SCHRIFTEN ZUM STAATS

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SCHRIFTEN ZUM STAATS UND VÖLKERRECHT
Herausgegeben von Prof. Dr. Dieter Blumenwitz
Band 45
Frankfurt am Main ■ Bern • New York • Paris
Burkhard Schöbener
Die amerikanische
Besatzungspolitik
und das Völkerrecht
Frankfurt am Main • Bern • New York • Paris
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Schöbener, Burkhard:
Die amerikanische Besatzungspolitik und das Völkerrecht /
Burkhard Schöbener. - Frankfurt am Main ; Bern ; New York; Paris:
Lang, 1991
(Schriften zum Staats- und Völkerrecht; Bd. 45)
Zugl.: Würzburg, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-63143967-9
NE: GT
D 20 ISSN 01727796 ISBN 3-631-439679
©Verlag Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 1991 Alle Rechte
Vorbehalten.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig
und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und
Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in Germany 1 2 4 5 6 7
Der Okkupant ist kein König Midas, dem
alles zu Recht wird, was er anfaßt.
Rolf Stödter (1948)
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1990/91 von der
Juristischen Fakultät der Bayerischen Julius-Maximi- liansüniversität Würzburg als Dissertation angenommen. Ziel der Arbeit
ist es, die Wechselbeziehungen und das Spannungsfeld deutlich zu
machen, die zwischen der politischen und der völkerrechtlichen
Besatzungsplanung der US-Administration im Hinblick auf die
Behandlung Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
bestanden.
Dies erforderte zunächst eine eingehende Erörterung des politischen Entscheidungsfindungsprozesses in den Jahren von 1941
bis 1945, die weitgehend auf das veröffentlichte Dokumentationsmaterial gestützt werden konnte (1. Teil).
Der völkerrechtliche Entscheidungsfindungsprozeß, bisher in
veröffentlichten Materialien nur unzureichend erfaßt, wird auf
Grundlage der Auswertung insbesondere der in den National
Archives (Washington, D.C.) und in der Roosevelt Library (Hyde
Park, New York) vorhandenen Aktenbestände erstmals annähernd
lückenlos
dargestellt
und
der
Antagonismus
zwischen
zweckgerichtetem politischen Handeln und normativen Vorgaben des
Völkerrechts herausgearbeitet. In diesem Zusammenhang wird auch
der historische Hintergrund der Formel von der "bedingungslosen
Kapitulation" und ihre mangelnde juristische Substanz aus der
damaligen - politischen und völkerrechtlichen - Diskussion heraus
erschöpfend gewürdigt (2. Teil).
Anschließend wird die Auseinandersetzung um die Rechtslage
Deutschlands in den ersten Nachkriegsjahren untersucht und als
historischer Vorgang geschildert (3. Teil).
Der 4. Teil der Arbeit zeigt exemplarisch anhand bestimmter
besatzungspolitischer Maßnahmen, welche konkreten Folgen die
Verdrängung
des
Völkerrechts
durch
politische
Zweckmäßigkeitsüberlegungen und moralisierende Betrachtung für die
deutsche
Zivilbevölkerung,
die
Kriegsgefangenen
und
die
Wirtschaft nach sich zog.
1
Hein Dank gilt in erster Linie meinem Doktorvater, Prof. Dr.
Dieter Blumenwitz, der mir alle erdenkliche Unterstützung zukommen
ließ und mir die Freiheit zu eigenständiger wissenschaftlicher
Forschung gab. Nicht minder herzlich darf ich mich bei Prof. Dr.
Erich Schwinge bedanken, von dem die Idee zur Bearbeitung dieses
Themas stammt, und der mir immer ein aufgeschlossener und
wohlwollender Gesprächspartner war. Herrn Prof. Dr. Dietmar
Willoweit danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens.
Dank gebührt außerdem der Stiftung Volkswagenwerk, die die
vorliegende Arbeit als Forschungsprojekt am Institut für
Völkerrecht, Europarecht und Internationales Wirtschaftsrecht der
Universität Würzburg finanziell gefördert hat. Ohne ihre Hilfe
wären insbesondere die Archivforschungen in den Vereinigten
Staaten kaum möglich gewesen. Herzlich bedanken darf ich mich
zudem bei Herrn Dr. Kurt Fischer für das zügige Lesen des
Manuskripts sowie bei Frau Andrea Ullrich und Herrn Alexander Ihls
für die sorgfältige und engagierte Erledigung der umfangreichen
Schreibarbeiten.
Dieses Buch widme ich meinen Eltern und Susanne, die mir über die
ganzen Jahre den nötigen privaten Rückhalt gaben, und damit
wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beitrugen.
Wetter (Hessen), im Juni 1991
2
Burkhard Schöbener
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1
Inhaltsverzeichnis
3
Abkürzungsverzeichnis
16
Einleitung
1. Teil: "Decision-making" - Planungen und
Entscheidungen zur US-Besatzungspolitik in
Deutschland, 1941-1945
19
I. Die Atlantik-Charta - ideologische Zielvorgabe für
die Nachkriegspolitik der USA
1.1. Die Abkehr von einer völkerrechtskonformen
Neutralitätspolitik
a. Einfluß des Briand-Kellogg-Paktes auf
den Neutralitätsbegriff
b. Schrittweise Überwindung des
außenpolitischen Isolationismus und der
völkerrechtlichen Neutralität
1.2.
Inhalt und Geltungsbereich der
Atlantik-Charta
a. Zusammenhang mit Wilsons "Vierzehn
Punkten" und Roosevelts "Vier
Freiheiten"
b. Nichtgeltung der Atlantik-Charta für
Deutschland
26
26
27
27
30
37
39
45
49
II. Die Wandlung der amerikanischen Militärreaierungs-Grundsätze
11.1.
Das Verhältnis von "militärischer
Notwendigkeit" und Humanität im
Kriegsrecht
11.2.
Die Änderung der amerikanischen
Militärregierungs-Doktrin
a. Amerikanische MilitärregierungsErfahrungen
b. Erste Fassung des Field Manual 27-5
(1940)
c. Politische Kritik am Field Manual 27-5
49
51
51
53
55
3
d. Revidierte Fassung des Field Manual
27-5 (1943)
III. Besatzungsplanung im Außen- und
Kriegsministerium. 1942 - August 1944
111.1. Planungen des Außenministeriums
a. "Advisory Committee on Post-War
Foreign Policy"
b. "Interdivisional Country Committee
on Germany"
111.2. Planungen des Kriegsministeriums
a. Unpolitisches Selbstverständnis des
Kriegsministeriums
b. Warburg-Plan vom Februar 1944
c. Ablehnung des Warburg-Plans
58
62
64
65
67
70
70
71
77
IV. Die "heiße Phase" der US-Besatzungsplanung. August
1944-August 1945
80
80
IV.1. Finanzminister Morgenthau schaltet
sich in die Planungen ein
a. Kein unmittelbarer Planungsbedarf bis
zum Sommer 1944
b. Morgenthaus erste Kontakte mit der
bisherigen US-Planung
c. Morgenthaus Einfluß auf den
Präsidenten und Roosevelts erste
Stellungnahme
IV. 2. Entstehen und Inhalt des Morgenthau-Plans
a. Erster Entwurf des Morgenthau-Plans,
2. September 1944
b. Erste Sitzung des Kabinetts-Ausschusses, 5. September 1944 Differenzen zwischen Außen- und
Kriegsministerium
c. Zweite Sitzung des Kabinetts-Ausschusses,
6. September 1944 - Zweite Fassung des
Morgenthau-Plans
d. Dritte Sitzung des Kabinetts-Ausschusses,
9. September 1944 - Roosevelt
4
81
82
86
89
89
95
98
sympathisiert mit Morgenthaus
Vorschlägen
IV.
3.
IV.
Die Konferenz von Quebec - Roosevelt und
Morgenthau setzen sich durch
a. Der wirtschaftspolitische Teil
b. Der "Kriegsverbrecher"-Beschluß
Außen- und Kriegsministerium treten Roosevelt
und Morgenthau entgegen
112
116
118
b. Hull geht zunehmend auf Abstand zu
Morgenthau
118
c. Roosevelts taktischer Rückzug
Die Direktive CCS 551 ("Pre-SurrenderDirective")
120
Eisenhower fordert eine Nachkriegs- Direktive
für Deutschland
5.
a. Möglicher Wegfall der Grundprämissen von
CCS 551
b. Überarbeitung des SHAEF-Handbuches
Die Entwicklung der ersten Fassung der
Besatzungsdirektive JCS 1067
a. Erste Entwürfe in der EAC-Delegation und im
Kriegsministerium
IV.
7.
111
a. Stimson plädiert für eine konstruktive
Planung
IV.
4.
IV.6.
103
b. Interims-Direktive JCS 1067,
22. September 1944
c. Britische Einwände gegen JCS 1067
Die erste Revision der Besatzungsdirektive JCS
1067
Die Konferenz von Jalta und die diesbezüglichen Vorarbeiten des Außenministeriums
IV. 8. a. Vorbereitende Papiere des Außenministeriums
b. Die Ergebnisse der Krim-Konferenz
IV. 9. Das Memorandum des State Department vom 10.
März 1945
123
127
132
132
133
135
135
140
144
146
150
150
155
IV.10.
156
5
IV.11. Die Reaktionen in Kriegs- und
Finanzministerium - gemeinsames Memorandum vom
23. März 1945
159
b. Inhalt der gemeinsamen Denkschrift vom 23.
März 1945
161
IV.12. Revision von JCS 1067
IV.
IV.
163
a. Inhalt der revidierten Fassung
163
b. Bewertung der revidierten Fassung
168
13. Reparationsplanungen nach Jalta
14. Praktische Schwierigkeiten mit den
wirtschaftspolitischen Prinzipien von JCS
1067 und Änderungen durch das Potsdamer
Protokoll
171
a. General Clays Einschätzung von JCS 1067
IV.
159
a. Widerstand gegen das State Department
Memorandum
179
b. Teil-Änderungen in JCS 1067 durch das
Potsdamer-Abkommen
179
c. Reparationsbeschlüsse der Potsdamer
Konferenz
181
15. Ursachen und Hintergründe der "harten"
US-Besatzungspolitik gegenüber Deutschland
184
187
2. Teil: "Unconditional surrender" - von einer
politischen Forderung zu einem neuen staats- und
völkerrechtlichen Institut?
I.
II.
Die frühe amerikanische "Unconditional Surrender"
Planung
204
1.1.
Planungen des Subcommittee on Political
Problems
204
1.2.
Roosevelt bekennt sich zum Prinzip der
"bedingungslosen Kapitulation"
209
Die Konferenz von Casablanca und die politische
Forderung nach "Unconditional Surrender"
II. 1. Die Entstehung der Casablanca-Formel
11.2. Das "Neuartige" der Casablanca-Formel
11.3. Hintergründe der Casablanca-Formel
6
203
212
212
214
215
III. "Unconditional Surrender" als Versuch, in
Deutschland einen völkerrechtsfreien Raum zu
schaffen
111.1. Das Pollock-Memorandum vom April 1943
111.2. Britische Bedenken hinsichtlich der
völkerrechtlichen Zulässigkeit bestimmter
Besatzungsmaßnahmen
IV. Diskussion in der European Advisory Commission über
Form und Inhalt der Kapitulations-Urkunde
218
218
223
224
IV.
1. Amerikanische Vorüberlegungen zur
Kapitulations-Urkunde
224
IV.
2. Erste Entwürfe der drei EAC-Mitglieder
229
a. Der britische 70-Punkte-Entwurf
IV.
229
b. Der amerikanische Entwurf
229
c. Der sowjetische Entwurf
3. Differenzen in Washington und in der EAC
über die Behandlung deutscher Kriegsgefangener
nach der Kapitulation
232
234
a. Amerikanische Einwände gegen den britischen
Entwurf
235
b. Das US-Außenministerium wendet sich gegen
die Behandlung deutscher Soldaten als
Kriegsgefangene - Denkschrift
vom 4. März 1944
236
c. Der Judge Advocate General, US-Army, beharrt
auf dem völkerrechtlichen Schutz deutscher
Kriegsgefangener nach der KapitulationDenkschrift
vom 15. März 1944
239
d. Der Judge Advocate General, US-Navy, wendet
sich ebenfalls gegen das Außenministerium
- Denkschrift vom 24. März 1944
IV. 4. Britische und sowjetische Überlegungen zum
Kriegsgefangenen-Status deutscher Soldaten
241
a. Sitzung des "Post-Hostilities Committee" am
27. März 1944
244
b. Informelles Gespräch zwischen Strang und
Gusew am 4. April 1944
244
c. Die US-Delegation schwenkt auf den
britischen Kurs ein
244
248
7
IV.
5. Die drei EAC-Delegationen einigen sich über
die Kriegsgefangenen-Klausel
249
IV.
6. EAC-Beratungen über Struktur und Länge der
Kapitulationsurkunde und den Inhalt der
Ermächtigungsklausel
251
V. Diskussion in Washington über die möglichen
völkerrechtlichen Auswirkungen einer
"bedingungslosen Kapitulation"
V.
l. Das Chanler-Memorandum vom Februar 1944
IV. 2. Das Jessup-Memorandum vom Juni 1944
IV. 3. Chanlers Kritik am EAC-KapitulationsDokument
258
258
262
270
IV.
4. Britische Überlegungen zur "bedingungslosen
Kapitulation"
IV.
5. Washington ohne jegliche völkerrechtliche
Konzeption
272
a. Erste amerikanische Reaktionen
b. Völkerrechtliche Stellungnahme des USAußenministeriums
276
c. Heftiger Protest aus der Civil Affairs
Division
III. 6. Völkerrechtlicher Disput innerhalb der Civil
Affairs Division
a. Memorandum von Mark D. Howe vom 8. Januar
1945
b. Memorandum von William Chanler vom 13.
Januar 1945
c. Memorandum von Mark D. Howe vom 13. Januar
1945
276
280
282
283
283
285
292
V.
7. Erörterung der völkerrechtlichen
Problematik mit anderen Ministerien
a. Memorandum von William Malkin vom 18.
Januar 1945
b. William Chanler wendet sich an John J.
McCloy
c. Memorandum des Finanzministeriums
295
295
300
305
8
V.
8. Bemühungen des "State-War-Navy-Coordinating
Committees" um eine klare völkerrechtliche
Stellungnahme
310
a. Erste Antwortentwürfe für Murphy
312
b. Nochmalige Überarbeitung der Entwürfe
V.
9. Korrespondenz Chanlers mit Philip Jessup
und anderen Völkerrechtsexperten
a. Wiederaufnahme des Gedankenaustauschs mit
Philip Jessup
b. Memorandum Ralph Carsons vom März 1945
c. Memorandum von Colonel Hayden N. Smith vom
März 1945
VI. Die Änderung der Kapitulations-Urkunde in der Zeit
von
der
Krim-Konferenz
bis
zur
Berliner
Viermächteerklärung vom 5. Juni 1945
VI.1. Modifizierung der Kapitulations-Urkunde auf
der Konferenz von Jalta
VI.
2. Frankreich wird einbezogen
VI.
3. Britische Änderungsvorschläge und die
Reaktion der anderen EAC-Delegationen
a. Britische Änderungsvorschläge
b. Reaktion der Sowjetunion und der USA
c. Ein weiterer britischer Vorschlag zur
Erweiterung der Kapitulations-Urkunde
VI.
322
322
328
329
333
333
336
338
338
341
343
4. Die Entscheidung zur Verwendung einer rein
militärischen Kapitulations-Urkunde
345
a. Konfusion in den amerikanischen
Planungsstäben
345
b. Entwurf und Gebrauch eines militärischen
Kapitulations-Textes
IV.
318
c.
d.
5.
5.
Verärgerung in Washington
Verhaftung der Regierung Dönitz
Die Berliner Viermächteerklärung vom
Juni 1945
346
349
350
351
9
VII. Die völkerrechtliche Debatte in Washington im Mai
und Juni 1945
353
VII.
1. Ralph Carsons Memorandum vom 19. Mai 1945
VII.
2. William Chanlers Memorandum vom
6. Juni 1945
354
VII.
VII.
361
3. Carsons Erwiderung auf Chanlers Memorandum
4. Völkerrechtliche Bewertung der Berliner
Deklaration
356
363
3. Teil: Deutschlands Rechtslage im politischen
Streit des In- und Auslandes
I. Zwischen Recht und Rechtlosigkeit: Völkerrechtliches
Vakuum in Deutschland oder zumindest "rule of law"?
Überlegungen deutscher Emigranten 1944/4 5
366
366
1.1. Hans Kelsen und seine These vom Kondominium
a. Deutschnationale Äußerungen in den
zwanziger Jahren
b. Entwicklung der Kondominium-These 1944
c. Rechtliche Folgerungen aus den politischen
Fakten
I.2. Ernst Fraenkel fordert die Grundsätze des "rule
of law" für die amerikanische
Besatzungspolitik in Deutschland
366
367
368
371
374
II. Die völkerrechtliche Stellung Deutschlands 1945 und in
den Jahren danach in der politischen
Auseinandersetzung
379
11.1. Das Deutsche Reich zwischen "Debellatio" und
Fortexistenz
382
a. Vertreter der "Debellatio"-These
b. Die staatliche Fortexistenz des Deutschen
Reiches
II.2. Versuche von Konrad Adenauer, die politische
Argumentation gegenüber den Besatzungsmächten
zu verrechtlichen
383
386
388
a. Konrad Adenauer und der Zonenbeirat
388
10
a. Auseinandersetzung mit der britischen
Besatzungsmacht
11.1. Die "Interventions"-These als rechtlicher
Ausdruck politischer Zweckmäßigkeit
a. Georg August Zinns "Interventions"-These
b. Karl Geiler und die "Interventions"-These
391
39
6
39
c. Carlo Schmid wendet sich gegen die "Interventions"-These
6
11.2. Rudolf v. Launs Bestrebungen zur Klärung der
Rechtslage Deutschlands
40
a. R.v. Launs wissenschaftliche Auseinander
setzung mit dem Rechtsproblem Deutschland
b. Die erste Tagung der deutschen
Völkerrechtslehrer 1947
c. Das Scheitern der Verrechtlichung der
Politik gegenüber den Besatzungsmächten
0
40
3
40
I.
Die Einschätzung der völkerrechtlichen Lage
Deutschlands durch die Vereinigten Staaten in der
Nachkriegszeit
8
40
111.1. Die Fortexistenz des Deutschen Reiches und des
Kriegszustands mit Deutschland
8
a. Äußerungen der US-Militärregierung
b. Fortdauer des Kriegszustandes und die
Kriegsbeendigung
41
111.2. Der rechtliche Status der Besetzung
Deutschlands
a. Das IKRK und die Rechtslage Deutschlands
b. Gutachten des Kriegsministeriums vom
10. Dezember 1946
1
41
3
c. OMGUS-Gutachten vom 17. März 1947
d. Äußerungen von Mitarbeitern der OMGUSRechtsabteilung
41
5
41
5
41
5
41
6
41
7
41
8
415
42
3
3. Teil: Einzelne amerikanische Besatzungsmaßnahmen und
die Nichtbeachtung des Völkerrechts
434
I. Die Internierung von Zivilpersonen
("automatic arrest")
434
1.1. Zielrichtung und Durchführung der Zivilinternierung
a. Zweck der Zivilinternierung
b. Mangelnde Berücksichtigung rechtsstaatlicher
Grundsätze
434
c. Aufrechterhaltung der Arrest-Kategorien
437
d. Zahl der Zivilinternierten
1.2. Die Lebensbedingungen in den Zivilinterniertenlagern
a. Äußerungen von Robert Murphy
b. Das Internierungslager Darmstadt im Winter
1946/47
435
441
443
445
1.3. Bemühungen des IKRK um den völkerrechtlichen Schutz
der Zivilinternierten
445
a. Erstes Gespräch von IKRK-Vertretern mit der USMilitärregierung, September 1946
446
b. Zweites Gespräch von IKRK-Vertretern mit der USMilitärregierung, November 1946
454
c. Reaktion von General Clay
d. Antwort des zuständigen hessischen Ministers und
des Internationalen Roten Kreuzes
II.Der Non-Fraternization-Befehl als Maßnahme
kollektiver Bestrafung
455
457
11.1. Inhalt und Zweck des Non-Fraternization-Befehls vom
12. September 1944
458
11.2. Hintergründe des Befehls
459
11.3. Non-Fraternization und die deutsche Bevölkerung
462
11.4. Non-Fraternization als kollektive Strafmaßnahme
11.5. Abmilderung des Befehls
462
465
467
469
472
12
III. Die Schutzlosstellung deutscher Kriegsgefangener
durch die Alliierten
473
111.1. Eisenhower macht sich den Inhalt der
Kapitulations-Urkunde zu nutze
47
a. Eisenhowers Anfrage in Washington,
10. März 1945
b. Antwort des "Combined Civil Affairs
Committee"
3
c. Deutsche Kriegsgefangene in Italien und
Norwegen
473
111.2. John J. McCloy unterstützt die völkerrechtswidrige
Behandlung deutscher Kriegsgefangener
47
111.3. Unklarheiten Uber die Rechtslage in der US-Armee
6
111.4. William Chanlers Memorandum vom 6. Juni 1945
111.5. Memorandum des Kriegsministeriums vom
10. Dezember 1946
47
111.6. Die Schweiz und das Internationale Rote Kreuz im
Einsatz für die Interessen der deutschen
Kriegsgefangenen
a. Schweiz bleibt nicht länger Schutzmacht
b. IKRK-Bemühungen um Hilfslieferungen
111.7. Eisenhowers "Disarmed Enemy Forces"(DEF)- Befehle
111.8. Aufhebung des DEF-Befehls
8
47
9
48
a. Gleichstellungsbefehl vom März 1946
b. Nochmaliges Engagement des IKRK
1
48
4
48
7
IV. Übergabe deutscher Kriegsgefangener an andere
Gewahrsamsmächte
II. 1. Frühe völkerrechtliche Überlegungen im USKriegsministerium
IV. 2. Amerikanisch-französische Planungen und
Überstellungen deutscher Kriegsgefangener
a. Amerikanisch-französische Vereinbarungen
48
9
48
9
49
b. Überstellungen und Versorgungsschwierigkeiten
0
c. Übergabe-Stopp vom 30. September 1945
49
2
49
1
53
49
5
49
6
49
8
IV.
