Geschichte Steffen Prosser Die Schlacht von Aigospotamoi in der Darstellung von Xenophon und Diodor Ein quellenkritischer Vergleich Studienarbeit Inhaltsverzeichnis 1) Einleitung 2 2) Rückblick – Die Vorgeschichte zur Schlacht von Aigospotamoi 6 3) Die Schlacht von Aigospotamoi in den Darstellungen Xenophons und Diodors 9 a) Der Sommerfeldzug des Lysander und die Aktionen der athenischen Flotte 9 b) Der Verlauf der Schlacht von Aigospotamoi 15 c) Der Prozess von Lampsakos gegen die athenischen Kriegsgefangenen 25 4) Schlussbetrachtung 28 5) Quellenverzeichnis 30 6) Literaturverzeichnis 30 1 1) Einleitung Der Peloponnesische Krieg, der von 431-404 v. Chr. zwischen Athen und Sparta sowie ihren jeweiligen Verbündeten ausgetragen wurde, gehört ohne Zweifel zu den herausragendsten Ereignissen der gesamten Antike. Bereits der zeitgenössische griechische Geschichtsschreiber Thukydides bezeichnete den Krieg der Peloponnesier und der Athener als „die gewaltigste Erschütterung, die Hellas und ein Teil der Barbarenländer, ja fast die ganze Menschheit erlebt hat“.1 Diese Einschätzung eines der bedeutendsten Geschichtsschreiber der Antike hat bis in unsere heutige Gegenwart bestand, wenn Bleckmann, freilich über die zeitlich begrenzte Perspektive des um 399 v. Chr. verstorbenen Thukydides hinausgehend konstatiert: „Die Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg hatte einschneidende Folgen für den Verlauf der weiteren Geschichte und gilt zu Recht als die große Zäsur der griechischen Geschichte der klassischen Zeit, da sich in der Folgezeit kein anderer Polisstaat mehr imstande erweisen sollte, Ägäis und griechisches Mutterland als stabilen Herrschaftsraum zu organisieren.“2 Der Schlacht von Aigospotamoi 405 v. Chr. am Ende des Dekeleischen Krieges muss hierbei eine entscheidende Rolle zuerkannt werden, da sie das Schicksal Athens im Kampf gegen Sparta um die Vorherrschaft über Griechenland im Peloponnesischen Krieg endgültig besiegelte.3 Dem spartanischen Feldherren Lysander war es bei Aigospotamoi gelungen, die Flotte der Athener vernichtend zu schlagen. Da die Athener nach der Katastrophe von Aigospotamoi über keinerlei Reserven mehr verfügten, um eine neue Flotte zu bauen und zu bemannen, waren sie angesichts der Blockade des Peiraieus, dem wichtigsten Hafen der Stadt, durch die Peloponnesier gezwungen, 404 v. Chr. bedingungslos zu kapitulieren. Der Machtkonflikt zwischen Athen und Sparta konnte mit dem Ausgang des Peloponnesischen Krieges jedoch nur vorübergehend beigelegt werden und sollte nur wenig später unter anderen Vorzeichen und neuen Koalitionen im Korinthischen Krieg 395-387 v. Chr. erneut eskalieren. Die Quellenlage für die Schlacht von Aigospotamoi ist als verhältnismäßig problematisch einzuschätzen. Dies liegt zum einen daran, dass die scharfsinnige, reflektierte und von einer in der Antike einzigartig erzählerischen Qualität zeugende Darstellung des Thukydides über den Peloponnesischen Krieg im Verlauf des Jahres 411 v. Chr. abrupt abbricht, zum anderen, dass mit den Hellenika Xenophons und der „Historischen Bibliothek“ Diodors zwei divergierende nachthukydideische Traditionen über die Geschehnisse des Dekeleischen Krieges berichten. 1 Thuk. I, 1. Bleckmann, Bruno, Athens Weg, S. 7; Ähnlich Bengtson, Hermann, Griechische Geschichte, S. 253. 3 Der Dekeleische Krieg (413-404 v. Chr.) bildete nach dem Archidamischen Krieg (431-421 v. Chr.) und dem Nikiasfrieden (421-413 v. Chr.) die letzte Phase des Peloponnesischen Krieges und verdankt seinen Namen der nahe Athen gelegenen Festung Dekeleia, von der aus die Spartaner das attische Kernland permanent bedrohten. 