Pädagogik Charlotte Fritsch Die Macht der Diagnose. Macht die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" den von ihr Betroffenen erst krank? Eine qualitative Durchführung, Darstellung und Interpretation zweier Interviews mit Menschen, die als "bipolar" diagnostiziert worden sind Bachelorarbeit Universität Erfurt Erziehungswissenschaftliche Fakultät Fachbereich für Sonder‐ und Sozialpädagogik Bachelorarbeit DieMachtderDiagnose MachtdieDiagnoseeiner"psychischenErkrankung" denvonihrBetroffenenerstkrank? EinequalitativeDurchführung,DarstellungundInterpretation zweierInterviewsmitMenschen,dieals"bipolar"diagnostiziert wordensind Vorgelegt von: Charlotte Fritsch Studiengang: Förderpädagogik & Germanistik Erfurt, den 12.08.2013 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ..................................................................................................................... 1 2 Theoretische Grundlagen ............................................................................................. 3 2.1 Die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" unter dem Gesichtspunkt des Labeling Approach .................................................................................................................. 3 2.2 Die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" aus sozial‐konstruktivistischer Sicht . 3 2.3 Die Folgen von Stigmatisierung und Selbststigmatisierung aufgrund der Diagnose einer "psychischen Erkrankung" ............................................................................................ 4 3 2.4 Die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" aus personenbezogener Sicht ........... 5 2.5 Die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" aus systemischer Sicht ...................... 7 2.6 Zusammenfassung und Ableitung der Hypothesen .................................................... 8 Praxisteil: Welche Auswirkungen hat die Diagnose "bipolar" auf die von ihr Betroffenen? ....................................................................................................................... 9 3.1 Methodendarstellung und Interviewpartner .............................................................. 9 3.2 Ergebnisdarstellung ................................................................................................... 10 3.2.1 Umgang mit der Theorie der "genetischen Vorbelastung" ............................... 10 3.2.2 Persönliche Bedeutung der Diagnose und Selbstbild ........................................ 12 3.2.3 Konsequenzen der Diagnose auf die berufliche Situation ................................. 13 3.2.4 Reaktionen anderer ............................................................................................ 15 3.2.5 Eigene Erklärungen der Probleme und ihrer Lösungsmöglichkeiten ................. 16 3.3 Interpretation der Ergebnisse ................................................................................... 18 3.3.1 Hypothese 1 ....................................................................................................... 18 3.3.2 Hypothese 2 ....................................................................................................... 24 4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen ............................................................... 27 5 Ausblick ..................................................................................................................... 29 6 Literaturverzeichnis ................................................................................................... 31 7 Eidesstattliche Erklärung ............................................................................................ 33 8 Appendix ................................................................................................................... 34 1 Einleitung "Es sind nicht die Menschen die sich ändern. Es sind die Labels. Nicht die Zahl psychischer Erkrankungen nimmt zu, sondern die Bezeichnungen für sie" ‐ so der US‐Psychiater Allen Frances in einem Focus‐Interview (2013, Nr. 18). Jenes Zitat soll den Ausgangspunkt dieser Arbeit bilden, die sich mit der spannenden Frage beschäftigt, welche Auswirkungen die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" auf den Diagnostizierten hat. Welche Macht hat eine solche Diagnose ‐ macht sie den Menschen vielleicht erst "krank", indem sie ihn für "krank" erklärt? Im ersten Teil dieser Arbeit werden kurz relevante theoretische Ansätze angerissen, um deren Position zu psychiatrischen Diagnosen herauszuarbeiten. Zuerst wird die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" unter dem Gesichtspunkt des Labeling Approach untersucht ‐ einer soziologischen Sichtweise, die die Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen durch die Etikettierung mit einer solchen Diagnose als stark eingeschränkt sieht. Anhand der sozial‐ konstruktivistischen Sicht wird die Diagnose als etwas, das Wirklichkeit erzeugt, vorgestellt. Daraufhin wird der Aspekt der Stigmatisierung, die zu Selbststigmatisierung führen kann, erläutert. Es folgt eine Auseinandersetzung mit personenbezogenen Sichtweisen ‐ insbesondere der medizinischen ‐ die eine "Störung" im Menschen verankert und somit die Diagnose als gerechtfertigte Kategorisierung, die