3. Frankreichs Auffassung vom Zweck der Kriegsgefangenschaft: Zwangsarbeit zu
Reparationszwecken
506
IV.
4. Die Vereinigten Staaten bemühen sich um die
Rückführung der Kriegsgefangenen
508
IV.
5. Bestrebungen in Deutschland, eine Rückführung
der Kriegsgefangenen zu erreichen
a. Der Länderrat wird aktiv
b. Rechtsgutachten von Professor Kaufmann
IV. 6. Repatriierung der Kriegsgefangenen aus
Frankreich
V. Verwendung deutscher Kriegsgefangener im
Minenräumdienst
VI. Die Demontage von Industrieanlagen in Deutschland
V.
V.
1. Die Bestimmungen des Potsdamer Protokolls
512
512
513
517
518
523
523
523
a. Inhalt des Potsdamer Protokolls
b. Unklare Verwendung der völkerrechtlichen
Terminologie
525
2. Der erste Industrieniveauplan, März 1946
528
528
a. General Clays Einstellung zu den Demontagen 529
b. Inhalt des Industrieniveauplans
c. Scheitern der "wirtschaftlichen Einheit"
Deutschlands - Industrieabbau und
Versorgungsprobleme
V.
V.
VI.
3. Washington erkennt zunehmend die Bedeutung der
deutschen Wirtschaft für Europa
4. Der zweite Industrieniveauplan, August 1947
5. Das Petersberger Abkommen, November 1949
a. Das Washingtoner Abkommen, April 1949
VI.
b. Inhalt des Petersberger Abkommens
6. Die völkerrechtliche Problematik einseitiger
Reparationsentnahmen
a. Historischer Ursprung des "Reparations"Begriffs
14
530
534
536
536
537
539
539
540
b. Der "Reparations"-Begriff und seine
rechtliche Grundlage
c. Anerkennung der Notwendigkeit einer
vertraglichen Grundlage durch die
Alliierten
5. Teil: Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis
542
54
6
54
9
55
2
15
Verzeichnis dar häufigsten Abkürzungen:
a.a.O.
an angegebenem Ort
Abs.Nr.
Absatznummer
AJIL
American Journal of International Law
Am.Pol.Sc.Rev. American Political Science Review
Anm.
Anmerkung
ArchVR
Archiv des Völkerrechts
Art.
Artikel
ASIL
American Society of International Law
ASW
Assistant Secretary of War
Bd.
Band
BGBl.
Bundesgesetzblatt
Brig.Gen.
Brigadier General
Bsp.
Beispiel
bzw.
beziehungsweise
ca.
circa
CAD
Civil Affairs Division
CCAC
Combinded Civil Affairs Committee
CCS
Combined Chiefs of Staff
CDU
Christlich Demokratische Union
CIC
Counterintelligence Corps
Col.
Colonel
DA
Deutschland-Archiv
DAFR
Documents on American Foreign Relations
DEF
Disarmed Enemy Forces
Dep.
Department
Div.
Division
b.
h.
das heißt
dt.
deutsch(e)(r)
d.
Verf. der Verfasser
EA
Europa-Archiv
EAC
European Advisory Commission
ebd.
ebenda
ECEFP
Executive Committee on Economic Foreign
Policy
ed.
edited
etc.
et cetera
f.
folgende
16
ff.
FEA
FRUS
Gestapo
GK
GYIL
HLKO
Hq.
Hrsg.
hrsg.
IKRK
IPCOG
JAG
JAGD
JCS
JuS
JW
Leg. Div.
Lt. Gen.
Maj. Gen.
MDR
Memo.
MGM
NJW
No.
Nr.
NSDAP
N. Y.
o.D.
OKW
OMGH
OMGUS
par.
POLAD
POW
folgenden
Foreign Economic Administration
Foreign Relations of the United States
Geheime Staatspolizei
Genfer Kriegsgefangenenkonvention (von 1929)
German Yearbook of International Law
Haager Landkriegsordnung
Headquarter
Herausgeber
herausgegeben
Internationales Komitee vom Roten Kreuz
Informal Policy Committee on Germany
Judge Advocate General
Judge Advocate General Division
Joint Chiefs of Staff
Juristische Schulung
Juristische Wochenschrift
Legal Division
Lieutenant General
Major General
Monatsschrift für Deutsches Recht
Memorandum
Militärgeschichtliche Mitteilungen
Neue Juristische Wochenschrift
Number
Nummer
Nationalsozialistische Deutsche
Arbeiterpartei
New York
ohne Datum
Oberkommando der Wehrmacht
Office of Military Government for Grater
Hessen
Office of Military Government, United States
paragraph
Political Adviser (Robert Murphy)
Prisoner of War
17
Proc. ASIL
PSF
RG
RGBl.
RL
s.
SA
SBZ
SCAEF
Sec.
Secr.
SEP
SHAEF
SJZ
s.o.
sog.
SPD
SS
Suppl.
SWNCC
u.a.
USFET
USGCC
usw.
VE-Day
VfZG
vgl.
WSC
ZaöRVR
z.B.
ZNR
18
Proceedings of the American Society of
International Law
President Secretary Files
Record Group
Reichsgesetzblatt
Roosevelt Library
siehe
Sturmabteilung
Sowjetische Besatzungszone
Supreme Commander Allied Expeditionary
Forces (D. Eisenhower)
Section
Secretary
Surrendered Enemy Personal
Supreme Headquarter Allied Expeditionary Forces
Süddeutsche Juristenzeitung
siehe oben
sogenannte
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
Schutzstaffel
Supplement
State-War-Navy Coordinating Committee
und andere/unter anderem
United States Forces European Theatre
United States Group Control Council
und so weiter
Victory Europe Day
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
vergleiche
Working Security Committee
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht
und Völkerrecht
zum Beispiel
Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte
Einleitung
Trotz des in der historischen Forschung vorhandenen Interesses an
der amerikanischen Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Ende
der Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges, fehlte es bisher an
einer monographischen Darstellung, die auch die völkerrechtliche
Problematik aus dem Spannungsverhältnis von völkerrechtlicher
Machbarkeit und politischer Wünschbarkeit heraus umfassend
berücksichtigt. Zwar gibt es mehrere Monographien - insbesondere
aus der unmittelbaren Nachkriegszeit -, die eine Klärung der völkerrechtlichen Stellung Deutschlands zum Ziel haben, doch
beschränken diese sich weitestgehend auf die rechtstechnische
Erörterung des Problems1. Unberücksichtigt blieb bislang vor allem
die Frage, wie sich die amerikanischen Ministerien und der
Generalstab die Gestaltung der völkerrechtlichen Lage in
Deutschland vorstellten, welche Planungen es diesbezüglich bereits
während
des
Krieges
gab,
und
welche
völkerrechtlichen
Schwierigkeiten bei einzelnen Besatzungsmaßnahmen nach der
Kapitulation der deutschen Wehrmacht entstanden. Auch die
historische Literatur hat hierauf bisher keine Antwort gegeben2.
Dabei bietet diese Fragestellung eine Reihe nicht nur unter dem
völkerrechtlichen Blickwinkel interessanter Forschungsinhalte.
Gerade der Zusammenhang mit der besonderen politi-
1
Die umfassendste und wohl auch beste Darstellung der völkerrechtlichen Lage in Deutschland in den ersten Jahren nach Kriegsende
ist R. Stödter, Deutschlands Rechtslage. Daneben sind zu nennen: W.
Grewe, Ein Besatzungsstatut für Deutschland; Erich Kaufmann,
Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung; K.E.v. Turegg,
Deutschland und das Völkerrecht. Mit diesem Thema beschäftigen sich
außerdem die Dissertationen von M. Arndt, Völkerrechtliche und
staatsrechtliche Bedeutung der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945
und G.W. Prinz von Hannover, Die völkerrechtliche Stellung
Deutschlands nach der Kapitulation.
2
Vgl. die Nachweise bei E. Schwinge, Rückblick auf die Zeit der
amerikanischen Besetzung, in: B. Willms, Handbuch zur deutschen
Nation, Bd. 1, S. 307 ff., insb. S. 317 ff..
Schwinge ist bislang der einzige, der der politischvölkerrechtlichen Seite der amerikanischen Besatzungspolitik mit
diesem Aufsatz nachgegangen ist. Er gibt einen guten Einstieg in
die Problematik, zeigt das Forschungsdefizit in diesem Feld auf und
macht die rechtliche Problematik einiger Maßnahmen deutlich.
19
sehen Situation 1945, mit der bedingungslosen Niederwerfung
jeglichen militärischen Widerstandes auf deutscher Seite, mit der
für einen weltpolitischen Machtfaktor wie Deutschland völlig neuen
Objektrolle, bestimmt allein durch die siegreichen Alliierten,
läßt auch den völkerrechtlichen Ausgangspunkt in einem etwas
anderen Licht erscheinen. Eben in dieser Situation mußte sich
nämlich zeigen, inwieweit die siegreichen Mächte, deren
grundlegendes Besatzungsziel es nach Aussage eines kundigen
Beobachters war, "to be the re-establishment of the rule of law"3,
selbst bereit waren, in einer politischen Konstellation in
Deutschland, die ihnen alle Machtmittel in die Hände gegeben
hatte, Rechtsgehorsam bei ihrer Besatzungsplanung und durchführung walten zu lassen.
Um die rechtlichen und politischen Seiten der amerikanischen
Deutschlandpolitik richtig einordnen zu können, sind jedoch einige
Vorbemerkungen zum völkerrechtlichen Besatzungsrecht und zur
Wandlung
des
völkerrechtlichen
Kriegsbegriffs
in
der
Zwischenkriegszeit erforderlich:
Ein solcher Rechtsgehorsam hätte seine Bedeutung vor allem in der
Beachtung der Artikel 42 bis 56 der Anlage zum Abkommen betreffend
die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18. Oktober 1907
(sog. Haager Landkriegsordnung)4 gehabt. Darin wurden die schon
auf der Konferenz im Jahre 1899 festgestellten Grundsätze
weitgehend übernommen und nur kleinere Teile geändert5. Die Haager
Landkriegsordnung war der Endpunkt der im 19. Jahrhundert sich
entwickelnden Kodifikation des Kriegsrechts, das bis dahin
lediglich in Form von Gewohnheitsrecht gegolten hatte. Diese
Kodifikationsbestrebungen gingen Hand in Hand mit denjenigen einer
Humanisierung des Krieges6. Der Initiator und die bestimmende
Persönlichkeit der beiden Haager Konferenzen, der
3
4
5
6
20
K. Loewenstein, Justice, in: E.H. Litchfield, Governing
Postwar Germany, S. 237
RGBl. 1910, S. 107 ff.
Vgl. 0. Nippold, Die zweite Haager Friedenskonferenz, 2. Teil (Das
Kriegsrecht), S. 14, 28 f.
Chr. Meurer, Die Haager Friedenskonferenz, 2. Band (Das
Kriegsrecht der Haager Konferenz), S. 19 ff., 45 ff.
russische Diplomat v. Martens, bezeichnete die Artikel 42 bis 56
des Abkommens, die das Recht der kriegerischen Besetzung regeln,
als "die bedeutsamsten Artikel" dieses Kriegsgesetzbuches7. Wie in
der ganzen Landkriegsordnung überhaupt, wird auch in diesen
speziellen Artikeln deutlich, daß die Zivilbevölkerung im
besetzten Gebiet nicht als Kombattant angesehen wird. Ihre Rechte,
insbesondere ihre Grundrechte, auch und gerade gegenüber den
Besatzungstruppen, finden sich ausdrücklich in den Artikeln 42 bis
56 und gewähren ihr eine beachtliche Rechts- und Schutzstellung8.
Da aber - trotz aller dahingehender Versuche - eine abschließende
und alle denkbaren Kriegs- und Besatzungssituationen erfassende
völkerrechtliche Regelung nicht getroffen werden konnte, übernahm
die Konferenz in die Präambel der Landkriegsordnung eine
Vorbehaltserklärung, die v. Martens in seiner einleitenden
Programmrede abgegeben hatte, und die als Martens'sche Klausel das
Verständnis der ganzen Landkriegsordnung prägt. V.Martens stellte
fest, daß die HLKO-Bestimmungen den Zweck verfolgten, die Rechte
und Pflichten der Kriegsparteien und der Bevölkerung abzugrenzen
und die Leiden des Krieges zu mildern, soweit es die militärischen
Interessen gestatteten. Es sei jedoch nicht möglich, sich auf
Bestimmungen zu einigen, die sich auf alle in der Praxis
vorkommenden Fälle erstreckten. Andererseits könnte es aber nicht
die Absicht der Konferenz sein, daß die nicht vorgesehenen Fälle
in
Ermangelung
eines
schriftlichen
Übereinkommens
der
willkürlichen
Beurteilung
der
militärischen
Befehlshaber
überlassen blieben9. Auf v. Marten's Vorschlag hin hielt es die
Haager Konferenz für zweckmäßig, festzulegen,
VO 00
"daß in den Fällen, die in den von ihnen
angenommenen Bestimmungen nicht vorgesehen
sind, die Bevölkerungen und Kriegführenden
unter dem Schutz und den herrschenden
Grundsätzen des Völkerrechts bleiben, wie
sie sich aus den unter gesitteten Staaten
geltenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der
Menschlichkeit und aus den Forderungen
Chr. Meurer, ebd., S. 207
Vgl. im einzelnen: Chr. Meurer, ebd., S. 243 ff.
Chr. Meurer, ebd., S. 88 f.
21
des öffentlichen Gewissens herausgebildet
haben."10
Die Signatarstaaten des IV. Haager Abkommens waren sich 1907
völlig einig, daß es nicht allein genüge, Mittel und Wege zu
suchen, um den Frieden zu sichern11 und bewaffnete Streitigkeiten
zwischen den Staaten zu verhüten, sondern daß man auch den Fall
ins Auge zu fassen hatte, in dem es zu kriegerischen
Auseinandersetzungen kommen würde12. Auch der Kriegsfall war zu
bedenken und die kriegerische Auseinandersetzung - ebenso wie die
kriegerische Besetzung feindlichen Gebietes - völkerrechtlich zu
regeln und der Willkür des militärisch Stärkeren bzw. des
Besetzers des feindlichen Gebietes somit zu entziehen. Dieser noch
primär vom europäischen Völkerrechtsdenken geprägten Auffassung
war eine Unterscheidung zwischen einem "gerechten" bzw. "rechtmäßigen"
Krieg
einerseits,
einem
"ungerechten"
bzw.
"rechtswidrigen" Krieg andererseits, fremd. Das "Jus Publicum
Europaeum" dieser Zeit, dessen geschichtlich-politische Ideen sich
im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt hatten, vertrat noch die
Vorstellung vom "justus hostis", kannte also keine Diskriminierung
des Kriegsgegners, und faßte den kontinentalen Landkrieg als einen
reinen
Kombattantenkrieg
auf,
der
im
wesentlichen
eine
Auseinandersetzung der beiderseitigen staatlich-organisierten
Armeen war und den rein militärischen Bereich von allen anderen
Bereichen zu trennen suchte13.
In
der
Zwischenkriegszeit,
Weltkrieges,
erfuhr
der
beginnend
am
Kriegsbegriff
Ausgang
des
Ersten
allerdings
einen
grundlegenden Wandel. Die ersten Ansätze finden sich bereits im
Versailler Vertrag von 1919 in Artikel 227, der den deutschen
Kaiser unter Anklage stellt, und in Artikel
10
11
12
13
22
RGBl. 1910, S. 107 ff.; Chr. Meurer, ebd., S. 89
Zu den kriegverhindernden Bestrebungen der beiden Haager
Konferenzen vgl. J. Dülffer, Regeln gegen den Krieg? - Die
Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 in der
internationalen Politik.
Vgl. Chr. Meurer, Die Haager Friedenskonferenz, S. 45
Vgl. C. Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus
Publicum Europaeum, S. 180
231, dem sogenannten Kriegsschuldartikel14. Das sich anschließende
Obergangszeitalter erfuhr seine Prägung insbesondere durch die
anglo-amerikanische Vorherrschaft, in deren Gefolge auch das
geltende Völkerrecht mannigfachen Versuchen ausgesetzt war, die
den Wandel hin zu einer neuen völkerrechtlichen Ordnung im Sinn
hatten. Der markanteste Unterschied, der das Völkerrecht dieser
Zeit von dem des 19. Jahrhunderts abhob, lag in der Wendung zu
einem diskriminierenden Kriegsbegriff15. Dies war durchaus nichts
völlig Neues, hatte doch auch schon die ältere, aus der mittelalterlichen Scholastik stammende Lehre zwischen den Kategorien
des gerechten und des ungerechten Krieges differenziert. Das
entscheidende Unterscheidungskriterium bestand regelmäßig allein
darin, ob dem Kriegführenden eine "iusta causa" zur Rechtfertigung
seines kriegerischen Vorgehens zur Seite stand oder nicht. Er
mußte ein materielles Recht, einen Anspruch haben, den der Gegner
verletzt hatte und die der Verletzte in Ermangelung einer höheren
Autorität nun selbst durchsetzte. Es kam nicht darauf an, ob der
Krieg - formal - als Angriffs- oder Verteidigungskrieg geführt
wurde oder wer die ersten Kriegshandlungen vorgenommen hatte16.
Mit diesem früheren "materiellen" Kriegsbegriff hatte die nach dem
Ersten Weltkrieg aufgekommene Lehre vom gerechten Krieg jedoch
nichts gemein. Sie stellte nicht auf den Kriegsgrund ab, sondern
allein auf das rein formale Kriterium des Angriffs, war also mehr
eine Lehre vom "formell" gerechten Krieg: Nur der Verteidiger
führt einen gerechten Krieg, der Angreifer ist immer im Unrecht,
völlig unabhängig von der materiellen Gerechtigkeit seiner Sache.
Die Ge
14
15
16
Vgl. C. Schmitt, ebd., S. 233 ff.
Begriffsbildung nach C. Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden
Kriegsbegriff; vgl. diesbezüglich auch W. Grewe,
Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 728.
Vgl. die Nachweise bei K. Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin in den Vereinigten Staaten von Amerika, S.
335 ff.; D. Blumenwitz, Der Besiegte in einem "gerechten Krieg", in:
v. Siemens-Stiftung (Hrsg.), Die deutsche Neurose, S. 105 ff., der
ebenso wie H. Krüger, "Finis belli pax est", Jb.f.Intern.Recht, Bd.
XI (1962), S. 200 ff. diese Lehre als die vom "materiell" gerechten
Krieg bezeichnet.
23
rechtigkeit wird so zu einer Funktion der Passivität und die
Maxime vom Status quo, die die Interessen des Siegers wahrt, zum
alleinigen Gestaltungsfaktor der zwischenstaatlichen Beziehungen17.
Diese Unterscheidung zwischen Angreifer und Verteidiger entbehrt
aber jeglicher juristischer Präzision, was auch immer einen der
Hauptkritikpunkte an dieser Lehre bildete. Sie wurde vielmehr in
einem "verschwommenen-ideologischen Sinne" gebraucht, der die
Diffamierung des jeweiligen Kriegsgegners als Angreifer erlaubte,
wodurch der Krieg zu einer ideologisch verklärten Straf- und
Vernichtungsaktion
gegen
verbrecherische
Tyrannen
und
eroberungslüsterne Aggressoren wurde18. Es ist durchaus kein
Zufall, daß dieser Wandel im völkerrechtlichen Kriegsverständnis
nach dem Ersten Weltkrieg mit einer Entwicklung parallel lief, die
an außenpolitische Fragen in zunehmendem Maß ideologisch und
moralistisch heranging19. Die völkerrechtlich neue und die
außenpolitisch
neue
Erscheinungsform
beeinflußten
sich
wechselseitig.
Die positivrechtliche Normierung der vor allem von amerikanischer
Seite
betriebenen
völkerrechtlichen
"Verdammung"
des
Angriffskrieges geschah - nachdem das dahingehende Genfer
Protokoll von 1924 im Entwurf steckengeblieben war - durch die
entsprechenden Formulierungen des Briand-Kellogg- Paktes vom 27.
August 1928, in dessen Artikel 1 die Vertragschließenden feierlich
erklärten.
17
18
19
24
Vgl. D. Blumenwitz, ebd., S. 108 f.
W. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 728 f.
