Gustav Mahler. Der fremde Vertraute Ein Porträt von Jens Malte

Werbung
Gustav Mahler. Der fremde Vertraute
Ein Porträt
von Jens Malte Fischer
(Kurzversion, ca. 40 min.)
Herkunft
Familie
Gustav Mahler stammte aus kleinen, jedoch nicht elenden Verhältnissen, wie es
ein zählebiges Klischee bis heute behaupten möchte. Mahler selbst ist daran nicht
ganz unschuldig, denn in seinen wenigen Äusserungen zu seiner Kindheit betont
er das Armselige seiner Geburtsumstände, verdeckt aber eher den raschen
Aufstieg seines Vaters Bernhard Mahler von einem fahrenden Schnapstandler zu
einem angesehenen und rechtschaffen wohlhabenden Alkoholproduzenten, einem
"Likörfabrikanten", wie man das damals nannte. Das Dorf Kalischt (Kalište) in
dem Mahler geboren wurde, war (und ist heute noch) eine winzige Ansiedlung
und liegt auf der Grenzscheide zwischen Böhmen und Mähren. Da die Familie
etwa drei Monate nach der Geburt Mahlers nach Iglau zog, das rund 40 km
entfernt von Kalischt liegt, wird man ihn als ein Kind der Stadt Iglau bezeichnen
dürfen. Die Familie Mahler war jüdischen Glaubens, sowie deutscher Sprache,
keineswegs das Jiddische benutzend - es ist ein weiteres Klischeebild vom
osteuropäischen Schtetl-Judentum mit seiner Jiddisch sprechenden Bevölkerung,
die unter Ghettoumständen lebt, dem diese Familie wie die meisten anderen der
Gegend und der Zeit keineswegs entspricht. Es war nicht das osteuropäische,
sondern das mitteleuropäische Judentum, das um 1860 als weitgehend assimiliert
zu betrachten ist, allerdings natürlich im Gegensatz zum teilweise bereits
grossbürgerlichen Judentum in Prag und Wien Kleinbürgertum und mittleres
1
Bürgertum, das auf der einen Seite in die Synagoge ging (Mahlers Vater war ein
angesehenes Mitglied der Iglauer jüdischen Gemeinde), auf der anderen Seite die
Klassiker der deutschen Literatur im Bücherschrank hatte.
Immer wieder wird die Beeinflussung Mahlers durch die Klezmer-Musik
behauptet, das Jüdische in seiner Musik gesucht und auch gefunden, bis hin zu so
eminenten Musikern wie Leonard Bernstein, der immer das Jüdische an Mahler
emphatisch betont hat. Was die musikalischen Jugendeindrücke angeht, so wird
man allerdings feststellen können, dass das, was bereits für die Sprache und
Lebensformen der weitgehend akkulturierten mittteleuropäischen Juden der
böhmisch-mährischen Umgebung gilt, auch für deren Musik zu gelten hat: eine
Klezmer-Gegend war es nicht. Immerhin kann man davon ausgehen, dass in den
Tanzkapellen, die durch die Gegend zogen und in Wirtshäusern oder bei
Volksfesten aufspielten, auch jüdische Musiker spielten, denen das KlezmerIdiom nicht fremd war, die beispielweise als Klarinettisten ihren spezifischen
"Sound" in eine solche Kapelle einbrachten, aber das alles war eingebettet in eine
böhmisch-mährische Tanzmusik, in der auch einschlägige Volksliedtraditionen
(die später Janáček so begeisterten) eine Rolle spielten. Die ganz wenigen
wirklich stichhaltigen Spuren jüdischer Klangwelten in Mahlers Symphonien
resultieren aus diesem spezifischen Gemisch, und nicht aus durch jüdische Musik
tiefgehend durchtränkter Überlieferung.
Judentum – Antisemitismus – Identität
Als ein aus jüdischer Familie stammender Mensch des Jahrgangs 1860, der eine
unumstrittene Weltkarriere als Dirigent, eine umstrittene als Komponist machte,
müssten wir Mahler, selbst wenn wir es nicht wüssten, von vorneherein
erhebliche Probleme mit dem Antisemitismus einerseits, mit der innerjüdischen
Vergewisserungsdiskussion andererseits zusprechen. Daran gemessen, sind die
autobiographischen Zeugnisse, die belegen, dass er sich mit diesen
2
Verfasstheiten und Befangenheiten beschäftigt hat, außerordentlich dünn gesät –
aber das wiederum ist ja auch ein Symptom und keineswegs untypisch für seine
Generation.
Mahler war Zeit seines Lebens in unterschiedlicher Intensität antisemitischer
Ranküne ausgesetzt. Das begann nicht etwa erst in Wien, als er der erste getaufte
Jude an der Spitze der legendären Hofoper wurde, sondern bereits in seiner Zeit
als Kapellmeister in Kassel, wo ein ´arischer´ Kollege von der Presse gegen ihn
ausgespielt wurde. Von nun an riss eine fatale Kontinuität nicht ab, verschwand
eigentlich erst nahezu völlig, als er in den letzten Lebensjahren in New York tätig
war, wo der spezielle und intensive österreichische Antisemitismus im
Kulturleben weitgehend unbekannt war. Im Wien um 1900, das man mit Fug und
Recht als Antisemitismus-Labor der Epochenschwelle bezeichnen kann und in
dem später nicht zuletzt Hitler seinen Antisemitismus ´lernte´, erhob sich diese
Fatalität zu ihrer ganzen Grösse. Im April 1897 wurde in Wien der Vertrag mit
Mahler unterzeichnet, der ihn zum Chefdirigenten ernannte, kurz zuvor war er
noch in Hamburg zum katholischen Glauben konvertiert, nicht aus religiöser
Überzeugung, sondern weil er wußte, daß er nur getauft in Wien etwas werden
konnnte - man sollte nicht ihm das vorhalten, sondern einer antisemitisch
imprägnierten Umgebung, die diesen entwürdigenden Schritt von ihm erwartete.
