Zur Philosophie Paul Lorenzens

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Jürgen Mittelstraß (Hg.)
Zur Philosophie
Paul Lorenzens
mentis
MÜNSTER
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Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen
Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
ISBN 978-3-89785-775-9
Jürgen Mittelstraß
BEGRÜSSUNG UND EINFÜHRUNG
Nach einem bemerkenswerten Konstruktivistentreffen 2005 anläßlich großer Geburtstage der beiden Gründer der Erlanger Schule, die zeitweilig auch
als Erlangen-Konstanzer Schule bezeichnet wurde, nämlich Wilhelm Kamlahs und Paul Lorenzens, und der nicht weniger schönen Stiftungsfeier im
September 2009 ist dies nun die dritte Veranstaltung, die dem philosophischen Erbe Paul Lorenzens gewidmet ist. Das soll nicht bedeuten, daß wir
damit Heldengedenken – auch in der Philosophie keine gänzlich unbekannte
Kategorie – betreiben wollen und das auch in Zukunft so weitergehen soll.
Worum es im besten Sinne geht, ist, sich der wissenschaftlichen Leistungen
und der großartigen philosophischen Anstöße zu vergewissern, die sich mit
dem Namen Paul Lorenzen und dem philosophischen Werden vieler unter
uns verbinden, um um so selbstbewußter an Geleistetes anzuknüpfen und
neue Wege, die sich mit dem Denken Paul Lorenzens geöffnet haben, zu gehen.
Das ist ohnehin schon in vielfältiger Weise, jeweils höchst wirkungsvoll in seiner Art, geschehen. Ich erwähne hier nur – nicht um zu schmeicheln, sondern um einige lichtvolle Momente (nicht im Sinne einer Lichtung
des Seins, sondern einer Lichtung des Denkens) wenigstens anzudeuten –
die Wege von einer Protoethik zu einer anwendungsstarken, Disziplinarität
mit Transdisziplinarität verbindenden Ethik von Carl Friedrich Gethmann,
die handlungstheoretisch fundierten, sich in prototheoretischer Weise dokumentierenden Konzeptionen eines Methodischen Kulturalismus von Peter Janich, die sprachphilosophischen und wissenschaftstheoretischen Konstruktionen und die Kulturtheorie der Vernunft von Friedrich Kambartel,
die dialogischen und zeichentheoretischen, weit ins Anthropologische ausgreifenden Konstruktionen eines Dialogischen Konstruktivismus von Kuno
Lorenz und die grundlagentheoretischen und historischen Arbeiten im Bereich der Logik, der Mathematik und der Sozialwissenschaften von Christian
Thiel. Ich selbst spiele in diesem erlauchten Kreise der Älteren mit der qualvollen Pflege der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie eher die
Rolle eines philosophischen Hausmeisters.
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Jürgen Mittelstraß
Apropos Enzyklopädie oder ›Lambert‹, wie wir sie liebevoll nennen, eines Meisters gedenkend, dem sich Gereon Wolters in seinen jungen Jahren
gewidmet hat. Der halbe Weg der nunmehr acht Bände umfassenden zweiten
Auflage ist gegangen. Wir müssen und können schneller werden. Während
Band V, an dem wir derzeit arbeiten, noch eine erhebliche Bearbeitungsaufgabe angesichts früherer Großzügigkeiten darstellt, fallen uns die dann noch
fehlenden drei Bände mit den vorbildlichen Bänden III und IV der ersten
Auflage praktisch in den Schoß – sie werden lediglich um einige Stichworte ergänzt und bibliographisch erweitert werden. Um so munterer sollte es
jetzt mit den laufenden Arbeiten am Band V weitergehen. Der enzyklopädische Geist wird unruhig und der Hausmeister immer älter. Wer hier als
Autor betroffen ist, der höre!
Unser heutiges Programm ist nicht enzyklopädisch, obgleich der thematische Bogen weitgespannt ist: von sprachphilosophischen über argumentationstheoretische, logische, mathematische und handlungstheoretische bis
hin zu soziologischen Analysen und – damit darf man bei Vertretern einer
konstruktiven Philosophie bzw. eines konstruktiven Denkens fest rechnen –
systematischen Konstruktionen. Das Analytische und das Konstruktive verbinden sich in diesem Denken gegenüber einem vornehmlich historisch oder
hermeneutisch und synkretistisch oder postmodern gesonnenen Denken zu
einer, wie zu hoffen ist, dauerhaften und zukunftsstarken philosophischen
Perspektive. Die Philosophie ist eben nicht nur, mit Hegel, ihre Zeit in Gedanken gefaßt, sondern, und in erster Linie, ein genaues Denken, dem sich
auch die Zeit zu stellen hat. Es beschreibt nicht nur das Leben der Vernunft,
es ist das Leben der Vernunft.