Vgl. H. Krüger, Jb.f.Intern.Recht, Bd. XI, 1962, S. 204, der ausführt:
",Ideologie' meint in diesem Zusammenhang ein wissenschaftliches, vor
allem geschichtsphilosophisches System, das den Gang der Politik nicht
realistisch-empirisch erfaßt, sondern diesem Geschehen eine
Gesetzlichkeit unterlegt, die chiliastisch alle vergangene Geschichte
in einem letzten Gegensatz gipfeln läßt, den die berufenen Kräfte in
einem letzten Gefecht aufzuheben und durch einen geschichts- und
herrschaftslosen Zustand zu ersetzen haben, in dem alle Menschen
friedlich und tugendhaft miteinander leben können. Die moralistische
Betrachtung, wenn auch nicht eigentlich in ein wissenschaftliches
System gefaßt, weist doch eine fatale Ähnlichkeit mit der
ideologischen Sicht auf. ...".
"daß sie den Krieg als Mittel für die
Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen
Beziehungen verzichten."
Der Vertrag, dem bis 1938 insgesamt 63 Staaten beitraten, enthielt
jedoch keinerlei Hinweis auf mögliche Sanktionen gegenüber dem
Rechtsbrecher. Lediglich die Präambel erklärte einen Staat, der
den Pakt verletzte, der Vorteile dieses Vertrages für verlustig.
Die Kontrahenten waren somit nicht gehindert, gegenüber diesem
Staat zum Krieg zu schreiten21. Jedoch sollte durch diesen Vertrag
weder die Anwendung des Kriegsvölkerrechts gegenüber dem Aggressor
im allgemeinen noch des Rechts der kriegerischen Besetzung im
besonderen ausgeschaltet werden. Die durch den Briand-Kel- loggPakt
herbeigeführte
Ideologisierung
des
Kriegsrechts
und
Ungleichheit der Kriegführenden barg allerdings eine Reihe von
Gefahren, die insbesondere im Hinblick auf die amerikanische
Besatzungspolitik in Deutschland 1945 und die Beachtung der
entsprechenden
Vorschriften
der
Haager
Landkriegsordnung
möglicherweise wichtig werden konnten.
1. TEIL; "DECISION-MAKING" - PLANUNGEN UND ENTSCHEIDUNGEN ZUR USBESATZUNGSPOLITIK IN DEUTSCHLAND. 1941-1945
I. Die Atlantik-Charta - ideologische Zielvorgabe für die
Nachkriegspolitik der USA
20
21
Als sich die beiden Regierungschefs der Vereinigten Staaten und
Großbritanniens,
Präsident
Franklin
D.
Roosevelt
und
Premierminister Winston Churchill, am 9. August 1941 auf einem vor
der Weltöffentlichkeit zunächst geheim gehaltenen Treffen in der
Bucht von Placentia vor Neufundland erstmals persönlich
begegneten, mußte diese Situation einen unbefangenen Beobachter
doch etwas sonderbar anmuten. Denn GegenText in: RGBL 1929 II, S. 97 ff.
Vgl. H. Wehberg, Briand-Kellogg-Pakt von 1928, in:
Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, S. 249
f.
25
stand der Konferenzberatungen waren unter anderen amerikanische
Lieferungen von Kriegsmaterial an Großbritannien, die militärischstrategische Lage in Europa nach dem deutschen Einmarsch in die
Sowjetunion und die Festlegung von Kriegs- und Friedenszielen, auf
deren Grundlage die Nachkriegsweit aufgebaut werden sollte22.
Die Besonderheit dieses Gipfeltreffens bestand darin, daß sich
hier ein kriegführender Staat, Großbritannien nämlich, mit einem
zumindest formal noch immer neutralen Land an einen Tisch setzte,
um nicht nur einseitige militärische Hilfslieferungen für eine der
kriegführenden Parteien zu besprechen, sondern um darüber hinaus
auch eine gemeinsame Prinzipienerklärung abzugeben, deren
Verwirklichung notwendigerweise die militärische Überwindung
Deutschlands
und
seiner
Verbündeten
voraussetzte.
Dieses
Kriegsziel fand in der als "Atlantik-Charta" bekannt gewordenen
Erklärung der beiden Regierungschefs dann auch eine unverhüllte
Festlegung.
Bei näherer Beleuchtung der Vorgeschichte der Atlantik-Konferenz, wie auch der amerikanischen Haltung gegenüber den in
Europa
tobenden Krieg und
dem
eigenen
Verständnis
von
völkerrechtlicher Neutralität, zeigt sich jedoch schnell, daß die
Atlantik-Konferenz die zwangsläufige Fortsetzung Roosevelt'scher
Kriegspolitik war, die darauf abzielte, unter Umgehung der mit der
Neutralität verbundenen Pflichten, Großbritannien und dessen
Kriegspartner materiell wie auch ideell zu unterstützen, wodurch
die amerikanische Neutralität letztlich zur reinen Farce wurde.
Eine
kurze
Betrachtung
der
amerikanischen
NichtNeutralitätspolitik ist vor allem deshalb auch für die Beurteilung
der späteren amerikanischen Deutschland- und Besatzungsplanung
aufschlußreich, weil bestimmte Denk- und Argumentations-Strukturen
hier wie dort immer wieder auf tauchen, wenn es um die
Beantwortung der Frage nach der völkerrechtlichen Zulässigkeit von
einerseits Kriegs- und andererseits Besatzungsmaßnahmen geht.
22
26
Zur Vorgeschichte der Atlantik-Konferenz und den einzelnen
Verhandlungsthemen s. T.A. Wilson: The First Summit. Roosevelt and
Churchill at Placentia Bay 1941, S.26 ff., 82 ff., 108 ff.
I.1. Die Abkehr von einer völkerrechtskonformen Neutralitätspolitik
a. Einfluß des Briand-Kellogg-Paktes auf den Neutralitätsbegriff .
Bereits 1929 hatte in den Vereinigten Staaten eine Diskussion
eingesetzt, die zunächst rein akademisch war, die aber im Laufe
der folgenden Dekade immer stärker auch auf politische
Entscheidungen Einfluß ausübte. Streitpunkt war die Stellung der
USA im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen anderer Staaten.
Sollte man in der amerikanischen Außenpolitik diesen Staaten
gegenüber die bis dahin für die Vereinigten Staaten traditionelle
Neutralitätspolitik weiter verfolgen oder etwa, anstatt passiv
beiseite zu stehen, aktiv in den Konflikt eingreifen - und wenn
man sich für letzteres entscheiden sollte, welcher Seite sollte
man die Hilfe zuteil werden lassen?
Ausgangspunkt derjenigen, die eine Abkehr nicht nur von der
amerikanischen Politik der Neutralität, sondern eine Abkehr vom
Begriff der völkerrechtlichen Neutralität überhaupt forderten, war
der Briand-Kellog-Pakt vom 27. August 192823. Insbesondere die
beiden Völkerrechtler Quincy Wright von der Universität Chicago
und Clyde Eagleton von der Universität New York verfochten die
These, der Pakt habe das Völkerrecht so nachhaltig umgestaltet,
daß der Begriff der Neutralität daraus verschwunden sei24. Ihre
Beweisführung war so verblüffend einfach wie völkerrechtlich
falsch. Sie baute auf der rhetorischen Frage Eagletons auf:
23
R.A. Divine, The Illusion of Neutrality, S. 18; vgl. zur
Entstehung und Bewertung des Briand-Kellogg-Paktes und der
Renaissance des Begriffes vom "gerechten Krieg": Einleitung, oben.
24
Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen auf der Jahreskonferenz der
American Society of International Law 1930: Qu. Wright, Neutrality
and Neutral Rights Following the Pact of Paris for the Renunciation
of War, Proc. ASIL 1930, S. 79 ff; C. Eagleton, Neutrality and
Neutral Rights Following the Pact of Paris for the Renunciation of
War, ebd., S. 87 ff.
27
"How can there be neutrality if there is to
be no more war?"
und ließ, so wie die Frage gestellt war, offensichtlich nur eine
Antwort zu: Wenn es keinen Krieg - im Rechtssinn - mehr gab,
konnte es logisch auch keine Neutralität mehr geben. Denn
Neutralität als notwendiger Komplementär-Begriff zum Terminus
Krieg konnte es nur geben, solange auch ein Kriegsbegriff
existierte. Wenn durch den Briand-Kellog-Pakt der Krieg als
Rechtsbegriff aus dem Völkerrecht eliminiert wurde, dann konnte es
auch keine Neutralität mehr im Völkerrecht geben. Dieser scheinbar
zwingende Schluß krankte bei genauerer Untersuchung allerdings
daran, daß die Prämisse, die als zutreffend unterstellt wurde,
nichts anderes als ein bloßes Wunschbild der Verfechter der These
von der Nichtexistenz der Neutralität war. Der Briand-Kel- logPakt hatte nicht den Krieg als solchen aus dem Völkerrecht
verbannt, sondern lediglich zur Unterscheidung von legalem und
illegalem Krieg beigetragen. Dabei hängt die Frage, ob ein Krieg
legal oder illegal ist, weitgehend von der Einhaltung gewisser
prozessualer Normen ab (etwa Art. XII bis XV Völkerbundsatzung)26.
Neben
sachlogischen
Überlegungen
wurden
vielfach
auch
moralisierende und ideologische Gründe in die Debatte eingeführt27.
Wie konnte ein Staat wie die USA neutral bleiben, wenn andere
Staaten die Opfer der "Aggression" von Drittstaaten wurden, unter
Verletzung
sowohl
des
BriandKellogg-Paktes
als
auch
gegebenenfalls der Art. X-XII der Völkerbundsatzung? Quincy Wright
fragte deshalb, ob Neutralität "morally possible"28 sei, und kam zu
dem Ergebnis, daß Mitglieder "of such a society cannot be neutral
in the presence of a peace-breaker"29.
25
26
27
28
29
28
Proc. ASIL 1930, S. 90
J.L. Kunz, Kriegsbegriff, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des
Völkerrechts, Bd. 2, S. 330
Einen guten Überblick gibt K. Krakau, Missionsbewußtsein und
Völkerrechtsdoktrin, S. 378 ff.
IC, Nr. 242, 1928, S. 361 f. (17 f.)
ebd.
Die traditionelle amerikanische Völkerrechtslehre (unter anderem
Edwin Borchard, Philip Jessup, Charles Cheney Hyde) wies dagegen
immer wieder auf die eigentliche Bedeutung des Neutralitätsrechts
hin, das der örtlichen Begrenzung von Kriegen diene und die
Ausweitung der Feindseligkeiten auf andere Staaten verhindern
solle. Außerdem sei es gar nicht immer eindeutig möglich
festzustellen, wer denn nun der "Aggressor" sei, so daß man sich
dauernd in der Gefahr sich widersprechender Urteile befinde. Ganz
abgesehen von der Vieldeutigkeit des Briand-Kellogg-Paktes, der
praktisch für jeden, der ihn untersuche, etwas anderes bedeute30.
Die These von der Nichtmehrexistenz der Neutralität als
völkerrechtlicher Begriff konnte sich in der Völkerrechtswissenschaft letztendlich nicht durchsetzen31. Das beruht vor allen
Dingen darauf, daß die für die Unterzeichner des Paktes sich
ergebenden Pflichten viel zu unbestimmt sind und schon gar keine
Pflicht zur Beistandsleistung für den angegriffenen Staat
enthalten32. Mit ihrem Ziel der Kriegslokalisierung durch
Nichteinmischung fremder Staaten ist die Neutralität außerdem ein
"Zeichen des Friedens" (Scheuner)33 und als solches auch im 20.
Jahrhundert noch von großer Bedeutung für die Staatenwelt. Denn
Neutralität bedeutet ja nicht den Verzicht auf friedenstiftende
Maßnahmen,
sondern
das
Absehen
von
kriegsfördernden,
kriegsintensivierenden und damit den Krieg nicht nur örtlich,
sondern
eventuell
auch
waffentechnisch
ausweitenden
Hilfeleistungen. Die Neutralität war und ist deshalb gerade für
solche
Staaten
von
grundlegendem
Wert,
die
sich
bei
internationalen
Konflikten
um
Ausgleich
und
friedliche
Streitbeilegung bemühen, wie es die Vereinigten Staaten in ihrer
Geschichte immer wieder versucht haben. Nur die eigene Neutralität
bietet die Gewähr dafür, daß ein
30
31
32
33
Vgl. K. Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 383
m.w. Nachw.
Vgl. R.A. Bindschleder, Neutrality, Concept and General Rules, in:
Encyclopedia of Public International Law, Bd. 4, S. 13 f.; U.
Scheuner, Neutralität, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des
Völkerrechts, Bd. 2, S. 592
U. Scheuner, ebd.
ebd.
vertretbarer Kompromiß der Kriegführenden herbeigeführt werden
kann. Derjenige, der sich unter faktischer Aufgabe seiner
Neutralität,
aus
welchen
Gründen
auch
immer,
mit
neutralitätswidrigen Maßnahmen auf die Seite einer Kriegspartei
schlägt, wird immer nur ein "schlechter" oder zumindest ein
"unehrlicher Makler" sein.
Jb.
Die
schrittweise
Überwindung
des
außenpolitischen
Isola-
tionismus und der völkerrechtlichen Neutralität. Während also der
Versuch, die Neutralität als festen Bestandteil des Völkerrechts
zu beseitigen, fehlschlug, bleibt der Einfluß dieser Theoretiker
auf die US-Außenpolitik Roosevelts unverkennbar. Während sich der
Präsident in den ersten Jahren seiner 1933 begonnenen Amtszeit
mehr innenpolitischen Problemen zuwandte, um durch seine Politik
des "New Deal" die wirtschaftliche Krise der USA zu überwinden,
setzte er ab 1936 auch deutliche außenpolitische Signale. In den
Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich in den USA der
Isolationismus als außenpolitische Richtung durchgesetzt, eine
Erscheinungsform der Außenpolitik, die in den Vereinigten Staaten
bis dahin tiefe Wurzeln hatte34.
Auch der Nichtbeitritt der USA zum Völkerbund nach Ende des Ersten
Weltkrieges fand seinen Grund in dem in den zwanziger Jahren sich
verstärkenden Isolationismus. Roosevelts Außenpolitik ab 1936 war
ganz darauf gerichtet, die politischen Schranken, die der
Isolationismus seinem außenpolitischen Wirken setzte, schrittweise
abzubauen. Erste Einschränkungen am Isolationismus-Konzept in
seinem Land machte Roosevelt in einer Rede in Chautauqua, New
York, am 14. August 1936. Darin reduzierte er das politische Programm des Isolationismus, das eine Absage an so gut wie jedes
außenpolitische Engagement enthielt, auf die völkerrechtliche
Neutralität der Vereinigten Staaten. Die Amerikaner, so Roosevelt,
seien keine Isolationisten, "außer insofern, als wir uns völlig
vom Kriege isolieren wollen"35. Er erteilte weiterhin allen
Wirtschaftskreisen in
34
35
30
Zum Isolationismus vgl. G. Gnodtke, Isolationismus, in:
Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, S. 156
Roosevelt spricht. Die Kriegsreden des Präsidenten, S. 34;
seinem Land eine klare Absage, die sich von der Unterstützung
kriegführender Staaten durch Kredite und Sachlieferungen eigene
Profite versprechen würden, und die versuchen könnten, "unsere
Neutralität abzuschaffen oder zu umgehen"36. Gleichzeitig deutete
er an, wenn auch noch völlig allgemein gehalten und ohne ein
bestimmtes Land zu nennen, daß sich jedes Land die "Sympathien des
amerikanischen Volkes" verscherze, das einen Krieg provoziere37.
Einen großen Schritt weiter auf seinem Weg zur Überwindung des
Isolationismus ging Roosevelt am 5. Oktober 1937 in seiner
berühmten "Quarantäne"-Rede in Chicago. Die durch den BriandKellogg-Pakt erweckten Friedenshoffnungen, so Roosevelt, seien in
der letzten Zeit einer "schleichenden Angst vor der kommenden
Katastrophe gewichen". Erst vor wenigen Jahren habe die
"internationale Gesetzlosigkeit" eingesetzt38. Diese Feststellung
war primär auf Japan gemünzt, das im Juli 1937 in Nordchina
einmarschiert war. Adressat waren aber zweifellos auch die Regime
in Deutschland und Italien. Er machte weiter klar, daß es in
seinem Weltbild "friedliebende Nationen" gebe, die sich gemeinsam
anstrengen
müßten,
um
die
Gesetze
und
Grundsätze
aufrechtzuerhalten, die die einzigen sicheren Grundlagen des
Friedens seien, wenn man eine Welt haben wolle, "in der wir frei
atmen können und in Eintracht leben, ohne Furcht"39. Der Ausdruck
"friedliebende Nationen" war eines der Schlagworte dieser Rede.
Diesen "friedliebenden Nationen" oder auch "friedliebenden
Völkern" standen in Roosevelts Vorstellung "diejenigen Nationen"
gegenüber, "die in Versuchung geraten, ihre Verträge zu brechen
und die Rechte anderer zu verletzen..."40.
Diese simplifizierende Unterscheidung zwischen den "friedliebenden
Nationen" einerseits und denjenigen Nationen,
36
37
38
39
40
vgl. auch
Roosevelt
Roosevelt
Roosevelt
Roosevelt
Roosevelt
G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 17
spricht, S. 37
spricht, s. 35
spricht, S. 42
spricht, S. 43 f.
spricht, S. 48
31
denen in seinen Augen ein Wille zum Frieden fehlte, deutete schon
1937 eine Tendenz an, die auch Jahre später bei der Planung der
Besatzungspolitik für Deutschland wieder in den Vordergrund trat:
Die Tendenz nämlich, ein ganzes Volk mit einem Adjektiv (und
"friedliebend" ist dafür nur ein Beispiel) zu belegen, das
überhaupt nur auf einzelne Individuen Anwendung finden kann und
deshalb lediglich eine Scheinwahrheit darstellt. Außerdem
verstellte der Blick auf die "Nation" bzw. das "Volk" die Einsicht
in die Tatsache, daß Weltpolitik von Staaten bzw. deren
Regierungen betrieben wird, und daß die Mitwirkungs- und
Gestaltungsmöglich- keiten des Staatsvolkes oder der Nation,
insbesondere in autoritären Staatssystemen, so gut wie völlig
ausgeschaltet sind. Roosevelts Rezept gegen " die Epidemie der
allgemeinen Gesetzlosigkeit, die immer mehr um sich greift",
bestand darin, den von ihm als unfriedlich erkannten Nationen eine
"Quarantäne" zu verordnen:
"Wenn eine ansteckende Krankheit sich zu
verbreiten
beginnt,
verordnet
die
Gemeinschaft eine Isolierung der Patienten,
um die eigene Gesundheit vor der Epidemie
zu schützen." 1
Roosevelts erkennbares Bemühen, die USA aus der zwei Jahrzehnte
vorher selbstgewählten Abkehr vom internationalen Parkett wieder
in die internationale Politik zurückzuführen, war im Herbst 1937
jedoch noch nicht von Erfolg gekrönt. Als die Öffentlichkeit auf
die "Quarantäne"-Rede mit Ablehnung und Empörung reagierte, wußte
er bereits einen Tag danach die Gemüter wieder zu beruhigen, indem
er versicherte, an der "policy of non-involvement"42 habe sich natürlich nichts geändert.
Der bis Ende der dreißiger Jahre in den Vereinigten Staaten
hinsichtlich der Gestaltung der Außenpolitik vorherrschende und
lange schier übermächtige Isolationismus, der, wie soeben gesehen,
auch vom Präsidenten nicht ohne weiteres in
41
42
32
Roosevelt spricht, S. 47
The Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt, Vol. 1937,
S. 423
sein Gegenteil zu verkehren war, hatte bereits am 31. August 1935
und am 1. Mai 1937 die Grundlage gebildet für vom Kongreß
erlassene Neutralitätsgesetze. Diese Neutralitätsgesetze hatten
das Ziel, eine mögliche Verwicklung der USA in fremde Kriege zu
verhindern. Der Präsident wurde ermächtigt, Kriegführenden
gegenüber ein Waffen- und Kriegsmaterial-Embargo zu erlassen, was
dieser auch tat43. Bereits das Neutralitätsgesetz von 1937 enthielt
eine erste Version einer cash- und carry-Klausel, die den
Kriegführenden die Möglichkeit einräumte, Güter, die nicht von dem
Embargo erfaßt wurden, nach Barzahlung selbst abzuholen und
mitzunehmen44.
Seit Beginn des Jahres 1939 drängte Roosevelt zusehends auf eine
Änderung der Neutralitätsgesetze. Der Versuch jedoch, das
Waffenembargo zugunsten solcher Staaten aufzuheben, die von einer
Aggression bedroht seien, wurde vom Senat zurückgewiesen45.
Roosevelts
anti-isolationistische
und
interventionistische
Bestrebungen wurden dadurch aber nicht aufgehalten. Unter
Heranziehung
von
Gedanken
der
universalistischen
Neutralitätsdoktrin ließ er in einer Radioansprache am 3.
September 1939 wissen:
"Wenn der Friede an irgendeinem Punkte (der
Welt, d. Verf.) gestört wird, ist der
Friede sämtlicher Länder gefährdet."46
Trotz dieser angeblichen eigenen Bedrohung der USA versicherte
Roosevelt seinen Mitbürgern: "Unser Land wird neutral bleiben"47.
Wie diese Neutralität aussah, zeigte das Neutralitätsgesetz vom 4.
