SZ AM WOCHENENDE. All diese Noten - WOZU? Ein erstaunliches Beispiel für Mißdeutung 'und M~ßhandlung durch die Nachwelt: der Komponist Sergej Rachmaninow, "ICH BIN ein russischer Komponist. Meine Musik ist das Produkt meines Temperaments - daher ist es russische Musik": Sergej Rachmaninow. Bilder: SZ-Archiv sik", ganz im Sinne der alten russischen Klavierschule - herb, streng, pedalfeindlich. Die von ihm erhaltenen Schallplattenaufnahmen sind Beleg dafür. Gemessen und beurteilt wird Rachmaninow fast immer an wenigen seiner Kompositionen: Etwa an dem mit 19 Jahren komponierten cis-Moll-Prelude', dasmit sei)1en schweren Oktavgängen im Baß bombastisch vorgetragen - ganze Generationen erschauern und schluchzen ließ, oder an der 2. Symphonie mit der zarten Melodik ihres dritten Satzes. Wie bei Chopin, Mozart, Tschaikowsky oder Bach hut sich die Unt rhaltungsmusik voran die amerikanische - r ichlich am Glunz von Rachmaninows Melodien gewärmt. Pop- und Jazz-Pianisten von Petel' Nero bis Erroll Garner huben aus seinen Werken zitiert. Anders als Igor Strawinsky hat sich Rachmaninow zwar nie an die Schein- und Traumfabrik HolIywood verdingt, doch er ,ilt beharrlich als "Hollywood-Komponist" - wohl auch, weil Marilyn Monroe in dem' Film "The Seven Yeur Hch" ("Das verflixte 7. Jahr") im Adagio sostenuto seines 2. KJavi rkonzerts dahinschmolz. Und amerikanische Autoren haben 1990 in einem Musical um die I gendäre Zaren tochter "The Ana tasia Affuir" wie selbstverständlich auf Rachmaninow-Hhythmen zurückgegriffen. Die Demontage solcher Klischees gelingt selten. Der "Fall Rachmaninow" ist in der Musikgeschichte ein erstaunliches Beispiel für Mißdeutung und Mißhandlung durch die Nachwelt. Sergej Wassiljewitsch Rachmaninow wurde am 1. April 1873 geboren - nicht in Oneg am Wolchow-Fluß (wie noch bis vor wenigen Jahren angenommen), sondern im rund 50 Kilometer entfernten Smejonowo im Gouvernement Newgorod. Nach Oneg siedelte die Familie erst später um. Der Vater, ein labiles Geschöpf, war Offizier und Pianist. Die strenge, den Haushalt beherrschende Mutter gab dem Sohn frühzeitig Klavierunterricht. Der versöhnliche, ausgeglichene Großvater achtete auf Wissen und Bildung des Enkels. Aus der Konstellation dieser drei Personen in der frühen Kindheit Rachmaninows sind tiefgründige Schlüsse auf Persönlichkeit, Leben, Werk, Konflikte und Erfolge gezogen worden. Richtig ist, daß Ordnung und Disziplin dem stets von Zweifeln, Ängsten und Krisen geplagten Künstler eine Überlebenshilfe waren. 1882 mußte das Gut Oneg verkauft werden, die Ehe der Eltern zerbrach, Sergej Rachmaninow zog fürs erste mit der Mutter nach Sankt Petersburg. Das Stipendium am dortigen Konservatorium wurde ihm wegen notorischer Faulheit aufgekündigt. Die Großmutter schickte ihn j 1885 nach Moskau in das Pensionat des, Klavierlehrers Nikolaj Swerjew. Ein Jahr später durfte Rachmaninow am Moskauer Konservatorium studieren, das er 1892 mit zwei Goldmedaillen (für Komposition und Klavierspiel) verließ, Bis dahin hatte er bereits etliche Stücke für Soloklavier" Kammermusik, Lieder, ein Chorwerk, sein 1. Klavierkonzert, das symphonische Poem für großes Orchester "Prinz Rostislaw" und - als Abschlußarbeit am Konservatorium - die Zigeuneroper "Aleko" komponiert. Eine erste Schaffenskrise kam, als Rachmaninow sich 1897 an die Komposition einer Symphonie wagte (deren ersten Satz er bereits 1891 niedergeschrieben hatte). AI xander Glasunow dirigierte das Werk des knapp 