Gottfried Gabriel
DIE IDEE DER ORTHOSPRACHE
I am apt to imagine that, were the imperfections of language,
as the instrument of knowledge, more thoroughly weighed, a
great many of the controversies that make such a noise in the
world, would of themselves cease; and the way to knowledge,
and perhaps peace too, lie a great deal opener than it does.
John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, Buch III, Schluß von Kap. IX
In meinem Beitrag werde ich nicht auf Einzelheiten des Aufbaus einer Orthosprache eingehen, sondern mich mehr, wie es im Titel heißt, mit der Idee
einer Orthosprache auseinandersetzen. Der Begriff der Orthosprache ist denen, die mit der Philosophie des Konstruktivismus vertraut sind, bestens
bekannt. Da eine solche Bekanntschaft aber nicht allgemein vorausgesetzt
werden kann, sei eine kurze Erläuterung vorangestellt. Der von Paul Lorenzen eingeführte Terminus ›Orthosprache‹ ist eine Analogiebildung zum griechischen Fremdwort ›Orthographie‹, das bekanntlich Richtig- bzw. Rechtschreibung bedeutet. Die Rechtschreibung erstreckt sich auf die richtige
Schreibweise der Wörter (einschließlich der Worttrennungen), legt also z. B.
fest, daß statt ›Orthographie‹ auch ›Orthografie‹ geschrieben werden darf.
Nicht über den Sinn oder Unsinn von orthographischen Regelungen überhaupt, aber über den Sinn oder Unsinn bestimmter Regeln kann durchaus
heftig gestritten werden, wie die Diskussion um die jüngste Rechtschreibreform zeigt. Anders als der Orthographie geht es der Orthosprache nicht um
das korrekte Schriftbild einer natürlichen Sprache, sondern um den Aufbau
von Syntax und Semantik einer idealen schriftlichen und mündlichen Sprache, die dazu dienen soll, die wissenschaftliche Verständigung und darüber
hinaus auch die Verständigung überhaupt – bis in die Politik hinein – zu
verbessern. Insofern denke ich, daß Paul Lorenzen das Lockesche Eingangsmotto in vollem Umfang unterschrieben hätte. In methodologischer Hinsicht kommt allerdings noch eine Verschärfung hinzu. Der Eintrag in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie bestimmt ›Orthosprache‹
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Gottfried Gabriel
als eine »methodisch aufgebaute Sprache, in der jedes Wort oder jedes Zeichen ausdrücklich und zirkelfrei in seiner Verwendungsweise angegeben ist«
(Schwemmer 1984). Der Artikel verweist dabei auch auf das Ortholexikon in
der ersten Auflage von Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie
(Lorenzen und Schwemmer 1973, im konstruktivistischen Volksmund und
im folgenden kurz ›BI 700‹ genannt).
Ein wichtiger Unterschied zwischen dem Ortho-Gedanken der Orthographie und demjenigen der Orthosprache besteht darin, daß den Regeln der
Orthosprache prima facie keine allgemeine externe Verbindlichkeit, sondern
lediglich der Status von begründeten Vorschlägen zukommt, die zunächst innerhalb einer Sprachgemeinschaft, also intern, verbindlich werden, nachdem
deren Mitglieder sich auf sie gemeinsam geeinigt haben. Zu betonen ist, daß
die Vorschläge revidierbar sind und zurückgenommen werden dürfen. Die
Einigung auf einen gemeinsamen Sprachgebrauch ist also aufkündbar. Die
Aufkündigung sollte allerdings (wie der vorausgegangene Vorschlag selbst)
begründet erfolgen. Der Aufbau der Orthosprache ist demnach aus prinzipiellen Gründen nicht ein für alle Mal abschließbar. So heißt es im Vorwort zu BI 700, daß es sich um einen »Versuch« handele, »lückenlos ein hinreichendes System von Grundbegriffen (einschl. aller syntaktischen Mittel)
von Logik, Ethik, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte und Sozialwissenschaften so zu konstruieren, daß der Ausbau der hier vorgeschlagenen ›Orthosprache‹ von den Fachwissenschaften in ihren Fachsprachen
fortgesetzt werden kann« (Hervorhebung G. G.). Diese Formulierung unterstreicht nicht nur den Vorschlagscharakter der Orthosprache, sie deutet
überdies an, daß das Schwergewicht vor allem auf der konstruktiven Bereitstellung der Grundbegriffe und der mit ihnen vollzogenen Unterscheidungen, also auf der Semantik und weniger auf der Syntax, ruht. Ich denke, daß
diese Einschätzung richtig ist. Richtig nicht deshalb, weil die Syntax weniger wichtig wäre, sondern weil sie weniger kontrovers und daher weniger
einigungsbedürftig sein dürfte. So sollte die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten der Kopula in Aussagen (Lorenzen 1973, 237) und die so
genannte »empraktische [bzw. empragmatische 1] Begründung der logischen
Partikeln« (Lorenzen 1980, 83) wenig strittig sein, auch wenn damit noch
nicht alle Probleme einer pragmatischen Fundierung der logischen Syntax
der Orthosprache geklärt sind. Auf größeren Widerstand stößt jedenfalls der
Aufbau des semantischen Teils der Orthosprache, insbesondere die Einrichtung eines Ortholexikons mit den darin getroffenen Unterscheidungen. Der
Grund ist, daß unser Denken hier nicht nur formal, sondern inhaltlich festgelegt wird. Den Fragen, die sich daraus ergeben, möchte ich mich im folgen1
Im Einleitungskapitel von BI 700, 17 (Autor ist O. Schwemmer) ist ›empraktisch‹ durch ›empragmatisch‹ ersetzt.
