der Krieg gewonnen, aber nur noch nicht beendet sei. Die Angst vor einem Stimmungsumschwung ließ Hitler und seine Paladine vor radikalen Maßnahmen, um die personellen und materiellen Ressourcen für den Krieg zu mobilisieren, zurückschrecken. Goebbels‘ berüchtigte Berliner Sportpalastrede am 18. Februar und das hysterische Umjubeln seines »Wollt Ihr den totalen Krieg?« durch die ausgesuchten Zuhörer war denn auch nur ein propagandistischer Budenzauber. Das Spektakel konnte die tiefgreifende Vertrauenskrise des Regimes in großen Teilen der Bevölkerung nicht beseitigen. Stalingrad bedeutete vor allem eine psychologische Wende, eine Zäsur in den Köpfen der Menschen: Die einen sahen sich durch das Beispiel der 6. Armee zum Einsatz aller Kräfte verpflichtet, die anderen erkannten in dem Ereignis den Anfang vom Ende. Manche wollten ihre Haut so teuer wie möglich verkaufen, andere versuchten das Leben so lange und so gut wie möglich zu genießen. Die Masse indes klammerte sich an jeden Hoffnungsschimmer, um nach weiteren Niederlagen in Apathie und Resignation zu verfallen. n Andreas Kunz Literatur: Torsten Diedrich, Friedrich Paulus – Patriot in zwei Diktaturen, in: Ronald Smelser/Enrico Syring (Hg.), Die Militärelite des Dritten Reiches. 27 biographische Skizzen, 2. Aufl., Berlin 1998, S. 388–405 Jürgen Förster (Hg.), Stalingrad. Ereignis, Wirkung, Symbol, 2. Aufl., München 1992 Manfred Kehrig, Stalingrad. Analyse und Dokumentation, 3. Aufl., Stuttgart 1979 Bernd Wegner, Der Krieg gegen die Sowjetunion 1942/43, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd 6, Stuttgart 1990, S. 761-1092 Joachim Wieder, Stalingrad und die Verantwortung des Soldaten, München 1962 Peter Steinkamp, Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, in: Gerd R. Ueberschär (Hg.), Hitlers militärische Elite, Bd 2: Vom Kriegsbeginn bis zum Weltkriegsende, Darmstadt 1998, S. 161-168 Marsch in Gefangenschaft und Tod, Stalingrad 1943. akg-images/sign. 9-1943-1-31-A2-4 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 17 Stalins V-2 Der Transfer der deutschen Raketentechnik in die UdSSR Stalins V-2 E Grafik: Der Spiegel 3/2000, S. 42 nde Januar 1959 vermeldete V-Mann Nr. 9771 Folgendes an seinen BND-Führungsoffizier: Auf der Bahnstrecke Lychen-Fürstenberg, 80 Kilometer nördlich von Berlin, entlud eine sowjetische Einheit auf freier Strecke »sehr große Bomben«. Der Agent hatte einen bis heute wenig bekannten Vorgang beobachtet. Zur Jahreswende 1958/59 ließ die UdSSR erstmals weitreichende Atomraketen außerhalb ihres Territoriums stationieren. Zu diesem Zweck befahl der sowjetische Generalstab die Verlegung der 72. Raketenbrigade in den Großraum Berlin. Die 635. Raketenabteilung der Brigade bezog mit zwei Abschussrampen und sechs Raketen des Typs R-5M (NATO-Code »SS-3 Shyster«) bei Fürstenberg/Havel Stellung. Im 20 Kilometer entfernten Vogelsang lag die 638. Raketenabteilung mit ebensoviel Fernkampfgeschossen. Jede der zwölf Raketen war in der Lage, einen nuklearen Gefechtskopf mit einer Sprengkraft von 300 Kilotonnen TNT über eine Reichweite von 1200 Kilometern zu befördern. Mit diesem atomaren Potential konnte die UdSSR erstmals Bonn, Brüssel, Paris und London real mit nuklearen Schlägen bedrohen. Die Abbildung illustriert die Reichweite der sowjetischen R-5M. Die NATO bezeichnete die Waffe mit dem Code »SS-3 Shyster«. 18 Grundlage für alle weiteren sowjetischen Raketenentwicklungen. Mit den 1959 in der DDR stationierten R-5M konnte die UdSSR erstmals strategische Ziele in Europa wie London, Paris und Brüssel ins Visier nehmen. Die für die Militäraktion ausgewählte Truppe verfügte bereits über Deutschlanderfahrung. Die 72. Raketenbrigade war im Sommer 1946 auf Befehl Stalins im thüringischen Berka aufgestellt worden. Hier sollte sie den Abschuss des Ausgangsmodells aller sowjetischen Fernkampfraketen, der deutschen V-2, erproben. Die hierfür übergebenen Raketen stammten aus dem Werk Nr. 3 in Kleinbodungen, einer kleinen Ortschaft in Nordthüringen unweit der Grenze zwischen der sowjetischen und amerikanischen Besatzungszone. Hier und in zahlreichen anderen Orten der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) arbeiteten seit Juli 1945 deutsche und sowjetische Spezialisten intensiv an der Wiederherstellung und Weiterentwicklung der Raketentechnologie des untergegangenen Deutschen Reiches. Im Oktober 1946 verließen die sowjetischen Wissenschaftler zusammen mit 308 Deutschen überraschend Deutschland in Richtung Moskau. Als 1952 die ersten deutschen Techniker in ihre Heimat zurückkehrten, existierte in der UdSSR bereits eine funktionierende Serienfertigung der R-1, der sowjetischen Kopie der V-2. Sie war die Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 Mit der R-5M gelang der UdSSR 1956 der Einstieg in ein qualitativ neues Waffensystem. Diese Atomrakete revolutionierte nicht nur die Militärstrategie und -technik nach 1945 – sie veränderte auch die Politik des Kalten Krieges. Die UdSSR und USA erwarben durch nukleare Raketenwaffen die Fähigkeit, bei der Durchsetzung ihrer weltweiten politischen Interessen auf direkte militärisch-konventionelle Konfrontation zu verzichten. An ihre Stelle trat das Kalkül mit der Drohung der Vernichtung der jeweils anderen Seite. Das Grundmuster für ein »Gleichgewicht des Schreckens« war geboren. Die Sowjets auf den Spuren der deutschen V-2 D ie Staatsführung der UdSSR war seit Mitte der 30er Jahre kontinuierlich über die deutschen Arbeiten zur Raketentechnik informiert. Daran hatte der sowjetische Geheimdienst NKWD einen nicht geringen Anteil. Ihm war es bereits 1929 gelungen, Willy Lehmann, später SS-Hauptsturmführer und Mitarbeiter des RSHA anzuwerben. Agent »Breitenbach« erhielt seit 1935 auch Zugang zu Informationen über das deutsche Raketenprogramm, die er unverzüglich nach Moskau weiterleitete. Nach der Enttarnung der »Roten Kapelle« wurde Lehmann im Dezember 1942 verhaftet und auf Befehl Himmlers erschossen. Doch Gerüchte über deutsche »Wunderwaffen« erreichten weiterhin die UdSSR. Deshalb wies Stalin 1943 seine Geheimdienste an, genauere Angaben über die V-2 zu beschaffen. Anfang August 1944 stießen schließlich sowjetische Truppen auf das geräumte Raketentestgelände Debice in Polen vor. Hier erbeuteten sowjetische Experten erstmals Bauteile Lehmann, Willy (1884-1942) SS-Hauptsturmführer/Kriminalinspektor alias Agent »A-201«/ »Breitenbach«. Vor und während des Zweiten Weltkrieges war Lehmann eine der wertvollsten Quellen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD in Deutschland. 1911 wurde Lehmann in den Berliner Polizeidienst übernommen, dort war er ab 1920 stellv. Abteilungsleiter der Spionageabwehr und wurde 1929 von der Auslandsaufklärung des NKWD angeworben. 1933 erfolgte seine Übernahme in die Gestapo, dort war er Leiter der Abteilung »Kampf gegen kommunistische Spionage«. Dank seiner Informationen gelang es dem NKWD u.a., die geplante Verhaftung des sowjetischen Agenten Arnold Deutsch zu verhindern. 