Mahler fühlte sich nicht als Jude, dürfen wir resümieren, auch wenn er spürte,
daß es noch Fäden gab, die ihn mit der Vergangenheit seiner Familie verbanden
– schließlich waren es nicht die Großeltern oder Urgroßeltern, wie bei
Hofmannsthal, die die letzten einigermaßen überzeugten Juden in der Familie
gewesen waren, sondern die Eltern selbst. Gegen negative jüdische Züge, wie er
sie verstand, war er allergisch, gegen Antisemitismus auch, die Konversion aus
taktischen Gründen machte ihm Probleme, nicht wegen der Leugnung von
Glaubensinhalten, sondern eben wegen des Taktischen daran. Die Mahnung des
Über-Ich, die damit verbunden war, zusammen mit dem doch gelegentlich
3
aufblitzenden Mitleid mit diskriminierten Juden, die der Verachtung nicht mit
dem Selbstbewusstsein des arrivierten Künstlers begegnen konnten, wird es
gewesen sein, die ihn hinderte, sich stärker vom Judentum zu distanzieren, gar
Symptome des berüchtigten jüdischen Selbsthasses zu zeigen. Dass man bei der
Beschreibung dessen, was Mahler eigentlich war, grössere Schwierigkeiten hat,
als bei dem, was er nicht war, liegt nicht an ihm, sondern an der äusserst
komplizierten Gemengelage. Wenn denn eine griffige Definition gefordert wäre,
so könnte sie folgendermassen aussehen: Mahler war nicht Jude, aber er war
auch nicht Nichtjude. Er stammte aus einer noch jüdischen Familie, die sich zwar
aktiv am Gemeindeleben beteiligte, jedoch wahrscheinlich (mangels Quellen
muss man hier im Vagen verbleiben) kaum noch als strenggläubig betrachtet
werden kann, was ja für die mitteleuropäischen Juden um die Mitte des 19.
Jahrhunderts das Normale war. Den Prozess der Assimilation, in dem die
elterliche Familie sich bereits befand, setzte er mit der ihm eigenen Rasanz,
Konsequenz und Durchsetzungskraft fort. So, wie er sich aus den engen
Verhältnissen seiner Familie, die Generationen gebraucht hatte, um zum
Kleinbürgertum und noch etwas weiter emporzusteigen, löste und sich in knapp
20 Jahren zu einer der höchsten kulturellen Positionen des westlichen Europa
emporarbeitete, so ließ er die meisten Verbindungen zum Judentum seiner
Vorfahren genauso energisch hinter sich. Er vergaß jedoch nie, woher er kam,
und verleugnete dies nicht. Zur Last wurde diese Abkunft durch die Gesellschaft
seiner Zeit, die vom Antisemitismus imprägniert war, wie keine zuvor.
Der Gott der südlichen Zonen - Mahler an der Wiener Hofoper
Als Mahler im Jahre 1897 als Kapellmeister an die Wiener Hofoper verpflichtet
wurde, bald darauf zum Hofoperndirektor ernannt wurde, hatte er den Gipfel
seiner Karriere als Operndirigent und Opernorganisator erreicht. Er hatte diese,
gemessen an seiner Ausgangsposition ganz märchenhafte Karriere gemacht,
4
obwohl er sich sehr früh den Ruf eines schwierigen, strengen und
anspruchsvollen Dirigenten errungen hatte, einfach deshalb, weil er ganz
offensichtlich der überragende Dirigent seiner Zeit war, einmal ganz unabhängig
vom Rang seines Komponierens. Und er war vielleicht auch der fleißigste
Dirigent aller Zeiten - seine unbändige Energie, einem von Hause aus nicht sehr
robusten Körper abgetrotzt, befähigte ihn zu Leistungen, vor denen heutige
Orchesterfürsten ver- und erblassen müssen, sollten sie geruhen, sich Mahlers
Arbeitsleistung vor Augen zu führen. Als Musikchef der Hamburger Oper
dirigierte er einmal in einer Saison 138 Vorstellungen und noch 8 Konzerte dazu.
In seiner ersten Wiener Saison, obwohl "nebenher" noch das, was wir heute
Intendant nennen würden, dirigierte er 109 Aufführungen, von 107 Proben ganz
zu schweigen. Heutige Generalmusikdirektoren kommen auf rund 40 Abende pro
Saison und gelten dann als besonders fleißig (und verdienen grob geschätzt das
10-15fache dessen, was Mahler damals verdiente).
Die 10 Jahre Mahlers an der Wiener Hofoper gelten bis heute als die glorreichste
Zeit dieses weltberühmten Instituts. Mit beispielloser Intensität stürzte er sich in
die Arbeit. Berühmt wurde sein Ausspruch: "Andere pflegen sich und ruinieren
das Theater, ich ruiniere mich und pflege das Theater". Er renovierte den
Spielplan, rückte die Trias seine Hausgötter in den Mittelpunkt: Mozart,
Beethoven, Wagner, setzte aber auch interessante Novitäten ein, machte es zur
Selbstverständlichkeit, daß die bisher üblichen Striche in Wagners Werken
wieder aufgemacht wurden, verbot das ungenierte Hereinströmen zu spät
kommender Zuschauer und unterband das Unwesen bezahlter Applaustreiber, der
sogenannten Claque. Der Kaiser Franz Joseph, der der Oper eher fern, aber
sympathisierend gegenüberstand, soll einmal seine Berater gefragt haben ob denn
die Oper wirklich ein so ernste Angelegenheit sei, wie der Direktor Mahler
offensichtlich meine. Er hob das Niveau der Sänger des Hauses, das immer hoch
gewesen war, auf ein noch höheres, weil er offensichtlich einen untrüglichen
5
Sinn für Stimmqualität hatte und vor allem in einer völlig ungewohnten Intensität
mit den Sängern während der Proben arbeitete, sowohl musikalisch wie auch was
die Darstellung betraf. Denn dies ist vielleicht das Wichtigste: Mahler war der
erste wirkliche Opernregisseur der Geschichte dieser Kunstform, auch wenn er
nicht als solcher auf dem Opernzettel stand. Bis dahin waren es ehemalige
Sänger, die als eine Art gehobener Inspizienten für den reibungslosen Ablauf der
Abende sorgten und die Auf- und Abgänge koordinierten. Mahler jedoch erlangte
und erreichte Glaubwürdigkeit der Gestik und Körpersprache und der
sinnfälligen Arrangements von Solisten und Choristen. Was Mahler in der kurzen
Zeit zwischen 1903 ( der Premiere seiner revolutionierenden Neuinszenierung
von "Tristan und Isolde") und seinem Abschied 1907 zusammen mit seinem
kongenialen Mitstreiter, dem großartigen Bühnenbildner und Bühnenmaler
Alfred Roller erreichte, war eine Opernreform, die, was das Szenische und die
musikalische Interpretation betraf, in einer Reihe mit den Opernreformen von
Gluck und Wagner genannt werden darf.
Alle Zeitzeugen bestätigen, daß es Mahler und Roller gelang, auf eine bis dahin
nicht gesehene und erlebte Weise die Grundakkorde der jeweiligen dramatischen
Situation, des dramaturgischen Dessins der einzelnen Akte, ja des ganzen
Werkes in grandiose Farb-, Licht- und Darstellungsformeln zu gießen, diese
Elemente aufeinander zu beziehen wie in einem eng geknüpften Teppich zu
verweben, während bisher die einzelnen Elemente einer Opernaufführung mehr
oder weniger beziehungslos nebeneinander herliefen. Und wenn dann noch die
Leistungen der von Mahler ausgewählten Sänger, die zum erstenmal auch als
Darsteller gefordert waren, und Mahlers elektrisierendes Dirigat dazukamen,
dann entstanden Opernerlebnisse, die keiner je vergaß, der an ihnen teilnehmen
durfte.