Die Idee der Orthosprache
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den zuwenden. Dabei werde ich zunächst unabhängig vom Orthosprachenprogramm eine Charakterisierung der Besonderheit des Unterscheidungswissens und des Erkenntniswertes von Definitionen vornehmen.
Gemeinhin verbindet man Erkenntnis mit Aussagen, Urteilen oder Behauptungen; denn diese sind es, von denen es seit Aristoteles – über Kant
bis zu Frege – heißt, daß ihnen Wahrheit (oder Falschheit) zukommt. Dieser Tradition folgend bleibt der Erkenntnisbegriff an den Wahrheitsbegriff
gebunden: ›Wissen‹, jedenfalls theoretisches Wissen, wird bestimmt als ›gerechtfertigter wahrer Glaube‹ (justified true belief). Erkenntnis ist demgemäß auf einen propositionalen Wissensbegriff festgelegt. Definitionen wird
lediglich die Funktion zugewiesen, den Gebrauch der in Aussagen verwendeten Termini zu erläutern oder festzulegen. Da sie selbst nichts behaupten,
sind Definitionen nicht als wahr oder falsch zu beurteilen. Als sprachliche
Gebilde werden Definitionen nur grammatisch, nicht aber logisch-semantisch, als Aussagen behandelt, d. h. Definitionen haben keinen Wahrheitswert.
Häufig wird diese Auffassung zur Willkürlichkeitsthese verschärft, der
These nämlich, daß Definitionen willkürliche Festsetzungen des Gebrauchs
von Zeichen sind bzw. sein sollten. Definitionen dienen danach lediglich
der Abkürzung, ohne selbst einen Erkenntniswert zu haben. Diese Willkürlichkeitsthese, die auf Hobbes und Pascal zurückgeht, ist insbesondere
in der modernen, an formalen Systemen orientierten Wissenschaftstheorie
vertreten worden. Ich halte sie im Kern für verfehlt (dazu Gabriel 1972).
Sie gilt nicht einmal für formale Sprachen, geschweige denn außerhalb formaler Sprachen. Gewiß kommt es auch vor, daß ein willkürlich gewähltes
Zeichen als Abkürzung für ein komplexeres Zeichen eingeführt wird, dies
ist aber keineswegs der Normalfall einer Definition. Betrachten wir als Beispiel den Kalkül der klassischen Aussagenlogik. Die Möglichkeit, Junktoren (mit Hilfe des Negators) durch andere Junktoren definieren zu können,
stellt eine tiefe logische Einsicht dar, und die entsprechenden Definitionen
sind allenfalls insofern willkürliche Festsetzungen, als die Wahl der Symbole
willkürlich – nämlich konventionell – ist. Für die jeweiligen Gleichsetzungen der Bedeutungen gilt dies aber nicht. So ist die Wahl des Zeichens für
die Subjunktion (›→‹), des Zeichens für die Adjunktion (›∨‹) und des Zeichens für die Negation (›¬‹) willkürlich. Die Definition der Subjunktion mit
Hilfe von Adjunktion und Negation (›p → q =Df ¬ p ∨ q‹) ist aber keineswegs
eine bloß willkürliche Festsetzung, sondern eine (wegen ihrer Extensionalität sogar umstrittene) Teilexplikation der Bedeutung des ›wenn – so‹, die
uns eine Einsicht in die logische Tiefenstruktur unserer Sprache zu vermitteln versucht und als solche – anders als eine willkürliche Festsetzung – Adäquatheitskriterien zu erfüllen hat. Willkürlich sind solche Definitionen nur,
solange wir künstlich so tun, als ob wir es mit bloßen Zeichen in formalen
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