1934 trat Lehmann in die SS ein, gleichzeitig wechselte er zum Amt IV des RSHA. Dort war er für Spionageabwehr innerhalb der deutschen Rüstungsindustrie zuständig. Diese Tätigkeit ermöglichte es »Breitenbach«, das NKWD mit zahlreichen Informationen über deutsche Rüstungsvorhaben zu versorgen. Im Dezember 1942 wurde Lehmann enttarnt und verhaftet, wenig später auf Befehl von Himmler erschossen, der gleichzeitig anordnete, den Fall zu vertuschen. V-2/A-4 (Vergeltungswaffe 2/Aggregat 4) Erste militärisch einsetzbare Fernkampfrakete, entwickelt von 1936 bis 1943 in Peenemünde. Die 14 Meter lange Rakete hatte einen Durchmesser von 1,65 Metern und eine Startmasse von 12 Tonnen. Das auf der Basis von Flüssigsauerstoff und 75% Alkohol arbeitende Triebwerk entwickelte einen Schub von bis zu 30 Tonnen. Dies reichte aus, um 975 Kilogramm Sprengstoff über eine Reichweite von bis zu 340 Kilometern zu befördern. Ihre geringe Treffgenauigkeit ließ jedoch nur den Beschuss von großflächigen Zielen, wie Paris, London, Brüssel und Antwerpen zu. Von September 1944 bis März 1945 wurden 3 280 V-2 im militärischen Einsatz verschossen, sie kosteten mehr als 5 000 Menschen das Leben. Nach dem Krieg wurde die V-2 in den USA zur »Redstone« weiterentwickelt, während die UdSSR auf der Grundlage der V-2 die Raketen R-1 und R-2 baute. der V-2. Die in Polen ausfindig gemachten Raketenteile wurde unverzüglich nach Moskau abtransportiert. In nur fünf Tagen sollten der Sowjetführung Angaben über Größe, Leistungsvermögen, Konstruktionsaufbau und die taktischen Daten der V-2 gemacht werden. Bereits nach den ersten Auswertungen stand für die sowjetischen Wissenschaftler fest, dass sie hier die Überreste einer Waffe gefunden hatten, die nach ihren Vorstellungen eigentlich gar nicht existieren durfte. Im Frühjahr 1945 wurden alle vorhandenen Erkenntnisse über die deutsche V-2 in einem Untersuchungsbericht für die Partei- und Staatsführung der UdSSR zusammengefasst. Darin kamen die sowjetischen Experten zu folgendem Schluss: »Die Fernkampfrakete erweist sich als gewaltige wissenschaftlichtechnische Errungenschaft, die den Grundstein für eine neue Art der Fernartillerie legt. [...] In naher Zukunft werden analoge Raketen, bei Verbesserung ihrer Zielgenauigkeit, Reichweite und Sprengkraft als selbständige Gattung einer mächtigen reaktiven Fernartillerie, zur Bewaffnung der großen Staaten gehören.« Peenemünde Gemeinde im Nordwesten der Insel Usedom. Seit 1936 Sitz der Heeresversuchsanstalt, die hier unter der Leitung von Wernher von Braun die ballistische Fernkampfrakete A-4 (V-2) entwickeln und erproben ließ. Ab 1938 befand sich hier auch eine Erprobungsstelle der Luftwaffe, die vor allem Flugbomben des Typs Fi-103 (V-1) testete. Am 17. August 1943 wurde Peenemünde durch englische Bomber angegriffen. Im Februar 1945 wurde das Gelände der Heeresversuchsanstalt geräumt und Anfang Mai 1945 von sowjetischen Truppen besetzt. Diese demontierten die noch vorhandenen Testanlagen und transportierten sie in die UdSSR. Danach war Peenemünde sowjetischer Marine- und Luftwaffenstützpunkt bis 1952, als es an die DDR übergeben wurde. Ab den 60er Jahren war Peenemünde Stützpunkt für die 1. Flottille und des Jagdgeschwaders 9 der NVA. 1993 erfolgte die Auflösung des dortigen Truppenstandortes. Noch bevor die Endfassung des Berichts Stalin vorgelegt wurde, befahl dieser, die Entwicklung von eigenen Raketen voranzutreiben. Währenddessen näherten sich sowjetische Truppen der Insel Usedom. Von der Besetzung der dort befindlichen Heeresversuchsanstalt versprach sich die UdSSR einen bedeutenden Erkenntniszuwachs über die deutsche Raketentechnik. Am 5. Mai 1945 trafen erste Raketenspezialisten in Peenemünde ein, um die verbliebenen Reste der Forschungsanlagen zu untersuchen. Bei ihren Nachforschungen stellten die Fachleute fest, dass die meisten Prüfstände, Werkstätten, Fertigungsanlagen und Labors weit weniger zerstört waren als angenommen. Hier noch vorhandene 150 Triebwerke für die V-2, Teile der Funksteuerung der Rakete, 25 Prüfstände und anderes Material wurden unverzüglich in die UdSSR abtransportiert. Doch nicht nur in Peenemünde stießen die sowjetischen Kommandos auf die Reste der deutschen Raketenproduktion. Auch an anderen Orten fanden Im Oktober 1944 untersuchten sowjetische Experten des NII-1 erstmals wesentliche Teile einer V-2 Rakete. Nach Aussage des Raketenspezialisten Boris Čertok stand nach den ersten Analysen fest, dass man hier Überreste einer Waffe gefunden hatte, die nach den Vorstellungen der sowjetischen Techniker eigentlich gar nicht existieren durfte. Quelle: RGAE Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 19 Stalins V-2 KZ Mittelbau-Dora Am 28. August 1943 bei Nordhausen geschaffenes Konzentrationslager. Im angegliederten unterirdischen Mittelwerk erfolgte ab 1944 die Serienfertigung der sogenannten V-Waffen. Bis Kriegsende bauten die Häftlinge des KZ MittelbauDora mehr als 5 700 V-2 und 6 300 V-1. Am 1. Oktober 1944 erhielt das KZ Mittelbau-Dora als letztes deutsches Konzentrationslager den Status eines eigenständigen Lagerkomplexes. Von den 60000 Häftlingen, die nach MittelbauDora kamen, überlebten 20 000 nicht. Anfang April 1945 wurde das Lager durch US-Truppen befreit und dann im Juli 1945 an sowjetische Truppen übergeben. Zunächst wurde es als Repatriierungs-, dann als Umsiedlerlager verwendet. Die Einrichtungen des Mittelwerks wurden durch die Sowjets demontiert und die unterirdischen Anlagen 1947 gesprengt. Seit 1966 befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen KZ eine Gedenkstätte. Suchkommandos der Roten Armee Fertigungsanlagen und Bauteile für die V-2. Trotzdem schienen die Ergebnisse der Suchkommandos die sowjetische Führung nicht zu befriedigen. Es sollte bis Juli 1945 dauern, als endlich substantielle Fortschritte erzielt werden konnten. Anfang dieses Monats räumten amerikanische Truppen das bisher von ihnen besetzte Südharzgebiet. Hier befand sich in der Nähe von Nordhausen das ehemalige Mittelwerk. Dort hatten seit August 1943 Häftlinge des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora die V-2 in Serie produziert. Nach dem Rückzug der westlichen Alliierten sollte dieses größte und wichtigste Rüstungswerk Mitteldeutschlands in die Hände der Sowjets fallen. Mit der Inbesitznahme der Mittelwerke erhielt die UdSSR schließlich den Schlüssel zur erfolgreichen Übernahme des Knowhows der deutschen Raketentechnik. Besetzung und Demontage der Produktionsstätten E nde 1947 wurde Stalin ein Film vorgeführt, der die Entwicklung der ersten sowjetischen Fernrakete dokumentierte. Die sowjetischen Filmemacher zeichneten dabei ein Bild, das sich bis heute tief in das Bewusst- 20 sein der Öffentlichkeit eingeprägt hat: Aufnahmen von geplünderten und zerstörten Anlagen wurden wie folgt kommentiert: »Die Region Nordhausen wurde zuerst von den Amerikanern besetzt. Die Amerikaner haben alles Wertvolle der Raketentechnik fortgeschafft: Fertige Raketen, Dokumentationen, Laboratorien und deutsche Spezialisten. Was übrig blieb wurde zerstört. An den Produktionsstätten der V-2 trafen sowjetische Spezialisten ein. Sie fanden nur Trümmerberge vor«. Dem Diktator sollte damit der Eindruck vermittelt werden, dass die Amerikaner der UdSSR nur kümmerliche Reste der deutschen Raketentechnik überlassen hätten. Zugleich wollten die sowjetischen Raketentechniker durch die bewusste Irreführung Stalins zugleich ihren eigenen Anteil an der weiteren Raketenentwicklung hervorheben und den vorhandenen deutschen Einfluss herunterspielen. Tatsächlich aber hatten sowjetische Sonderkommandos am 5. Juli 1945 eine unterirdische Raketenfabrik in Besitz genommen, die im Wesentlichen noch intakt war. Obwohl die Amerikaner hier eine große Anzahl von Raketenteilen erbeutet hatten, waren noch Tausende von Maschinen und Geräten zur Raketenproduktion sowie zahlreiche Bauteile für die V-2 in den unterirdischen Hallen des Mittelwerks vorhanden. Noch bevor aus Moskau Befehle zur weiteren Verwendung der Anlagen eintrafen, setzten die sowjetischen Raketenspezialisten Teile der unterirdischen Produktionsanlagen wieder in Betrieb. Bereits wenige Tage nach der sowjetischen Besetzung des Raketenwerkes montierten deutsche Ingenieure und Techniker in einem der Stollen, unter sowjetischer Aufsicht, erste Raketenteile. Zwischen