November 193948. Der Kongreß lockerte das generelle
43
44
45
46
47
48
AJIL 31 (1937) Suppl. S. 147 ff.; U. Scheuner:
Neutralitätsgesetze, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des
Völkerrechts, Bd. 2, S. 598
W. Meng, Cash- and Carry-Clause, in: Encyclopedia of Public
International Law, Bd. 4, S. 70 f.
G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 28
Roosevelt spricht, S. 57
Roosevelt spricht, S. 60
AJIL 34 (1940), Suppl. S. 44
33
Verbot von Kriegsgüterlieferungen und nahm nun auch Waffen und
sonstige Kriegsgüter in die cash- und carry-Klausel auf49.
Waffenlieferungen an kriegführende Staaten waren von nun an unter
der Prämisse erlaubt, daß der Abtransport der Güter auf
ausländischen Schiffen erfolgte, und diese Güter vor ihrem
Abtransport vollständig bezahlt waren (deshalb: cash und carry).
Diese
Regelung
begünstigte
die
Seemächte,
insbesondere
Großbritannien, und wirkte sich dadurch in der Praxis zum Nachteil
des im Kriege befindlichen Deutschland aus. Schon diese
Abschaffung des Waffenembargos wurde von Vertretern der
traditionellen
Völkerrechtsschule
als
Verletzung
der
amerikanischen Neutralitätspflichten angesehen "because of the
motive, not because of the bare fact of change" (Ph. Jessup)50.
Eine bis dahin in den Vereinigten Staaten noch nie dagewesene
Dimension erhielt Roosevelts Weg weg von der Neutralität im Sommer
1940. Daß er nicht länger bereit war, sich neutral zu verhalten,
machte er in seiner Rede in Charlottesville, Virginia, am 10. Juni
1940 deutlich. Er wollte diese Rede verstanden wissen als "one in
which the issue between the democracies and the Fascist powers
would be drawn as never before."51 Die ganze amerikanische Nation
sei davon überzeugt, so führte Roosevelt aus, daß ein "Sieg der
Gewalt- und Haßpropheten" die Demokratien in der westlichen
Hemisphäre bedrohen würde, und daß deshalb die ganze Sympathie
solchen Völkern gehöre, "die ihr Lebensblut im Kampf gegen diese
Kräfte opfern."52 Der Kernpunkt der Rede war die Ankündigung,
selbst die Rüstungsanstrengungen intensivieren und England und
Frankreich noch stärker als bisher unterstützen zu wollen.
"Wir werden den Gegnern der Gewalt die
materiellen Ressourcen unseres Landes zur
Verfügung
stellen,
und
wir
werden
gleichzeitig uns selber bewaffnen und
49
50
51
52
34
Vgl. W. Meng, Cash- and Carry-Clause, in: Encyclopedia of
Public International Law, Bd. 4, S. 71
Ph. Jessup, The Reconsideration of Neutrality Legislation in
1939, AJIL 33 (1939), S. 556 f.
R.A. Divine, Roosevelt and World War II, S. 31
Roosevelt spricht, S. 102 f.
die
Ausweitung
dieser
schleunigen. .."53
Ressourcen
be-
Dieses bedingungslose Unterstützungsversprechen gegenüber den
Gegnern Deutschlands mußte als eindeutige Absage an jede Art
zukünftiger Neutralität gewertet werden. Die Umsetzung der
Zusicherung erfolgte am 3. September 1940. Durch einen
Notenwechsel
beschlossen
die
Vereinigten
Staaten
und
Großbritannien ihr erstes Leih- und Pachtabkommen, den sogenannten
"Destroyer-Deal"54. Die Vereinigten Staaten übergaben den Briten
insgesamt 50 zwar veraltete, aber für die U-Bootbekämpfung
weiterhin brauchbare Zerstörer der 1200-Tonnen-Klasse. Als
Gegenleistung erhielten die Amerikaner Luft- und Marinestützpunkte
in Neufundland, Britisch Guayana und mehreren Karibik-In- seln55.
Dieser Vereinbarung lag Roosevelts Vorstellung zugrunde, die USA
müßten
"das große Arsenal der Demokratie werden.
Für uns ist die Lage ebenso ernst wie der
Krieg."56
Aus diesem Arsenal durften nach dem sogenannten "Land- Lease-Act"
vom 11. März 1941, den Kongreß und Senat genehmigt hatten,
insgesamt 39 Staaten schöpfen. Dieser "Land- Lease-Act" gab dem
amerikanischen Präsidenten alle Vollmachten, jedem Land Waffen und
sonstiges Kriegsgerät zu überlassen (von "Leihe“ konnte bei
Kriegsgerät wohl kaum die Rede sein). Voraussetzung war lediglich,
daß eine Prüfung durch den Präsidenten zu dem Ergebnis führte, daß
die Verteidigung des betreffenden Landes für die Verteidigung der
USA lebenswichtig sei ("whose defense the President seems vital to
the defense of the United States")57.
53
54
55
56
57
Roosevelt spricht, S. 105 f.
AJIL 34 (1940) Suppl. S. 184 ff.
Vgl. R. Kirchschläger: Leih- und Pachtabkommen, in:
Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, S.
411; L. Gruchmann, Völkerrecht und Moral, VfZG 1960, S. 389
Roosevelt spricht, S. 122
"An Act Further to Promote the Defense of the United States", DAFR
III, S. 712 ff.; R. Kirchschläger: Leih- und Pachtabkommen, in:
Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, S. 411; L.
Gruchmann, VfZG 1960, S. 390
35
Das Völkerrecht räumte den Amerikanern allerdings nur zwei
Möglichkeiten im Hinblick auf das Kriegsgeschehen in Europa und
Asien ein: entweder aktive Teilnahme am Krieg oder strikte
Neutralität. Ein Zwischenstadium gab und gibt es nicht. Weder im
Sinn einer "qualifizierten Neutralität" noch einer "Politik der
Nichtkriegführung"58. Die Hintergründe und Ziele der Bevorzugung
des einen Kriegführenden und der Diskriminierung des anderen,
sowohl
durch
einen
Teil
der
amerikanischen
Völkerrechtswissenschaft, als auch durch die Politik Roosevelts,
faßte der amerikanische Völkerrechtler Edwin Borchard bereits 1941
in einem treffenden Satz zusammen:
"Yet the legal fact seems to be that nonbelligerency is a name used as a modern
excuse for violating the laws of neutrality
and as a hope that war-like acts can be
committed while escaping the consequences of
belligerency."59
Eine Nation, so Borchard weiter, könne sich jederzeit an einem
Krieg beteiligen. Sie müsse nur die notwendigen Konsequenzen
dieses Schrittes tragen. Ein Neutraler könne aber nicht für sich
das Recht beanspruchen, kriegerische Handlungen zu begehen.
Borchard kam zu dem Schluß,
"that the acts already committed by the
United States are acts of war and cannot be
legally explained or excused as measures
short of war."60
Schon ein Jahr vorher, 1940, anläßlich des "Destroyer- Deals"
hatte Borchard festgestellt, es gebe keine Möglichkeit, den
Zerstörer-Handel mit der Neutralität, mit den Gesetzen der
Vereinigten Staaten oder mit dem Völkerrecht in Einklang zu
bringen. Die Idee von "non-belligerency" wie auch von "measures
short of war" habe keinerlei rechtliche Grundlage. Sie sei allem
Anschein nach "designed to justify
58
59
60
R.L. Bindschleder, Neutrality, Concept and General Rules, in:
Encyclopedia of Public International Law, Bd. 4, S. 13
War, Neutrality and Non-Belligerency, AJIL 135 (1941), S. 624
ebd., S. 624 f.
breaches of neutrality or acts of war ... "61. Sein Kollege
Herbert Briggs kam zu dem Fazit:
"The supplying of these vessels by the
United States Government to a bellige- rent
is a violation of our neutral sta- tus, a
violation of our national law, and a
violation of international law".62
Wenngleich formell noch immer neutral, hatten sich die USA durch
dieses Verhalten doch schon lange vor dem Treffen Roosevelts und
Churchills in die Reihen der Kriegführenden begeben63.
1.2. Inhalt und Geltungsbereich der Atlantik-Charta
Auch die Besprechungen in der Bucht von Argentia sollten
vornehmlich dazu dienen, die im Zusammenhang mit dem Leihund
Pachtabkommen vom Januar 1941 stehenden Probleme bei der
Abwicklung der Lieferung von Kriegsgerät zu erörtern64. Die
Atlantik-Konferenz
war
deshalb
nichts
anderes
als
eine
Kriegskonferenz der beiden Repräsentanten der führenden Mächte der
westlichen Hemisphäre, um einen Gedankenaustausch über Lage,
Strategie und Fortführung des Krieges gegen die Achsenmächte
herbeizuführen. Das für die Weltöffentlichkeit Interessantere und
Spektakulärste dieser Konferenz war aber die Acht-PunkteErklärung, die am 14. August veröffentlicht wurde, zwei Tage nach
Abschluß des Treffens. Diese Erklärung des US-Präsidenten und des
britischen Premierministers deutete schon in ihrer Einleitung an,
daß sie den Boden reiner Kriegspolitik verlassen würde und auch
Leitlinien für die Nachkriegspolitik der beiden Staaten
beinhaltete. Die beiden wollten "gewisse allgemeine Grundsätze in
der nationalen Politik Ihrer Länder"
61
62
63
64
The Attorney General's Opinion on the Exchange of Destroyers for
Naval Bases, AJIL 34 (1940) S. 697
Neglected Aspects of the Destroyer Deal, AJIL 34 (1940) S. 587
G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 29
A. Tyrell, Großbritannien und die Deutschlandpolitik der
Alliierten 1941-1945, S. 40 f.
37
festlegen, "auf die sie ihre Hoffnungen für eine bessere Zukunft
der Welt gründen"65.
Dieser gemeinsamen Erklärung, die unter dem Namen "Atlan- tikCharta" bekannt wurde, lagen keine bilateralen britischamerikanischen Planungen oder Erörterungen im Vorfeld der
Konferenz zugrunde. Da in den USA aber immer wieder Kritik laut
geworden war, die Briten müßten endlich einmal die von ihnen
verfolgten Kriegsziele konkretisieren, und Roosevelt müsse den
Grund für seine umfassende Unterstützung Großbritanniens der
amerikanischen Bevölkerung deutlicher vor Augen führen*66, bot
sich die Konferenz als ausgezeichneter Anlaß, diesen Forderungen
durch eine gemeinsame Kriegs- und Friedenszieldeklaration
nachzukommen. Roosevelt hatte deshalb schon vor dem Beginn der
Konferenz die Absicht geäußert, zusammen mit Churchill bestimmte
Prinzipien festzulegen, auf die seiner Meinung nach die
Nachkriegsweit aufgebaut sein müßte, um ein friedliches
Zusammenleben der Völker zu ermöglichen67. Churchill konnte
dagegen nichts einzuwenden haben. Die Ausarbeitung der Erklärung
erfolgte dann während der Konferenz unter Einbeziehung der
ebenfalls anwesenden Staatssekretäre der Außenministerien der USA
und Großbritanniens, Helles und Cadogan. Das Ergebnis war eine
Mischung
aus
allgemeinen
nachkriegsund
friedenspolitischen Zielen einerseits, konkreten, vor allem das
nationalsozialistische
Deutschland
betreffenden
Kriegszielen
andererseits.
Soweit in ihr grundlegende Friedensmaximen proklamiert wurden,
stellte die Atlantik-Charta, zumindest teilweise, eine Fortführung
von und ein Festhalten an politischen sowie ideologischen
Grundsätzen dar, die in der amerikanischen Außenpolitik schon
früher eine Rolle gespielt hatten, und
65
66
67
38
Text der Atlantik-Charta u.a. bei G. Zieger, Die Atlantik- Charter,
Dokumentenanhang, S. 93 ff. (dt.); E. Deuerlein, Die Einheit
Deutschlands, 2. Aufl., 1961, S. 303 f. (dt); L.W. Holborn, War and
Peace Aims of the United Nations, Bd. 1, S. 2 f. (engl.); AJIL 35
(1941) Suppl. S. 191
A. Tyrell, Großbritannien und die Deutschlandplanung der
Alliierten 1941-1945, S. 41.
T.A. Wilson, The First Summit, S. 176 ff.; S. Welles, Where Are We
Heading?, S. 5 f.
auf deren bisherige Nichtverwirklichung in der Weltpolitik man das
gegenwärtige Kriegsgeschehen zurückführte. Parallelen, aber auch
Unterschiede, finden sich schon in Wilsons Vierzehn Punkten vom 8.
Januar 1918 und Roosevelts Erklärung der Vier Freiheiten vom 6.
Januar 1941.
a.
Zusammenhang mit Wilsons "Vierzehn Punkten" und Roosevelts
"Vier Freiheiten". Der auffallendste Unterschied zwischen Wilsons
Vierzehn Punkten und der Atlantik-Charta ist die in vielen Punkten
vergleichsweise geringe Differenziertheit der Charta und der damit
verbundene hohe Abstraktionsgrad. Dies hing damit zusammen, daß
die Charta in einem frühen Stadium des Krieges verkündet wurde,
und eine differenzierte Sachaussage politisch weder notwendig noch
möglich erschien68.
Einer der Punkte, in denen die Nachkriegsziele konkreter gefaßt
waren, war Artikel 6, der die "endgültige Zerstörung der
Nazityrannel" als notwendige Voraussetzung für ein dauerhaftes
Friedenssystem in der Welt nannte. Artikel 8 forderte eine
Entwaffnung der Angreiferstaaten . Das war eine eindeutige Absage
an die von Wilson initiierte Friedenspolitik nach dem Ersten
Weltkrieg, die keine machtpolitischen Maßnahmen vorgesehen hatte
und deren idealistische Ziele keinen Platz für Gewaltmethoden
kannten69.
Traditionelles amerikanisches Ideengut zeigte sich vor allem in
den Artikeln 1 bis 3 der Charta, die allen Formen des politischen
Imperialismus eine Absage erteilen sollten. Schon Wilson hatte
sich für das Selbstbestimmungsrecht engagiert, wenngleich der
Inhalt und die Tragweite dieses Begriffes nicht immer identische
und deutliche Konturen zeigt70. Die beiden grundlegenden Formen des
Selbst- bestimmungsrechts tauchen (angedeutet) bei Wilson und
(ausdrücklich)
in
der
Charta
auf:
Zum
einen
das
Selbstbestimmungsrecht nach innen (freie Wahl der
68
G. Holtmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 31
69
70
G. Holtmann, ebd., S. 33
Vgl. G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 66 f.
39
Regierungsform), zum anderen das Selbstbestimmungsrecht der Völker
nach außen (freie Wahl der territorialen Zugehörigkeit)71, wobei
Wilson
dem
innerstaatlichen
Selbstbestimmungsprinzip
eine
hervorragende Rolle beimaß72. In der Atlantik-Charta kam dieser
Grundsatz in Artikel 3 voll zur Geltung. Artikel 2 proklamierte
durch die Feststellung, keine territorialen Veränderungen sollten
vorgenommen werden, die nicht von dem Willen der Bevölkerung gedeckt seien, ebenso wie Artikel 1, in dem Roosevelt und Churchill
bekräftigen, ihre Länder strebten nach keiner territorialen oder
sonstigen Vergrößerung, das "Selbstbestimmungsrecht nach außen".73
Während Wilson die innere Struktur der Staaten in einer demokratischen Form als Prämisse einer weltweiten Friedensordnung
angesehen und die Frage des Welthandels hinten angestellt hatte,
war sie für Roosevelt und seine Administration ein zentraler
Faktor. Zwar erschien die Forderung nach Beseitigung aller
Wirtschaftsschranken und Gleichheit der Handelsbedingungen überall
auf der Welt auch schon in Artikel 3 der Wilson1 sehen Punkte,
doch hatte sie bei weitem nicht die zentrale Bedeutung wie in
Roosevelts Gedankengängen, die sich dann in den Artikeln 4 und 5
der Charta niederschlugen. Einer der glühendsten Verfechter des
Prinzips des "Multilateralismus"74 war Roosevelts Außenminister
Cor- dell Hull, der diesem Prinzip schon seit der Wilson-Ära anhing75. Roosevelt selbst beabsichtigte einen weltweiten "New Deal",
einen Export der wirtschaftlichen und sozialen Ziele und
Verfahrensweisen,
die
den
kulturellen
und
materiellen
Lebensstandard in den Vereinigten Staaten
71
Vgl. G. Moltmann, Amerikas (Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg,
S. 29, der meint, alle antiimperialistischen politischen Ziele
Roosevelts und Churchills ließen sich schon in der amerikanischen
Kriegszielpolitik des Ersten Weltkrieges nachweisen.
72
73
G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 67
Vgl. zur Entwicklung und Ausformung des Selbstbestimmungsrechts
der Völker ("Selbstbestimmungsrecht nach außen") G. Zieger, ebd.,
S. 68 ff.
Zum Begriff "Multilateralismus” vgl. B. Kuklick, American Policy and
the Division of Germany, S. 3
Vgl. C. Hull, Memoirs, S. 69, 81 ff., 133 f., 175
74
75
40
maßgeblich beeinflußt hatten76. Artikel 4 der Charta stellte klar,
daß an diesen weltweiten Freihandel alle Nationen teilhaben
sollten; nicht nur die "friedliebenden", wie es sonst in
Roosevelts Terminologie öfter hieß, oder die Sieger, sondern ganz
bewußt wurden auch die "Besiegten" in diese Konzeption
eingeschlossen.
Eine
farblose
und
inhaltlich
nicht
weiterentwickelte bloße Wiederholung eines Punktes aus Wilsons
Erklärung (Punkt 2) war der in Artikel
7 der Charta aufgenommene Grundsatz der Freiheit der Meere77.
Die von Wilson seinerzeit proklamierte "Freiheit des Individuums"
wurde von Roosevelt schon vor der Atlantik-Konfe- renz
aufgegriffen und in der Erklärung über die "Vier Freiheiten"
weiterentwickelt78. Im Zuge seiner Mobilmachung amerikanischer
Mittel für die Gegner der Achsenmächte und die Umstellung der
amerikanischen Industrie von Friedensauf Kriegsproduktion, hatte
er bereits am 6. Januar 1941 in einer Ansprache vor dem Kongreß
die Ziele der USA in diesem Krieg in knappen Worten umrissen: Vier
Freiheiten, die ihrem Grunde nach damals wohl innerstaatliche
Maximen darstellten, aber noch keinen Eingang in internationale
Beziehungen gefunden hatten, weil sie das Verhältnis von Staat und
Individuum, nicht aber das Verhältnis der Staaten untereinander
betrafen, wurden von ihm zu zwischenstaatlichen Forderungen
erhoben: die Redefreiheit, die Religionsfreiheit, die Freiheit von
aller Not (durch Abschluß internationaler Wirtschaftsabkommen, die
den Bewohnern jedes Landes gesunde Friedensverhältnisse sichern
sollten) und die Freiheit von aller Angst (durch globale
Abrüstung)79.
In
absoluter
Verkennung
der
weltpolitischen
Konstellationen und in der Annahme, diesen Zustand allein durch
die Vernichtung der Achsenmächte herbeiführen zu können, wobei die
von der Sowjetunion ausgehenden Gefahren gar nicht erkannt oder
zumindest verkannt wurden, meinte
76
77
78
79
W. Range, Franklin D. Roosevelt's World Order, S. 137
Eine vergleichende Studie beider Punkte bei G. Zieger, Die
Atlantik-Charter, S. 64 f.
Vgl. G. Zieger, S. 24
Roosevelt spricht, S. 128 f.
41
Roosevelt zur
Freiheiten":
Begründung
seiner
Forderung
nach
den
"Vier
"Das sind nicht etwa Träume von einem
fernen tausendjährigen Reiche. Das ist eine
bestimmte Grundlage für eine Welt, wie wir
sie in unserer Zeit und in unserer
Generation schaffen können."80
Eigenartig ist, daß von diesen vier Freiheitsrechten in der
Atlantik-Charta nur zwei auftauchten, nämlich in Artikel 6, in dem
- "nach der endgültigen Zerstörung der Nazityrannei"
- von einem zukünftigen Frieden die Rede war, der gewährleisten
würde, "daß alle Menschen in allen Ländern frei von Furcht und
Mangel leben können."81 Die Rede- und Religionsfreiheit wurden mit
keinem Wort erwähnt. Gerade diese beiden gehörten zu den
traditionellen Menschenrechten82. Aber auch sonstige "klassische"
Grundrechte, z.B. Gleichheit der Person und Sicherheit des
Einzelnen,
Sicherheit
der
Wohnung
und
Garantie
des
Privateigentums, fehlten gänzlich83.
Vor allem die Außerachtlassung der Religionsfreiheit wurde dem
amerikanischen Präsidenten später häufig zum Vorwurf gemacht, da
auch das bolschewistische Rußland diese Freiheit ja schon seit
seiner Gründung vehement bekämpfte. Daß es sich bei der
Nichtberücksichtigung der Religionsfreiheit um ein reines Versehen
gehandelt habe, wurde später häufig betont.84 Eine andere Erklärung
für dieses Verhalten könnte aber auch in Roosevelts Einstellung
zur stalinistischen Sowjetunion zu suchen sein. Denn es war sicher
kein Zufall, daß Roosevelt schon wenige Wochen nach der
Veröffentlichung der Atlantik-Charta einen Brief an Papst Pius
XII. (3. September 1941) schrieb, in dem er die Religionsausübung
in der Sowjetunion zum zentralen Thema machte. Für Roosevelt war
die Freiheit der Religionsausübung in der Sowjetunion
80
81
82
83
84
42
Roosevelt spricht, S. 129
G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 84
H. Engelhardt, Vier Freiheiten, in: Strupp/Schlochauer,
Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, S. 591
Vgl. G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 58
Z.B. R.E. Sherwood, The White House Papers of Harry L.
