Dr. Evelina Volkmann, Am Israelsonntag Gottesdienst halten und predigen, Mai 2015 1 Am Israelsonntag Gottesdienst halten und predigen Schwierigkeiten Der 10. Sonntag nach Trinitatis ist bei vielen Predigenden wenig beliebt. Israel, Judentum, Synagoge und ihr Verhältnis zu unserem christlichen Glauben ist offensichtlich für viele ein schweres Thema. Ratlos oder unsicher sind die einen, verlegen oder vorsichtig die anderen. Wieder andere übergehen das Proprium stillschweigend oder glänzen mit Übereifer. Und dann sind da auch Anfragen mancher Gemeindeglieder: Was ist der Israelsonntag denn eigentlich? Warum sollen wir über unser Verhältnis zum Judentum nachdenken? Niemand von uns hat Kontakt zu Juden! Ist das nicht ein Thema, das nur einen kleinen Kreis von Menschen interessiert? Und wieso sollen wir im Gottesdienst über Israel nachdenken? Der Begriff „Israel“ bringt viele Unklarheiten mit sich. Manche denken bei „Israel“ an das biblische Volk Israel. Andere fühlen sich befremdet, weil sie mit allem, was nach „IsraelTheologie“ klingt, doch nie etwas zu tun gehabt haben. Und nun sollen sie darüber predigen. Wieder andere denken hierbei zuerst an den Staat Israel. So ergeben sich viele Fragen. Mit diesem kleinen Artikel möchte ich – insbesondere für die Prädikanten und Prädikantinnnen der württembergischen Landeskirche – Hintergrundinformationen zum 10. Sonntag nach Trinitatis und zu seiner liturgischen Gestaltung geben. Der 9. Aw Der klassische 10. Sonntag nach Trinitatis erinnert an ein markantes Ereignis der jüdischen Geschichte, und zwar an die Zerstörung Jerusalems mitsamt seinem Tempel unter dem römischen Heerführer Titus im Jahr 70 n.Chr. Stehen geblieben ist damals nur eine Mauer, die Westmauer oder „Klagemauer“. Im Judentum wird zur Erinnerung jedes Jahr am Tag der Zerstörung am 9. Aw – „Aw“ ist ein Sommermonat des jüdischen Kalenders – ein Fastentag begangen. Im Jahr 2015 fällt der 9. Aw auf den 26. Juli. In der Synagoge werden die Klagelieder Jeremias’ gelesen. Sie bringen die jüdische Trauer zum Ausdruck. Diese Trauer trägt immer auch einen Moment von Selbstkritik und Buße in sich. Die rabbinische Literatur sieht in der erlebten Niederlage eine göttliche Strafe für begangene Verfehlungen. Die Erinnerung hieran geschieht jedoch – und das wurde christlicherseits meist übersehen – im Horizont der Gnade und des Trostes Gottes. Das Judentum weiß, dass seine Beziehung zu Gott mit der Tempelzerstörung kein Ende fand. Zu Geschichte und Tradition des 10. Sonntags nach Trinitatis In der Christenheit hat man sich mit dem 10. Sonntag nach Trinitatis der Erinnerung an die Tempelzerstörung angeschlossen. Im Mittelalter verbindet sich die Perikope Lk 19,41-48, die bisher das Thema dieses Tages angibt, mit diesem Sonntag. Dort berichtet der Evangelist: Jesus fängt bei seinem Einzug nach Jerusalem zu weinen an. Denn diese Stadt erkennt nicht, was zu ihrem Frieden dient. Deshalb kündigt er ihr die Zerstörung an. Im 16. Jahrhundert erfährt dieser Tag neue Aufmerksamkeit. Es bildet sich die protestantische Tradition heraus, am sogenannten „Judensonntag” im Gottesdienst an die Zerstörung Jerusalem zu erinnern. Doch dies hat nichts gemeinsam mit dem 9. Aw. Im Gegenteil: Die Zerstörung Jerusalems wird ausschließlich als göttliches Gericht über die Juden verstanden: dafür dass die Mehrheit von ihnen in Jesus nicht den Messias erkannt habe und dafür dass sie Jesus getötet hätten. Dass Deutschland nun nicht ein ähnliches Strafgericht wie einst Jerusalem ereile, ist vor allem Martin Luthers Anliegen. Ähnlich denkt der Reformator Johannes Bugenhagen. Von ihm stammt eine Zusammenstellung von Texten des Geschichtsschreibers Josephus über die Zerstörung Jerusalems, die seit dem 17. Jahrhundert im Anhang Dr. Evelina Volkmann, Am Israelsonntag Gottesdienst halten und predigen, Mai 2015 2 vieler Gesangbücher