August und September 1945 wurde die Montage dann in das »Werk Nr. 3« verlegt. Im Mittelwerk hatten unterdessen erste Demontagetrupps Einzug gehalten. Innerhalb kürzester Zeit transportierten »Trophäenkommandos« der Roten Armee mit 717 Waggonladungen 5647 Tonnen Maschinen, Ausrüstungen und Raketenbauteile in Richtung Osten. Bis Anfang 1947 ließ das für Raketentechnik zuständige Sonderkomitee Nr. 2 aus der SBZ weitere 2270 Waggons, Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 beladen mit mehr als 14258 Tonnen Raketenbaugruppen, Halbfabrikaten, Spezialmaschinen und zahlreichem anderen technischen Gerät, in die UdSSR bringen. Zum Vergleich: 1945 hatten die US-Amerikaner aus dem Mittelwerk ca. 400 Tonnen Raketenmaterial abtransportiert und zum amerikanischen Raketentestgelände bei White Sands in New Mexico geschafft. Weil die UdSSR nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eben nicht nur deutsche Technologie und Wissenschaftler in ihre Dienste stellte, sondern in bisher nicht gekanntem Maße die Entwaffnung des ehemaligen deutschen Gegners nutzte, um das eigene rüstungswirtschaftliche Potential zu vergrößern, gelang ihr nicht nur der Erwerb ausländischer Technologie, sondern auch deren Weiterentwicklung. Festzuhalten bleibt: ohne die völlige Demontage der deutschen Raketenindustrie wäre der erfolgreiche Transfer der deutschen Raketentechnik in die Sowjetunion nicht geglückt. Er war eine der bestimmenden Voraussetzungen für den technologischen Sprung der sowjetischen Rüstungswirtschaft nach 1945. Weiterentwicklungen in der Sowjetunion I nsgesamt wurde durch die mehr als 11⁄2 jährige gemeinsame Arbeit der ca. 7000 deutschen und mehr als 1500 sowjetischen Raketenexperten in der SBZ der Grundstock für eine erfolgreiche und schnelle Umsetzung des Fernlenkwaffenprogramms der UdSSR gelegt. Damit hatte sich die taktische Entscheidung der sowjetischen Führung als richtig erwiesen, zur Aneignung der deutschen Raketentechnologie zunächst auf das in Deutschland vorhandene wissenschaftliche und technologische Potential zurückzugreifen. Dies war besonders wichtig, da bis Ende 1946 in der Sowjetunion keine Forschungs- und Infrastruktur für eine eigene Fernlenkwaffenentwicklung vorhanden war. Nachdem im Oktober 1946 die 308 wichtigsten deutschen Raketentechniker in die UdSSR abtransportiert wurden, modifizierte die Sowjetunion das bisher angewendete Konzept des Die R-1 war eine vereinfachte Kopie der deutschen V-2 und sollte die sowjetischen Ingenieure und Techniker mit den erforderlichen Technologien zum Bau von Fernlenkwaffen vertraut machen. Quelle: RKK Energija Technologietransfers. Obwohl die UdSSR weiter höchstes Interesse an der Fernlenkwaffentechnologie des Dritten Reiches zeigte, dachte sie nie an eine langfristige Verwendung der deutschen Forschungskapazitäten. Die für Russland und die Sowjetunion typische Vorgehensweise beim Erwerb ausländischer Technologie, die auf nachholenden Kompetenzerwerb ausgerichtet war, verhinderte, im Gegensatz zu den USA, eine weitgehende Integration der deutschen Wissenschaftler und Technikspezialisten in die sowjetische Forschungsstruktur. 1947 hatten die in die UdSSR verbrachten Spezialisten aus der SBZ noch wesentlichen Anteil an den erfolgreichen Tests der sowjetischen V-2. Danach nahmen die sowjetischen Behörden die Deutschen aus den jeweiligen Forschungsprogrammen. Spätestens ab Ende 1948 dienten die deutschen Spezialisten in der Sowjetunion lediglich als Ideengeber für theoretische Projekte, die von der praktischen Umsetzung ihrer Arbeitsergebnisse ausgeschlossen blieben. Daran sollte sich bis zum Ende ihrer Tätigkeit im sowjetischen Fernlenkwaffenprogramm 1953 nichts mehr ändern. Die wichtigste Hinterlassenschaft der Deutschen im sowjetischen Raketenbau war ohne Zweifel die bereits bei ihrer Rückkehr nach Deutschland funktionierende Serienproduktion der R-1. Diese sowjetische »Kopie« der deutschen V-2 kann als einzige raketentechnische Entwicklung der Sowjetunion gelten, an der die deutschen Fach- leute aus der SBZ allumfassend beteiligt waren. Bereits bei ihrer Weiterentwicklung, der R-2, betraute das Sonderkomitee Nr. 2 die deutschen Spezialisten nur noch mit sehr begrenzten Teilaufgaben. Das militärische Nachfolgemodell der R-2, die R-5, war die erste vollständige sowjetische Eigenkonstruktion. Sie wurde ohne jede direkte deutsche Beteiligung entwickelt. Diese Rakete hatte bereits eine Reichweite von 1200 Kilometern und beförderte einen herkömmlichen Sprengkopf mit einem Gewicht von 1,42 Tonnen. Aus ihr wurde kurze Zeit später die R-5M, die erste Atomrakete der UdSSR entwickelt. Damit hatten die deutschen Wissenschaftler und Techniker einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Entwicklung der 1. Generation militärischer Fernkampfraketen in der UdSSR. Zudem arbeiteten deutsche Fachleute auch aktiv an der Entwicklung von Flugabwehr-Raketen sowie Luft-SchiffFlugkörpern für die sowjetischen Streitkräfte. Insgesamt waren deutsche Wissenschaftler und Techniker während ihres Aufenthalts in der UdSSR an der Entwicklung und am Bau von mindestens fünf verschiedenen Raketenmustern beteiligt, die später in die Bewaffnung der sowjetischen Streitkräfte aufgenommen wurden. Dies waren neben den Fernkampfraketen der Typen R-1 und R-2 auch die Fla-Rakete S-25 »Berkut« (Adler), die Luft-Schiff-Lenkwaffe »Kometa« (Komet) und die reaktive Panzerbüchse RPG-1. Deutsche Technologie floss mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in die Entwicklung der ersten sowjetischen Panzerabwehrlenkrakete PUR-61 »Schmel« (Hummel) und der ersten gelenkten Luft-Luft-Rakete K-5 ein. Demnach beruhten die ersten militärisch einsetzbaren Fernlenkwaffen der UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg zum großen Teil auf der Technologiebasis des untergegangenen Dritten Reiches und der Arbeit der deutschen Spezialisten in der Sowjetunion. Wegen der erfolgreichen Umsetzung des Konzepts des nachholenden Technologietransfers waren jedoch bereits an der Entwicklung der zweiten Baureihe von Fernlenkwaffen der 1. Generation keine deutschen Spezialisten mehr direkt beteiligt. Die UdSSR beschränkte sich aber nicht nur auf den Bau der Raketen. Gleichzeitig beschäftigten sich ihre Politiker und Militärs intensiv mit den Fragen des Einsatzes für diese neuen Waffen. Noch unter der Herrschaft Stalins kam es zu einem umfassenden Ausbau der Raketentruppen. Der Diktator unternahm nicht nur erhebliche Anstrengungen, um endlich Atomwaffen in die Hand zu bekommen, sondern er versuchte in Zusammenarbeit mit seinen Militärs auch, ein mögliches Einsatzkonzept für sie zu skizzieren. Stalin war bestrebt, wirkungsvolle militärische und politische Pläne für den Einsatz von Nuklearwaffen mit Hilfe von Raketen zu entwickeln. Das dies zu seinen Lebzeiten in letzter Konsequenz nicht gelang, war dem damaligen technischen Entwicklungsstand der sowjetischen Kernwaffen- und Raketentechnik geschuldet. Weil einsatzbereite Atomraketen nicht zur Verfügung standen, fehlte eine umfassende Militärdoktrin für ihre Verwendung. Dennoch, und das zeigen auch die umfassenden Fortschritte nach Stalins Tod, wurden während seiner Herrschaft in der UdSSR die entscheidenden Grundlagen für den militärischen Einsatz von Raketentruppen geschaffen. Es blieb Stalins Amtsnachfolger Chruschtschow vorbehalten, die mit Atomwaffen ausgestatteten Verbände der Raketentruppen als eigenständiges Machtmittel der sowjetischen Außenpolitik zu etablieren. 