Hopkins, S. 362
weit weniger gefährdet als in Deutschland, ja er glaubte sogar an
eine reale Möglichkeit, daß als ein Ergebnis des gegenwärtigen
Konflikts die Religionsfreiheit in Rußland anerkannt werde.
Roosevelt weiter:
"I believe, however, that this Russian
dictatorship is less dangerous to the
safety of other nations than is the German
form of dictatorship. The only weapon which
the Russian dictatorship uses outside of
its own borders is communist propaganda ...
. I believe that the survival of Russia is
less dangerous to religion, to the church
as such, and to humanity in general than
would be the survival of the German form of
dictatorship."85
In dieser Einstellung gegenüber dem nationalsozialistischen
Deutschland einerseits und der bolschewistisch-kommunistischen
Sowjetunion andererseits fand der amerikanische Präsident auch
unter seinen Beratern Unterstützung, die in der Vorstellung
wurzelte, daß Stalin auf territoriale Vergrößerung gar nicht aus
sei,
und
sich
das
in
der
Sowjetunion
praktizierte
Gesellschaftssystem dem der Demokratie nach westlichem Muster
annähern werde86.
Diese Rücksichten auf den künftigen Kriegspartner waren wohl das
ausschlaggebende
Moment
für
die
Nichtaufnahme
der
Religionsfreiheit in den Katalog der Atlantik-Charta. Die dadurch
herbeigeführte Diskrepanz zwischen den erst sechs Monate vorher so
nachhaltig als Essentialien einer friedlichen Nachkriegsordnung
hervorgehobenen "Vier Freiheiten" und der Atlantik-Charta kündigte
den Wandel in der amerikanischen Außenpolitik bereits eindringlich
an: Ein Wandel von idealistischen Friedensproklamationen zu
pragmatischer Kriegszielpolitik, die auch - und gerade - die
Berücksichtigung der Interessen der Sowjetunion zu gebieten
schien.87
85
86
87
Text des Briefes bei E. Schwinge, Bilanz der Kriegsgeneration, S. 95
f.
Vgl. E. Schwinge, ebd., S. 34 f.
Roosevelts tragische Fehleinschätzung des kommunistischen Gesellschaftssystems in der Sowjetunion wurde im Anschluß an den Brief
vom 3. September 1941 gegenüber dem amerikanischen Botschafter beim
Vatikan, Myron C. Taylor, durch Monsignore
43
Vor diesen Hintergrund ist es erklärlich, wenn ein langjähriger
Beobachter Roosevelts, der republikanische Abgeordnete Hamilton
Fish,
in
bezug
auf
die
Atlantik-Charta
von
einem
"Propagandamanöver gegen das totalitäre Deutschland und Italien"
sprach88. Auch rechnete Roosevelt damit, die gemeinsame Erklärung
werde die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten sehr
stark (zu seinen Gunsten) beeinflussen89. Die tagespolitische
Bedeutung der Atlantik- Charta, als Ausdruck traditioneller
amerikanischer Prinzipien in Verbindung mit neuen, wenngleich
zumeist wenig differenzierten Ideen, lag somit insbesondere in
ihrem Propagandawert. Sie erlaubte den Blick in eine idealisierte
Zukunft, aufbauend auf bestimmten gesellschaftspolitischen und
wirtschaftlichen Prinzipien, für deren Verwirklichung es scheinbar
"nur" der militärischen Niederringung der Achsenmächte, voran
Deutschland, bedurfte. Sie stärkte Roosevelts Position, da sich
Amerika mit diesen Prinzipien, derentwegen es die Alliierten
unterstützte, vollständig identifizieren konnte. Gleichzeitig
rückten
die
Achsenmächte,
und
das
nationalsozialistische
Deutschland wurde ausdrücklich genannt, in die Rolle des
Hemmschuhs, des Verhinderers der angeblich bevorstehenden neuen
und friedlichen weltpolitischen Ordnung. Die Roosevelt'sche
(später Kardinal) Domenico Tardini korrigiert. Taylor berichtete
Roosevelt von diesem Gespräch in einem streng persönlichen Memorandum.
Tardini, offensichtlich im Auftrag von Papst Pius XII. handelnd, gab
darin eine Zustandsbeschreibung Europas für den Fall einer Niederlage
Deutschlands und einem Sieg der Sowjetunion. Treffend wurde von ihm
(1941) die dann später in Europa (1945) tatsächlich eingetretene
Situation vorhergesehen: Ein enormer kommunistischer Block werde
entstehen, dessen unumgängliche Bestimmung es sein werde, einen Krieg
mit England und Amerika zu provozieren. Er wies auch darauf hin, daß
die Sowjetunion durchaus nicht nur Expansion durch Propaganda betrieb,
sondern ein tatsächliches und unverkennbares Programm militärischer
Aggression, wie er unter Heranziehung der Invasionen in Polen,
Estland, Finnland u.a. beweisen konnte; vgl. "Strictly personal
memorandum giving summary of considerations expressed by H.E. Mons.
Tardini in conversation with H.E.
88
89
44
Mr.Myron C. Taylor", 20. September 1941, Roosevelt Library (RL)
PSF Box Nr. 70 Vatican: Myron C. Taylor 1941
H. Fish, Der zerbrochene Mythos, F.D. Roosevelts Kriegspolitik 19331945, S. 149
W. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, III/2, S. 79
Freund-Feind-Einteilung wurde auf diese Weise zu einem für den
allergrößten Teil der amerikanischen Bevölkerung konsensfähigen
außenpolitischen Programm.
Der langfristige und weltpolitische Wert der Atlantik- Charta, die
zunächst eine "vorläufige, noch unvollständige Erklärung"90 war,
wird erst deutlich, wenn man ihren weiteren Weg verfolgt: Über
eine Anerkennung der in ihr niedergelegten Prinzipien auf dem
Interalliierten Treffen von zehn Regierungen im St.-James-Palast
in London am 24. September 1941 und die "Erklärung der Vereinten
Nationen vom
1. Januar 1942" wurde ihr wesentlicher Inhalt schließlich
Bestandteil der Satzung der drei Jahre danach gegründeten
Organisation der Vereinten Nationen91.
Nichtgeltung
der
Atlantik-Charta
für
Deutschland.
In
Großbritannien gab die Atlantik-Charta schon bald Anlaß zu einer
Auseinandersetzung über ihren Geltungsbereich. Die Kontroverse
kreiste um die Frage, ob der Inhalt der Charta mit einem Anspruch
auf Allgemeingültigkeit aufgestellt worden war und ihr deshalb
universelle
Geltung
zukam,
oder
ob
die
Kolonialvölker,
insbesondere im britischen Empire, oder die Achsenmächte aus ihrem
Anwendungsbereich ausgeschlossen waren92.
b.
Churchill verkündete in seiner Rede im Unterhaus am 9. September
1941, das Selbstbestimmungsrecht der Völker sei lediglich in bezug
auf die von Hitler unterworfenen Völker festgelegt worden. Die
Charta beziehe sich nicht auf Indien, Burma und das britische
Weltreich im allgemeinen93. Damit setzte er sich jedoch in
Gegensatz zur offiziellen amerikanischen Auffassung, die von
Roosevelt so beschrieben wurde:
90
91
92
93
W. Churchill, ebd., S. 79 f.
Vgl. dazu G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 90 ff.; H.-J.
Schlochauer, Atlantik-Charter,in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch
des Völkerrechts, Bd. 1, S. 96
Vgl. G. Zieger, ebd., S. 46 ff.
L.W. Holborn, War and Peace Aims of the United Nations, Bd. 1, S.
219; Hull, Memoirs, S. 1484
45
"Die Atlantikdeklaration gilt nicht nur für
die Weltteile, die an den Atlantik grenzen,
sondern für die ganze Welt:
Entwaffnung
der
Angreifer,
Selbstbestimmungsrecht der Nationen und Völker und
die
vier
Freiheiten
Redefreiheit,
Religionsfreiheit, Freiheit von Not und
94
Freiheit von Furcht."
Der dadurch betonte universelle Charakter der Atlantik- Charta
barg für die Vereinigten Staaten keinerlei Risiko, sondern
versprach ihnen einen enormen Vorteil für die Nachkriegszeit, weil
die Verwirklichung des Selbstbestimmungs- rechts auch für die
Kolonialvölker im britischen Weltreich und ein weltweiter Abbau
der Handelsschranken den exportorientierten USA neue Märkte öffnen
konnte. Eine über den ausdrücklichen Wortlaut hinausgehende
Differenzierung zwischen den Feindstaaten und den Alliierten war
in diesem frühen Stadium des Krieges nicht opportun und hätte die
At- lantik-Charta in ihrer propagandistischen Wirkung allzusehr
eingedämmt.
Das änderte sich allerdings mit Fortdauer des Krieges erheblich
und erreichte mit der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation
im Januar 1943 in Casablanca95 einen vorläufigen Höhepunkt. Die
Charta durfte nach Roosevelts und Churchills gemeinsamer
Auffassung keinesfalls am Ende des Krieges eine ähnliche Rolle
spielen wie ehedem Wilsons Vierzehn Punkte. Das drückte Churchill
im Januar 1944 erstmals in einer internen Anweisung aus, der
zufolge die Atlantik-Charta sich auf die Deutschen nicht so
beziehe, daß sie einen rechtlichen Anspruch begründe. Die Sieger
schuldeten es sich jedoch selbst, die Verpflichtungen der
Humanität und Zivilisation einzuhalten96.
In seinem Bericht vor dem Unterhaus über die Teheran-Konfe- renz
stellte Churchill am 22. Februar 1944 klar:
"Wir werden keinerlei Argumente
lassen, wie sie Deutschland nach dem
94
95
96
Roosevelt spricht, S. 253
Dazu noch unten, 2. Teil
W. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, IV/2, S. 316
gelten
letzten Kriege mit der Behauptung, auf
Grund der "Vierzehn Punkte" Wilsons kapituliert
zu
haben,
vorgebracht
hat.
"Bedingungslose Kapitulation" bedeutet, daß
die Sieger freie Hand haben, wir erkennen
keine aus anderen Gründen als allgemeinen
Erwägungen der Zivilisation entspringende
Verpflichtungen an. Den Deutschen gegenüber
bindet uns keine Vereinbarung irgendwelcher
Art. Das ist der genaue Sinn der "bedingungslosen Kapitulation".97
Daß Churchill mit dieser Aussage besonders auf die Atlantik-Charta
abzielte, wurde von seinem Außenminister Anthony Eden am folgenden
Tag bestätigt:
"All ... the Prime Minister intended to
convey ... was that Germany would not, as a
matter of right, be able to claim to benefit
from the Atlantic Charter in such a way as
to preclude the victorious Powers from
making territorial adjustments at her
expense. There are certain parts of the
Atlantic Charter which refer in set terms to
victor and vanquished alike. Article 4 does
so.
But we cannot admit that Germany can claim,
as a matter of right on her part, whatever
our obligation, that any part of the Charter
applies to her."98
Ganz in diesem Sinne erklärte sich auch der amerikanische
Außenminister Cordell Hull in einer Rundfunkansprache am 9. April
1944:
"It is not a code of law from which detained
answers to every question can be distilled
by painstaking analysis of its word and
phrases. It points the direction in which
solutions are to be sought; it does not give
solutions. It charts the course upon which
we are embarked and shall continue. That
course includes the prevention of aggression
and the establishment of world security. The
Charter certainly does not prevent any
steps, including those relating to enemy
states,
necessary
to
achieve
these
objectives. What is fun-
97
98
W. Churchill, ebd., S. 318
L.W. Holborn, War and Peace Aims of the United Nations, Bd. 2,
S.
469
47
damental are the objectives of the Charter
and the determination to achieve them."99
Präsident Roosevelt schränkte hingegen den von ihm proklamierten
universellen Geltungsbereich der Atlantik-Charta nie ausdrücklich
ein. Es besteht jedoch kein Zweifel, daß auch für ihn die
bedingungslose Kapitulation der Schlüssel sein sollte, um den
Deutschen die Versprechungen der Atlantik-Charta vorzuenthalten.
In seinen Formulierungen bereits deutlich zurückhaltender als
früher, teilte er in seiner Neujahrsbotschaft 1945 dem
amerikanischen Kongreß mit:
"Freilich enthält die Prinzipienerklärung
der Atlantik-Deklaration keine bestimmten
Regeln,
die
auf
jede
einzelne
der
verwickelten Situationen in dieser vom
Kriege zerissenen Welt anzuwenden wären.
"100
Dies alles war eine eindeutige Abkehrung von der gerade in den
USA immer wieder vertretenen weltumfassenden Geltung der Charta.
Das nahe Kriegsende machte nach anglo-amerika- nischer Auffassung
eine restriktive Interpretation der Charta notwendig, um eine
politische und rechtliche Lage wie zum Ende des Ersten
Weltkrieges zu vermeiden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das
Deutschland, von dem in den eben zitierten Erklärungen in den
Jahren ab 1943 die Rede war, keinesfalls mehr ein Deutschland
unter nationalsozialistischer Herrschaft sein würde. Denn die
Verwirklichung der ganzen friedenspolitischen Ziele war ja
ausdrücklich von der Überwindung des Nationalsozialismus als
Grundvoraussetzung abhängig gemacht worden. Auch die Beseitigung
des nationalsozialistischen Systems garantierte Deutschland für
die Nachkriegszeit somit keine automatische Teilhabe und
Einbeziehung in die Charta und eine Behandlung nach den dort
festgelegten Prinzipien. Die diesbezüglichen Aussagen gegen
Kriegsende waren deshalb nur ein "Reflex der Tatsache, daß die
Alliierten nicht öffentlich zugeben wollten, daß sie an der im
Anfang des Krieges sorgfältig vorgenomme
99
L.W. Holborn, ebd., S. 274
100
Roosevelt spricht, S. 342
48
nen Unterscheidung zwischen 'Nationalsozialisten' und 'Deutschen'
nicht mehr festhielten."101
II.
Die
Wandlung
der
amerikanischen
Militärregierungs-
Grundsätze
II. 1. Das Verhältnis von
Humanität im Kriegsrecht
"militärischer
Notwendigkeit"
und
Alles Kriegsrecht basiert auf dem feinen Gleichgewicht ("subtle
balance") zweier sich gegenüberstehender Gesichtspunkte: der
militärischen Notwendigkeit einerseits, Humanität andererseits102.
Diese beiden grundlegenden Umstände stehen in kriegerischen
Auseinandersetzungen
zwangsläufig
in
einem
gewissen
Spannungsverhältnis. Es war und ist deshalb nicht immer einfach,
einen
gerechten
Ausgleich
zwischen
beiden
Interessen
herbeizuführen. Humanitäre Grundsätze sollen verhindern, daß die
militärische Potenz eines Kriegführenden schrankenlos ausgeübt
wird. In einer Vielzahl von Normen des Kriegsrechts wurde deshalb
versucht, einen tragbaren Kompromiß zwischen beiden Prinzipien zu
finden.
Einige
Sätze
des
Kriegsvölkerrechts
enthalten
ausdrücklich einen Vorbehalt, der in bestimmten Fällen der
militärischen Notwendigkeit den Vorrang vor der Verwirklichung
humanitärer Prinzipien einräumt103.
Von besonderer Bedeutung für den Stellenwert, der humanitären
Erwägungen auch in Kriegssituationen zukommt, für die Auslegung
kriegsrechtlicher Normen wie auch für die Ausfüllung von Lücken
im kodifizierten und gewohnheitsrechtlichen Kriegsrecht, ist die
in der Präambel zum IV. Abkommen der zweiten Friedenskonferenz
betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18.
Oktober 1907 enthaltene sogenannte Martens'sehe Klausel. Der auf
Anregung des russischen Delegierten Friedrich von Martens als
Absatz 8 aufge-
101
102
103
J.W. Brügel, Die Atlantik-Charta, EA 1951, S. 4224
Y. Dinstein, Military Necessity, in: Encyclopedia of Public
International Law, Bd. 3, S. 274
Vgl. dazu A. Tobler, Kriegsnotwendigkeit, in: Strupp/Schlochauer,
Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, S. 350 ff.
49
nommene Text sieht vor, "daß in den Fällen, die in den Bestimmungen der von ihnen (den Vertragsparteien, d. Verf.)
angenommenen Ordnung nicht einbegriffen sind, die Bevölkerung und
die Kriegführenden unter dem Schutze und der Herrschaft der
Grundsätze des Völkerrechts bleiben, wie sie sich ergeben aus den
unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den
Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des
öffentlichen Gewissens." Absatz 2 hält fest, das Abkommen habe
den
Zweck,
auch
in
Kriegszeiten
"den
Interessen
der
Menschlichkeit und den sich immer steigernden Forderungen der
Zivilisation zu dienen."104
Eine Kompromißlösung stellt auch die Anlage zum oben bereits
genannten Abkommen von 1907 , die Haager Landkriegsordnung
(HLKO), dar105. Soweit dort die Ausübung militärischer Gewalt auf
besetztem feindlichem Gebiet geregelt ist (Art. 42 bis 56) , was
im Rahmen dieser Untersuchungen von besonderem Interesse ist,
wurde auch der Forderung nach Menschlichkeit, insbesondere
menschlicher Behandlung der im besetzten Gebiet lebenden
Bevölkerung, Rechnung getragen. Dies geschah vor allem durch die
Zuerkennung von Rechtsschutzansprüchen der Bevölkerung. Rudolf
von Laun hat dies treffend zusammengefaßt:
"Die Haager Landkriegsordnung will also,
was
immer
man
sonst
unter
den
Menschenrechten und unter der Menschlichkeit verstehen mag, daß ... der Bewohner des besetzten Gebietes gegenüber der
Besatzungsmacht nicht rechtlos sei, denn
sonst wäre er dem Sklaven gleichgestellt
... Er wäre also Staatssklave, und die
Sklaverei verstieße gegen den Begriff der
Menschlichkeit..."106
Neben den Rechtsschutzansprüchen gehört zu einer menschlichen
Behandlung im Sinne der HLKO aber auch ein gewisses Maß an
Fürsorge des Besetzers für die Bevölkerung. Diese Fürsorge
beinhaltet zum Beispiel auch das Sorge tragen um
104
105
106
50
Text des Abkommens:RGBl. 1910, S. 107 ff.; vgl. auch H. Strebei,
Martens'sche Klausel, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des
Völkerrechts, Bd. 2,, S. 484 ff.
Text der Anlage: RGBl. 1910, S. 132 ff.
Haager Landkriegsordnung, 5. Auflage, S. 39
Winterbekleidung und Nahrungsmittel107, erschöpft sich jedoch noch
nicht darin.
II.2. Die Änderung der amerikanischen Militärregierungs- Doktrin
a. Amerikanische Militärregierungs-Erfahrungen. Die US-Army hatte
bereits vor dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten
Weltkrieg vielfache Erfahrung mit der Verwaltung besetzten
feindlichen Staatsgebietes sammeln können: in Kuba, nach dem
spanisch-amerikanischen Krieg auf den Philippinen und, von
besonders instruktiver Bedeutung, bei der Besetzung des
Rheinlandes nach dem Ende des Ersten Weltkrieges im November
1918108.
Die Erfüllung von Militärregierungs-Aufgaben, wie sie am Ende des
Zweiten Weltkrieges zweifelsohne anstehen würden, war deshalb
nichts neues für die amerikanischen militärischen Planungsstäbe.
Grundlage der US-Militärregie- rungs-Politik vor Ausbruch des
Zweiten Weltkrieges bildeten die Ideen von Fürsorge für die
Bevölkerung des besetzten Gebietes ("welfare of the governed")
und der militärischen Notwendigkeit ("military necessity")109. Ein
Handbuch der Armee von 1925 stellte fest:
"International law recognized that, having
overthrown the pre-existing government and
deprived the people of the protection which
that government afforded, it becomes not
only the right but the duty of the invader
to give the vanguished people a new
government adequate to the protection of
their personal and property rights."110
107
108
109
110
R. v. Laun, ebd., S. 39
Zur Rheinlandbesetzung: E. Fraenkel, Military occupation and the
rule of law. Occupation government in the Rhineland 1918- 1923;
zur US-Besatzungs- und Militärregierungspolitik allgemein, vgl.
R.H. Gabriel, American Experience with Military Government,
American Political Science Review (37),
1943, S. 417 ff.
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 318
P.Y. Hammond, ebd., S. 319
51
Es sei außerdem, so das Handbuch zur "militärischen Notwendigkeit", "decidedly to the military advantage of the invader to
establish a strong and just government, such as will preserve
order and, as far as possible, pacify the inhabitants"111.