24jährigen bei der Uraufführung in Pet sburg nach allen vorliegenden Berichten derart miserabel, daß die Pleite unabwendbar war. Der gefürchtete Kritiker (und Komponist) Ces ar Cui schrieb: "Wenn es ein Konservatorium in der Hölle gäbe unq dort einem der begabten Schüler die Aufgabe gestellt worden wäre, eine Symphonie über die Sieben Plagen Ägyptens zu schreiben - er hätte das nicht glänzender als Rachmaninow erledigen können und wäre darauf von den Höllenbewohn rn mit enthusiastischem Beifall empfangen worden." Rachmaninow verfiel in SelbstzweiJ'el, Depressionen und Verzagtheit. Ein von Freunden vermitteltes Gespräch mit Leo Tolstoi ("Denken Sie, daß ich mit mir zufrieden bin?") verfehlte die beabsichtigte, aufbauende Wirkung. Erst eine Behandlung durch den Psychoanalytiker und Hypnotiseur Nikolaj Dahl ("Sie werden mit Leichtigkeit arbeiten - es wird Ihnen vortrefflich gelingen") befreite Rachmaninow von der Blockade. Das 2. Klavierkonzert - Nikolaj Dah} gewidmet und bis heute im Repertoire der großen Pianisten - war 1900 das Ergebnis der Heilung durch Hypnose und Suggestion. Die 1. Symphonie verbannte Rachmaninow regelrecht aus seinem Leben. Erst 1945 wurde sie im Archiv des Leningrader Konservatoriums wiederentdeckt und zum zweitenmal aufgeführt - ein jugendfrisches Werk und ein vorzügliches Beispiel russischer Symphonik obendrein. In der Jugend hatte das Böcklin-Gemälde "Die Toteninsel" Rachmaninow stark beeindruckt. 1909 hat er dazu eine symphonische Dichtung komponiert, und stets - so heißt es - sei "eine geheimnisvolle Insel" durch seine Gedanken gegeistert, als Idee für eine Oper, als Refugium vor der "zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt", vielleicht als Endpunkt eines Lebens im Exil. "Die Musik eines Komponist n", schrieb Rachmaninow, "sollte Aus, druck seines Geburtslandes, seiner Liebschaften sein, der Bücher, die ihn beeinJ'Iußten, der Bilder, die er liebt, seiner Religion - sie sollte Produkt seiner gesamten Lebenserfahrung sein". Rachmaninow liebt die Glocken seiner Heimat (eine Glocken-Kantate nach einem Gedicht von Edgar AHan Poe hat er 1913 komponi rt). Er liebte das Hintergründige des Walzers, er hatte eine Faible für den Jazz (Rachmaninow war 1924 einer der Sponsoren für die Uraufführung von Gershwins "Rhapsodie in Blue"). Er schätzte die Werke von Tschechow und Tolstoi, wur Pferdekenner und begeisterter Reiter (bis er eines Tages vom Pferd fiel), und er liebte die Geschwindigkeit im Auto oder im Motorboot. Als die Zarenherrschaft in seiner Heimat zerbröckelte, hat Rachmaninow mit sein r Musik in den Zirkeln der Intelligenzija mitgeholfen, die Revolution vorzubereiten. Maxim Gorki sah das 2. Klavierkonzert ganz im Dienst dieser Sache. Rachmaninows kämpferisches g-MollPrelude heizte revolutionäre Stimmungen an. Und der in den letzten Jahren des Zaren reichs mehr als sonst in breiten Bevölkerungsschichten verwurzelte liturgische Gesang erreichte dur& Rachmaninows "Großes Abend- und Morgenlob" fußend auf Kirchenmusik aus dem 17. Jahrhundert - in Rußland seinen Höhepunkt. Zwar haben die Boli?chewiki Rachmaninow zeitweise in den USA als "Werkzeug der Weltbourgeoisie und des Weltkapitalismus" beschimpft. Doch das dauerte nur knapp vier Jahre (von 1931 bis 1934), nachdem Rachmaninow zwei Resolutionen von Exil-Russen gegen die Führung in Moskau mitunterzeichnet hatte. Ansonsten war er für die Kommunisten in seiner Heimat "ein Komponist, dessen beste Werke in die Schatzkammer