Von Wien nach New York
6
Mahlers gewaltiger Ärger darüber, daß er Richard Strauss, mit dem ihn eine
kollegiale Freundschaft verband, die zugesagte Wiener Salome-Premiere nicht
verwirklichen konnte, weil die Hofzensur starke Einwände hatte, ein mindestens
ebenso ärgerliches saftiges Defizit im Jahr 1905, die Hinwendung zum eigenen
Werk, sowie einige an sich unbedeutende ärgerliche Affären im Opernhaus selbst
- all das bereitete die Demission Mahlers im Jahr 1907 bereits vor, als die
Öffentlichkeit darüber noch weitgehend im Unklaren war.
Nun aber erhob sich die Frage, wie es weiter gehen sollte. Da kam ein Angebot
der New Yorker Metropolitan Oper gerade recht, wo ein bedeutender, glanzvoller
Dirigent für das deutsche Repertoire gesucht wurde. Das Angebot war
überwältigend: für drei Monate Anwesenheit in New York ohne
Direktionsverpflichtung (die New Yorker wollten das Doppelte an Anwesenheit,
aber Mahler dachte an seine kompositorische Arbeit) würde er mehr als das
Doppelte dessen verdienen, was er in Wien für zehn Monate Arbeit bekommen
hatte. Dies war ihm wichtig, um seine Familie auskömmlich abzusichern; ihm
selbst war Luxus unwichtig, aber er rechnete nicht mit einem langen Leben. Nun
schien alles aufs beste geregelt, aber das sah nur für eine kurze Zeitspanne so aus.
Der Krisensommer 1907
Am 12. Juli 1907 starb im Maiernigger Ferienhaus Mahlers ältere Tochter Maria
an einer aus heiterem Himmel auftretenen Diphtherie, nach zehntägigem
Todeskampf. Alma Mahlers ungute Gefühle, als Mahler im fröhlichen Sommer
1904, die Kinder spielten draussen im Sandkasten, die Kindertotenlieder
komponiert hatte, schienen sich auf furchtbare Weise zu bewahrheiten. Der
hilflose Arzt nutzte die Gelegenheit, vielleicht auch nur zur Ablenkung, und
untersuchte auch Mahler, stellte dabei an den Herzgeräuschen fest, dass mit
diesem Herz etwas nicht in Ordnung war. Einige Tage später wurde die Diagnose
in Wien bestätigt, die auf einen angeborenen oder erworbenen Herzklappenfehler
7
hinauslief. Wie Mahler auf diese beiden Keulenschläge akut reagierte, wissen wir
nicht wirklich, denn es gibt keine unmittelbaren Zeugnisse dafür. Aus den
Berichten Nahestehender, wie seines jungen Freundes und Protegés Bruno
Walter, den er als Dirigenten nach Wien an die Hofoper geholt hatte, wissen wir,
daß er es als die fundamentalste Erschütterung seines bisherigen Lebens
empfand, wer wollte ihm dies verdenken. Nach Außen hin liess er sich wenig
anmerken, stürzte sich in die Arbeit, wie gewöhnlich, auch um sich abzulenken.
Manche wunderten sich, wie wenig er erschüttert schien, aber das war nur seiner
aussergewöhnlichen Selbstdisziplin zu verdanken. Schlimm für ihn waren die
strengen Vorschriften der Ärzte, die ihm jede rasche Bewegung und das geliebte
Schwimmen streng untersagten und auf äußerste Schonung drangen - für den
Bewegungsmenschen Mahler, der seine besten Einfälle bei stürmischen
Wanderungen in den Bergen fand, war dies eine Katastrophe, entspricht auch
keineswegs heutigen Erkenntnissen, wie man mit einem solchen Befund, der ihn
ja offensichtlich bisher nicht an immensen Arbeitsleistungen gehindert hatte (was
bedeutete, daß der Herzklappenfehler weitgehend kompensiert war), umzugehen
habe.
In Wien war noch viel abzuwickeln, zu organisieren. Eine RepertoireVorstellung des geliebten Fidelio am 15.Oktober 1907, beendete eine ebenso
kurze wie gloriose Ära. Am 9. Dezember des Jahres versammelte sich eine rund
200 Menschen umfassende Gruppe auf dem Wiener Westbahnhof, um Mahler
und Alma zum Zug nach Paris (von dort ging es nach New York) zu begleiten:
Schönberg und Berg waren dabei, Roller und Klimt und viele andere, denen
bewußt war, was hier zu Ende ging. Gustav Klimt rief, als der Zug die Halle
verließ: "Vorbei". Für Mahler begann eine neue Ära (für die Hofoper mit seinem
Nachfolger Felix Weingartner ebenfalls) - sie sollte nur sehr viel kürzer sein, als
geplant.
8
Krise - Gipfel - Abschied
Mahlers Ehe mit Alma Schindler war von Anfang an auf unsicherem Grund
gebaut. Was ihn anzog, war sonnenklar: jugendliche Schönheit, eine durchaus
vorhandene, wenn auch unstete und inkonsequente künstlerische Begabung. Was
Alma an Mahler anzog, ist schon schwerer zu bestimmen: sie spürte die
Faszination des Jahrhundertgenies, aber auch die Machtfülle des Operndirektors
sehr genau - seiner Musik stand sie jedoch lange eher fremd gegenüber, manche
Kenner bestreiten, daß sie die Größe dieser Musik je wirklich verstanden hat. Der
Altersunterschied war mit 19 Jahren, auch aus der heutigen Perspektive noch,
gravierend, und schließlich war es keineswegs nebensächlich, daß er jüdischer
Herkunft war, denn Alma kam aus einem antijüdisch eingestellten Milieu und ist
ihr Leben lang ihre Vorurteile nicht losgeworden. Mahler hatte mehr Bedenken
vor der Ehe als sie, aber irgendwann vergaß er diese Bedenken, während sie bei
Alma im Lauf der Jahre eher stärker wurden. Und daß er sie, wohlgemerkt vor
der Ehe, gefragt hatte, ob sie bereit sei, auf ihre keineswegs untalentierten, aber
doch eher amateurhaften kompositorischen Versuche zu verzichten, war nicht
unverstädnlich, aber psychologisch unsensibel. Lange hatte sich die finale Krise
vorbereitet, die im Sommer 1910 in einer leidenschaftlichen Affäre Almas mit
dem jüngeren Architekten Walter Gropius zum Ausbruch kam, welche Mahler,
als sie sich ihm durch eine rätselhafte Zufall- oder Fehlleistungskonstellation
enthüllte, an den Rand seiner Existenz brachte, ohne seine schöpferische Kraft zu
beschädigen, wie die Skizzen zur 10. Symphonie zeigen.
