93.112 Beiheft-Text als

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Sergei Rachmaninov
Ganznächtliche Vigil op. 37
An seinem 60. Geburtstag, der am 7. Mai 1933 in Paris in einem öffentlichen Festakt
begangen wurde, überreichte die dortige Kolonie russischer Exilanten Sergej
Rachmaninow (1873-1943) eine Grußbotschaft. In ihr wurde der Künstler vor allem
anderen dafür gerühmt, in der Emigration die heimatlichen Wurzeln nicht abgestreift
zu haben: Rachmaninow zeige sich dem Antlitz der Welt als Ausdruck des nationalen
Genius und als Wohltäter für alle Russen. Dieses Grußwort, das auch namhafte
musikalische Repräsentanten des russischen Paris wie Alexander Glasunow und
Nicolas Medtner unterzeichnet hatten, endete mit einer bezeichnenden Vision: »Was
wir Ihnen und uns auch noch wünschen: dereinst in Moskau Rachmaninows
Ganznächtliche Vigil in Anwesenheit des Komponisten zu hören.«
In dieser Utopie ist die Musik weniger konkreter Klang als Symbol; die erträumte
Aufführung an ihrem Ursprungsort steht sinnbildlich für die ersehnte Rückkehr in
eine nicht nur geographische, sondern kulturelle und geistige Heimat, die
unwiederbringlich verloren war. Es gibt wohl keinen geschichtlichen Moment, in dem
eine Moskauer Aufführung von Rachmaninows Vigil unrealistischer gewesen wäre als
gerade 1933: Zusätzlich zum Verbot jeglicher religiöser Musikwerke in der
Sowjetunion war 1931 noch ein genereller Rachmaninow-Boykott getreten, da der
Komponist in der New York Times einen Artikel mitunterzeichnet hatte, der den
ideologischen Terror der Kommunisten anklagte.
Während die Ächtung des Komponisten in der UdSSR nur wenige Jahre dauerte,
durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges – Rachmaninow hatte Einnahmen
seiner Konzerte zur Unterstützung seines Vaterlandes im Krieg gespendet –
vergessen wurde und nach dem Tode sofort in eine Glorifizierung zu nationalen
Zwecken mündete, lockerten sich die antireligiösen Fesseln sehr spät: Erst in der
Mitte der 1980er Jahre konnten öffentliche Aufführungen die Ganznächtliche Vigil in
Russland offiziell aus ihrem Dornröschenschlaf befreien.
Besondere Symbolkraft besaß dieses Werk aber nicht nur für die vor Revolution und
Kommunismus in den Westen geflohenen russischen Exilanten. Die Reaktionen von
Publikum und Rezensenten waren schon im Uraufführungsjahr enthusiastisch
(einzelne Stimmen bezüglich der kirchlichen Angemessenheit ausgenommen). Sie
machen deutlich, dass die Vigil bereits als Gipfel verstanden wurde, als die Summe
nicht nur eines personalstilistischen Reifens, sondern als Sinnbild einer ganzen
Epoche.
In der Geschichte der russischen Kirchenmusik, die mit Ausbruch der
Oktoberrevolution zu einem jähen und gewaltsamen Ende kam, wird Rachmaninows
Ganznächtliche Vigil gemeinhin als krönender Abschluss betrachtet. Sie bildet somit
den Endpunkt einer fast ein Jahrtausend umspannenden kirchenmusikalischen
Evolution, die bald unabhängig und isoliert vom Westen verlief, bald von diesem
Anregungen aufgenommen hatte.
Nachdem im 19. Jahrhundert die Mode der geistlichen Vokalkonzerte nach
italienischem Stil, als deren Hauptvertreter Dmitrij Bortnjanskij gilt, strengen
vierstimmigen Harmonisierungen nach dem Muster des deutschen Choralsatzes
gewichen waren, stagnierte die Entwicklung russischer Kirchenmusik über
Jahrzehnte. Die restriktive Zensur der Petersburger Hofsängerkapelle und ihrer
jeweiligen Leiter tat ein Übriges, um die Kreativität der russischen Tonsetzer zu
lähmen. Ein Rechtsstreit um die Drucklegung von Tschaikowskys Liturgie op. 41,
der zu Gunsten des Verlegers ausging, zerschlug 1878 das Monopol der
Petersburger Kapelle und brachte die Entwicklung der so genannten neuen
Russischen Schule des Kirchengesangs ins Rollen.