1959 ordnete er im Rahmen der zweiten Berlin-Krise erstmals ihre militärische Verwendung an. Die Drohung mit dem Einsatz von atomaren Raketenwaffen wurde damit zu einem bestimmenden Handlungsmuster der sowjetischen Außenpolitik in der »heißen Phase« des Kalten Krieges. n Matthias Uhl Fotos: S.18, 19, 21 in: Matthias Uhl, Stalins V-2 Matthias Uhl, Stalins V-2, Der Technologietransfer der deutschen Fernlenkwaffentechnik in die UdSSR und der Aufbau der sowjetischen Raketenindustrie 1945 bis 1959, Bonn 2001 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 21 Service Das historische Stichwort Der deutsche Generalstab A m 26. August dieses Jahres wurde durch den Bundesminister der Verteidigung der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Wolfgang Schneiderhan, mit erweiterten und nun umfassenden Befehlsbefugnissen für die Planung, Vorbereitung und Führung aller im Einsatz befindlichen Verbände der Bundeswehr ausgestattet. Historisch betrachtet ist diese Befehlsgewalt für den höchsten deutschen Soldaten jedoch keineswegs neu. Nach der Niederlage der preußischen Armee gegen das napoleonische Frankreich schuf der preußische Generalquartiermeister Gerhard von Scharnhorst im Zuge der allgemeinen Heeresreform ein damals neuartiges militärisches Führungsorgan, das nach dem Ende der Befreiungskriege 1813/14 offiziell den Namen »Generalstab« erhielt. Dessen Aufgabe bestand zunächst darin, zur Steigerung der Führungsleistung hoher und höchster Truppenführer wissenschaftlich gebildete und in systematischer Stabsarbeit besonders geschulte Kaiser Wilhelm II., Hindenburg und Ludendorff vor einer Generalstabskarte im Jahre 1914. Farbige Postkarte, bpk Generalstabsoffiziere auszubilden. Diese sollten sowohl operative als auch logistische Aufgaben übernehmen und so den Truppenführer entlasten und beraten. Nach der Ernennung des späteren Generalfeldmarschalls Helmuth Graf von Moltke zum Chef des preußischen Generalstabs im Jahre 1857 entwickelte sich der preußische Generalstab zur höchsten militärischen Autorität in Preußen und nach den Einigungskriegen im Deutschen Reich insgesamt. Die von Moltke im Deutsch-Französi- Generalmajor Henning von Tresckow. Seit 1941 im Generalstab der Heeresgruppe Mitte. bpk 22 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 schen Krieg von 1870/71 entwickelten Verfahren der Stabsarbeit wurden für die Arbeit in den Großverbänden bis zum Ersten Weltkrieg und sogar bis in die Gegenwart zum Vorbild. Insbesondere das Prinzip des »Führens mit Auftrag« (Auftragstaktik) wird bis in die Gegenwart hinein als erfolgreiches Führungsverfahren angesehen. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs entwickelte sich der Generalstab zur politisch-militärischen Führungsinstanz im Deutschen Reich und bildete zusammen mit anderen Bestandteilen des Großen Hauptquartiers den Hauptbestandteil der Obersten Heeresleitung. Seit 1916 wurde der Generalstab von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und seinem Ersten Generalquartiermeister General Erich Ludendorff geführt. Der Generalstab beeinflusste nun zunehmend auch den politischen und wirtschaftlichen Bereich der Reichsleitung und dominierte bis 1918 alle Bereiche des Staatswesens. Das Reich befand sich schließlich weitgehend in der Hand des Militärs. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dem Deutschen Reich durch die Bestimmungen des Versailler Vertrags die Beibehaltung des Generalstabs verboten. Dieses Verbot umging die Reichswehrführung durch die Schaffung eines »Truppenamts«, das Ausbildungs- und Führungsfunktionen eines Generalstabes wahrnahm und damit die Voraussetzungen für den späteren Aufwuchs eines deutschen Generalstabes Truppenamt Bundesarchiv Bild 146/76/26/2A Der »Große Generalstab« und die Kriegsakademie waren im Versailler Vertrag verboten worden. Dieses Manko glich General Hans von Seeckt, 1919/20 Chef des Truppenamtes und danach Chef der Heeresleitung, dadurch aus, da er im neu geschaffenen Truppenamt für die Siegermächte weitgehend unbemerkt Generalstabsaufgaben wahrnehmen ließ. Im Einzelnen handelte es sich hier um Operationsplanung und Truppenführung. Die Ausbildung zum Generalstabs-/Admiralstabsoffizier an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg findet heute regelmäßig mit breiter internationaler Beteiligung statt. Fotos: FüAkBw schuf. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933 wurden dann ungeachtet des Versailler Verbots ab 1935 ganz offen das Oberkommando der Wehrmacht und drei Führungsstäbe der Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und Marine geschaffen, die allesamt Generalstabsaufgaben wahrnahmen. Obwohl einerseits zahlreiche Generalstabsoffiziere maßgeblich an der operativen Planung und Umsetzung der deutschen Kriegsvorbereitungen Anteil hatten, waren es andererseits vor allem Generalstabsoffiziere des Heeres wie etwa Generaloberst Ludwig Beck, Generalmajor Henning von Tresckow oder Oberst i.G. Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die sich zu koordiniertem militärischen Widerstand gegen das NSRegime entschlossen. Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und dem Untergang des Dritten Reichs im Mai 1945 endete zugleich auch die mehr als einhundertdreißigjährige Geschichte des deutschen Generalstabs. Dieser war von Hitler während des Zweiten Weltkriegs zwar zunehmend entmachtet worden, wurde aber dennoch 1946 im »Nürnberger Prozeß« als verbrecherische Organisation angeklagt und verboten, als Führungsgremium durch den Internationalen Militärgerichtshof aber freigesprochen. Die Bundeswehr hält seit ihrer Gründung an der Ausbildung besonders befähigter und ausgewählter Offiziere zu Generalstabsoffizieren fest. In der Nationalen Volksarmee der DDR gab es mit dem »Hauptstab« sogar ein zentrales, Generalstabsaufgaben wahrnehmendes Planungs- und Führungsorgan, dessen Umbenennung in »Generalstab« 1982/83 nur am Veto der Sowjetunion scheiterte. Die Bundeswehr verfügt heute mit dem Einsatzführungskommando, dem Heeresführungskommando und dem neu geschaffenen, als Entscheidungsgremium unter Vorsitz des Generalinspekteurs tagenden Einsatzrat über Strukturelemente, die dem klassischen Generalstab zumindest recht nahe kommen. Falko Heinz/ag/ch Generaloberst von Seeckt Zudem wurden einzelne Abteilungen des ehemaligen Großen Generalstabs in den zivilen Bereich ausgegliedert, so die Eisenbahnabteilung ins Verkehrsministerium oder die kriegsgeschichtliche Abteilung ins Reichsarchiv. Dort konnten die Generalstabsoffiziere nun, als Zivilisten getarnt, weiterhin ihrer Arbeit nachgehen. Gleichwohl blieb dieser verdeckte Generalstab in der Reichswehr hinter seiner Machtstellung im Kaiserreich zurück: An der Spitze der Armee stand nun der Reichswehrminister, der Chef des Truppenamts rangierte dagegen noch hinter dem Chef der Heeresleitung. In der Ausbildung neuer Generalstabsoffiziere zwang das Fehlen der Kriegsakademie Seeckt zu einem Kunstgriff: In »Wehrkreisprüfungen«, einem Auswahlverfahren, dessen Schwerpunkt die Taktik auf der Ebene des Infanterieregiments bildete, wurden befähigte Offiziere für eine zweijährige Ausbildung bei den Gruppenkommandos ausersehen. Nur die besten dieser Ausgewählten (ca. 15 von 70) konnten dann noch ein drittes Jahr an einem zentralen Lehrgang in Berlin teilnehmen. Am Ende des Lehrgangs beendeten in der Regel nur acht bis zehn Offiziere erfolgreich diese anspruchsvolle Ausbildung. Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 23 Service Medien online/digital @ Unsere Themen im Internet on E in Klassiker unter den Geschichtsnachschlagewerken und für jeden Geschichtsinteressierten eine schier unerschöpfliche Fundgrube ist »Der Ploetz«. In Buchform hat »Der Große Ploetz« einen Umfang von über 2 000 Seiten, was eine schnelle Benutzung behindert und auch die kleinere, bebilderte Version (der »Farbige Ploetz«) ist mittlerweile annähernd 1 000 Seiten stark. Nun gibt es beide Bücher auch als CD-ROM, als Vorlage diente dabei die jeweils aktuelle Buchausgabe. Die CD funktioniert unabhängig von der jeweiligen PC-Plattform und kann auf allen Systemen, die über einen Acrobat-Reader ab Version 5.05 verfügen, genutzt werden (alle Microsoft Betriebssysteme ab Windows 95, Apple Mac ab OS 8.6 sowie Linux und Unix Workstations). Allerdings ist das verwendete Adobe Acrobat-Format recht langsam bei Suchfunktionen und Seitenaufbau. Insgesamt nutzt das Programm die digitalen Möglichkeiten nicht voll aus. So gibt es nur wenige Verknüpfungen (Hyperlinks) von Textstellen innerhalb der eigentlichen Seiten, statt dessen blättert man durch die digitale Version Seite für Seite wie bei einem Buch. Die Exportfunktionen sind eingeschränkt und funktionieren nicht immer fehlerfrei. Das Menü für Suchfunktionen auf der Nutzeroberfläche ist gewöhnungsbedürftig und auch das Inhaltsverzeichnis ist unübersichtlich und wenig bedienfreundlich. Immerhin kann der Nutzer über die Werkzeuge vom Acrobat Reader die Darstellungsgröße individuell anpassen, was besonders bei Tabellen, Grafiken und Landkarten nützlich ist. Neben den erwähnten Schwierigkeiten bietet der Ploetz auf CD-ROM aber eine Reihe von Vorzügen. Eine gezielte Suche nach einem Namen (z.B. General 24 Der Farbige Ploetz, Düsseldorf 2002. ISBN 3-8155-9486-3; 1 CD-ROM, 19,90 € Der Grosse Ploetz, Düsseldorf 2001. ISBN 3-8155-9484-7; 1 CD-ROM, 39,95 € Friedrich Paulus), einem Datum (z.B. 30. Januar 1943) oder einem Ort (z.B. Stalingrad) führt mit der CD-Version schneller und einfacher zum Erfolg als mit dem überdicken Großen Ploetz. Für Lehrende an Schulen oder anderen Einrichtungen ist vor allem der Farbige Ploetz besonders geeignet. Die vielen Tabellen, Grafiken Landkarten und Artikel sind sehr ansprechend gestaltet und eignen sich für Unterricht und Ausbildung z.B., wenn es um den Überblick zu einer Epoche geht. Der Große Ploetz ist kaum bebildert, dafür sind aber die Artikel deutlich umfangreicher und bieten mehr Informationen. Mit dem Printmedium gemeinsam hat der Ploetz auf CD-ROM, dass man ihn als gutes Nachschlagewerk sowohl für die Vorbereitung auf den Unterricht als auch für den schnellen Überblick zu einem Thema nutzen kann. Fazit: Sowohl der Große als auch der Farbige Ploetz bleiben hinter den technischen Möglichkeiten zurück. Ansonsten stellen beide eine Alternative zum Printmedium dar, weil das Nachschlagen recht einfach und schnell geht, speziell über die Suchfunktion lassen sich Artikel leichter und schneller finden als über den Index des gedruckten Werkes. Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 line Wer aber schon einen Ploetz als Buch hat, braucht die digitale Version nicht – manchmal ist weniger auch mehr. Texte, sei es in Buchform oder als digitale Version, können oftmals nicht die Informationen vermitteln, die Bilder, Grafiken oder Tabellen beinhalten. Aber auch Landkarten enthalten viele Angaben und machen Zusammenhänge erst deutlich, die ein geschriebener Text nur sehr schwer beschreiben kann. Daher haben viele historisch Interessierte in ihrem Bücherregal einen speziellen Geschichts-Atlas stehen. Klassiker wie der »Bayerische Schulatlas« oder der »Putzger« sind zwar sehr bewährt, haben allerdings auch ihren Preis. Eine preisgünstige und faszinierende Alternative bietet auch hier das Internet. Wer Ansichten über die politische oder wirtschaftliche Entwicklung deutscher Länder, einzelner Regionen oder Europas sucht, findet unter www.ieg-maps.uni mainz.de die passende Karte. Die farbigen übersichtlichen, klaren und teilweise sogar animierten Landkarten, die das Ins- titut für Europäische Geschichte in Mainz präsentiert, sind nicht nur wunderschöön anzuschauen, sondern auch hochinteressant. So kann man auf ihnen erkennen, wie einzelne Staaten sich territorial ausdehnten, welche Gebiete z.B. nach Kriegen den Besitzer wechselten, ja sogar, wann welche Stadtteile einzelnen Großstädten eingemeindet wurden. Diese Seite ist für alle diejenigen ein Muss, die über die in den letzten Jahren vielfältigen Veränderungen auf der politischen Landkarte Europas informiert sein wollen. 3www.ieg-maps.uni mainz.de 3 Waldemar Grosch, Geschichte im Internet. Tipps, Tricks und Adressen, Schwalbach/Ts. 2002. ISBN 3-87920-065-3; 167S., 10,-€ Geschichte im Internet ist längst nichts Neues mehr, auch zu Geschichtsthemen haben sich die Angebote vervielfacht – wer soll da den Überblick behalten? Ein kleines Taschenbuch leistet neuerdings nützliche Hilfe. Wer sich die zeitintensive und häufig auch nervenaufreibende Suche im Netz sparen möchte (von Kosten für Verbindungsentgelte ganz zu schweigen), kann nun ganz in Ruhe auf 160 Buchseiten das gewünschte Angebot finden. Ein klar gegliedertes Inhaltsverzeichnis und eine Bewertung aller Seiten hilft frei von Werbung beim Suchen und erspart dem Suchenden so manche sinnlose Seite im www. Von Antike und Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert; Archive und Bibliotheken; Preußen, Deutschland und Europa und Erster und Zweiter Weltkrieg, Vietnam-, Kalter- und Atomkrieg – Geschichte im Internet bietet für jeden etwas! ch Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 25 Service Lesetipp Stalingrad Das größere Europa I m November des Jahres 2002 wurde eine Anzahl mittlerer und kleiner Länder von den NATO-Mitgliedsstaaten eingeladen, der Allianz beizutreten. Wenngleich die neuen Mitglieder keine großen Armeen in das Bündnis einbringen werden, so wird doch das Territorium der NATO erheblich ausgeweitet: Von der Nordostspitze der Ostsee bis zum Schwarzen Meer wird demnächst Antony Beevor, Stalingrad, München 2002. ISBN 3-442-15101-5; 544 S., 12,45 € S elten waren sich Forscher und Zeitzeugen so einig: Die Schlacht um Stalingrad gilt nach wie vor als eine der bedeutendsten des Unternehmens »Barbarossa«, jenes verbrecherischen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion, der am 22. Juni 1941 mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Rote Armee seinen Anfang genommen hatte. Der ehemalige britische Berufsoffizier Antony Beevor hält sie sogar für kriegsentscheidend. Stalingrad markiert nicht nur den Wendepunkt des Krieges im Osten. Das Wort Stalingrad wirkt auch heute noch, 60 Jahre nach dem Untergang der 6. Armee, als Fanal. Die Stadt, die den Namen des feindlichen Diktators trug, wurde zum Synonym für die Grausamkeit und die Sinnlosigkeit des Krieges schlechthin. Beevor erzählt spannend und eindringlich die Geschichte dieser Schlacht. Seine Darstellung stützt sich auf die Befragung von Zeitzeugen und das Studium unzähliger Dokumente sowie Briefe und Tagebücher von Soldaten, aber auch bislang unter Verschluss gehaltener Geheimdienstunterlagen. Beevor schildert nicht nur anschaulich den mörderischen Häuserkampf in der Stadt aus deutscher und sowjetischer Sicht. Er beleuchtet auch ausführlich die Vor- und Nachgeschichte der Schlacht. Zahlreiche Fotos und ein ausführlicher Anhang über die beteiligten Truppenverbände runden das Werk ab. Ausführliche Personen- und Ortsregister machen das Buch zudem zu einem idealen Nachschlagewerk für denjenigen, der sich gezielt über Einzelheiten informieren will. Ein Wermutstropfen ist die ungewöhnlich hohe Zahl von Druckfehlern, die aber den Inhalt nicht berühren und den hervorragenden Gesamteindruck des Werkes nicht trüben können. Christian Kerper 26 Manfred Scheuch, Das größere Europa. Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien und die Baltischen Staaten in Geschichte und Gegenwart, Wien 2002. ISBN 3-85498-169-4, 200 S. mit 235 Farb- und Schwarzweiß-Abb., 49,90 € das Nordatlantische Bündnis den militärischen Schutz seiner Mitglieder gewährleisten. Damit haben die nord- und südosteuropäischen Staaten Europas einen Transformationsprozess abgeschlossen, der beeindruckt: Aus den ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken bzw. Warschauer-Pakt-Staaten werden nun Mitglieder des westlichen Bündnisses. Doch was wissen wir über die Staaten Estland, Lettland und Litauen im Nordosten oder Slowenien im Südosten? Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Herrschaft wurde Europa erstmals nicht nur ein geographischer, sondern ein politischer Begriff. Seit 1989/90 haben die bis dahin durch den Eisernen Vorhang isolierten Staaten sich Schritt für Schritt an den Westen angenähert; Polen, Ungarn und die Tschechische Republik sind bereits seit einigen Jahren Mitglieder der NATO. Nun soll die zweite Welle der Beitritte erfolgen. Manfred Scheuch beschreibt dieses »größere Europa« in seinem Buch und stellt die Länder Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowe- Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2002 nien, Litauen, Lettland und Estland in historischen Kurzporträts vor. Der Schwerpunkt liegt auf der jüngeren Geschichte dieser Länder, d.h. etwa ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Ausführlich wird die Gründung von Nationalstaaten infolge des Ersten Weltkrieges dargestellt und die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den Ländern in der Zeit zwischen den Weltkriegen beschrieben. Es folgt die Darstellung der Kriegszeit wie auch der anschließenden – für die dortige Bevölkerung teilweise bis heute traumatischen – sowjetischen Besetzung sowie des Kampfes der Länder um Eigenstaatlichkeit und Unabhängigkeit bis zum Anfang der neunziger Jahre. Viele eindrucksvolle Bilder, einige ausgewählte Daten über Landesgröße, Bevölkerung und Geschichte sowie sehr hilfreiche historische Landkarten und Schaubilder bringen dem Leser die bald nicht mehr ganz so fernen Länder jenseits des früheren Eisernen Vorhangs näher und vermitteln einen Eindruck vom »größeren Europa«. ch Raketenspuren in Peenemünde B evor die Oder sich in die Ostsee ergießt, liegt zwischen dem Fluss und dem offenen Meer noch eine lang gezogene Insel: Usedom. Heute wie früher liegt die Urlaubsinsel weit abgelegen von großen Siedlungen und von menschlicher Hektik, hier ist die See das beherrschende Element. Doch am 3. Oktober 1942 wird diese Stille jäh durchbrochen. Im dicht bewaldeten Gelände der »HeeVolkhard Bode und Gerhard Kaiser, Raketenspuren. Peenemünde 1936–2000, 4. Aufl., Berlin 2002. ISBN 3-86153-239-5; 211 S. mit 275 Fotos und Abb., 15,50 € resversuchsanstalt« geschieht an diesem Tag etwas Sensationelles: Zum ersten Mal gelingt der Start einer Rakete, die mit doppelter Schallgeschwindigkeit in Richtung Weltraum aufsteigt und anschließend – nach gerade einmal fünf Minuten Flugzeit – kontrolliert auf die Ostsee aufschlägt und dort versinkt. Was dort in der Nähe des kleinen Fischerdorfes Peenemünde geschieht, ist allerdings alles andere als die Geburtsstunde der zivilen Raumfahrt. Vielmehr ist es der Beginn einer völlig neuen Waffenart, der Fernkampfrakete, die dort seit Mitte der dreißiger Jahre in Peenemünde von einem Heer deutscher Wissenschaftler entwickelt wurde. Auf Grundlage der dort hergestellten Muster werden nach dem Krieg die Interkontinentalraketen der Supermächte entwickelt, die mit ihren Atomsprengköpfen die Grundlage der nuklearen Abschreckung bilden. Peenemünde ist zum Symbol der deutschen »Vergeltungswaffen« geworden, mit denen die nationalsozialistische Führung hoffte, noch eine Wende in dem verlorenen Krieg herbeiführen zu können. Zwischen Juni und September 1944 werden fast zehntausend »V-2-Raketen« auf London, später auch auf andere Ziele in England und Holland abgeschossen, richten dort verheerenden Schaden an, kosten tausende Menschenleben und verbreiten Angst und Schrecken unter der wehrlosen Zivilbevölkerung. Doch auch in Deutschland sind die V-Waffen und ihre Konstrukteure Inbegriff des Terrors. Die weitläufigen Anlagen in Peenemünde werden von Zwangsarbeitern errichtet, nach alliierten Bombenangriffen auf die Insel im August 1943 werden die Fertigungsanlagen verlegt, zunächst nach Polen, dann in unterirdische Fabriken im Harz. Gefangene aus Konzentrationslagern müssen in diesen Stollen die V-2 montieren; im Konzentrationslager Mittelbau-Dora sterben Tausende an Misshandlungen und den Folgen der Haft. Nach dem Krieg werden die Produktionsanlagen zur begehrten Beute bei Amerikanern und Sowjets, der Wettlauf um die technologische Hinterlassenschaft in Peenemünde hat nun begonnen. Seit den fünfziger Jahren bestimmt dann das Militär der DDR im Ort; Volksmarine und Luftwaffe unterhalten hier große Garnisonen, bis diese mit der Auflösung der NVA schließlich geschlossen werden. Das Buch »Raketenspuren« berichtet von der Geschichte eines kleinen Ortes, der sechzig Jahre lang Symbol für militärische Geheimhaltung war. Heute kann man mit Hilfe des Buches in Peenemünde die Hinterlassenschaft des Weltkrieges und des Kalten Krieges auf der schönen Urlaubsinsel Usedom erfahren. ch Die Wurzeln des alliierten Sieges W Berliner Mauer-Radweg arum gewannen die Alliierten den Zweiten Weltkrieg? Auf diese Frage gibt es zahlreiche Antworten, und manche würden sie gar für überflüssig erklären, so eindeutig ist schließlich die Niederlage des Deutschen Reichs und seiner Verbündeten ausgefallen. Warum also ein Buch zu einer solchen Frage? Die Antwort könnte lauten, dass Overy in typisch britischer Art ein Buch geschrieben hat, das nicht von Fußnoten strotzt und trotzdem (oder gerade deshalb) eine große Detailfülle mit einer angenehmen Lesbarkeit verbindet. Sicherlich ist die eine oder andere These dieses Londoner Professors diskussionswürdig, aber er zeichnet insgesamt ein vielfältiges Bild der Ursachen des alliierten Sieges, das manchmal vertretene monokausale Erklärungen wie wirtschaftliche Dominanz oder Luftüberlegenheit souverän als zu kurz greifend entlarvt. Vor allem betont Overy, dass die Alliierten den Sieg nicht geschenkt bekamen, sondern dafür große Opfer bringen mussten - was angesichts der Verlustzahlen eindrucksvoll belegt ist, oft aber vergessen wird. »W o stand eigentlich die Mauer?« fragen Berlin-Besucher immer wieder. Und selbst Berliner haben heute, gerade mal zehn Jahre nach dem Ende der DDR und dem Abriss ihres Beton gewordenen Synonyms Probleme, diese Frage präzise zu beantworten. Vorbei sind die Zeiten, als man am Potsdamer Platz nach drüben schauen oder mit der West-Berliner U-Bahn durch Geisterbahnhöfe unterhalb des Ostteils der Stadt fahren konnte. Nach 1989/90 wollten die meisten Berliner, dass die Mauer möglichst schnell aus dem Stadtbild verschwindet. Zu den wenigen, die sich dafür einsetzten, dass Teile der Mauer unter Denkmalschutz gestellt werden, gehörte der ehemalige Berliner Regierende Bürgermeister und Bundeskanzler Willy Brandt. Bereits am 10. November 1989 forderte er öffentlich, ein Stück von jenem scheußlichen Bauwerk als Erinnerung an ein historisches Monstrum stehen zu lassen. Wer heute den Verlauf der ehemals fast 300 Kilometer befestigter Grenze rund um West-Berlin nachvollziehen möchte, kann sich nun mit Hilfe eines speziellen Stadtplanes auf die Suche machen. Richard Overy, 37 detaillierte Karten führen den Die Wurzeln des Sieges. Leser durch die geteilte Stadt Warum die Alliierten den und das Umland, historische und Zweiten Weltkrieg aktuelle Aufnahmen des Gebiegewannen, tes werden gegenübergestellt Hamburg 2002 und die (Mauer-)Geschichte der (Taschenbuch). Orte erzählt. Erstaunt stellt man ISBN 