Als ein Gezeichneter kehrte Mahler zur Arbeit zurück, als er im September 1910
nach München fuhr, um die Uraufführung seiner 8, Symphonie vorzubereiten.
Seine Freunde und Anhänger waren bereits bei der Generalprobe zutiefst
erschrocken über seinen Zustand und sein Aussehen. Es spricht alles dafür, dass
sich Mahler hier die entscheidende Schwächung des Organismus zugezogen hat,
die sein vorgeschädigtes Herz fünf Monate später wehrlos gegenüber einer
9
neuerlichen bakteriellen Attacke machen sollte. Dennoch, oder auch deswegen:
diese Uraufführung am 12 September 1910 (mit einer Wiederholung am
folgenden Tag) in der Neuen Musikfesthalle wurde der grösste Triumph in
Mahlers öffentlichem Leben. Eine Mehrheit des Orchesters liebte ihn, es liebten
ihn die Solisten und Choristen, vor allem die über 300 Mitglieder des
Kinderchors, nicht zuletzt aber auch das riesige Publikum. Die vielbeschrieene
"Symphonie der Tausend", ein vom Impresario Emil Gutmann erfundener Titel,
den Mahler nicht mochte, vereinte alle Menschen, die zuhörten, zu einer
Begeisterungsmasse. Entgegen allen Zweifeln bis heute hatte diese Uraufführung
wirklich knapp über 1000 Mitwirkende. Daß diese Wirkung ausgerechnet jenes
Werk hervorrief, das in Mahlers Schaffen einen eher exterritorialen Platz
einnimmt, gehört zu den Seltsamkeiten seiner äusseren Karriere. Mit seinen
letzten Kräften schwang sich Mahler noch einmal zu einer geradezu imperialen
Leistung in der Bändigung der Ausführenden auf. Das Publikum war illuster, der
Erfolg war enthusiastisch: Richard Strauss war da, außerdem Lilli Lehmann,
Siegfried Wagner, Max Reinhardt, die Dirigentenkollegen Willem Mengelberg,
Franz Schalk und Leopold Stokowski (Otto Klemperer erlebte die Proben). Aus
Wien kam die größte Delegation: Anna von Mildenburg, jetzt als Frau von
Hermann Bahr, Stefan Zweig, natürlich Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton
Webern und Bruno Walter. Thomas Mann war auch dabei, lernte Mahler nach
dem Konzert kennen und schrieb ihm einen verehrungsvollen Brief.
Danach fuhren die Mahlers noch einmal nach Wien. Schnell wurde noch ein
Grundstück in Breitenstein am Semmering gekauft, auf dem eventuell ein
Alterssitz errichtet werden sollte (Alma Mahler hat diesen Plan später auch
ausgeführt) und dann ging es auf zunächst getrennten Wegen des Ehepaars an
den Atlantik, um in Cherbourg das Schiff nach Amerika zu besteigen. Auf der
Fahrt dorthin traf sich Alma erneut mit Gropius, zunächst im Schlafwagen, dann
auch noch in Paris. Ob Mahler selbst dies wusste, ahnte, nicht wissen wollte,
10
verdrängte - das ist nicht mehr zu rekonstruieren. Sieben Monate später war
Mahler tot. Fünf Jahre später heiratete Alma ihren Liebhaber Gropius. Weitere
fünf Jahre später wurde diese Ehe geschieden.
Mahler, die Literatur und seine Weltsicht
Unter den grossen Komponisten der Musikgeschichte darf Gustav Mahler als
einer der Belesensten und literarisch Gebildetsten gelten und ist in diesem Punkt
neben Hector Berlioz und Richard Wagner zu stellen, auch neben Brahms.
Letzterem war er vielleicht näher verwandt als Wagner, weil er nicht in aller nur
denkbaren Breite und nahezu wahllos las, sondern sich sozusagen auf ein
Kernrepertoire beschränkte, das er jedoch nicht schmal anlegte. Man wird seine
Kenntnis der sogenannten schönen Literatur als für einen Musiker ungewöhnlich
intensiv bezeichnen können; daneben las er vor allem populäre, aber nicht platte
Darstellungen aus dem Bereich der Naturwissenschaften und der Philosophie,
aber auch aus dem, was man ´Lebenskunst´ nannte. Leider ist Mahlers Bibliothek
nicht erhalten. Als Alma Mahler Wien 1938 verlassen musste, liess sie die
Bücher ihres ersten Mannes (zumindest das, was davon nach 27 Jahren noch
übrig war) zurück, die verschwanden; durch verschiedene Hinweise sind wir aber
ganz gut über den Bestand informiert.
Was las Mahler? Die Klassiker, die ihm aus dem Bücherschrank nseiner Eltern
bekannt waren: Schiller, besonders Jean Paul, vor allem Goethe, Romanciers des
19. Jahrhunderts wie Dickens und Dostojewsky, E.T.A. Hoffmann, daneben
philosophische Lektüre zwischen Schopenhauer und Nietzsche, aber auch
Populärphilsophisches und Brehms Tierleben, das er besonders liebte.
Daß diese Lektürevielfalt auch auf sein eigenes Verhältnis zur Sprache nicht
ohne Einfluß blieb, ist nicht verwunderlich. Mit Ausnahme einiger privat
konzipierter Gedichte und der bekannten Fort- und Umschreibung vorhandenen
Materials (Klopstock, Wunderhorn-Lieder) hat Mahler kein literarisches Werk
11
hinterlassen. Vor allem aber seine vielen erhaltenen Briefe, speziell die an seine
Frau, zeigen einen literarisch versierten, sprachlich gewandten, gelegentlich
geradezu brillanten Verfasser, dem zwischen jugendlicher Weltschmerzemphase,
der Komik einer Reiseanekdote und der Interpretation des Schlusses des zweiten
Teiles von Faust eine Vielfalt von sprachlichen Nuancen zur Verfügung stand,
die ihn zu einem der bedeutendsten Schriftsteller unter den Komponisten des 19.
Jahrhunderts hätten machen können. Besäßen wir eine Autobiographie aus den
Händen Mahlers, dann stünde diese an der Seite der Memoiren von Berlioz und
literarisch sicher ein Stück über Wagners Autobiographie.
Und schliesslich Goethe: neben Jean Paul wird man Goethe die Rolle als zweite
Sonne an Mahlers literarisch-geistigem Firmament zugestehen müssen. Der
Nucleus der Mahlerschen Goethebegeisterung war der Faust, vor allem der
zweite Teil, dessen Schlußszene für die Achte Symphonie eine so entscheidende
Rolle spielte. Daneben waren die Gespräche mit Eckermann eine zentrale,
mehrfach wiederholte Lektüre, aber auch die Wanderjahre und der Wilhelm
Meister. Den Faust kannte Mahler, so wird mehrfach bestätigt, wie keinen
anderen Text. Wenn er in den Ferien Besuch von Freunden hatte, dann ließ er
sich gelegentlich daraus vorlesen und sprach ganze Partien auswendig murmelnd
mit. Eine grössere Ausgabe der Goetheschen Briefe stand in seinen letzten
Lebensjahren auf seinem Handbibliotheksregal - die wollte er in dermaleinst
ruhigeren Tagen lesen.