Diesen Worten lag die Erkenntnis zugrunde, daß ein Krieg eine
Auseinandersetzung zwischen Staaten darstellt, nicht aber
zwischen den einzelnen Menschen oder gar Nationen112. Es war das
Konzept von "zivilisierter Kriegführung", das auch in den beiden
Haager Abkommen von 1899 und 1907 zum Ausdruck gekommen war, der
Abschwächung der "militärischen Notwendigkeit" durch die
Grundsätze der Humanität113. Dies entsprach auch amerikanischer
Tradition. Denn schon 1863 hatte der deutsch-amerikanische
Staatswissenschaftler Francis (Franz) Lieber ein Gesetzbuch
verfaßt, das Regeln für den Landkrieg enthielt, darunter auch
Vorschriften, die bei der kriegerischen Besetzung feindlichen
Gebietes zur Anwendung kommen sollten114. Dieser "Lieber code"
enthielt Instruktionen für die Nordstaaten-Armee während des
amerikanischen Bürgerkrieges und bildete die Basis für alle
späteren
völkerrechtlichen
Kodifikationen
des
Landkriegsrechts115. In Artikel 22 stellte der "Lieber code" fest:
"As civilization has advanced during the
last centuries, so has likewise steadily
advanced, especially in war on land, the
distinction between the private individual
belonging to a hostile country and the
hostile country itself, with its men in
arms. The principle has been more and more
acknowledged that the unarmed citizen is to
be spared in person, property, and honor as
much as the exigencies of war will
admit".116
111
112
113
P.Y. Hammond, ebd.
P.Y. Hammond, ebd.
M. Fainsod, The Development of American Military Government
Policy During World War II, in: C.J. Friedrich (Hrsg.), American
Experiences in Military Government in World War II, S. 24
114
D.A. Graber, The Development of the Law of Belligerent
Occupation 1863/1914, S. 5
D.A. Graber, ebd., S. 14 ff.
Vgl. M. Fainsod, The Development of American Military Govern-
115
116
Diese Sätze bildeten die Grundlage der amerikanischen MilitärDoktrin bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Diese Doktrin
stand auch in vollem Einklang mit den Erfordernissen des
Kriegsvölkerrechts. Humane Prinzipien wie die Fürsorge für die
Bewohner des besetzten Gebietes sowie die strikte Trennung
zwischen Angehörigen der feindlichen Streitkräfte und der
unbewaffneten
und
nicht
am
Kriegsgeschehen
beteiligten
feindlichen Bevölkerung waren schon zur Selbstverständlichkeit
geworden. Die unterschiedlichen und teilweise gegenläufigen
Prinzipien der "Fürsorge für die Bevölkerung" des besetzten
Gebietes
und
den
"militärischen
Notwendigkeiten"
der
Besatzungsarmee standen als besatzungspolitische und -rechtliche
Leitprinzipien so gut wie gleichwertig nebeneinander, zum Wohl
der Bevölkerung wie der Besetzer.
b. Erste Fassung des Field Manual 27-5 (1940). Bis zum Jahr 1940
existierte im Kriegsministerium jedoch nicht ein einziges
Diensthandbuch, das sich ausschließlich mit den Aufgaben der
Militärregierung beschäftigte. Lediglich ein Diensthandbuch über
das Kriegsrecht ganz allgemein war verfügbar (Field Manual 27-10:
Rules of Land Warfare, kurz: FM 27-10), das sich unter anderem
auch mit Rechtsfragen einer Militärregierung beschäftigte. Dieses
Handbuch behandelte das Kriegsvölkerrecht ebenso wie die
Kriegsgebräuche und die amerikanische Interpretation dieser
Regeln. Keine Antwort gab das Handbuch jedoch auf Fragen, welche
Politik gegebenenfalls in den besetzten Gebieten durchzuführen
sei oder welche Organisation die Militärregierung haben müsse117.
Um diese Lücke zu schließen, wurde im War Department am 30. Juni
1940 ein Diensthandbuch herausgegeben, das sich ausschließlich
mit Fragen einer Militärregierung be-
117
ment Policy During World War II, S. 24
H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs: Soldiers become Governors, S. 7, Anm. 4; A.C. Davidonis, Some Problems of Military
Government, ... American Political Science Review (38), 1944, S.
460, Anm. 1
S3
faßte118. Das "Basic Field Manual of Military Government" (FM 275) spiegelte die Erfahrungen wider, die die Amerikaner bei
früheren Besetzungen gemacht hatten119. Vor allem die Erfahrungen
nach der Besetzung des Rheinlandes 1918 waren beispielgebend, da
aus dieser Zeit der sogenannte Hunt-Report zur Verfügung stand120.
Auch der liberale und humane Geist des "Lieber code" und der
Haager Abkommen von 1899 und 1907 fand seinen Ausdruck in dem
neuen Diensthandbuch121. Dies war schon deutlich daran zu
erkennen, welchen Besatzungsmaßnahmen Präferenz gegeben wurde. An
der Spitze der fünf "basic policies" stand die militärische
Notwendigkeit, den Krieg bis zu einem erfolgreichen Ende
fortzusetzen. So lange die Feindseligkeiten anhielten, so das
Handbuch weiter, müsse man sich bei jeder Maßnahme der
Militärregierung die Frage stellen, ob sie dieses Ziel fördere
oder hindere122. Als zweites Ziel von Besatzungsmaßnahmen wurde
die Fürsorge für die Bevölkerung des besetzten Gebietes genannt.
Eine Militärregierung, so konnte man in dem Handbuch lesen,
"should be just, humane, and as mild as practicable, and the
welfare of the people governed should always be the aim of every
person engaged therein"123. Der Grund für diesen hohen
Stellenwert, den die Fürsorge für die Bevölkerung zu diesem
Zeitpunkt, 1940, im amerikanischen Kriegsministerium genoß, war
nicht nur rechtlicher, sondern auch politischer Natur. Man
versprach sich davon die Vermeidung unnötiger Haßgefühle gegen
die Besatzer und letztendlich eine freundschaftliche Beziehung
zur Bevölkerung des besetzten Gebietes.
118
119
120
121
122
123
Einen Überblick über die Entwicklung der MilitärregierungsDoktrin in diesem Diensthandbuch geben C.F. Latour/Th. Vogelsang,
Okkupation und Wiederaufbau, S. 28-31
M. Fainsod, The Development of American Military Government Policy
During Word War II, S.25
Der amerikanische Oberst Irwin L. Hunt hatte unter dem Titel
"American Military Government of Occupied Germany, 1918-1920"
seinerzeit seine Erfahrungen aufgezeichnet. Dieser Hunt-Report
bildete den Grundstein der amerikanischen Civil-Affairs- Planung
während des Zweiten Weltkrieges.
M. Fainsod, The Development of American Military Government Policy
During World War II, S. 25
M. Fainsod, ebd.
M. Fainsod, ebd.
"As military government is executed by
force, it is incumbent upon those who
administer it to be strictly guided by the
principles of justice, honor, and humanity
- virtues adorning a soldier even more than
other men for the very reason that he
possesses the power of his arms against the
unarmed .. . The object of the United
States in waging any war is to obtain a
favorable and enduring peace. A military
occupation marked by harshness, injustice,
or oppression leaves lasting resentment
against the occupying power in the hearts
of the people of the occupied territory and
sows the geeds of future war by them
against
the
occupying
power
when
circumstances shake make that possible;
whereas
just,
considerate,
and
mild
treatment of the governed by the occupying
power
will
convert
enemies
into
friends."124.
Als weitere "basic policies" wurden genannt: der Grundsatz der
Flexibilität
(dies
bedeutete,
daß
ein
Plan
für
die
Militärregierung jeweils dem Volk, dem Land, der Zeit und der
strategischen und faktischen Situation angepaßt werden müsse),
die Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen ("economy of effort") sowie
der Grundsatz der Permanenz (d.h. von möglichst wenig Änderungen
im Personal oder der Politik der Militärregierung)125.
Zu diesen fünf "basic policies" traten noch weitere vier
Besatzungsmaximen, denen jedoch nur zweitrangige Bedeutung
eingeräumt wurde. Dazu gehörte unter anderem die Anordnung, in
den besetzten Gebieten das Zivilpersonal in seinen Ämtern zu
belassen und, soweit möglich, Uber diese Personen mit der
Bevölkerung des besetzten Gebietes zu verkehren. Außerdem sollte
von
Änderungen
in
bestehenden
Gesetzen,
Gebräuchen
und
Einrichtungen abgesehen werden126.
c. Politische Kritik am Field Manual 27-5. Dieses Diensthandbuch
geriet jedoch schon bald, nachdem auch die Ameri
124
M. Fainsod, ebd.; deutsche Übersetzung bei C.F. Latour/Th.
Vogelsang, Okkupation und Wiederaufbau, S. 28
125 M. Fainsod, ebd.
126 M. Fainsod, ebd.
55
kaner in den Krieg eingetreten waren, in die Diskussion. Grund
dafür war sein völlig unpolitischer Charakter, die bloße
Beschränkung auf administrative Aufgaben und eine mangelnde
Differenzierung hinsichtlich der zu besetzenden Gebiete. Waren
solche Richtlinien auch in allen vorangegangenen Kriegen durchaus
zweckmäßig und vertretbar gewesen, so fragten sich die Planer
nun, ob man auch in diesem Krieg solche Maximen noch als
Richtschnur werde gebrauchen können. Gegen Ende des Krieges, wann
immer das auch sein mochte, stand doch zwingend auch die
Besetzung zumindest eines Teils von Deutschland bevor. Konnte man
aber eine solche Besetzung, wie auch einen solchen Krieg, noch
mit normalen, sprich völkerrechtlichen Maßstäben messen? Oder war
es nicht sogar besser, die im Diensthandbuch niedergelegten
Prinzipien neu zu gewichten, zuungunsten der Bevölkerung des
besetzten Gebietes? Auch in der Militärregierungs-schule von
Charlottesville
prallten
unterschiedliche
Einschätzungen
aufeinander. Einer der Dozenten lobte die Planungen für die
zukünftige Verwaltung besetzter Gebiete. Er stellte fest, durch
die ganzen Programme ziehe sich eine "fundamental philosophy",
die als ersten Zweck einer Militärregierung das Fördern des
militärischen Ziels ansehe. Die zweite Aufgabe, für die die
Militärregierung verantwortlich zeichne "under international
law", sei,
"to maintain law and order in the occupied
area, to feed the starving, to protect the
population against pestilence and disease,
and, as far as military operations will
permit, to aid the area to bind up its
wounds, re-establish essential services,
and start the healing processes of economic
rehabilitation."127
Zweck einer Militärregierung sei es, ein Fundament zu schaffen
für
eine
mögliche
wirtschaftlichen
Wiederherstellung
Lebens
in
dem
des
besetzten
politischen
Gebiet
Bedingungen, die als Grundlage für einen dauerhaften
127
J.P. Harris, Selection and Training of Civil Affairs Officers,
Public Opinion Quarterly, VII, 1943, S. 700
und
unter
Frieden dienen könnten. Militärische und humanitäre Erwägungen
stünden nicht notwendigerweise immer in einem Gegensatz, sondern
nur im Einzelfall. Dann aber erhalte die militärische
Notwendigkeit den Vorzug vor humanitären Überlegungen128.
Diese vernünftige und in sich abgewogene Einschätzung, die auch
den völkerrechtlichen Anforderungen gerecht wurde, geriet jedoch
mit Fortgang des Krieges immer stärker ins Hintertreffen. Der
hohe Rang, der der Fürsorge für die Bevölkerung des besetzten
Gebietes eingeräumt wurde, erschien vielen Planern nicht mehr
zeitgemäß, geschweige denn realistisch. Ein "progressiver" Dozent
der Militärregierungsschule, Colonel Lewis K. Underhill, hatte
von der ursprünglichen Version von FM 27-5 den Eindruck, "that
the objective of promoting the welfare of the governed in
occupied territory is almost as important as the objective of
military neccessity"129. Er habe das Gefühl, als sei der
bedeutendste Zweck von FM 27-5 "to bring light to the heathen".
Das aber sei nicht realistisch. Eine Militärregierung in
besetztem Gebiet habe nur ein berechtigtes Ziel, und das sei der
Gewinn des Krieges. Militärregierung bedeute ein System des
Kampfes hinter den Linien, und sie werde ausgeübt, indem man die
Zivilbevölkerung in Abhängigkeit halte ("it is done by holding
the civil population in subjection"). Alle Maßnahmen der
Militärregierung seien allein danach zu beurteilen, ob sie den
Feldzug förderten oder hemmten130.
Beanstandet wurde außerdem der Grundsatz, daß der Status quo im
besetzten Gebiet beibehalten werden sollte. Besonders in bezug
auf
das
nationalsozialistische
Deutschland
sei
an
ein
Aufrechterhalten des Status Quo nicht zu denken. Das gelte
insbesondere für den rechtlichen Status Quo, die Gesetze in
Deutschland soweit in ihnen nationalsozialistisches Gedankengut
zum Ausdruck kam. Das gleiche Problem
128
129
130
J.P. Harris, ebd.
M. Fainsod,The Development of American Military Government
Policy During World War II, S. 27
M. Fainsod, ebd.
57
stellte sich aber auch hinsichtlich der möglichen Weiterverwendung
des
Zivilpersonals,
primär
der
Beamten,
in
Deutschland131.
Revidierte Fassung des Field Manual 27-5. Die ersten Erfahrungen als Besatzungsmacht auf dem Territorium der Achsenmächte sammelten die Amerikaner ab Juli 1943 auf Sizilien.
Dort zerschlugen sie den faschistischen Parteiapparat und lösten
alle faschistischen Organisationen auf, enthielten sich aber
darüber hinaus weitgehend der politischen Einflußnahme132. Am 22.
Dezember 1943 legte das War Department eine überarbeitete Fassung
von FM 27-5 vor. Die Grundsätze, die 1940 festgelegt worden
waren, hatten sich nach Rang und Bedeutung grundlegend geändert.
Besonders deutlich wurde das nach der Überarbeitung entstandene
Mißverhältnis zwischen Fürsorge für die Bevölkerung und
militärischer Notwendigkeit. Fainsod spricht von einem "triumph
of the military point of view"133. Das alle anderen überragende
Prinzip war nun das der "militärischen Notwendigkeit". Dazu
führte das überarbeitete Diensthandbuch aus:
d.
"Military necessity is the primary underlying principle for the conduct of
military government." 134
Die Fürsorge für die Bevölkerung gehörte nicht länger zu den
"basic policies". Die Aufforderung zu rücksichtsvoller und milder
Behandlung der Zivilbevölkerung, um aus den Einwohnern des
besetzten Gebietes Freunde zu machen, wie es die ursprüngliche
Fassung noch vorgesehen hatte, war in der neuen Ausgabe nicht
mehr vorhanden. Das Wohlergehen der Einwohner des besetzten
Gebietes war zwar auch weiterhin aus humanitären Gründen zu
berücksichtigen. Den vordringlichsten Zweck einer humanen
Behandlung sah man aber nur in der Erleichterung militärischer
Operationen und um
131
132
133
134
Vgl. die Kritik in H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs:
Soldiers become Governors, S. 145 f.
M. Fainsod, ebd.
M. Fainsod, ebd.
M. Fainsod, ebd.; H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs:
Soldiers become Governors, S. 154
rechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Die zivile Bevölkerung
im Okkupationsgebiet wurde nicht mehr länger als unbeteiligte und
deshalb
aus
dem
Kriegsgeschehen
herauszuhaltende
Nichtkombattanten angesehen. Erstmalig wurde auch jegliche
Beziehung zur Zivilbevölkerung streng untersagt:
"Civil Affairs officers and personnel, as
representatives of the United States
government should keep their relations with
local officials and inhabitants on a
strictly official basis, avoiding unofficial social relationships."135
Auch wurde der Grundsatz humaner Behandlung nun ausdrücklich in
Zusammenhang mit möglichen restriktiven Maßnahmen gebracht:
"Such a policy, however, should not affect
the imposition of such restrictive or
punitive measures as may be necessary to
accomplish the objectives of military
government in any area ..."136
Das sollte zwar vor allem in Gegenden gelten, in denen die
Bevölkerung feindlich eingestellt sei und sich auf aktive oder
passive Sabotage einlasse. Die Anweisung konnte aber ebenso die
Einschränkung der Humanität aus sonstigen Gründen abdecken, so
weit es nur in irgendeiner Form für das Erreichen militärischer
Ziele förderlich war.
Das Prinzip der Nichteinmischung wurde neu formuliert. Um
Verwirrung zu vermeiden und eine einfache Verwaltung des
besetzten Territoriums zu begünstigen, hielt man es für ratsam,
die örtlichen Gesetze, Gebräuche und Regierungseinrichtungen zu
behalten, außer sie widersprachen den Zielen der Militärregierung
oder waren den Interessen der Militärregierung aus anderen
Gründen
abträglich137.
Beamte,
die
Führungspositionen
in
Partisanenorganisationen oder "unfriendly" politischen Parteien
innegehabt hatten,
135
136
137
M. Fainsod, ebd., S. 32
M. Fainsod, ebd.
H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs: Soldiers become Governors,
S. 146; M. Fainsod, ebd., S. 32 f.
59
sollten ebenso aus ihren Ämtern entfernt werden wie solche, die
sich als unzuverlässig oder als nicht zufriedenstellend
erwiesen138. Beamte und andere Bedienstete in untergeordneten
Stellungen sollten aber soweit wie möglich in ihren Ämtern
belassen werden, verantwortlich für die ordentliche Erledigung
ihrer
Aufgaben,
die
ihnen
von
dem
amerikanischen
Besatzungspersonal zugewiesen und auch von diesen überwacht
wurden139.
Auch in einem weiteren Punkt wich die revidierte Fassung des FM
27-5 von der ursprünglichen zum Nachteil des Wohlergehens der
Bevölkerung ab. Zum ersten Mal wurde die Wirtschaftspolitik
angesprochen. Das wirtschaftliche Leben im besetzten Gebiet solle
wiederbelebt und die Produktion angeregt werden, um die
Bedürfnisse des besetzten Gebietes nach amerikanischer und
alliierter Unterstützung auf ein Mindestmaß zu beschränken. Das
okkupierte Territorium sollte sich so zum einen zu einer
Versorgungsquelle ("source of supply") für weitere Operationen
entwickeln, um darüber hinaus die verfügbaren Güter und
Dienstleistungen so effizient wie nur möglich für die
Befriedigung
militärischer
und
ziviler
Bedürfnisse
zu
verwenden140. Es folgte eine Liste bestimmter Schritte, die
vorzunehmen seien, um zuerst die Versorgung der Armee zu
garantieren, und um, erst an zweiter Stelle, der Bevölkerung
zumindest ein Minimum an notwendigen Gütern und Dienstleistungen
zu erhalten ("the population receive at least a minimum of necessary goods and services")141.
Die Doktrin der amerikanischen Armee in bezug auf ihr Verhalten
gegenüber der Zivilbevölkerung in besetzten Gegenden, gegründet
auf einer langen Tradition der Vereinigten Staaten und den
Anforderungen des Kriegsvölkerrechts angemessen, hatte in drei
Jahren (von 1940 bis 1943) eine grundlegende Wandlung erfahren.
Bis zur ersten Fassung des
138
139
140
141
60
M. Fainsod, ebd., S. 32
H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs: Soldiers become Governors, S. 146
M. Fainsod, ebd., S. 34
M. Fainsod, ebd.
FM 27-5 wurde die Zivilbevölkerung als ein Opfer des Krieges
angesehen, gleichgültig ob es sich bei dem besetzten Gebiet um
das des Feindes oder um das eines befreundeten oder verbündeten
Staates handelte. Die Verwaltung dieses Gebietes wurde als
humanitäre Pflicht angesehen, ohne strafend oder auch nur warnend
gegenüber der Zivilbevölkerung sein zu wollen.
"In Army doctrlne as well as U.S. civilian thinking, the war ended for civilians almost as soon as they passed un- der
American occupation" (Earl F.
Ziemke).142
Die Besetzung auch feindlichen Gebietes stellte sich bereits als
eine Art friedenfördernde Maßnahme dar, denn man wollte den
momentanen Feind für spätere Zeiten zum Freund gewinnen. Die
ursprüngliche Militär-Doktrin schaute damit bereits weit über das
begrenzte Gesichtsfeld des Krieges hinaus in die Zukunft, in die
Zeit nach Beendigung der Feindseligkeiten, wenn es darum gehen
mußte, einen gerechten und dauerhaften Frieden mit dem einstigen
Feind zu schließen. Und dies schien um so eher möglich, je mehr
man aus ehemaligen Feinden Freunde machte. Humanität und Fürsorge
für das Wohl der Bevölkerung hatten somit einen eigenständigen
friedenfördernden Wert.
Verglichen mit diesen Errungenschaften war die revidierte Fassung
des FM 27-5 zweifellos ein Rückschritt. Das Gesichtsfeld wurde
eingeengt: Die friedenstiftende Wirkung einer humanen Behandlung
der Bevölkerung wurde völlig ignoriert. Alles, was hinter der
Front auf besetztem feindlichen Gebiet zu geschehen hatte, war
nur auf ein Ziel gerichtet: die Förderung des militärischen
Erfolgs der eigenen Truppen. In der neuen Militär-Doktrin war die
Zivilbevölkerung in besetzem feindlichen Gebieten nicht mehr
länger ein Opfer des Krieges, die es aus den Feindseligkeiten
herauszuhalten galt. Die Entwicklung ging vielmehr dahin, auch in
der Zivilbevölkerung in erster Linie
142
The U.S. Army in the Occupation of Germany, 1944-1946, S. 21
61
den Feind zu sehen, den es zu bekämpfen galt143. Das Wohlergehen
der
Bevölkerung
hatte
seinen
Eigenwert
verloren.