3-499-61314; fest, dass kaum noch etwas 496 S., stehen geblieben ist von der 12,90 € Grenzlinie des Kalten Krieges. An einigen wenigen Stellen findet man noch ein paar Betonelemente, einen alten Wachturm oder einen Kolonnenweg der Von Luftherrschaft und Bombenkrieg DDR-Grenztruppen. An der Bernauer über operative und taktische Verbesse- Straße in der Berliner Innenstadt sind rungen, die ganz zentrale Bedeutung der sogar hundert Meter der Mauer origiLogistik bei den Alliierten (bzw. ihre nalgetreu wieder aufgebaut worden – sträfliche Vernachlässigung seitens der als Gedenkstätte und Touristenattraktion. Wehrmacht) bis hin zur unterschiedli- Das Radtourenbuch eignet sich hervorchen Koordination ziviler und militäri- ragend für Berliner wie auch für Ausscher Organe werden einzelne Punkte wärtige, die zu Fuß, mit dem Fahrrad beleuchtet und mit großer Erzählfreude oder mit Bus und Bahn dieses besondere ausgeschmückt. Kapitel der Berliner wie auch der Weltgeschichte selber »erfahren« wollen. ch Insgesamt ein schwungvoll geschriebe- Michael Cramer, Berliner Mauer-Radweg. Eine nes Buch, dessen Lektüre jedem am Zwei- Reise durch die Geschichte Berlins, 2. überarb. ten Weltkrieg Interessierten empfohlen und erw. Aufl., Rodingersdorf (Österreich) werden kann. ag 2002. ISBN 3-85000-074-5; 131 S., 9,90 € Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2002 27 Service •Berlin Die Giganten. Aus der Geschichte der deutschen Grossflugzeuge. Luftwaffenmuseum der Bundeswehr Groß-Glienicker Weg 14089 Berlin-Gatow Telefon: (030) 36 87 – 26 01 Telefax: (030) 36 87 – 26 10 www.luftwaffenmuseum.de Dienstag bis Sonntag 9.00 bis 17.00 Uhr 5. Dezember 2002 bis 17. März 2003 Verkehrsanbindungen: Buslinien 134, 334 und 638 Ausstellungen www.schlossbergmuseum.de Dienstag bis Freitag 11.00 bis 16.00 Uhr Samstag, Sonn- und Feiertag 11.00 bis 17.00 Uhr ab Februar 2002 Verkehrsanbindungen: ÖPNV: ab »Hauptbahnhof Chemnitz« Buslinie 41 Richtung »Heinersdorf« bis Haltestelle »Nordstraße«. Fußweg: ab Hauptbahnhof etwa 20 Minuten. Pkw: Autobahnen A 4 oder A 72 bis zur Abfahrt »Chemnitz-Nord«, dann auf der B 95 (Leipziger Straße) Richtung Zentrum und weiter auf der B 169 + 173 (Richtung Hainichen bzw. Freiberg) •Hildesheim Napoleon Bonaparte – Zar Alexander I. Epoche zweier Kaiser •Bordesholm Deutsche Jüdische Soldaten. Von der Epoche der Emanzipation bis zum Zeitalter der Weltkriege Verwaltungsschule/ Verwaltungsakademie Bordesholm Heitzestrasse 13 24582 Bordesholm 18. Dezember 2002 bis 25. Februar 2003 Ansprechpartner: Herr Bautz (04322) 693 – 504 •Chemnitz Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskriegs 1941–1944 Schloßbergmuseum Chemnitz Schloßberg 12 09113 Chemnitz Telefon: (03 71) 48 84 52 0 Telefax: (03 71) 48 84 59 9 28 Roemer- und PelizaeusMuseum Hildesheim Am Steine 1–2 31134 Hildesheim Telefon: (05121) 9369-0 Telefax: (05121) 352 83 www.rpmuseum.de Montag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 Verkehrsanbindungen: Pkw: Autobahn A7 bis Abfahrten »Hildesheim« und »Hildesheim-Drispenstedt«, Parkplatz gegenüber dem Museum Fußweg: ab Hauptbahnhof »Hildesheim« durch die Fußgängerzone bis zur Kreuzung »Schuhstraße«, dann nach rechts bis zum Museum •Ingolstadt Die Festungsstadt Ingolstadt im 15.–19. Jahrhundert Reduit Tilly Bayerisches Armeemuseum Paradeplatz 4 85049 Ingolstadt Telefon: (08 41) 93 77 0 Telefax: (08 41) 93 77 200 e-mail: sekretariat@ bayerisches-armeemuseum.de Dienstag bis Sonntag 8.45 bis 16.30 Uhr bis 30. September 2003 Verkehrsanbindungen: Ab Hauptbahnhof bis Bushaltestelle »Roßmühlstraße/ Paradeplatz« Preußen und Bayern. Zeugnisse preußischer Militärgeschichte aus dem Bayerischen Armeemuseum Bayerisches Armeemuseum Paradeplatz 4 85049 Ingolstadt Telefon: (08 41) 93 77 0 Telefax: (08 41) 93 77 200 www.bayerischesarmeemuseum.de Dienstag bis Sonntag 8.00 bis 16.00 Uhr bis 30. März 2003 Verkehrsanbindungen: Ab Hauptbahnhof bis Bushaltestelle »Roßmühlstraße/ Paradeplatz« •Neumünster Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944 Kiek In Gartenstraße 32 24534 Neumünster Telefon: (04321) 4 19 96 97 Telefax: (04321) 4 19 96 99 www.ausstellung@ neumuenster.de www.kiek-in-nms.de www.verbrechen-derwehrmacht.de täglich 10.00 bis 18.00 Uhr Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr 4. April bis 18. Mai 2003 •Nordhausen KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora Kohnsteinweg 20 99734 Nordhausen Telefon: (03631) 4 95 80 Telefax: (03631) 49 58 13 www.thueringen.de/de/ museen/nordhausen/dora Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 16.00 Uhr 1. Oktober 2002 bis 31. März 2003 •Peenemünde •Suhl •Wustrau Historisch-Technisches Informationszentrum Kalaschnikow. Mythos und Fluch einer Waffe. Preußische Kadetten Brandenburg-Preußen Museum Wustrau Eichenallee 7A 16818 Wustrau Telefon: (03 39 25) 70798 Telefax: (03 39 25) 70799 www.brandenburgpreussen-museum.de Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 16.00 Uhr bis 30. März 2003 Verkehrsanbindungen: Ab DB-Bahnhof »Wustrau-Radensleben« Bus bis »Wustrau-Hauptstraße«. Autobahn A 24, Abfahrt »Neuruppin-Süd« Im Kraftwerk 17449 Peenemünde Tel.: (038371) 50 50 Fax: (038371) 505 111 www.all-in-all.com/1171.htm Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 16.00 Uhr November 2002 bis März 2003 •Strausberg Wege zur Freundschaft. Ausgewählte Zeugnisse der deutsch-amerikanischen Beziehungen Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation/Stätte der Begegnung Proetzeler Chaussee 20 15344 Strausberg 19. Februar bis 2. März 2003 Verkehrsanbindungen: S-Bahnlinie 5 bis »Strausberg-Nord« Waffenmuseum Suhl. Spezialmuseum zur Geschichte der Handfeuerwaffen Friedrich-König-Straße 19 98527 Suhl Telefon: (0 36 81) 72 06 98 Telefax: (0 36 81) 72 13 08 www.waffenmuseumsuhl.de [email protected] bis 28. Februar 2003 Dienstag bis Samstag 9.00 bis 16.00 Uhr, Sonn- und Feiertags 10.00 bis 16.00 Uhr Verkehrsanbindungen: Sie finden das Waffenmuseum direkt im Stadtzentrum, gegenüber des Herrenteiches, zwischen dem Congress Centrum Suhl und dem Lauterbogencenter. Wie finde ich Ausstellungen? •Wilhelmshaven Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933–1945 Interessante Ausstellungen zu Themen Ihrer Wahl und in Ihrer Nähe können sie ganz gezielt und bequem im Internet suchen: www.damals.de oder www.webmuseen.de Foyer des Stadttheaters Wilhelmshaven Virchowstrasse 42–44 20. April bis 15. Juni 2003 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2002 29 3. Februar 1933 Geschichte kompakt Ansprache Adolf Hitlers vor Befehlshabern des Heeres und der Marine Bereits wenige Tage nach seiner »Machtergreifung«, am 3. Februar 1933, sprach Adolf Hitler vor den Spitzen von Heer und Marine. Die Ansprache ist nach handschriftlichen Aufzeichnungen des anwesenden Generalleutnants Liebmann erhalten. Hitler kündigte hier verhältnismäßig »Der Tod als der letzte Verbündete Hitlers«. offen seine Ziele für die nächsten Fotomontage von Marinus Jacob Kjelgaard (1884–1964), Foto: akg-images Jahre an: Im Innern beabsichtigte er ein »scharfes Vorgehen« gegen diejenigen, die sich ihm entgegenstellen würden. Militärpolitisch war für die Zuhörer vor allem die Aussicht auf allgemeine Wehrpflicht und zügigen Aufbau der Armee bedeutsam. Diese sollte beim angeblich notwendigen Kampf des deutschen Volkes um »Lebensraum« die entscheidende Rolle spielen, vom Kampf im Innern sollte sie jedoch entlastet werden, was die anwesenden Offiziere allgemein positiv aufnahmen. Noch ungleich bedeutsamer ist jedoch, dass Hitler die Eroberung neuen »Lebensraums im Osten« und dessen »rücksichtslose Germanisierung« in Aussicht stellte. Er hat hier seine Ziele sehr deutlich