Fast mehr noch als Goethe der Dichter scheint ihn Goethe der Denker, der
Philosoph, der Naturforscher, der nach dem Unergründlichen fragte, angezogen
zu haben.
Besonders faszinierte ihn Goethes Entelechie-Vorstellung. Goethe, in diesem
Punkte von Aristoteles und Leibniz herkommend, bezog aus dieser Quelle, und
nicht aus einer christlichen, seinen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, die
er als Fortdauer der Produktionskraft begriff. Nur die rastlose Tätigkeit des
12
Geistes legitimiere es, dass die Natur eben diesem Geist eine andere Form des
Daseins anzuweisen habe, wenn die gegenwärtige Existenzform an ein
natürliches Ende gekommen sei. Die Monade (Goethe benutzt gelegentlich den
Leibnizschen Begriff) höre mit dem leiblichen Tod eines ihrer Träger nicht auf,
zu existieren, sondern suche sich eine andere Entfaltungsmöglichkeit,
vorausgesetzt, die in ihr wirkende Intention ist stark genug. Die vieldiskutierte
Schlussszene von Faust II, die Mahler so anzog, daß er sie vertonte, mit ihrem
keineswegs christlich zu deutenden Erlösungsgedanken, ist nur von hier aus zu
verstehen. Von hier aus speiste sich Mahlers Überzeugung, dass die in ihm
schöpferisch wirkende Kraft auch den Tod seines Leibes überleben werde (was
nichts mit buddhistischen Wiedergeburtsideen zu tun hat). Es speiste sich aber
auch daraus die Überzeugung, dass er als Gefäß des creator spiritus, des
Schöpfergeists, dazu verpflichtet war, seine ganze Energie in sein Schaffen zu
investieren. Dies war der feste Punkt der geistigen Existenz Mahlers.
Mahler heute und morgen:
Eine Steigerung seiner Popularität ist kaum noch denkbar, eher ihr Absinken,
wenn die Restbestände bürgerlicher Bildung, die sich am Beginn des 21.
Jahrhunderts in ihrem letzten Abwehrkampf befinden, verschwunden sein
werden, denn neben der technischen Reproduktion bedarf die Musik Mahlers der
beständigen Vitalisierung im Konzerterlebnis, und da der Aufwand groß ist, um
seine Werke zu spielen, ist Mahler sozusagen auch ein teures Vergnügen, das
eine Gesellschaft sich zu leisten bereit sein muß.
Mahlers Musik und Person sind inzwischen dermaßen von Klischees
überwuchert, daß noch in der inkompetentesten Konzert- und Schallplattenkritik
die immer gleichen Raster reproduziert werden: der Zerrissene, der Heimatlose,
der Prophet, der strenge, eifernde Jude, der der Welt Abhandengekommene,
manchmal auch nur der erste, schreckliche Mann der berühmten Alma Mahler13
Gropius-Werfel – die Musik droht, hinter dieser Klischeemauer zu verschwinden.
Vor allem verschwindet die Kenntnis und Erkenntnis seiner Musik zugleich mit
dem Schwinden der bürgerlichen Musikkultur und ihren Kulturtechniken, wie
etwa der Fähigkeit, Noten lesen zu können. Damit soll nicht das pur emotionale
Mahler-Erlebnis, das offensichtlich weltweit immer noch stark verbreitet ist,
denunziert werden. Wer durch Mahlers Musik berührt wird, ist zunächst für sie
gewonnen – das ist schon viel, aber es reicht nicht aus. Wer zu Mahlers Musik
ein nur affektives Verhältnis der Überwältigung im Klangrausch hat, wird in
einem Unterwerfungsverhältnis steckenbleiben, niemals zu einem Verhältnis der
erkennenden Leidenschaft vordringen können.
Mahler bleibt ein Phänomen mit Widerhaken. Ein laues Verhältnis zu ihm gibt es
nicht. Man ist, ob Dirigent oder Abonnent, entweder für ihn oder gegen ihn.
Immer wieder kann man auch heute noch, ziemlich drastische negative
Äußerungen über seine Musik hören (nicht mehr lesen, denn das traut sich dann
doch niemand). Bis etwa 1960 tauchte Mahler in Konzertführern als einst völlig
überschätzter Kleinmeister auf einer halben Seite auf - die Autoren solcher
Bücher hatten meist schon im "Dritten Reich" den Musikjuden Mahler begeifert.
Bis heute sind antisemitische Untertöne, von den sich Äußernden oft gar nicht als
solche erkannt, nicht völlig verschwunden. Mahler vermag also immer noch zu
polariseren. Gelegentlich haben auch rominente Dirigenten Schwierigkeiten mit
ihm - aber niemand ist moralisch verpflichtet, Mahlers Musik zu lieben.
Manchmal gibt es auch späte Bekehrungen. Es fällt auf, daß es oft große
Bruckner-Dirigenten sind, die mit Mahler nichts anfangen können. Es mag au
fond daran liegen, daß Bruckner ein Komponist ist, der von sich selbst absieht,
immer nach oben deutet. Mahler hingegen deutet immer erst auf sich, reißt
amfortasgleich seine Brust auf, zeigt sein zuckendes Herz: seht her, hier schlägt
es, hier jubiliere ich, hier lebe ich, hier leide ich. Das halten nicht alle Zuhörer
aus.
14
Mahlers Musik
Daß Mahlers Symphonien, mit denen er am Ende des 19. Jahrhunderts hervortrat,
etwas Neues darstellten, läßt sich vor allem aus der breiten Ablehnung ablesen,
der er als Komponist sein ganzes Leben lang begegnete. Diese Ablehnung war
keine durchgehende; immer wieder konnte er auch ihn selbst gelegentlich
verblüffende Erfolge erringen, wenn nicht bei den immer von ihm dirigierten
Uraufführungen, so doch bei Folgeaufführungen, aber diese Erfolge waren
schwankend, unsicher, konnten immer wieder revidiert werden. Oder es war so,
daß das Publikum positiv reagierte, die Kritik jedoch keineswegs. Der größte,
nahezu einstimmige Erfolg, den er je erreichte, war die Uraufführung der 8.
Symphonie im letzten Herbst seines Lebens, aber auch hier gab es in der Presse
hinterher einige negative Reaktionen.