Während Tschaikowsky und andere Komponisten sich zunächst im Wesentlichen
noch der traditionellen Aufgabe des mehrstimmigen Aussetzens der alten
kanonischen Gesangsweisen bei nahezu völliger Preisgabe der künstlerischen
Autonomie verpflichtet fühlten, traten jüngere, nun auch von musikhistorischen
Forschungen beeinflusste Chorleiter und Komponisten auf den Plan, die den alten
Gesängen ein freieres, weiteres und vor allem russischeres Gewand anlegen wollten.
Speziell im Umkreis des Ende der 1880er Jahre entstandenen Moskauer
Synodalchores und der ihm angeschlossenen Synodalschule für Kirchengesang
erlebte die russisch-orthodoxe geistliche Musik binnen weniger Jahre eine
außergewöhnlich fruchtbare, aber letzte kompositorische Blüte, zu der
Rachmaninow ganz wesentlich beigetragen hat.
Orientiert an den formalen Mustern Tschaikowskys und den satztechnischen
Freiheiten jüngerer Komponisten wie Alexander Gretschaninow und Alexander
Kastalskij, hatte Rachmaninow bereits wenige Jahre vor der Vigil, nämlich 1910,
eine große Liturgie vertont, also die orthodoxe Eucharistiefeier (›Messe‹). Zu
diesem Zeitpunkt war er bereits seit langem als Komponist von Orchester- und
Klavierwerken, Kammermusik und Romanzen sowie in seiner Eigenschaft als Pianist
und Dirigent als einer der herausragendsten russischen Musiker seiner Zeit etabliert.
Geistliche Musik jedoch hatte er bis dahin, sieht man von einem isolierten frühen
geistlichen Konzert (1893) und einer lateinischen Motette (1890) ab, nicht
geschrieben. Das mag zwei Hauptgründe gehabt haben: einerseits die fehlende
tiefere Beziehung zur Kirche, andererseits die formale und inhaltliche Schwierigkeit
der Aufgabe.
Rachmaninow scheint trotz prägender Kindheitserlebnisse kein im kirchlichen Sinne
religiöser Mensch gewesen zu sein. Aber selbst für aufmerksame Kirchgänger
bedeuten die liturgischen Ordnungen, nach denen der kirchenmusikalische Ablauf
jedes Gottesdienstes an jedem einzelnen Tag des Jahres zu gestalten ist, ein Buch
mit sieben Siegeln. (So hatte sich Tschaikowsky seinerzeit bitter darüber beklagt,
dass ihm selbst die Geistlichen keine präzisen Auskünfte für den Aufbau seiner
Werke geben konnten, da sie offensichtlich selbst die Regeln nicht verstünden und
willkürlich Gesänge auswählten.) Diese Komplexität resultiert unter anderem
daraus, dass über die ständig wechselnde Kombination fester und beweglicher Texte
sowie Melodien hinaus auch noch ein Achtwochenzyklus von Kirchentonarten
(Oktoechos) beachtet werden muss, der das gewöhnliche Kirchenjahr überlagert
und durchkreuzt.
Rachmaninow suchte, wie der erhaltene Briefwechsel belegt, während der
Abfassung seiner Liturgie umfassenden Rat bei dem Experten Kastalskij, der ihn seit
langem schon zu geistlichen Werken ermutigt und mit eigenen Kompositionen die
Entwicklung der Neuen russischen Kirchenmusik maßgeblich geprägt hatte.