enthalten ist. Diese Texte werden dann – bis ins 20. Jahrhundert hinein – zumeist in einem Nachmittagsgottesdienst des 10. Sonntags nach Trinitatis vor der Predigt verlesen. Hierbei dient dann wieder die jüdische Geschichte als abschreckendes Negativbeispiel. Deutungen des 10. Sonntags nach Trinitatis seit 1945 Direkt nach 1945 behält der 10. Sonntag nach Trinitatis zunächst sein bisheriges Profil. Seine Predigt erinnert anlässlich des Gedenkens der Tempelzerstörung an das Gericht über das Judentum. Die nicht an Jesus glaubenden Juden illustrieren hierbei anschaulich die Gefahr verwirkter Existenz. In den Predigten stehen sie beispielhaft für Deutschland oder für die Kirche. Beide sollen wegen ihres Versagens in der Zeit des sogenannten „Dritten Reiches“ zur Buße geführt werden. Unter dem Leitwort „Gott und Volk” wird als Wochenlied „Wach auf, wach auf, du deutsches Land” gesungen. Seit Anfang der 1960er Jahre äußern manche Stimmen Zweifel an dieser Gestaltung des Gedenktags der Tempelzerstörung. Sie suchen stattdessen die christliche Verständigung mit dem Judentum. Sie glauben fest, dass Gott sein Volk Israel nicht verstoßen hat. Sie wissen um die Gnade und den Trost, der dem jüdischen Glauben innewohnt. In diesem Kontext des jüdisch-christlichen Dialogs bildet sich allmählich ein neues Profil dieses Sonntags aus. Es schlägt sich nieder in seinem in dieser Zeit geprägten neuen Namen Israelsonntag. Der Israelsonntag steht dafür, ausgehend von dem durch die Schoah (= die Katastrophe des Völkermords an den Juden 1933-45) belasteten christlich-jüdischen Verhältnis nach einer angemessenen christlichen Rede von Israel zu fragen: Wie können wir heute, d.h. nach der Schoah, anhand der Perikopen über das Verhältnis Christen – Juden reden, ohne damit auch nur die leiseste Abwertung des Judentums zum Ausdruck zu bringen? Wie können wir in Predigt und Liturgie zeigen: Das jüdische Volk ist nach wie vor von Gott erwählt? „Israel“ meint hier also nicht den Staat Israel, sondern den jüdischen Glauben. Natürlich kann eine Predigt auch auf die politische Situation im Nahen Osten eingehen. Doch das ist m.E. kein genuines Anliegen des Israelsonntags. In den letzten Jahrzehnten haben sich im Wesentlichen drei tragfähige Optionen, dem Proprium dieses Tages als Israelsonntag gerecht zu werden, herausgebildet. Sie zeigen, dass dieser Sonntag nicht immer mit einem Gedenken der Tempelzerstörung einhergehen muss: 1. Der Israelsonntag wird nach wie vor dem Gedenken der Tempelzerstörung gewidmet, nun aber in Überwindung seiner judenfeindlichen Tradition. 2. Der Israelsonntag wird mit dem Gedenken der Schoah verbunden. 3. Der Israelsonntag gilt der Reflexion des Verhältnisses Kirche und Israel. Die Predigenden haben sich entweder für eine dieser Optionen entschieden oder aber auch mehrere davon miteinander verbunden. Ich möchte knapp darlegen, wie sich diese drei Predigtmöglichkeiten inhaltlich gestalten: 1. Gedenken der Tempelzerstörung Predigten, die den 10. Sonntag nach Trinitatis als Gedenktag der Tempelzerstörung gestalten, bearbeiten in der Regel Perikopen, die ausdrücklich die Tempelthematik aufgreifen, nämlich das Evangelium des Tages Lk 19,41-48 sowie die beiden alttestamentlichen Perikopen 2.Kön 25,8-12 und Jer 7,1-15. Sie plädieren dafür, dass die Kirche in dem Szenario der Tempelzerstörung die Position der außenstehenden Zuschauerin verlässt. Stattdessen nimmt sie eine mit dem Judentum solidarische Haltung ein. Leitend hierfür ist die Person Jesu, wie Lk 19,41ff sie schildert. Jesus weint und klagt nicht hämisch über andere, sondern in Solidarität mit den Seinen. Diese Haltung lädt zur homiletischen Nachahmung ein, nämlich in christ- Dr. Evelina Volkmann, Am Israelsonntag Gottesdienst halten und predigen, Mai 2015 3 licher Verbundenheit mit Juden und Jüdinnen nach der Trauer um die Tempelzerstörung