Die
militärische Zielsetzung hatte von nun an absolute Priorität:
"The primary task is to win the war, not
to take care of enemy civilians in
occupied areas."144
Davon, daß eine Militärregierung in besetztem Gebiet die
",human' side of warfare"145 sei, konnte nicht mehr länger die
Rede sein.
FM 27-5 faßte in erster Linie die Verwaltung besetzten Gebietes
während der Fortdauer der Kriegshandlungen ins Auge. Ob und wie
die Besatzungspolitik nach Ende der Feindseligkeiten geändert
werden mußte, blieb fast völlig unberücksichtigt146. Das
Diensthandbuch blieb jedoch während der meisten Zeit der
Okkupation Deutschlands in Kraft147. Die besatzungspolitischen
Lücken im FM 27-5 wurden später durch entsprechende Direktiven
geschlossen148.
III. __ Besatzungsplanung im Außen- und Kriegsministerium1942 - August 1944
Die frühe amerikanische Deutschlandplanung war im Grunde alles
andere als eine "Planung", wenn man darunter die
143
144
145
146
147
143
62
In einem Memorandum vom 13. April 1943 der Army Service Forces,
ASF, wurde sogar der Gedanke aufgebracht, die Bevölkerung in
großer Zahl hinter ihren zurückweichenden Armeen herzutreiben,
dann aber wieder verworfen, weil eine solche Politik "will not
sound pleasing to American ears. It is the policy required by
total war ..."; vgl. H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs:
Soldiers become Governors, S. 153.
M. Fainsod, ebd., S. 32
So R.H. Glover, Military Government - Where do we stand today?,
in: The Annals of the American Academy/ 267, s. 194, in einer
Charakterisierung von "military government" als völkerrechtliche
Aufgabe.
M. Fainsod, ebd., S. 33; J.B. Mason, Lessons of Wartime Military
Government Training, in: The Annals of the American Academy,
267, S. 186
E.F. Ziemke, The Formulation and Initial Implementation of U.S.
Occupation Policy in Germany, in: H.A. Schmitt (Ed.),
U.S. Occupation in Europe after World War II, S. 42
Zur Entwicklung dieser Direktiven vgl. unten, 1. Teil IV.5.ff.
Festlegung eines Ziels und die Erarbeitung eines Entwurfes zur
Verwirklichung dieses Zieles versteht. Zwar hatten Roosevelt und
Churchill mit der Atlantik-Charta Grundsätze einer weltweiten
Friedensordnung verkündet, doch sollten diese, wie wir gesehen
haben, auf Deutschland nur begrenzte Anwendung finden. Die Charta
konnte deshalb als Zielvorgabe für die Behandlung Deutschlands
nicht dienen. Eine nur Deutschland betreffende Zielsetzung war
nicht vorhanden, sieht man einmal von dem rein kriegspolitischen
Ziel der militärischen Niederwerfung des Feindes ab, die auf dem
zu begehenden Weg ein notwendiger Zwischenschritt war, jedoch
offensichtlich nicht das Endziel sein konnte. Aber weder der
Präsident
noch
einer
seiner
für
die
Nachkriegsplanung
verantwortlichen Minister, Hull und Stimson, waren in der Lage
und willens, dieses Endziel in bezug auf Deutschland zu
formulieren. Dabei war das Spektrum der Möglichkeiten enorm und
reichte von einem "Karthago-Frieden", wie er dann 1944 im USFinanzministerium ersonnen wurde, bis zu einer unmittelbaren
Umsetzung der atlantischen Prinzipien auf der Grundlage des
Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes
- nach innen und außen -, verbunden mit einem raschen Wiederaufbau des deutschen Wirtschaftpotentials und mit unverzüglicher Wiedereingliederung in den Welthandel.
Eine zusätzliche Erschwernis ergab sich aus der Mehrzahl an
alliierten Staaten, deren unterschiedliche Vorstellungen und
Konzeptionen zu harmonisieren gewesen wären. Eine isolierte
amerikanische Planung, wie die Vierzehn Punkte Wilsons 1918,
sollte diesmal vermieden werden. Das amerikanische Interesse
beschränkte sich deshalb darauf, die Alliierten zur Befolgung
gewisser Prinzipien zu verpflichten, und die Einzelheiten der
Nachkriegsplanung einer späteren Regelung zu überlassen149. Die
Gefahr von Meinungsverschiedenheiten unter den Alliierten und
eines möglichen Auseinanderbrechens des Kriegsbündnisses wegen
noch gar nicht auf der Tagesordnung stehender Nachkriegsfragen
sollte dadurch gebannt werden. John L. Snell hat die
amerikanische Deutschlandplanung zutreffend
149 Vgl. Hull, Memoirs, S. 1115 f.
63
als eine "Politik der Zurückstellung" ("policy of postponement")
bezeichnet150. Snell führt dazu aus:
"Hull, Roosevelt and the Joint Chiefs of
Staff approved this .policy of postponement
'. It became the basic element of official
American tactics in negotiations concerning
the future of Germany until 1944, and was
strongly reaffirmed at Yalta in February,
1945."151.
Ohne Zielvorgabe von höherer und höchster Regierungsstelle und
infolge einer Fülle noch unbekannter, aber für eine sachgerechte
Planungstätigkeit zentraler Faktoren (würden die Alliierten ganz
Deutschland vor dem deutschen Kollaps besetzt haben, würden nur
die Sowjets Deutschland okkupieren und die Westalliierten beim
Zusammenbruch noch außerhalb der deutschen Grenzen stehen, wie
würde es wirtschaftlich, politisch und verkehrstechnisch in
Deutschland aussehen und würde man die Verwaltung auf noch
existierenden politischen Strukturen aufbauen können), waren die
im Außen- und Kriegsministerium zu diesem Zweck eigens
gegründeten Kommissionen und Abteilungen vor äußerst schwierige
Aufgaben gestellt. Das Bemühen innerhalb der Ministerien, die
Deutschlandplanung organisatorisch in geordneten Bahnen ablaufen
zu lassen, war zu erkennen. Doch angesichts der Vielzahl noch
unbekannter Umstände mußte den Planungsergebnissen zwangsläufig
nur vorübergehender Charakter zukommen.
III.
1. Planungen des Außenministeriums
Im amerikanischen Außenministerium wurde bereits kurze Zeit nach
Kriegsbeginn in Europa das erste Komitee ins Leben gerufen, das
sich Gedanken über die nach Kriegsende zu schaffende neue
Friedensordnung in der Welt, unter der besonde-
150
151
64
J.L. Snell, Wartime origins of the East-West-Dilemma over
Germany, S. 14 ff.
J.L. Snell, ebd., S. 17; H.P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik,
S. 105, wendet diesen Begriff auch noch für die Nachkriegszeit bis
zur Moskauer Konferenz im Frühjahr 1947 an.
ren Berücksichtigung amerikanischer Interessen, machen sollte152.
Anfang 1941 kam eine weitere ständige Abteilung hinzu: die
Division of Special Research ("Research Staff"). Sie befaßte sich
mit der Analyse amerikanischer Kriegsziele und unterbreitete
während
der
Endphase
des
Krieges
auch
Vorschläge
und
Empfehlungen153.
"Advisory Committee on Post-War Foreign Policy“. Schon kurz
nach dem Kriegseintritt Amerikas gründete Cordell Hull ein
"Advisory Committee on Post-War Foreign Policy", dessen Vorsitz
er selbst führte. Sein Stellvertreter war auch in diesem Gremium,
wie im Ministerium, der enge Roosevelt- Freund Sumner Welles. Die
Besonderheit dieses Komitees lag in seiner Zusammensetzung, da es
nicht nur Berufspolitiker zusammenführte, sondern auch eine
stattliche Zahl Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens154. Einer
der Unterausschüsse dieses Komitees, das Subcommittee on
Political Problems, erörterte 1942 unter anderem die Frage einer
bedingungslosen Kapitulation Deutschlands155.
a.
Obwohl der Name Advisory Committee on Post-War Foreign Policy
vermuten läßt, Gegenstand der Erörterungen seien internationale
Probleme
der
Nachkriegszeit
und
die
zwischenstaatlichen
Beziehungen gewesen, stand im Mittelpunkt der Diskussionen immer
wieder die Frage nach den Vor- und Nachteilen der politischen
Einheit Deutschlands156. Vor allem Sumner Welles wurde zum
glühenden Verfechter des Teilungsgedankens. Der Research Staff
wurde mit herangezogen, entwickelte Argumente für und gegen eine
Teilung Deutschlands und die damit zusammenhängenden politischen,
wirtschaftlichen und demographischen Probleme.
152
153
154
155
156
"Advisory Committee on Problems of Foreign Relations", vgl.
H.
A. Notter (Hrsg.), Postwar Foreign Policy Preparation 19391945, S. 18 ff., der zwar einen guten Überblick über die
organisatorischen Strukturen, jedoch wenig über die Inhalte
vermittelt.
Vgl. H.A. Notter (Hrsg.), ebd., S. 41 ff., 149 ff., 215 ff.; vgl.
auch G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg,
S. 52 ff.
G. Moltmann, ebd., S. 54 f.
Vgl. dazu unten 2. Teil, I.1.
G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 58.
65
Eine Zerstückelung Deutschlands in drei, fünf oder sogar sieben
eigenständige Staaten wurde diskutiert. Außenminister Hull, der
sich gegen eine mögliche Aufspaltung Deutschlands einsetzte, fand
die Unterstützung der Mehrheit des Komitees, insbesondere des
Herausgebers der "Foreign Affairs", Hamilton Fish Armstrong, und
des Präsidenten der Johns Hopkins Universität, Isaiah Bowman157.
Franklin D. Roosevelt befürwortete grundsätzlich eine Teilung
Deutschlands, wie er seinen Gesprächspartnern auf der Konferenz
von Teheran mitteilte, als er sich für fünf "autonome" und drei
internationalisierte deutsche Gebiete aussprach. Dieses Ziel
wollte er in erster Linie durch die Förderung separatistischer
Bestrebungen erreichen, notfalls aber auch durch andere Mittel.
Einer der Teilstaaten, davon war Roosevelt überzeugt, müsse
Preußen sein, das er dadurch an der Herrschaft über ganz
Deutschland hindern wollte. Ober den prinzipiellen Teilungswillen
hinaus waren jedoch bei Roosevelt keine detaillierten Pläne zur
Verwirklichung dieser Absicht vorhanden158.
Die Teilung Deutschlands wurde im Beratungsausschuß mehrheitlich
abgelehnt, da man diese Maßnahme nicht als geeignetes Mittel zur
Verhinderung
künftiger
deutscher
Aggressionen
ansah.
Ein
derartiges Vorgehen würde vielmehr in den Augen der Deutschen
alle Versuche zur Entwicklung einer demokratischen Regierungsform
und einer demokratischen Gesinnung diskreditieren und einer
Sammlungsbewegung der Deutschen gegen die Siegermächte den Boden
bereiten. Statt- dessen empfahl der Ausschuß eine auf lange Sicht
angelegte Deutschlandpolitik, deren Ziel es sein müsse, eine
deutsche
Wiederaufrüstung
zu
verhindern,
demokratische
Entwicklungen in Deutschland zu fördern und das wirtschaftliche
Übergewicht Deutschlands in Europa zu reduzieren oder zu kontrollieren159 . Dennoch hielt Roosevelt an seinen Teilungsplänen
157
158
159
66
P.Y. Hammond, Directives for the Occupation of Germany: The
Washington Controversy, S. 317
G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 90
f.
P.E. Mosely, Die Friedenspläne der Alliierten und die Aufteilung
Deutschlands, EA 1950, S. 3034; vgl. auch H.A. Notter
fest, wie seine Teheraner Einlassungen zu diesem Thema zeigten.
Er stand ganz offensichtlich unter dem starken Einfluß von Sumner
Welles, mit dem ihn - wie mit Finanzminister Morgenthau - ein
enges Vertrauensverhältnis verband. Unter Übergehung seines
direkten Vorgesetzten, Cordell Hull, wußte Welles seine
deutschlandpolitischen Ansichten dem Präsidenten nachhaltig
deutlich zu machen. Erst mit dem Rücktritt von Welles Ende
September 1943 versiegte diese Quelle permanenter Unruhe und
Einflußnahme
auf
die
Deutschlandplanung.
In
Roosevelts
Beraterstab entstand dadurch eine Lücke, die erst ein knappes
Jahr später Finanzminister Henry Morgenthau schloß, indem er den
von Welles vertretenen Teilungsgedanken aufgriff, in seinem Sinne
bearbeitete und mit weiteren Anregungen auf anderen Sachgebieten,
vor
allem
hinsichtlich
der
wirtschaftlichen
Stellung
Deutschlands, ergänzte160.
"Interdivisional Country Committee on Germany". Durch das
Ausscheiden seines bisherigen Unterstaatssekretärs wurde Hulls
Position im eigenen Ministerium nachhaltig gestärkt. Im Rahmen
struktureller Änderungen der Planungsarbeit im State Department
wurde im September 1943 unter anderem ein "Interdivisional
Country Committee on Germany" eingesetzt, in dem ein Teil der
bisher dem Beratungsausschuß obliegenden Aufgaben übernommen
wurden161. Am 23. September 1943 stellte diese Arbeitsgruppe eine
Denkschrift fertig, mit dem Titel "The Political Reorganisation
of Germany". Sie war die Grundlage eines weiteren Papiers, das
Hull wenig später auf der Außenministerkonferenz in Moskau
präsentierte 162 .
b.
Die Denkschrift beinhaltete drei Bereiche: Ablehnung
gewaltsamen Teilung Deutschlands, Demokratisierung und De-
160
161
162
einer
(Hrsg.), Postwar Foreign Policy Preparation, S. 554 ff.
Zur Rolle von S. Welles vgl. G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 92 ff.
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 318; vgl. zu der
Vielzahl an Ausschüssen im Außenministerium G. Moltmann,
Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 56 ff.
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 318
67
Zentralisierung163. Zum ersten Punkt wurden die bereits vom
Beratungsausschuß vorgetragenen Argumente erneut herangezogen.
Die Auseinandersetzung mit Fragen einer Demokratisierung und
Dezentralisierung Deutschlands in Form eines Memorandums war
jedoch neu. Zur Demokratisierung stellte der neue Ausschuß fest:
"The committee is of the opinion that, in
the long run, the most desirable form of
government for Germany would be a broadlybased democracy operating unter a bill of
rights to protect the civil and political
liberties of the individual. "164
Um mit einem solchen Projekt ("a new democratic experiment")
erfolgreich zu sein, müßten jedoch drei Grundbedingungen erfüllt
werden: ein erträglicher ("tolerable") Lebensstandard, ein
Minimum an Bitterkeit über die Friedens- bestimmungen und
Übereinstimmung der Politik der Regierungen Großbritanniens und
Amerikas einerseits, der Sowjetregierung andererseits. Der
Ausschuß sei sich zwar bewußt, daß die Besetzung und unerläßliche
dauernde Sicherheitskontrollen bei vielen Deutschen Anstoß
erregen würden, schlage aber wegen der Bedeutung einer
schließlichen Aussöhnung der Deutschen mit einer Friedensregelung
vor, die Maßnahmen auf einem mit der Sicherheit noch zu
vereinbarenden Mindestmaß an Zahl und Härte zu halten. Auch gaben
sich die Planer des Ausschusses, unter der Leitung des
Ostexperten Philip E. Mosely (bis Oktober 1943), keinen
Illusionen über die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion nach
Kriegsende hin. Im Falle von Spannungen zwischen den AngloAmerikanern und den Sowjets werde sich Deutschland in einer
Position befinden, das Mächtegleichgewicht mit verhängnisvollen
Folgen für vertragliche Beschränkungen und für die politische
Stabilität aufrechtzuerhalten. Umgekehrt werde die Sowjetunion
über eine Stellung verfügen, in der sie die kommunistische Stärke
in Deutschland zum großen Nachteil des inneren politischen
Friedens in Deutschland und zum vergleichsweise
163
164
68
Text der Denkschrift in H.A. Notter (Hrsg.), Postwar Foreign Policy
Preparation, S. 558 ff.
H.A. Notter (Hrsg.), ebd., S. 559
großen Vorteil russischer Interessen gebrauchen könne. Der
Ausschuß betrachtete es als Fehler, daß die britische und
amerikanische Regierung es an einer Ankündigung ihrer Unterstützung einer zukünftigen deutschen Demokratie hatten fehlen
lassen. Das Auftauchen eines demokratischen deutschen Programms
unter sowjetischer Patronage könne dazu dienen, den Kommunisten
die Kontrolle über die demokratische Bewegung zu geben und
folglich eine russische Vorherrschaft in Deutschland zu
errichten, es sei denn eine anglo- amerikanische Unterstützung
ermutige die Gemäßigten, sich zu beteiligen und die Bewegung
wahrhaftig demokratisch zu gestalten165.
Aufgrund seiner weitsichtigen und realistischen Analyse kam der
Ausschuß zu dem Ratschlag:
"The committee therefore recommends that
the United States Government adopt, in the
interest of fostering moderate government
in Germany, the principle of a program
looking to the economic recovery of
Germany,
to
the
earliest
possible
reconciliation of the German people with
the peace, and to the assimilation of
Germany, as soon as would be compatible
with security considerations, into the
projected international order."166
Die Dezentralisierung des deutschen Staatswesens wurde in dieser
Denkschrift als geeignet und ausreichend angesehen, um eine
potentielle Bedrohung durch Deutschland einzuschränken. Zu diesem
Zweck sollte jeder Dezentralisierungsbewegung, die aus der
Tradition
des
Föderalismus
und
der
Reaktion
auf
die
nationalsozialistische Zentralisierung hervorgehen könne, durch
die Siegermächte Unterstützung zukommen167.
Die Ausführungen in diesem Papier zeugten von einem hohen Maß an
Verantwortungsgefühl, realistischer Begutachtung der in Europa
existierenden Macht- und Interessenkonstellation
165
166
167
H.A. Notter (Hrsg.), ebd.
H.A. Notter (Hrsg.), ebd.
H.A. Notter (Hrsg.), ebd.
69
nen und der zentralen Aufgabe, die gerade Deutschland nach dem
Krieg zufallen würde - in wirtschaftlicher wie ideologischpolitischer Hinsicht. Das Papier konnte in dieser Form und mit
diesem Inhalt wohl auch nur deshalb zustande kommen, weil es von
einem Expertengremium erstellt wurde, das bis dahin noch von
keiner politischen Seite ernsthaft bevormundet worden war, und
deshalb statt kurzsichtiger Kriegsplanung eine solide und
langfristige Friedensplanung betreiben konnte.
Größere Abweichungen von dieser Haltung, die schon schnell zu
einer Art offizieller Politik des Außenministeriums wurde, gab es
in den kommenden Monaten nicht mehr. Anfang Mai 1944 erarbeitete
das "Postwar Programs Committee" unter dem Vorsitz des WellesNachfolgers Stettinius auf der Grundlage der Untersuchungen und
Ergebnisse des "Country Committee on Germany" ein neues
Memorandum, das Außenminister Cordeil Hull im Juli 1944 billigte.
Argumentation und Resultat entsprachen den gemachten Vorarbeiten:
Ablehnung einer gewaltsamen Zerstückelung des deutschen Staates,
Förderung föderalistischer Bestrebungen. Ein zersplittertes
Deutschland sei gar nicht wirtschaftlich lebensfähig und
außenstehende Großmächte könnten Einfluß und Kontrolle über die
einzelnen Staaten gewinnen. Auch mache eine erzwungene Teilung
die Schaffung demokratischer Einrichtungen unmöglich168.
III.2. Planungen des Kriegsministeriums
a. Unpolitisches Selbstverständnis des Kriegsministeriums. Die
Deutschlandvorbereitungen des Kriegsministeriums unterschieden
sich von denen des Außenministeriums erheblich. Stimson gründete
keine Ausschüsse und Komitees, sondern schuf am 1. März 1943
eigens eine Abteilung für Zivilangelegenheiten, die "Civil
Affairs Division" (CAD). Ihre Hauptaufgabe war es, den
Kriegsminister
in
allen
Angelegenheiten
nicht
streng
militärischer Art zu informieren und zu
168
P.E. Mosely, Die Friedenspläne der Alliierten und die Aufteilung
Deutschlands, EA 1950, S. 3035 f.; G. Moltmann, Amerikas
Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 103
beraten, die sich in besetzten Gebieten aufgrund der militärischen Operationen ergeben würden und in den Zuständigkeitsbereich des War Department fielen. Chef der CAD wurde Mitte
April 1943 Generalmajor John H. Hilldring, der dieses Amt dann
drei Jahre bekleidete169.
Die Joint Chiefs of Staff (JCS) erkannten die CAD schon
frühzeitig als den natürlichen Ort für die Koordination der
Planung und Verwaltung in den meisten besetzten Gebieten an.