Während Rachmaninow ihm für Hinweise zu liturgischen Fragen dankbar war, lehnte
er Kritik an experimentell scheinenden klanglichen und satztechnischen Details
teilweise ab – und sicherte so seine eigene Handschrift. Es ist wahrscheinlich, dass
Rachmaninow auch bei der Komposition seiner Ganznächtlichen Vigil, die als
kirchlicher Ritus eine noch viel komplexere und wechselhaftere Struktur als die
Liturgie besitzt, um Rat bat, doch haben sich zu ihrer Entstehung keine Briefe oder
sonstige Hinweise erhalten, ausgenommen eine Zeitungsankündigung dieses
Werkes schon im Dezember 1912 sowie die vom Komponisten selbst gegebene
Datierung »Januar-Februar 1915«.
Die Ganznächtliche Vigil der russisch-orthodoxen Kirche wird jeweils am Vorabend
vor Sonnund großen Feiertagen zelebriert; sie entsteht aus der Zusammenlegung
von Vesper und Matutin einschließlich der Ersten Stunde. Im Gegensatz zur
formalen Kleinteiligkeit der Liturgie wählte Rachmaninow diesmal den meist
beschrittenen und praktikableren Weg, aus der Vielzahl der möglichen
Einzelgesänge und liturgischen Einsprengsel nur einen Kernbestand zu vertonen und
die notwendigen Ergänzungen für Aufführungen innerhalb liturgischer Zeremonien
den jeweiligen Kirchenchören und Geistlichen zu überlassen. Eine solche
Beschränkung erleichtert die Aufführung des Chorwerkes in konzertanter Form,
außerhalb des kirchlich-liturgischen Rahmens, sie legt sie sogar nahe. Tatsächlich ist
das Werk (wie die Liturgie auch) seit seiner Uraufführung am 10. März 1915 im
Rahmen eines geistlichen Konzertes des Moskauer Synodalchors nur sehr selten in
Kirchen erklungen.
Die Schwierigkeiten der Realisation beruhen zudem nicht nur auf der notwendigen
Ergänzung fehlender liturgisch-musikalischer Elemente (die dann notgedrungen
einen stilistischen Bruch bedeuten), sondern auch auf den ungewöhnlichen
Anforderungen an die Sänger. Rachmaninow schrieb eben nicht für kleine
Gemeindekantoreien, sondern für den Moskauer Synodalchor und damit für einen
der besten Kirchenchöre der damaligen Welt; zur Ausführung mancher Partien in
seinen geistlichen Werken berief er gar Vokalsolisten des Opernhauses. Einen
Verstoß gegen kirchliche Dezenz bedeutete ferner der Applaus, den das
Uraufführungspublikum dem Komponisten bescherte, obwohl dies in geistlichen
Konzerten explizit untersagt war. Die Musik beansprucht nolens volens ein Maß an
Autonomie, das eine Einbindung in den kirchlichen Rahmen nur noch unter Mühen
ermöglicht.
Die Vielfalt der satztechnischen Mittel und Formen in Rachmaninows
Ganznächtlicher Vigil reicht vom archaischen Unisono über quasi barockes
Konzertieren von Soli und Tutti und manchen homophon-akkordischen Passagen,
wie sie den größten Teil der russischen Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts geprägt
hatten, bis hin zu individuellen und originären Klangmalereien, etwa in der Imitation
von Glockenklängen (z.B. in Nr. 7). Eine aus den russischen Gesangstraditionen
resultierende Besonderheit bildet die Gruppe der tiefsten, aus den normalen Bässen
abgeteilten Männerstimme, die so genannten Oktavisten, die nicht nur
Rachmaninows Chorwerken eine unverwechselbare Färbung verleihen. In seiner
Ganznächtlichen Vigil verlangt der Komponist häufig D, C, ja sogar mehrfach das
Kontra-B – Töne, die nur für sehr wenige Sänger erreichbar sind, aber den Zuhörern
einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Im Sinne einer KlangfarbenDramaturgie angelegt ist insgesamt der tonale Plan der Vigil. Das zeigt sich bereits
im eröffnenden Responsorium »Amen«, das ohne vorausgegangene Anrufung des
Priesters keinen Sinn ergibt, hier aber die Grundtonart C-Dur festlegen soll, von der
aus dann gleich der Eingangschor überraschend in strahlendes A-Dur abhebt.
