Des Königs Beruf - Erziehungskunst

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»Des Königs Beruf«
Ein Opernprojekt an der Lübecker Waldorfschule
Ulrike Osterkamp
Von der Idee zum Sujet
Ein musikalisches Projekt besonderer Art veranlasst mich, Erfahrungen und Erkenntnisse
über die gesanglichen Möglichkeiten einer 6. Klasse weiterzugeben, den Entstehungsprozess einer Opernkomposition zu schildern und im gleichen Atemzug auf einen neuen musikalischen Leckerbissen hinzuweisen, der unbedingt lohnenswert ist, »Opernliebhaber«
in der Schülerschar von weiteren Sechstklässlern zu finden.
Ausgangspunkt für dieses Unternehmen war eine Begegnung des Komponisten Wolfgang Wünsch mit den Schülern der damaligen 5. Klasse im Juni 2001 zu seinem 75. Geburtstag. Schüler der verschiedenen Klassenstufen sangen für ihn Chorstücke aus seinen
vielfältigen Kompositionen für den Schulalltag. Dabei entstand mit der singfreudigen
Klasse und ihrer engagierten Klassenlehrerin die Idee, einmal eine richtige Oper zu singen. Wolfgang Wünsch erwähnte daraufhin, dass er schon immer an eine Oper speziell
für eine 6. Klasse gedacht hatte, ein Werk, in dem die Kinderstimmen altersgerecht gefordert werden. Es gab nur noch keine Gelegenheit. Das hatte sich mit dieser Äußerung
schlagartig geändert und spannende Monate begannen!
Barbara Wünsch erinnerte sich an das Märchen von Henning Köhler und schrieb den
»Geschichtenkönig und das Sternenkind« in kurzer Zeit in ein Libretto um. Noch vor
Weihnachten 2001 wurde es fertig, so dass der Komponist beginnen konnte.
Musikalische Hinführung
Das Schuljahr schritt voran. Verschiedenste musikalische Themen wurden bewegt, mehrstimmige Lieder erübt. Meine Sorge wuchs, wie ich die größer werdenden Kinder für das
noch nicht greifbare Vorhaben »Oper« begeistern sollte. Ich hielt mich mit Äußerungen
zu dem Entstehungsprozess vor den Kindern zurück. Stattdessen forderte ich die Klasse
mit anspruchsvoller mehrstimmiger Literatur. So wurde das »Engels-Terzett« aus dem
»Elias« von Mendelssohn: »Hebe Deine Augen auf« intensiv erarbeitet und von den Kindern geliebt. Nach Weihnachten berührte ich das Thema »Oper« anhand von Auszügen
aus der Zauberflöte. Wir sprachen über die musikalische Form der Oper, über die Inhalte
und über die Aussagekraft im Gegensatz zu einem Theaterstück.
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Müssen wir auch alleine singen?
Warum sprechen wir nicht den Text, warum denn ein Märchen, das ist uns zu kindisch
…!? Solche Fragen und Äußerungen der Schüler entstanden aus meinen Andeutungen zu
dem inzwischen vorliegenden Libretto.
Die Vorsicht, mit der ich versuchte, an dieses Thema heranzugehen, ergab sich aus dem
Entwicklungsprozess, der in einer 6. Klasse zu Beginn des 2. Halbjahres offensichtlich
wird. Die Entwicklung nimmt ihren Lauf, die Stimmen beginnen sich zu verändern,
die Unbefangenheit wird sichtlich eingeschränkter. Wie kann die Motivation für ein
Singspiel dieser Art gefunden werden? Es gelang mir, indem ich nun immer öfter von
der Arbeit des Komponisten berichtete, so dass sich ein anhaltendes Interesse bei den
Kindern entwickelte.
Im Februar 2002 hörte ich mir die ersten zwei Bilder an. Ein Klavierauszug lag vor.
Zwei Chöre, der Schlusschor des ersten Bildes und der »Räuberchor« waren die Notenblätter, die ich mit nach Hause nahm. Ohne irgendeinen Zusammenhang mit der Oper zu
erwähnen, sangen die Schüler in den nächsten Stunden diese Stücke. Begeistert wurde
der mit Trommeln zu begleitende »Räuberchor« angenommen.