Man muß jedoch auch verstehen, daß Mahler seinen Hörern einiges zumutete,
was den Umfang seiner Symphonien betraf, aber auch und vor allem, was die
neuartige Tonsprache und Ausdrucksgewalt betraf, mit er die Hörer
konfrontierte. Die Symphoniehörer des 19. Jahrhunderts waren mit Beethoven
aufgewachsen, mit einer Ideendramatik sondergleichen, geprägt durch die
Vorstellungen der Französischen Revolution, Ansprachen an die Menschen, ja
die Menschheit, und selbst dort dramatisch, wo es ´nur´ um Naturschilderung
geht. Sie hatten sich schon sehr viel mühseliger an Anton Bruckners
monumentale Gebäude gewöhnt, in denen die Kernbegriffe der Ästhetik des
Großen, Feierlichen, Erhabenen, des "Sublime" (wie es im späten 18. Jahrhundert
hieß) nun mit einer selbstvergessenen Misterioso-Monumentalität wie riesige
Kathedralenquader vor die Zuhörer gewuchtet werden, deren religiös fundiertes
innerstes Allerheiligstes ja unüberhörbar ist. Auch nicht gänzlich reibungslos
ging es dann mit der Einbürgerung von Johannes Brahms und seiner Symphonik,
in der der mitreißende Optimismus Beethovens einer zutiefst skeptischen und
15
zurückhaltenden "Melancholie des Vermögens", um Nietzsches böses Bonmot
in´s Positive zu wenden, gewichen ist. In Anknüpfung wie Absetzung von
Beethoven dessen Riesenschritte er ja lange hinter sich hertappen hörte, arbeitete
sich Brahms an der Form der Symphonie ab, bevor es ihm relativ spät gelang,
mit der 1. Symphonie sich aus dieser Einschüchterungshaltung zu lösen. Brahms
fehlten der menschheitsbeglückende Schwung Beethovens wie die religiöse
Gewißheit Bruckners; sein "Leiden an der Welt" äußerte sich in der zunehmend
kammermusikalischen Faktur seine Symphonien, in denen in höchster
Kunstfertigkeit die Formschemata der Tradition verarbeitet und durchgebildet
werden und zu neuen Formeln von höchster Intimität und berückender
Suggestivkraft werden, in denen der Komponist auch dann nicht zu großen
Massen spricht, wenn Bläserchoräle ertönen, sondern jeden einzelnen Hörer
gleichsam zur Seite zu nehmen scheint, ihm tief in die Augen blickt und sich mit
ihm, fern vom Lärm der Mehrheitsmenschheit, in eher moderatem Ton über
Grundfragen menschlicher Verfaßtheit austauscht. Ein massenkompatibler
Komponist ist Johannnes Brahms damit, wir wissen es, nicht geworden.
Mahler hingegen macht etwas ganz anderes. Er ist der erste Symphoniker, der
nicht nur dramatisch denkt (wobei dramatisch, wie ja sogar Brahms gelegentlich
zeigt, nicht laut und exaltiert heißen muß), sondern der versucht, eine
Verbindung von dramatischem und epischem Vorgehen zu erreichen, episch
allerdings eher im Sinne des Romans des 19. Jahrhunderts, im Sinne also einer
musikalischen Prosa. Seine bekannte Äußerung, die noch zu Beginn seines
Schaffens steht, daß eine Symphonie zu komponieren heiße "mit allen Mitteln
der vorhandenen Technik eine Welt aufzubauen" und seine auf die III.
Symphonie gemünzte Bemerkung (an der dies auch besonders plastisch zu
exemplifizieren wäre), daß es sich um ein großes Werk handele "in welchem sich
in der Tat die ganze Welt spiegelt", deuten darauf hin, daß der begeisterte Leser
von Dickens und Dostojewsky genau dies wollte: in jeder Symphonie eine Welt
16
für sich darzustellen, Geschichten von Aufstieg und Fall, von Scheitern und
Triumphieren zu erzählen. Entsprechende Programme ließ er zunächst
veröffentlichen, verzichtete später aber darauf, weil die Mißverständnisse größer
waren als der Nutzen. Auf´s Dramatische verzichtet Mahler keineswegs:
Eminente Steigerungen, Raffungen, Peripetien, Kontraste und Konflikte,
Höhenflüge und Abstürze sind Kennzeichen dieser symphonischen Großformen,
die auch schon deshalb in Besetzung und Ausdehnung noch erheblich über
Bruckner hinausgehen, weil in ihnen nicht Haltungen und mystische Botschaften
transportiert werden müssen, sondern eben dramatische Romane gleichzeitig
erzählt, wie sozusagen dramaturgisch zugespitzt und bildhaft koloriert werden
müssen.
Das Welthaltige von Mahlers Musik hat vor allem eine Konsequenz: will man
eine Welt bauen, so darf und kann man nicht darauf verzichten, alle oder
möglichst viele Aspekte dieser Welt darzustellen: das Hohe und das Niedere, das
Erhabene und das Lächerliche, das Groteske und das Feierliche, das
Niederschmetternde und das Aufrüttelnde (nichts anderes versuchte ja auch
Mahlers geliebter Goethe in seinem "Faust") - das alles ist in Mahlers Musik
aufgehoben in mehrfachem Wortsinn. Das ist einer der Punkte, in denen ihm sein
Publikum nicht wirklich folgen wollte, und doch war er der Meinung, die sich 50
Jahre nach seinem Tod erfüllte, daß seine Zeit noch kommen werde. Schon früh
kam der Vorwurf des Eklektischen, des stillos Zusammengewürfelten und hat
sich bis heute nicht ganz verflüchtigt. Bis heute kann man immer wieder hören,
Mahler zitiere viel zu viel, klebe eklektisch Vorgefundenes aneinander (weil er
nichts Eigenes zustande bringe, wird unausgesprochen angefügt, was ein
Grundtenor der antisemitischen Kritik an seiner Musik war, allerdings muß nicht
jeder, der das Argument benutzt, es antisemitisch meinen). Nicht ist falscher als
dieses. Mit anderthalb Ausnahmen zitiert Mahler ja nichts Vorgefundenes,
sondern er assoziiert es, er spielt darauf an, er umspielt es, er nimmt den Tonfall
17
vorgegebener Musik auf und amalgamiert diesen Tonfall seinem eigenen
musikalischen Idiom, und das mit allen avancierten Mitteln einer
Instrumentationkunst von hart erarbeiteter und nie wieder errreichter Höhe und
vor allem mit einem Formgenie, das es schafft, hundertminütige Symphonien in
einen subtilen Formzusammenhang zu bannen, zu dessen Erkenntnis es
allerdings eines genauen Studiums dieser Werke bedarf. Diese Umformung des
sogenannten Trivialen hat Adorno in eine wunderbare Formulierung gekleidet:
"Frei wie nur einer, der selber von Kultur nicht ganz verschluckt ist, greift er auf