zu fragen. So wird dann für die Predigt die jüdische Selbstdarstellung dieses Ereignisses herangezogen, wie sie mit den Riten und Texten des 9. Aw sichtbar wird. Spricht die Predigt dann über den 9. Aw, zeigt sie damit zugleich auch grundsätzliche Aspekte des Judentums auf. Hier ist an den jüdischen Glaubensgrundsatz zu denken, dass Gottes Liebe und Barmherzigkeit größer sind als seine richtenden und strafenden Seiten. So erhält die Predigt des 10. Sonntags nach Trinitatis den Charakter einer christlichen Erinnerung an die jüdische Tempelzerstörung, die zugleich den Einzelnen in seinem Glauben dazu ermutigt, die nicht immer einfache Realität wahrzunehmen und in ihr zu bestehen. Damit stellen wir Christen und Christinnen uns solidarisch an die Seite des Judentums. 2. Gedenken der Schoah Der Israelsonntag ist kein Schoahgedenktag. Diese Aufgabe kommt dem Gedenken der Pogromnacht 1938 oder dem Holocaustgedenktag zu (vgl. Ergänzungsband zum Gottesdienstbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 2005, S. 131-139). Dennoch nennen etliche Stimmen das Gedenken der Judenverfolgung als eine besondere Aufgabe des 10. Sonntags nach Trinitatis. Denn man weiß darum, dass die christliche Judenfeindschaft zu dem Klima in Deutschland beigetragen hat, in dem der deutsche Antisemitismus erstarken und sechs Millionen Juden und Jüdinnen in den Tod treiben konnte. Darum soll nun ein Israelsonntag gefeiert werden, der dies nicht stillschweigend übergeht, sondern die Zusammengehörigkeit von Christen und Juden unter dem Gott Israels neu bewusst macht. Die Formen, in denen dies geschehen kann, sind vielfältig. So kann die Predigt jüdische Zeugnisse aufgreifen, die Schoaherfahrungen thematisieren. 3. Reflexion des Verhältnisses Kirche und Israel In dieser dritten Themengruppe gibt es zum einen Predigtthemen, die auch an jedem anderen Sonntag im Kirchenjahr gepredigt werden können. Am Israelsonntag werden sie jedoch auch daraufhin befragt, welchen Aspekt des christlich-jüdischen Verhältnisses sie berühren. Ich möchte ein Beispiel geben. So wird zur Perikope Röm 11,25-32 mit dem Stichwort „Sündenbefreiung“ ein allgemein-theologisches Predigtthema benannt. Dieses wird dann jedoch im christlich-jüdischen Horizont ausgelegt: Christen haben Juden theologisch nichts voraus, da ihre Rettung wie auch die der Juden durch die göttliche Befreiung von den Sünden geschieht. Christlich-jüdische Gemeinsamkeiten bestimmen die Predigt. Zum anderen zählen zu dieser dritten Themengruppe Beiträge, die das Verhältnis zwischen Kirche und Israel unmittelbar zum Gegenstand der Predigt machen. Hier kann beispielsweise die jüdische Wurzel des Christentums angesprochen werden, die Gemeinsamkeiten wie Unterschiede der beiden Glaubensweisen deutlich macht. Für die Predigt am Israelsonntag scheint mir wichtig zu sein, sie tatsächlich nicht gleichzeitig auf alle drei inhaltlichen Dimensionen ausrichten zu wollen. Ich halte es für besser, anhand der Perikope bewusst zu entscheiden, welcher Aspekt jetzt der geeignete ist. Diese drei Möglichkeiten besitzen eine wichtige Gemeinsamkeit: Sie bringen zum Ausdruck, dass die Predigenden dazu bereit sind, den jüdischen Glauben, wie er ist, anzuerkennen. Damit entsprechen sie der Leitlinie 8 für die Gestaltung des Gottesdienstes, wie sie unter Gottesdienstbuch nennt: „Die Gestaltung des Gottesdienstes muss berücksichtigen, dass die Christenheit mit Israel als dem erstberufenen Gottesvolk bleibend verbunden ist.