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Der Klavierauszug wird fertig
Kurz darauf hatte ich endlich den handschriftlichen Klavierauszug vorliegen. Es war
spannend, mit dem Komponisten und seiner Frau die Oper durchzugehen, Vorstellungen
von den einzelnen Bildern zu bekommen und eine musikalische Idee verstehen zu lernen.
Ein musikalisches Märchen hatte eine Form bekommen: 27 Rollen sollen in fünf Bildern
singen und spielen.
Die Melodien der einzelnen Rollen sind rezitativisch gehalten, dem Sprachrhythmus
nachempfunden. Die Chöre sind meist dreistimmig, klangvoll harmonisch. Das dritte
Bild ist rein sprachlich konzipiert. Noch nicht vorstellbar für mich war die gedachte Instrumentierung, die mit dem weiteren kompositorischen Arbeitschritt – das Erstellen der
Partitur – erst deutlich werden sollte.
An dieser Stelle wurde klar, dass mit dem Klavierauszug das Aufführungsmaterial noch
lange nicht vorlag. Wolfgang Wünsch würde aus terminlichen Gründen nur noch die
Partitur schreiben können, die einzelnen Stimmen waren dann noch herauszuschreiben.
Da steht man nun mit dem Problem, die Produktion einer Oper stückweise erlebend, aber
noch ohne Überblick über das Gesamtgeschehen. Das Notenmaterial musste in Druck
gegeben werden, um mit der weiteren Planung nicht in Verzug zu geraten.
Da kam das Angebot eines ehemaligen Kollegen, der ein Notensatzprogramm beherrscht, wie gerufen. Mit seiner Hilfe wurde aus der handgeschriebenen Partitur des
Komponisten das komplette Aufführungsmaterial erstellt. Doch auch diese Arbeit brauchte Zeit.
Ein weiterer Punkt wurde deutlich: Das Unternehmen »Oper« bedurfte größerer Unterstützung. Die Regiearbeit wurde von der Klassenlehrerin übernommen, die zunehmend
intensiver von Barbara Wünsch unterstützt wurde.
Ideen zum Bühnenbild entstanden mit der Klasse zusammen. Aus Zeitgründen entschieden wir uns für wenig Kulisse. Trotzdem sollte auch das gut durchdacht sein. Auch
hier brachte Barbara Wünsch wertvolle Erfahrungen mit ein. Die Beleuchtung trat in den
Vordergrund. Kostüme wurden von der Handarbeitslehrerin zusammengestellt. Diese
vielen Puzzle-Teile sollten in der knappen Zeit ein Ganzes werden. Mein Part, die musikalische Arbeit mit den Kindern, entwickelte sich zunehmend.
Wie sich die 6. Klasse an ihre Oper herantastete
Ein handschriftlicher Klavierauszug und ein Klassensatz Textbücher, das war das Arbeitsmaterial in den letzten zwei Wochen vor den Osterferien 2002. Wir erarbeiteten uns
gemeinsam den Text durch das Lesen mit verteilten Rollen. Verschiedene Szenen sang ich
vor und die Kinder sangen nach. Auf diese Weise wurde schnell die musikalische Abfolge
der einzelnen Szenen deutlich. Ohne Noten, allein vom Hören her! Textstellen verbanden
sich erstaunlich rasch mit den vorgesungenen Melodiebögen. Schauspielerische Elemente ergaben sich aus dem Inhalt und den Regieanweisungen. Wir erarbeiteten uns auf diese
Weise in kurzer Zeit einen guten Überblick über das gesamte Werk. Kurz vor den Osterferien standen die beiden Besetzungen fest. Für die Kinder hieß es nun, in den Ferien ihre
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Rollen zu lernen, rein vom
Text her, denn die Chorpartituren wurden erst nach
den Osterferien fertig.
Nach den Ferien begann
die Arbeit jedes Mal mit
einer intensiven Stimmbildung. Die Kinder verlangten später selbst danach.
Für das einstündige Stück
wurde Durchhaltekraft für
die Stimmen notwendig.
Bewegungs- und Lockerungsübungen gehörten in
der Endphase zu unserem
täglichen Programm. Die
Szenen wurden zunächst
immer chorisch angelegt,
dann wurden die einzelnen
Rollen in der Doppelbesetzung gesungen. Der Sologesang ergab sich aus der
jeweiligen Besetzung, die
dann geprobt wurde und die
die Kinder untereinander
mit großer Wachsamkeit,
aber auch erstaunlicher
Kritikfähigkeit begleiteten. Schauspielerische und
sängerische
Leistungen
wurden gebührend geehrt,
Schwachstellen mit Geduld und guten Tipps vorangebracht – eine besondere Fähigkeit,
die vielleicht dieser Klasse zugute kommen mag, vielleicht aber eine Qualität dieser
Altersstufe ist. Die weitgehend noch große Unbefangenheit und Spielfreude verhalf den
Stimmen frei zu bleiben.