musikalisch obdachlosem Zug nach dem zerbrochenen Glas auf der Landstraße
und hält es gegen die Sonne, daß alle Farben darin sich brechen." Kein anderer
Symphoniker hat die von Dostojewsky vorgeformten "Erniedrigten und
Beleidigten", die Deserteure und in den Krieg gepreßen Soldaten, die hungernden
Mütter und Kinder des Frühproletariats, die Verzweifelten und vergeblich
Hoffenden, die Tanzenden und Trauernden mit allumfassendem Mitleiden in die
hohe Musik eingebracht. Und er hat in seinen zerstörten und zerstörenden
Märschen das Massensterben des Ersten Weltkriegs nicht "vorausgeahnt", wie
immer wieder klischeehaft behauptet wird, sondern er hat als erster Komponist
die Destruktivkraft des Kollektiven in Musik zu fassen gewagt und fassen
können, was viel mehr ist als ein bloßes Vorhersagen durch einen Blick in eine
Schusterkugel. Was Georg Büchner im "Woyzeck" und Berg in seiner Oper
geleistet haben, hat Mahler, sinnfällig in den "Wunderhorn"-Liedern, am
großartigsten in der "Revelge", aber genauso so präzise mit Polka und Ländler,
Geschwind- und Trauer-Marsch in den Symphonien formuliert, mit der gleichen
Präzision, mit der er, das Posthorn und die Herdenglocke nicht verschmähend,
Raum- und Naturvisionen bis hin zur Sphärenharmonie entwarf. Mahler war kein
Sozialromantiker, aber neben seiner überbordenden Mitmenschlichkeit, die beim
privaten Mahler immer wieder durch die rasende Arbeitsbelastung
hindurchbrechen konnte, erschien es ihm als Pflicht, als musikalischer Groß18
Romancier dramatischen Temperaments auch all dies in die Welt seiner
Symphonien aufzunehmen. Banal und vulgär klingt seine Musik gelegentlich, in
der Tat, aber sie tut dies nur, weil die Welt voller Banalität und Vulgarität ist
(Alban Berg und Dimitri Schostakowitsch sind ihm darin gefolgt); der
Komponist, wie Mahler ihn verstand, durfte nicht darauf verzichten, neben der
Spiritualität auch die Banalität in seiner musikalischen Prosa zu bewältigen. Das
Untere von Kultur, das "Prosaische" in jenem engeren Sinne, wurde von Mahler
mit höchster Artifizialität in gewaltige symphonische Gebilde eingeschmolzen,
deren einziges Problem vielleicht darin besteht, daß die Fülle der Ereignisse, der
Verwicklungen, der unverhofften Sprünge und Abstürze in so kondensierter
Form den Hörer zunächst überfordert. Mahlers Symphonien sind nicht auf
einmaliges Hören angelegt, sondern erschließen sich erst in ihrer überbordenden
Fülle beim Wiederhören, beim Wiederlesen, eben wie ein großer,
anspruchsvoller, multiperspektivischer Roman. Und wenn man ihnen denn etwas
vorwerfen kann: sie sind nicht viel zu lang, sie sind eher zu kurz. Das klingt
paradox, ja albern, aber es ist ein Gran Wahrheit daran. Mehr Zeit meint hier
nicht nur die pure zeitliche Ausdehnung im äußeren Umfang. Da markiert die 3.
Symphonie die obere Grenze, allein deshalb schon, weil sie 6 Sätze hat. Es ist für
Mahlers Symphonien charakteristisch, daß es extrem unterschiedliche
Dirigentenentscheidungen geben kann, was die Tempowahl betrifft. Im Fall der
Dritten benötigte der faszinierende Mahler-Dirigent Dimitri Mitropoulos einst 77
Minuten, Lorin Maazel hingegen 110: 33 Minuten Unterschied bei demselben
Werk. Zeit meint vor allem: zum Raum wird hier die Zeit, also: wieviel Raum
wird dem zu Sagenden Auszudrückenden gegeben, bzw. gelassen. So wie sein
Idol Richard Wagner 15 Stunden sich gönnte, um die Geschichte der Welt im
"Ring des Nibelungen" zu erzählen, so hätte Mahler sich noch mehr Zeit-Raum
für manche seiner Symphonien gönnen sollen, so denkt man gelegentlich. Je
mehr Welthaltigkeit in ihnen sedimentiert ist, desto verkürzter wirken sie - der
19
wahre Mahlerianer ist daran zu erkennen, daß er wie Susan Sontag nach ihrem
ersten "Parsifal" sagt: "Much to short". Erst mit der 9. Symphonie setzt ein
Prozeß der radikalen Ausdruckskomprimierung ein, ohne daß das Werk dadurch
wesentlich kürzer würde als die vorhergehenden: noch mehr ist zu sagen, nur daß
der Welt- und Lebensraum des Schöpfers schmaler wird. Die Intensität steigert
sich ins kaum Aushaltbare, und man verbietet sich daran zu denken, was er noch
hätte schaffen können. Die hoffnungslose Zärtlichkeit dieses Werkes verschlägt
dem Hörer den Atem, so wie das Ende des letzten Satzes, dann doch Mahlers
letztes ausformuliertes Wort, ein Verlöschen des Atems hörbar macht, nach dem
es nicht leicht ist, wieder ein- und aufzuatmen. Würde jemand in natürlich
unangemessener Ranglistenmentalität behaupten, Mahlers Neunte sei die
großartigste Symphonie der Musikgeschichte - ich hätte (ich will nicht
behaupten: zu meinem Bedauern) kein Argument, ihm zu widersprechen. Das
gloriose Fragment der 10. Symphonie, dem tiefsten Punkt seines Lebens
abgerungen, treibt einem die Tränen in die Augen. Die neun Symphonien und
das Fragment der Zehnten zusammen ergeben eine Spieldauer von rund 12
Stunden: das ist also Mahlers "Ring"-Roman, der die ganze Welt umschließt, nur
daß jedesmal ein neuer Roman erzählt wird, der alles zuammengenommen den
großen Romanzyklen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ebenbürtig ist: wären
die frühen Symphonien dem "Rougon-Macquart"-Zyklus von Emile Zola
vergleichbar, dann die späteren und das "Lied von der Erde" der "Recherche du
temps perdu" von Marcel Proust - manchmal, so meinen einige Kundige, blitze
schon am Horizont auch James Joyces "Ulysses" auf. Als der letzte Roman des
Zolaschen Zyklus "Le docteur Pascal" erscheint, 1893, beginnt Mahler die Arbeit
an der II. Symphonie. In jenen Monaten des Jahres 1909, als Mahler das "Lied
von der Erde" vollendet und die Arbeit an der 9. Symphonie aufnimmt, taucht
Proust seinen trockenen Toast in eine Teetasse (im Roman wird daraus ein
Sandkuchen namens "Madeleine"), erinnert sich epiphanisch an den
20
teegetränkten Zwieback seines Großvaters und skizziert die Keimzelle zur
"Recherche".