“ (Gottesdienstbuch für die Evangelische Dr. Evelina Volkmann, Am Israelsonntag Gottesdienst halten und predigen, Mai 2015 4 Landeskirche in Württemberg, Erster Teil. Predigtgottesdienst und Abendmahlsgottesdienst, Stuttgart 2004, S. 18) Die zukünftige Israelsonntagspredigt Ab dem ersten Advent 2018 soll im Bereich der EKD eine revidierte Perikopenordnung gelten. Dem Entwurf, der gegenwärtig erprobt wird, ist zu entnehmen, dass der Israelsonntag künftig zwei unterschiedliche Proprien besitzen soll, die im Wesentlichen den oben genannten Optionen 1 (Gedenken der Tempelzerstörung) und 3 (Verhältnis Kirche – Israel) entsprechen: Er soll entweder mit der liturgischen Farbe violett als christlicher Bußtag der Tempelzerstörung oder der christlichen Schuld gegenüber Israel gedenken. Das altkirchliche Evangelium Lk 19,41-48 bleibt Predigttext. Weitere Predigttexte des violetten Propriums nehmen entweder auch auf die Tempelzerstörung Bezug (Klgl 5,1.11-22) oder ermahnen die Christusgläubigen, sich nicht über die jüdische Wurzel ihres Glaubens zu erheben (Röm 11,17-24). Oder der Israelsonntag soll – ohne Bezug auf das Gedenken der Tempelzerstörung – mit der liturgischen Farbe grün als ein Sonntag gefeiert werden, „der in besonderer Weise Israel zum Thema hat.“ Die Predigttexte dieses grünen Propriums eignen sich dazu, in der Predigt das Verhältnis zwischen Kirche und Synagoge oder das Thema Gottes Treue zu seinem erwählten Volk Israel zu thematisieren (vgl. Entwurf zur Erprobung im Auftrag von EKD, UEK und VELKD. Neuordnung der gottesdienstlichen Lesungen und Predigttexte, Hannover 2014, S. 349-358). Zu den neuen Perikopen für beide Proprien werden aktuell Predigthilfen erarbeitet, die auf der Homepage des Zentrums für evangelische Predigtkultur in Wittenberg etwa drei Wochen vor dem 10. Sonntag nach Trinitatis zu finden sind auf www.stichwortp.de. Vorschläge zur Liturgie Predigende können mit der Liturgie die besondere Ausrichtung des Israelsonntags unterstützen. Ich würde allerdings auf Zusatzaktionen (z.B. siebenarmigen Leuchter auf den Altar stellen) verzichten. Ich schlage vor, den Gottesdienst am Israelsonntag mit einem erweiterten trinitarischen Votum zu beginnen: Im Namen Gottes, des Vaters, des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, des Sohnes Jesus Christus, der unser und aller Welt Retter ist, des Heiligen Geistes, der uns neues Leben schenkt. (Gottesdienstbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Erster Teil. Predigtgottesdienst und Abendmahlsgottesdienst, Stuttgart 2004, S. 124). Eine Begrüßung im Gottesdienst könnte folgendermaßen lauten: Herzlich willkommen zu diesem Gottesdienst! Heute ist ein ganz besonderer Sonntag, der sogenannte „Israelsonntag“. Er wird traditionell am 10. Sonntag nach Trinitatis gefeiert. Auch wenn wir uns das häufig gar nicht bewusst machen: Unser christlicher Glaube und auch unser Gottesdienst hängen aufs Engste mit dem Judentum zusammen! Das wollen wir an diesem Sonntag deutlich machen.“ Das Psalmgebet kann im Israelsonntagsgottesdienst mit folgenden Worten eingeleitet werden: Wir beten gemeinsam Psalm … (EG …). Auch die Psalmen verbinden die jüdische und die christliche Gemeinde. Denn der Psalter ist das Liederbuch der jüdischen Bibel. Wenn Jesus Dr. Evelina Volkmann, Am Israelsonntag Gottesdienst halten und predigen, Mai 2015 5 und auch die ersten Gemeinden Lieder gesungen haben, dann waren es vor allem Psalmen. Auch wir singen und beten sie in jedem Gottesdienst. (Begrüßung und Einleitung des Psalmgebets aus: H. Lehming/V. Haarmann/U. Rudnick, „So wird ganz Israel gerettet werden“. Arbeitshilfe zum Israelsonntag 2014, S. 47-49). Eingangs- und Fürbittengebete für den Israelsonntag finden sich im Gottesdienstbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Erster Teil. Predigtgottesdienst und Abendmahlsgottesdienst, Stuttgart 2004, S. 159-161 und S. 263-265. Arbeitshilfen für den Israelsonntag finden Sie auf der Homepage des Evangelischen Pfarramts für das Gespräch zwischen Christen und Juden in Württemberg: http://www.agwege.de/arbeitshilfen/israelsonntag-9-november/ Vgl. zu den Inhalten dieses Aufsatzes ausführlicher: Evelina Volkmann, Predigen am Israelsonntag, in: Predigtstudien I/2, 2003, S. 9-20.