Bemerkenswert ist das unterschiedliche Stimmen-Material von Jungen und Mädchen.
Die Knaben waren zu dem Zeitpunkt der Einstudierungsphase auf dem Höhepunkt ihrer
stimmlichen Möglichkeiten, die Mädchen hatten diesen teilweise schon wieder überschritten. Es wurde deutlich, dass diese Oper für eine 6. Klasse möglichst zu Beginn des
Schuljahres einzustudieren ist, um eine bestmögliche Stimmqualität zu erreichen. Sicherlich ist diese Entscheidung individuell zu fällen, je nachdem, wie man als Musiklehrer die
Stimmen entwickeln und kultivieren konnte.
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Endphase
Die Zeit nach den Osterferien war nur noch knapp bemessen. Die ersten Gesamtproben
fanden bald schon in der Hauptunterrichtszeit auf der Bühne statt. Eine richtige Umstellungszeit musste gewährt werden, denn es war ungewohnt für die zarten Kinderstimmen,
den Raum des Saales zu füllen. Eine wichtige Erfahrung wurde für jeden einzelnen, wie
die eigene Stimme durch einen guten Stand und eine sichere Geste an Fülle gewinnen
konnte. Eine unerwartete Stimmkondition entwickelte sich. Eine Klassenfahrt, eineinhalb Wochen vor der Uraufführung, mit dem Ziel intensiver Einzelproben bündelte musikalisch wie auch menschlich die Arbeit.
In der Endphase musste nun die letzte Hürde genommen werden. Der bis dahin durch
die Klavierbegleitung einer Kollegin getragene Gesang sollte nun durch ein Instrumental-Ensemble begleitet werden. Gedacht war von dem Komponisten an ein Ensemble von
Oberstufenschülern, für die er seine Musik instrumentiert hatte: Ein Streichquartett mit
teilweise dritter Geige, ein Holzbläsertrio (Querflöte, Klarinette, Fagott), eine Blockflöte (Sopranino) und diverses Schlagwerk (zwei Metallophone, Trommel, Triangel, Becken).
Es stellte sich heraus, dass der Uraufführungstermin kurz vor den Sommerferien ein
ungünstiger Zeitpunkt für dieses Vorhaben in der Lübecker Schule war. Nahezu sämtliche
Oberstufenklassen waren auf Praktika oder Kunstreise. Somit musste sich das Instrumental-Ensemble sehr kurzfristig aus Freunden, Eltern und einigen wenigen Schülern
zusammensetzen. Die für diese Musik notwendige Probenzeit war aus Termingründen
sehr schwer durchführbar. Besonders die gemeinsamen Proben mit dem Opern-Ensemble
hätten ausführlicher stattfinden müssen. Die Notwendigkeit, die jungen Sänger in einfühlsamer Weise zu begleiten, die variierenden Tempi aufzunehmen und dabei doch die
komplexe Komposition wiederzugeben, hätte noch einiger Proben mehr bedurft.
Sänger, Instrumentalisten, Regie und Dirigentin haben einen gemeinsamen Weg gefunden und eine gelungene Erstaufführung am 22. Juni 2002 präsentiert. Auf dem Weg dahin
haben wir miteinander viel gelernt, die Klassengemeinschaft hat gewonnen, musikalische
Qualitäten konnten erlebbar werden. Es war mehr als ein Klassenspiel – eine musikalische Erfahrung, die man einer Mittelstufenklasse nur wünschen möchte. Interessierte Kollegen können sich wegen der Aufführungsrechte und -material gerne
an mich wenden.
Zur Autorin: Ulrike Osterkamp, Jahrgang 1957. Nach dem Zweiten Staatsexamen einjähriger Kurs
am Lehrerseminar Witten. Im Schuljahr 1986/87 Zusammenarbeit mit Wolfgang Wünsch an der
Bonner Waldorfschule. Seit 1994 Musiklehrerin an der Freien Waldorfschule Lübeck mit dem
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