Das entscheidende Novum der Rachmaninow’- schen Vigil gegenüber seiner Liturgie
ist jedoch die nahezu konsequente Verwendung der überlieferten einstimmigen
Gesangsweisen, die etwa seit der Jahrhundertwende in offiziellen und
systematischen geordneten gedruckten Gesangbüchern vorlagen. Während das
Vorgängerwerk trotz (und in Kirchenkreisen gerade wegen) seiner musikalischen
Pracht noch heftig kritisiert worden war, bedeutete der schöpferische, nichtmuseale,
emphatische Gebrauch der alten Weisen im pastos-spätromantischen Klanggewand
in den Augen auch der Skeptiker die Einlösung des jahrhundertealten Traums von
der nationalen, echt russischen Kirchenmusik. Rachmaninow hatte die Tradition an
ihren ältesten Wurzeln gepackt und seiner eigenen, hochexpressiven Musiksprache
einverleibt. Ganz im Gegensatz zu seinen oft von spieltechnischer Virtuosität und
mitunter auch einer entsprechenden getragenen Pose Instrumentalwerken
Rachmaninow zwang der obligatorische Verzicht auf Instrumente im orthodoxen
Ritus, all seine emotionale und religiöse Inbrunst mit den natürlich begrenzten
Mitteln der menschlichen Stimme darzustellen. Es kann kein Zweifel daran
bestehen, dass genau diese Beschränkung Rachmaninow zu einer seiner höchsten
künstlerischen Leistungen und einer außergewöhnlichen Vergeistigung und
Konzentration des Ausdrucks getrieben hat.
Wie sehr das modale archaische Melos, das stufenweise in freien Rhythmen und
ohne Taktgrenzen fließen kann, mit Rachmaninows eigener Tonsprache harmoniert,
ja koinzidiert, belegen die den authentischen Kirchengesängen nachempfundenen
Melodien in den Nummern 1, 3, 6, 10 und 11. Der Komponist bezeichnete sie in
einem wertneutralen Sinn als Imitationen oder »Stilfälschungen«, und sie sind ihren
Vorbildern so eng nachgebildet, dass sie auch von Kennern kaum unterschieden
werden können. Auch der Verzicht auf starre Metren – die meisten Gesänge sind
ohne Taktangabe notiert und verwenden Taktstriche nur als Zäsuren, andere wie
Nr. 2 wechseln ständig und unregelmäßig die Taktart – kam Rachmaninows Vorliebe
für große melodische Bögen entgegen. Diese metrischen, rhythmischen und
harmonischen Irregularitäten korrespondieren zudem mit stilistischen Eigenheiten
seiner letzten vor der Emigration entstandenen Werke wie den Études-Tableaux op.
39. Doch Rachmaninow hat sich in der Ganznächtlichen Vigil nicht für ein ähnlich
modernes Idiom entschieden, das mit der kirchenmusikalischen Tradition gebrochen
und deren Fortschreibung verunmöglicht hätte; stattdessen schuf er ein Amalgam
aus anonymer Archaik und zeitgenössischem Personalstil, das auf beeindruckende
Weise die Waage zwischen kompositorischer Subjektivität und religiöser (das Wesen
der Orthodoxie geradezu kennzeichnender) Entpersonalisierung hält. Auch der dem
eigenen Schaffen so skeptisch und kritisch gegenüberstehende Komponist selbst
hielt das Werk für eine seiner gelungensten Kompositionen und stellte es im Rang
neben seine Chorsymphonie Die Glocken op. 35. Welch tiefe persönliche Dimension
die Vigil für Rachmaninow besaß, belegen zitatartige Anspielungen auf Nr. 9 in den
autobiographisch gefärbten Symphonischen Tänzen op. 45, dem letzten Werk des
Komponisten überhaupt, besonders aber der Wunsch, dass das Nyne
otopushchauyeshi (»Herr, nun lässt Du Deinen Diener«; Nr. 5), nach eigenen
Worten »mein Lieblingsstück«, auf seiner eigenen Beisetzung gespielt werde.
Christoph Flamm
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