ausgesprochen. Seine Zuhörer unterschätzten allerdings, wie ernst Hitler es meinte, und waren sich eher darin einig, dass »die Rede kecker als die Tat« sein werde und mit der Umsetzung solch radikaler Vorstellungen wohl nicht zu rechnen sei. Insgesamt wurden die Absichten Hitlers aber durchaus positiv aufgenommen; die Offiziere hörten das heraus, was in ihrem Sinne zu sein schien. Aus der heutigen Sicht ist diese Rede ein Dokument, das die Einbeziehung der deutschen Streitkräfte in die nationalsozialistische Kriegführung, den ideologisch motivierten Raubund Vernichtungskrieg im Osten, zu einem ganz frühen Zeitpunkt eindrucksvoll belegt. Gewusst haben also alle führenden Militärs von den Vorstellungen Hitlers über die künftige Kriegführung und die Kriegsziele, die meisten haben sie allerdings wohl eher nicht ganz ernst genommen. Gleichwohl hatte der »Führer« an diesem Tag gedanklich vorweggenommen, was nur gut sechs Jahre später Realität werden sollte. ag ADN 2. Februar 1978 Rücktritt des Verteidigungsministers Georg Leber Am 2. Februar 1978 trat der damalige Verteidigungsminister Georg Leber von seinem Amt zurück. Den Anlass für den Sturz des in der Truppe durchaus populären Ministers, dem die historische Aussöhnung der Streitkräfte mit den Gewerkschaften gelungen war, bildete dabei eine Abhör-Affäre des MAD, für die er die Verantwortung übernahm. Hintergrund des Rücktritts war aber auch ein innerparteilicher Richtungskampf in der SPD über die Frage, wie weit man beim Kampf gegen Terrorismus und Spionage gehen dürfe. Mit dem Rücktritt Lebers konnte sich die Parteilinke in der SPD durchsetzen, dem Minister wurde ein sensibilisiertes Rechtsbewusstsein zum Verhängnis. Der MAD hatte 1974 ohne Lebers Wissen dessen Sekretärin in deren Wohnung abgehört, da sie der Zusammenarbeit mit der DDR-Spionage verdächtigt wurde. Dies stellte sich nachher jedoch als grundlos heraus. Der Minister erfuhr Anfang 1978 von der illegalen Abhöraktion, teilte dies aber dem Parlament erst mit, nachdem am 26. Januar 1978 die Illustrierte »Quick« einen entsprechenden Artikel veröffentlicht hatte. Er verschwieg jedoch die illegale Abhörung des »Kommunistischen Bundes Westdeutschlands« – von der er nach eigenen Angaben erst im Nachhinein erfahren hatte –, weil er sie für rechtmäßig gehalten hatte. Erst eine »von ihm angeordnete gründliche juristische Untersuchung« ergab das Gegenteil – damit war Leber als Minister kaum noch tragbar. Mit seinem Rücktritt zog er die Konsequenzen für das Handeln des ihm unterstellten Dienstes. ag 30 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 Heft 1/2003 Service Militärgeschichte Zeitschrift für historische Bildung Ü Vorschau Die Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstandes in China im Jahr 1900 war ein seltenes Beispiel von Einmütigkeit unter den ansonsten in Rivalität und Feindschaft zueinander stehenden imperialistischen Mächten. Auch Soldaten des Deutschen Reiches beteiligten sich an dieser internationalen Intervention. Sie sollte den gewaltsamen Versuch von Teilen der chinesischen Bevölkerung, Eigenständigkeit durch Abwehr aller Beeinflussung von außen zu gewinnen, mit militärischer Macht niederringen. Dabei wurden nicht nur für die deutsche politisch interessierte Öffentlichkeit Begriffe geprägt und Bilder gezeichnet, die jahrzehntelang Bestand haben sollten. »The Germans to the front« lautet der Titel des Gemäldes von Carl Röchling aus dem Jahr 1902 und bezieht sich dabei auf den Befehl von Admiral Lord Seymour zum Vorrücken deutscher Truppen unter Korvettenkapitän Buchholz im Juni 1900 in einer für die Alliierten kritischen Situation. Für die deutsche Öffentlichkeit standen diese Szene und dieser Satz symbolhaft für den Aufstieg des Reiches zur Weltgeltung, da der Vertreter der ersten Weltmacht – Großbritannien – den deutschen Beitrag zur Sicherung der Weltordnung einforderte und benötigte. Die Rolle des deutschen Kanonenbootes »Iltis« bei der Bezwingung der Taku-Forts an der chinesischen Küste am 17. Juni 1900 stand beispielhaft für den Anteil der Kaiserlichen Marine beim Versuch des jungen Reiches, eine führende Rolle bei der globalen Mitgestaltung durchzusetzen. Als das deutsche Expeditionskorps im Juli 1900 zur zweiten Interventionsaktion nach China verabschiedet wurde, hielt Wilhelm II. eine Ansprache, die als »Hunnenrede« in die Geschichte eingehen sollte. Die Aufforderung, die deutschen Soldaten sollten es in China den Hunnen im Mittelalter gleich tun, wurde auch international aufmerksam verfolgt und sollte den Ententemächten im Ersten Weltkrieg ein willkommenes Bild für ihre antideutsche Propaganda liefern. Dabei stand die Gewalttätigkeit der kaiserlichen Diktion in keinem Verhältnis zur tatsächlichen militärischen Wirkung der deutschen Truppen. hk Militärgeschichte im Bild Bundesgrenzschutz 3 Theodor Blank bei einer Rede anlässlich der Übernahme von BGS-Angehörigen in die Bundeswehr Keystone Pressedienst 6WELT am SONNTAG 1955–1956 Übernahme von fast 10000 Grenzschutzbeamten in die Bundeswehr am 1. Juli 1956 D ass die Aufstellung der Bundeswehr eine Aufgabe war, die vor allem personell nicht von heute auf morgen gelöst werden konnte, leuchtet auch bei einer vordergründigen Betrachtung schnell ein. Schließlich hatte es in Deutschland seit 1945 keine Streitkräfte mehr gegeben, erst seit 1949 gab es überhaupt die Bundesrepublik, und die Vorläufer des Verteidigungsministeriums (im Wesentlichen das »Amt Blank«) waren noch jünger. Der erste Verteidigungsminister Theodor Blank hatte daher schon vor seiner Ernennung zum Minister, noch als Leiter der nach ihm benannten Dienststelle, Personalsorgen. Diese waren in den 50er Jahren nicht leicht zu lösen. Die allgemeine Stimmung in der Bundesrepublik war nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs nicht gerade militärbegeistert. Auch absorbierte der enorme Wirtschaftsaufschwung, das »Wirtschaftswunder«, zahlreiche Arbeitskräfte. Ehemalige Soldaten hatten sich inzwischen häufig in zivilen Berufen zurechtgefunden und überhaupt gab es keine Parallele in der deutschen Geschichte, eine Armee quasi aus dem Nichts zu schaffen. In dieser Situation bot sich Blank wenigstens eine kleine Entlastungsmöglichkeit. Schließlich gab es schon seit 1951 den Bundesgrenzschutz (BGS), der vornehmlich die innerdeutsche Grenze (damals noch »Zonengrenze« genannt) zu sichern hatte. Hier waren bereits »Grenzjäger« ausgebildet worden, die von ihrer Ausbildung und ihrem Tätigkeitsfeld her dem Militär sehr nahe standen (unser Titelbild) – viele hatten auch schon in der Wehrmacht gedient. Die Debatte um eine Übernahme des BGS als »Keimzelle« in die neue Bundeswehr (in der Tagespresse oft noch als »neue Wehrmacht« bezeichnet) war gleichwohl heftig, am Ende setzten sich aber die militärischen und sicherheitspolitischen Vorteile durch. Die Grenzschutzbeamten durften wählen, ob sie in die Bundeswehr eintraten, immerhin gut die Hälfte (knapp 10000 von ca. 17000) entschied sich für den Dienst in der neuen Armee und wurde am 1. Juli 1956 formell und acht Tage später mit einem Großen Zapfenstreich in die Bundeswehr übernommen. Der Verteidigungsminister hatte also nun Soldaten, die schon laufen konnten (siehe Karikatur), und einige von ihnen wurden später sogar 4-Sterne-Generale wie Hans-Joachim Mack, Günter Kießling und Dieter Clauss. ag Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2002 31 P U B L I K A T I O N E N des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg: Ein Vergleich Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Bruno Thoß und Hans-Erich Volkmann, Paderborn u.a.: Verlag Ferdinand Schöningh 2002, 45,-€, ISBN 3-506-79161-3