für die Auswahl der "richtigen" Behandlung notwendig ist, sieht. Kritik wird dabei am defizitorientierten Klassifikationssystem ICD‐10 und einer zu starken Fixierung auf "genetisch bedingte" Ursachen einer "psychischen Erkrankung" geübt. Zuletzt wird die systemische Sichtweise auf psychiatrische Diagnosen mit einbezogen ‐ wobei deutlich wird, dass nach diesem Ansatz nicht der Einzelne als "krank" diagnostiziert werden kann, sondern als "krank" erlebtes Verhalten immer nur innerhalb eines bestimmten Kontextes betrachtet und erklärt werden kann. Aufbauend auf dieser theoretischen Grundlage werden folgende Hypothesen abgeleitet: "Die Diagnose einer 'psychischen Erkrankung' schränkt bei dem 'Etikettierten' das Gefühl der Selbstwirksamkeit ein und hat deshalb einen negativen Einfluss auf Selbstwahrnehmung, Selbstwertgefühl und die eigene Entwicklung", "In Familien, in denen die gleiche Diagnose mehrfach auftritt, wird nicht die 'Erkrankung' sondern die Diagnose weitergegeben" und "Die Diagnose 'bipolar' macht aus einem vorübergehenden Zustand eine chronische Erkrankung." 1 Den Ausgangspunkt für den daran anschließenden Praxisteil stellen zwei offene Interviews mit Menschen, die als "bipolar" diagnostiziert wurden, dar. Zunächst wird das methodische Vorgehen, das der Datenerhebung diente, sowie die Schwerpunktsetzung bei den Interviews beschrieben und begründet. In diesen Schwerpunkten spiegeln sich die fünf Kategorien wieder, die die darauf aufbauende Ergebnisdarstellung strukturieren: persönliche Bedeutung, die der Diagnose beigemessen wird; Umgang mit der Theorie der "genetischen Vorbelastung"; Konsequenzen für die berufliche Situation; Reaktionen anderer auf die Diagnose und eigene Erklärung der Probleme und ihrer Lösungsmöglichkeit. Ausgehend von den Interviewergebnissen findet eine Interpretation dieser statt, deren Grundlage die praktische Anwendung, Präzisierung und Überprüfung der oben genannten Hypothesen darstellt. Anschließend werden die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit thesenhaft zusammengefasst, wobei der Versuch unternommen wird, die Ausgangsfrage zu beantworten. Im abschließenden Ausblick wird die Gefahr angesprochen, dass durch die Entstehung von immer mehr Diagnosen auch mehr Menschen als "psychisch krank" diagnostiziert werden, obwohl die Auswirkungen einer solchen Diagnose verheerend für den weiteren Lebensweg sein können. Es werden offene Fragen aufgeworfen, die nur schwer zu beantworten sind; es werden Grenzen theoretischer Annahmen und der Diagnostik aufgezeigt, zudem Vorschläge erarbeitet, wie sinnvoll mit der Diagnose einer "psychischen Erkrankung" umgegangen werden kann. 2 2 2.1 Theoretische Grundlagen Die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" unter dem Gesichtspunkt des Labeling Approach Der Labeling Approach ‐ zu Deutsch "Etikettierungsansatz" ‐ ist eine soziologische Sichtweise. Sie geht davon aus, dass bestimmte Verhaltensweisen erst dadurch entstehen ‐ sich erst dadurch verfestigen ‐ dass diese durch gesellschaftlich hierfür legitimierte Experten mit einem bestimmten Etikett versehen werden (vgl. Palmowski 2007, 65). Dies hätte Auswirkungen auf die gesellschaftliche Teilhabe und das Selbstbild, die Art und Weise, wie man sich selbst definiere (vgl. Becker, zitiert nach Keckeisen 1974, 38). Es entstehe ein "Rollen‐Druck", der es einem fast unmöglich mache, sich anders zu verhalten, als es einem durch die Etikettierung gesellschaftlich zugeschrieben wurde (vgl. Schur 1974, 67 ff). "Im Sinne einer 'self‐fulfilling prophecy' macht der Betroffene sich immer mehr die gesellschaftliche Zuschreibung zu Eigen [...] akzeptiert [diese] als Eigenschaft seiner Persönlichkeit" (Kriminologie‐Lexikon ONLINE 2013). Auch wenn der Labeling Approach ursprünglich der Erklärung "kriminellen Verhaltens" diente, so lässt sich hier ein Transfer herstellen ‐ betrachtet man die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" als Etikett und einen Arzt als den "Experten", der einen mit diesem Etikett versieht. In diesem Sinne wäre eine solche Diagnose etwas, das die als "krank" diagnostizierten Verhaltensweisen aufrecht erhält ‐ dies sei "der entscheidende Schritt in die langfristige Abweichung" (vgl. Palmowski 2007, 65). Man verhält sich entsprechend der Diagnose, weil diese mit einer gewissen Erwartungshaltung ‐ nämlich der, dass man sich auffällig zeigt ‐ verbunden ist. Und weil man sich auffällig verhält, scheint sich die Diagnose immer wieder selbst zu bestätigen. Ein Regelkreis, in dem sich Diagnose und auffälliges Verhalten gegenseitig bedingen (vgl. ebd., 66). 2.2 Die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" aus sozial‐konstruktivistischer Sicht Ähnlich ist diesem Ansatz auch die Idee des sozialen Konstruktivismus, in dem Sprache als formativ ‐ also als etwas, das Wirklichkeit erzeugt ‐ verstanden wird (vgl. Palmowski 2011, 42). Betrachtet man die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" unter diesem Gesichtspunkt, so könnte man zu der Überlegung kommen, dass diese erst dadurch entsteht, dass man sie als solche bezeichnet. Eine Diagnose würde bestimmte Symptome dann nicht nur durch Kategorisierung benennen, sondern diese durch ihre Benennung zu einer "Krankheit" machen. Dadurch, dass immer mehr Diagnosen, immer mehr Bezeichnungen für 3