Hört man nur eine der Symphonien Gustav Mahlers, und das vielleicht zum
erstenmal, so wie es manchen, hoffentlich vielen Menschen in den MahlerJubiläumsjahren 2010 und 2011 ja wohl ergehen wird, so ist auch der
Bereitwilligste schnell überfordert, wenn auch glücklicherweise in den meisten
Fällen gebannt und fasziniert. Es mag ihm vorkommen, als müsse er die
"Dämonen " von Dostojewsky und den "Ulysses" von Joyce gleichzeitig lesen
und das innerhalb von 2 Stunden. Die ungeheure Fülle der Ereignisse und
Gestalten, der Karikaturen und Naturerscheinungen, der sublimen und horrenden
Momente überwältigt ihn, macht ihn stumm, kann ihn auch betäuben. Das ist
kein Vorwurf gegen Mahler, sollte es nicht sein. So wie sich Beethoven nicht um
die elende Geige seiner Interpreten kümmerte und nicht um die Kehlen seiner
Chorsänger und Solisten in der "Neunten", in der "Missa solemnis", so sah sich
Mahler, der wahrlich Praktiker genug war, viel mehr, als es Beethoven gewesen
war, außerstande, auf die Fassungskraft der Philharmoniker-Abonnenten
übertriebene Rücksicht zu nehmen. Kein Mißerfolg, keine wütende Ablehnung
machte ihn irre. Mahler fühlte sich nicht dem Publikum seiner Zeit verpflichtet,
sondern dem, was ihm eine höhere Macht aufgegeben hatte, auszudrücken: an
was er, an was die Menschheit litt, worüber er und sie jubilierten, aber auch
verzweifelten. Sein wunderbarer Satz in einem Brief an Alma macht das klar: "O
könnt´ ich meine Symphonien 50 Jahre nach meinem Tode uraufführen".
Geradezu unheimlich exakt begann jene Neuentdeckung Gustav Mahlers 50
Jahre nach seinem Tod, die man nicht eine "Renaissance" nennen sollte, weil sie
ja nicht die Wiederentdeckung eines bis dahin bereits einmal unbezweifelt
Anerkannten war, sondern die völlige Neubewertung eines bis dahin weitgehend
Verkannten, Mißachteten, Verhöhnten und Verspotteten. Dieser Prozeß ist heute,
weitere 50 Jahre später, genauso vital wie ehedem, immer neue Begeisterte
21
werden gewonnen; er ist nicht mehr zurückzudrehen, kein Antisemitismus der
Welt, der ja wahrlich nicht ausgestorben ist, sondern furchterregend lebendig,
wird Gustav Mahler je wieder etwas anhaben können.
Theodor W. Adorno hat einmal einen luziden kleinen Essay geschrieben, der den
Titel trug Die Wunde Heine. Mit Wunde meinte Adorno jenes
Nichtzurechtkommen des lesenden deutschen Publikums (weit vor dem
Nationalsozialismus) mit Heines Virtuosität, mit seiner Geläufigkeit und
Selbstverständlichkeit des dichterischen und sprachlichen Ausdrucks, der das
Gegenteil war von heimatlicher Geborgenheit und damit das Scheitern der
jüdischen Emanzipation ahnen ließ. Dies trifft so keineswegs deckungsgleich auf
den rund 60 Jahre jüngeren Mahler zu. In der Reaktion auf ihn aber klafft bis
heute (heute nur versteckter) die gleiche Wunde, sie wird immer erneut
aufgekratzt, sie blutet immer wieder. Kein Wunder, daß Adorno feststellt, Heines
wahres Wesen habe sich nicht in der Musik jener Komponisten enthüllt, die seine
Texte vertonten, wie Schubert und Schumann, sondern erst bei jenem
Komponisten, der ihn nicht vertonte: Gustav Mahler, in dessen
Deserteursgesängen, seinen Trauermärschen wie dem der V. Symphonie, in den
grellen Dur-Moll-Wechseln der Wunderhorn-Lieder die Musik der Heineschen
Verse erst richtig entbunden wurde. Es gibt auch die Wunde Mahler; sie will und
wird sich nicht schließen, solange es eine menschliche Gesellschaft gibt, die der
Versöhnung ermangelt und sich mit zunehmender Intensität selbst zerstört. Von
diesem Mangel spricht Mahlers Musik so deutlich wie keine zweite.
Unerhörtes, Ungeheures, bisher in der sogenannten "ernsten" und "hohen" Musik
Unübliches, ja Tabuisiertes zu sagen mit den Mitteln der herkömmlichen MusikSprache - das mahnt nicht von ungefähr an die Kunst Franz Kafkas. Was Kafka
in seiner wunderlich-wundersamen, beängstigenden Erzählung "Josefine, die
Sängerin oder das Volk der Mäuse" eben dieses Volk über Josefines Kunst sagen
22
läßt, daß nämlich Musik kaum jemals den auf sie wartenden Augenblick findet,
das mußte Mahler zu Lebzeiten bitter erfahren. Kafka fährt fort, über eben diese
Musik sprechend: "Etwas von der armen kurzen Kindheit ist darin, etwas von
verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom tätigen
heutigen Leben ist darin, von seiner kleinen, unbegreiflichen und dennoch
bestehenden und nicht zu ertötenden Munterkeit." Kafka spricht hier, ohne es zu
wissen, von Mahlers Musik, die er wohl nicht kannte. In Kafkas Briefen wird
ein- zweimal auf Mahlers Ruhebedürftigkeit beim Komponieren angespielt, die
Kafka, der extrem Lärmempfindliche, sehr gut verstand. In seinen Tagebüchern
kommt Gustav Mahler ein einziges Mal nur vor. Im September 1911, wenige
Monate nach Mahlers Tod, sitzen Kafka und Max Brod auf dem Mailänder
Domplatz und trinken einen Kaffee. Kafka notiert im Tagebuch: "Gespräch über
Scheintod und Herzstich an einem Kaffehaustischchen auf dem Domplatz.
Mahler hat auch den Herzstich verlangt." Das ist beklemmend als das Einzig
Substantielle, was Kafka über Mahler wußte. In der Tat ist bei Mahler nach
seinem Tod der Herzstich als Sicherheit gegen das Lebendig Begrabenwerden
(damals eine durchaus verbreitete Angst) durchgeführt worden, bei Kafka nicht.
Beider Werk jedoch sticht uns ins Herz, sofern wir dieses für es öffnen. Oder
eine andere Formulierung Kafkas umwidmend: Mahlers Musik ist eine Axt für
das gefrorene Meer in uns. Mit Max Brod sprach Kafka einmal über den Zustand
der Menschheit, den er mit dem Bild umschrieb, sie sei nur so etwas wie
Selbstmordgedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen. Brod fragte zurück, ob es
denn außerhalb der Welt, die wir kennen, Hoffnung gebe. Kafka lächelte: "Oh,
Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung - nur nicht für uns".
23
Herunterladen