2 2 Dabei herrschte noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts unter den klassischen Altertumswissenschaftlern weitestgehend Einigkeit darüber, für die Rekonstruktion des Dekeleischen Krieges ab dem Jahr 411 v. Chr. die xenophontischen Angaben zugrunde zu legen und Diodor lediglich für einzelne Episoden heranzuziehen, die von Xenophon nur beiläufig erwähnt oder aber vollständig ausgespart wurden, z.B. die Einnahme von Pylos durch die Lakedaimonier und die Ablehnung des spartanischen Friedensangebots nach der Schlacht bei Kyzikos durch die Athener. So fasste Busolt 1904 stellvertretend den damaligen Grundtenor innerhalb der Forschung zusammen: „Was Xenophon bis zur Herrschaft ‚der Dreißig’ [404-403 v. Chr.] bietet, erweist sich im ganzen als zuverlässiger als die von ihm abweichenden Parallelberichte.“4 Die sich aus dem Urteil Busolts ergebende Geringschätzung der Universalgeschichte Diodors manifestierte sich vor allem in dem berühmten Ausspruch Mommsens, der bereits Mitte des 19. Jahrhunderts von der „unglaublichen Einfalt und noch unglaublicheren Gewissenlosigkeit dieses elendsten aller Scribenten“ sprach.5 Die ältere historische Forschung disqualifizierte Diodor als einen geistlosen Exzerptor und Kompilator ohne historiographisches Verständnis und schriftstellerischer Veranlagung. Ihm wurden nicht nur „sklavische Abhängigkeit von seinen Vorlagen, sinnentstellende Kürzungen der Quellen, gedankenlose Wiederholungen [und] gravierende Widerspruche und Inkongruenzen“, sondern auch „unverständliche Verwechslungen und Ungenauigkeiten in der Wiedergabe von Namen sowie schwere Nachlässigkeiten in chronologischen Fragen“ vorgeworfen.6 Gleichwohl die Universalgeschichte Diodors, im ersten vorchristlichen Jahrhundert verfasst und teilweise nur in Fragmenten erhalten, im Vergleich zu den Hellenika Xenophons überwiegend als qualitativ minderwertig eingestuft wurde, bedeutete dies im Umkehrschluss keineswegs die einseitige Lobpreisung des xenophontischen Geschichtswerkes, im Gegenteil: Bereits von der älteren Forschung wurde Xenophon wegen seiner ungleichmäßigen und lückenhaften, „wesentlich von den [eigenen] persönlichen Erlebnissen und Neigungen […] abhängige[n] Behandlung der Ereignisse“ kritisiert.7 Bestimmte Vorkommnisse, die sich mit seiner prospartanischen Gesinnung nicht in Einklang bringen ließen, etwa die verheerende Niederlage Spartas in der Seeschlacht von Knidos 394 v. Chr., fanden in den Hellenika Xenophons nur am Rande Beachtung oder wurden aber, wie z.B. die gegen Sparta gerichtete Gründung der Stadt 4 Busolt, Georg, Der Peloponnesische Krieg, S. 701; Die um die Jahrhundertwende entstandenen großen Werke zur griechischen Geschichte von Busolt, Meyer und Beloch fussen sämtlich auf dieser Haltung. 5 Mommsen, Theodor, Die römische Chronologie, S. 125. 6 Meister, Klaus, Die griechische Geschichtsschreibung, S. 180 gibt an dieser Stelle die von der älteren historischen Forschung erhobene Kritik an Diodor wieder; Überblick zum allgemeinen Forschungsstand zu Diodor Vgl. Engels, Johannes, Augusteische Oikumenegeographie, S. 205, Anm. 18 und 19. 7 Busolt, Georg, Der Peloponnesische Krieg, S. 700; Beloch, Karl Julius, Griechische Geschichte, S. 401 hält die Hellenika Xenophons für eine „recht unvollständige Materialiensammlung“; Die Kritik gegenüber Xenophon betrifft vor allem den Teil der Hellenika, der den Zeitraum nach dem Dekeleischen Krieg zum Gegenstand hat 3