Stimson legte gegenüber Hilldring Wert darauf, daß die Armee mit
der Entwicklung der Politik nichts zu tun haben dürfe, obwohl er
wußte, daß er als Mitglied des Kabinetts durchaus mit politischen
Fragen konfrontiert sein würde170. Diese Anweisung entsprach dem
Verständnis Stimsons von den Aufgaben des Kriegsministeriums in
der Planungsphase und der Armee während der Besatzungszeit. Sie
sollte ausführendes Organ von im Außenministerium geschaffenen
Plänen sein, und das auch nach Möglichkeit nur für eine kurze
Übergangsphase, bis dann zivile Stellen die Armee ersetzen
würden. Roosevelt dachte daran, der Armee die Verantwortung für
diesen zivilen Einsatz auf besetztem Gebiet für die Zeit der
Kampfhandlungen und die ersten sechs Monate nach deren Ende zu
übertragen171. Die Tätigkeit der CAD beschränkte sich deshalb in
bezug auf die Besatzungsplanung für Deutschland lange Zeit auf
die Ausbildung von Militärregierungsoffizieren. Es handelte sich
vorwiegend um Zivilisten, die nun an der Universität von Virginia
in Charlottesville und später auch an anderen Universitäten auf
ihre späteren Aufgaben vorbereitet wurden172.
b. Warburg-Plan vom Februar 1944. Ende Februar 1944 verließ John
J. McCloy, Unterstaatssekretär und Stellvertreter Stimsons,
jedoch die vom Kriegsminister angegebene Generallinie und wandte
sich auch der politischen Nachkriegspla- nung zu. Er bat seinen
Freund James P. Warburg um die Er-
169
170
171
172
C.F. Latour/Th. Vogelsang, Okkupation und Wiederaufbau, S. 29
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 320
P.Y. Hammond, ebd.
Vgl. K.-E. Bungenstab, Die Ausbildung der amerikanischen
Offiziere für die Militärregierung nach 1945, Jahrbuch für
Amerikastudien 1973 (Bd. 18), S. 195 ff.
71
Stellung einer Denkschrift zur Behandlung Deutschlands nach
Kriegsende173. Warburg war der Sohn einer angesehenen New Yorker
Bankiersfamilie und bis wenige Monate vorher stellvertretender
Leiter
der
Auslandsabteilung
des
amerikanischen
Kriegsinformationsamtes gewesen. In dieser Funktion hatte er
schon im April 1943 ein Memorandum zur Deutschlandpolitik und im
August 1943 ein weiteres zur Gesamtpolitik geschrieben. Im ersten
Papier hatte er sich bemüht, die Forderung nach "bedingungsloser
Kapitulation" inhaltlich auszufüllen, um dadurch der deutschen
Propaganda weniger Angriffsfläche zu bieten. Die sieben von
Warburg genannten Punkte sahen vor: Bedingungslose Kapitulation
aller Feinde der USA, kein Frieden oder Waffenstillstand oder
auch nur Verhandlungen mit der derzeitigen deutschen Regierung
oder irgendwelchen anderen Gruppen oder Einzelpersonen in
Deutschland, Bestrafung von Straftätern, aber keine kollektiven
Vergeltungsmaßnahmen gegen das deutsche Volk, Rückgabe von
geplündertem Eigentum, Versorgung Hungernder nach Kriegsende mit
Lebensmitteln,
unmittelbarer
Beginn
mit
dem
Wiederaufbau
zerstörter Gebiete und Angebot zur Eingliederung des deutschen
Volkes in eine von den "Vier Freiheiten" beherrschte Weltordnung,
sofern die Deutschen sich umstellten und nicht länger die Absicht
hätten, ihre Beziehungen zu anderen Völkern mit Gewalt oder
Gewaltdrohung zu regeln174. Warburg stellte klar:
"Die Alliierten kämpfen nicht gegen das
deutsche Volk. Sie kämpfen gegen die Nazis,
gegen
den
militärischen
Geist
der
Eroberungslust und gegen jeden, in dem sich
diese besondere deutsche ,Weltanschauung1
verkörpert.
Man wird annehmen müssen, daß die Deutschen, die die Regierung unterstützten, die
diesen Krieg über die Welt gebracht hat,
Anhänger
dieser
Weltanschauung
sind.
Deutsche Personen oder Gruppen, die sie
ablehnen, müssen ihre Haltung
173
174
72
J.P. Warburg, Deutschland - Brücke oder Schlachtfeld, S. 286
ff.; dort sind die Vorschläge Warburgs auszugsweise
aufgeführt.
J.P. Warburg, ebd., S. 281 ff.
nicht nur durch Worte, sondern auch durch
Taten beweisen."175.
Roosevelt hatte sich von den Anregungen Warburgs zunächst sehr
angetan gezeigt, nach Gesprächen mit seinen Beratern die Zeit für
eine derartige Erklärung an das deutsche Volk jedoch für noch
nicht
gekommen
angesehen
und
das
Memorandum
wieder
zurückgeschickt176.
In einem Schreiben vom 21. Februar 1944 zeigte Warburg Mc- Cloy
die Grundzüge seiner Denkweise hinsichtlich Deutschlands erneut
auf: Das Problem sei die Organisation eines dauerhaften Friedens.
Das Einpassen Deutschlands in eine so organisierte Welt sei nicht
das primäre Problem der Alliierten, sondern des deutschen Volkes
selbst. Es müsse aber verhindert werden, daß Deutschland während
einer ihm aufzuerlegenden Probezeit nochmals einen Angriffskrieg
führen könne. Während dieser Probezeit sollten die Alliierten
keinen Friedensvertrag mit Deutschland schließen, noch sonst in
irgendeiner Form die deutsche Souveränität wieder aufleben
lassen. Die Probezeit könne lang oder kurz sein, was von
verschiedenen Faktoren abhänge. Am Ende müsse aber die volle
Anerkennung der deutschen Souveränität stehen, einschließlich der
gleichen Rechte und Pflichten, wie sie auch andere Nationen
hätten. Der Friedensvertrag solle jedoch erst geschlossen werden,
nachdem in Deutschland eine Regierung existiere, mit der die
Alliierten auf der Grundlage der Gleichheit verkehren wollten177.
In einem ausführlichen Memorandum vom 4. März 1944 machte Warburg
dann konkrete Vorschläge für eine Direktive zur Behandlung
Deutschlands nach der Kapitulation, den möglichen Inhalt eines
Kapitulations-Dokumentes, den Entwurf einer "First Order", die
von Eisenhower als oberstem alliierten
179 J.P. Warburg, ebd., S. 282
176 J.P. Warburg, ebd., S. 283
117 J.P. Warburg an J.J. McCloy, 21. Februar 1944, RG 107 ASW 387. Der
in J.P. Warburg, Deutschland - Brücke oder Schlachtfeld,
S. 286 ff. teilweise abgedruckte Plan ist eine Zusammenfassung
zweier für McCloy geschriebener Denkschriften (eine vom 21.2.1944,
die andere vom 4.3.1944), was jedoch im Buchtext nicht deutlich
wird.
73
Kommandeur dem deutschen OKW unmittelbar nach Unterzeichnung der
Kapitulation übergeben werden sollte sowie eine erläuternde
Schrift zu Währungsproblemen. In einem Begleitschreiben an McCloy
meinte Warburg:
"The point of view which underlies these
proposals is that once we have rendered
Germany harmless, we should get out and let
things happen within Germany as they will,
while we sit around the borders keeping
Germany sealed off and observing the course
of events." .
Eine lange Besatzungszeit, argumentierte Warburg, bringe zu viele
Probleme mit sich: Die Alliierten müßten dann unweigerlich die
Ordnung aufrechterhalten, was die Entspannung verhindere, die in
Deutschland eintreten müsse; sie müßten dann einen großen Teil
der Last übernehmen, die Probleme Deutschlands zu lösen, und
würden für viele der unumgänglichen Nachkriegsleiden getadelt
werden. Auch sei eine lange Besatzungszeit nur mit Strenge zu
erreichen, was den amerikanischen Soldaten schwerfallen werde,
und behindere die Fortführung des Krieges gegen Japan 179.
In seinem Direktiven-Entwurf bezeichnete Warburg es als Zweck der
alliierten Besetzung, die weitere deutsche An- griffsfähigkeit zu
verhindern,
fremde
Kriegsgefangene
und
Zwangsarbeiter
in
Deutschland zu befreien, den Deutschen klar zu machen, den Krieg
diesmal tatsächlich verloren zu haben, nationalsozialistische
Unterdrückungseinrichtungen zu beseitigen und den notwendigen
Apparat zu schaffen für die Rückgabe gestohlenen Eigentums, für
die Erhebung von Reparationszahlungen und für die Bestrafung von
Kriegsverbrechern sowie für die Zufuhr der nötigen Lebensmittel
und Medikamente. Zu den Zwecken der alliierten Besetzung gehöre
es hingegen nicht, Recht und Ordnung innerhalb Deutschlands zu
bewahren, das politische und wirtschaftliche Leben in Deutschland
zu reorganisieren oder wiederaufzubauen oder das deutsche Volk
umzuerziehen. Dies habe das deutsche Volk
178
179
74
J.P. Warburg an J.J. McCloy, 4. März 1944, RG 107 ASW 387
J.P. Warburg an J.J. McCloy, 4. März 1944, ebd.
alles selbst zu tun. Erst wenn es dies erfolgreich durchgeführt
habe und es in Deutschland eine von den Alliierten anerkannte
Regierung gebe, könne man einen Friedensvertrag schließen oder
die Souveränität des deutschen Volkes sonstwie anerkennen. Bis
dahin sollten die deutschen Grenzen während einer Bewährungsfrist
besetzt bleiben und Deutschland vom übrigen Europa isoliert
werden. Ein- und Ausfuhr seien ebenso wie der Personenverkehr
über die deutsche Grenze zu kontrollieren180.
Auf der Grundlage dieser Prinzipien unterschied Warburg drei
Phasen der alliierten Tätigkeit: Von der Kapitulation zur
Besatzung, von der Besatzung zur Beobachtung und von der
Beobachtung zur Anerkennung. In der ersten Phase, die nicht
länger als eine Woche oder zehn Tage andauern dürfe, werde
Deutschland entwaffnet werden. Während der zweiten Phase, für die
Warburg drei Monate und weniger veranschlagte, sollten gewisse
Hauptaufgaben erfolgreich ausgeführt werden: Dazu zählte die
industrielle
Entwaffnung,
Durchführung
der
Moskauer
Kriegsverbrecher-Erklärung, Befreiung und Repatriierung von
Gefangenen und zu Arbeitszwecken eingezogener Personen, die
Konzentration von NS- Amtsträgern, Gestapo und SS (offensichtlich
alle Angehörigen) irgendwo außerhalb Deutschlands, Zerstörung der
ganzen Maschinerie des Generalstabs einschließlich seiner industriellen Verzweigungen, Zerbrechen der Landgüter der Junker
sowie die Errichtung von Maschinerien zur Rückgabe gestohlenen
Eigentums, für Reparationen, zur Kontrolle des Außenhandels und
zur notwendigen Unterstützung. In der dritten Phase, mit einer
von den jeweiligen Umständen abhängigen Dauer von zwei bis zu
zehn Jahren, würden die alliierten Truppen die deutschen Grenzen
bewachen. In Deutschland befänden sich dann nur noch bestimmte
Stamm- streitkräfte und Kontroll-Kommissionen. Diese Kommissionen
hätten das Entstehen militärischer oder halbmilitärischer
140 J.P. Warburg, "Draft-Directive for Surrender and Post Surren
der Treatment of Germany", Abs.Nr. III, RG 107 ASW 387; vgl.
auch die insoweit bis auf einen Punkt identische Darstellung
in J.P. Warburg, Deutschland - Brücke oder Schlachtfeld, S.
287 f..
75
Organisationen zu verhindern, darauf zu achten, daß keine
industrielle Wiederbewaffnung erfolge, den Im- und Export zu
kontrollieren, die sozialen, politischen und wirtschaftlichen
Entwicklungen zu beobachten und darüber zu berichten. Diese Phase
werde erst beendet, wenn die Deutschen die in sie gesetzten
Erwartungen, wozu vor allem eine von den Alliierten anerkannte
Regierung zählte, erfüllt hätten181.
Ergänzt wurde dieser Entwurf durch die von Eisenhower dem OKW
gegenüber zu erlassende "First Order". Neben ein paar
detaillierten Anweisungen zur Entwaffnung und Übergabe von Waffen
und Truppen enthielt sie noch Vorschriften über den Umgang mit
bestimmten Personengruppen in Deutschland. Während die deutschen
Soldaten nach Hause gehen könnten, sollten alle Offiziere in
Konzentrationslagern zurückgehalten werden, um dort sorgfältig
gesäubert zu werden. Nach ein paar Wochen oder Monaten sollte den
besseren "Elementen" unter ihnen erlaubt werden, nach Hause
zurückzukehren ("Officers should be carefully weeded out and the
better elements allowed to return home after a few weeks or
perhaps months."). Innerhalb Deutschlands befindliche deutsche
Truppen und Reserveeinheiten hätten das Zusammentreiben ("round
up"),
die
Entwaffnung
und
Arrestierung
aller
Personen
durchzuführen, die in Kriegsverbrecher-Listen erfaßt seien, aller
N.S.- Amtsinhaber bis hinab zum Gauleiter sowie aller SS- und
Gestapo-Angehöriger. Die Gefangenen seien festzuhalten und der
alliierten Besatzungsarmee zu übergeben. Diese Personengruppen
und die nicht wieder entlassenen Offiziere würden dann die ersten
Arbeiter sein, die in anderen Ländern die von Deutschland
begangenen Verwüstungen wieder instand zu setzen hätten182.
Warburg merkte weiter an:
"It is to be hoped that the foregoing order
would result in the mass killing by German
troops of those to be arre
181
182
J.P. Warburg, "Draft-Directive for
Surrender and Post Surrender
Treatment of Germany", Abs.Nr.
IV, ebd.; die Wiedergabe in
J.P. Warburg, Deutschland - Brücke
oder Schlachtfeld, S. 288 ist
lückenhaft und spricht nur von zwei statt von drei Phasen.
J.P. Warburg, "Draft-Directive for
Surrender and Post Surrender
Treatment of Germany", ebd.
sted. This would be the first step in the
rehabilitation of the German peoDie Übergabe der Waffen (für ihren Gebrauch im Krieg gegen Japan)
sollte ebenso wie die Verpflichtung zur Internierung der bereits
genannten
Personengruppen
in
das
KapitulationsDokument
aufgenommen werden. Die Unterschrift sollte das OKW und die
Regierung, im Erlebensfälle Hitler selbst, leisten.
Neben einigen anderen Einverständniserklärungen führte War- burg
in seinem Entwurf einer Kapitulations-Urkunde auch einen Punkt
zur Währung an. Die Reichsbank sollte danach jede Woche eine von
den alliierten Besatzungsarmeen verlangte Geldsumme zur Deckung
der Besatzungskosten an diese herausgeben. Die Auszahlung sollte
in einer neuen "Besatzungs-Mark" ("Occupational Marks") erfolgen,
die von der Hauptwährung zu unterscheiden sei184. Die Entwertung
der deutschen Währung sah er als unvermeidlich an. Er wollte die
Inflation deshalb so schnell wie möglich nach der Kapitulation
eintreten lassen, um eine spätere demokratische Regierung vor der
Belastung mit einem solchen Ereignis zu bewahren185.
c. Ablehnung des Warburg-Plans. Die Reaktionen im Kriegsministerium auf Warburgs Vorschläge waren durchweg ablehnend.
Generalmajor Ray W. Barker von der "Operations Division" meinte:
"I cannot agree either with the fundamental
morality ... or advisability of allowing or
encouraging Germany to fall into a state of
anarchy. Germany can, and should, be an
important element in the rehabilitation of
war-torn Europe, and our policy should be
designed
to
make
her
serve
that
purpose."186 .
183 J.P. Warburg, "Draft-Directive for Surrender and Post Surrender
Treatment of Germany", ebd.
114
J.P. Warburg, "Surrender Document", RG 107 ASW 387 185 J.P.
Warburg, "Explenatory Note on 3(g) - Currency Proposal", RG 107 ASW 387
Maj. Gen. R.W. Barker, War Dep. General Staff, Operations Division,
"Memorandum to General Hilldring", "Subject: Comment
77
Auch der Direktor der Civil Affairs Division, Generalmajor J.H.
Hilldring, stand den Denkschriften des New Yorker Bankiers
skeptisch gegenüber. Er übermittelte McCloy ein Memorandum des
Hauptmanns Fritz Oppenheimer, ein deutscher Emigrant aus Berlin,
der dort als Rechtsanwalt gearbeitet hatte. Er erklärte sich mit
den Ausführungen Oppenheimers im wesentlichen einverstanden187.
Ganz besonders intensiv setzte sich Oppenheimer mit der
grundlegenden These Marburgs auseinander - die jedoch nicht nur
von ihm, sondern auch in vielen Magazinen (Life, Fortune, Time)
damals vertreten wurde -, daß Deutschland zunächst einmal durch
ein totalitäres Chaos gehen müsse, und daß man erst nach seiner
Selbstreinigung normale Beziehungen zu ihm aufnehmen könne. Ein
Chaos in Deutschland, befand Oppenheimer, führe möglicherweise
zum Tod der besten Elemente der Nation, da Revolution die
Herrschaft des Mobs sei und Plünderung, Töten, Hunger und Elend
bedeute und die falschen Leute zusammenführe. Außerdem sei das
deutsche Problem ein europäisches Problem, und solange in
Deutschland Chaos bestehe, könne in Europa kein Frieden
einziehen. Eine Politik, die es Deutschland gestatte ins Chaos
abzugleiten, widerspreche der Haager Konvention, insbesondere
Art. 43 der Landkriegsordnung. Eine Inflation treffe vor allem
die ärmeren Schichten, während die Wohlhabenderen schon wüßten,
wie sie ihre Kapitalanlagen gegen eine Geldentwertung schützen
könnten. Ein dauerhafter Friede sei ohne gesunde wirtschaftliche
Bedingungen undenkbar188. Oppenheimer weiter:
187
188
on Mr. Warburg's letter of 4 March, 1944, re surrender and post
surrender policy toward Germany", 14. März 1944; vgl. auch die
negativen Anmerkungen aus dem Büro des Assistant Secretary of War
"Memorandum for Mr. McCloy", "Subject: Comments on Mr. Warburg's
surrender and post-surrender treatment of Germany", 6. März 1944;
beide Denkschriften in RG
107 ASW 387
Maj. Gen. J.H. Hilldring, CAD, "Memorandum for Mr. McCloy", "Subject:
Comments on Mr. Warburg’s proposals re surrender and post-surrender
policy toward Germany", 23. März 1944, RG 107 ASW 387.
F. Oppenheimer, Memorandum ohne weitere Spezifizierung und
Datum, Abs.Nr. B.I.; RG 107 ASW 387
"If we support inflationary tendencies we
would repeat the flaws of the last
peace."189
Oppenheimer befürwortete demgegenüber eine zwar sehr strenge,
aber gleichzeitig gerechte und menschliche Militärregierung in
Deutschland. Sein Ziel lautete:
"The dictate of terror and mental oppression (durch das NS-Regime, d.Verf.)
should not be followed by a period of
anarchy but by a rule of law established
and maintained by military government;
though necessarily very strict and absolute
at the beginning the military rule can
gradually be relaxed to allow and encourage
the
formation
of
a
new
democratic
government in Germany."190
Die kritische Stellungnahme Oppenheimers zu Warburgs ChaosPlänen für Deutschland überzeugte John J. McCloy, der sie für
intelligent und begründet erachtete und Oppenheimers Weg für
erfolgversprechender hielt als Warburgs191. Wenngleich Warburgs
Vorschläge vom Kriegsministerium mit der Erklärung abgelehnt
wurden, "daß die Regierung der Vereinigten Staaten keine Politik
verfolgen könne, die in Deutschland zum Chaos führen würde"192,
waren viele seiner Gedanken damit aber noch lange nicht zu den
Akten gelegt. Seine Haltung beispielsweise zu den Landgütern der
Junker, die er zerschlagen wollte, oder zur Internierung
bestimmter Personenkategorien und deren spätere Verwendung im
Ausland als Zwangsarbeiter, deckte sich mit den Ansichten vieler,
vielleicht sogar der weit überwiegenden Mehrzahl der mit der
Deutschlandplanung
beschäftigten
Leute.
Die
entsprechenden
politischen Forderungen verschwanden nicht in den Papierkörben,
sondern wurden regelmäßig erneuert. In den Diskussionen der
folgenden Monate wurden diese beiden Themen nie Gegenstand
politischer Auseinandersetzungen
II* F. Oppenheimer, ebd.
190 F. Oppenheimer, ebd., Abs.Nr. B.II.
191 J.J. McCloy, "Memorandum for General Hilldring", 27.03.1944 RG
107 ASW 387
192 J.P. Warburg, Deutschland - Brücke oder Schlachtfeld, S. 290
79
innerhalb der einzelnen Ministerien oder zwischen diesen. Beide
Themen gehörten - wie wir noch sehen werden - zu den politischen
Bereichen, in denen weitestgehender Konsens bestand.
IV. Die "heiße Phase" der US-Besatzungsplanung, August 1944 August 1945
IV. 1. Finanzminister Morgenthau schaltet sich in die Planungen
ein
Eine ganz neue Dimension bekam die amerikanische Deutschland- und
Besatzungsplanung im Hochsommer 1944 durch den im USFinanzministerium
ausgearbeiteten
sogenannten"Morgenthau-Plan". Die Genesis dieses Planes hat in der
historischen
Literatur
bereits
eine
umfassende
Würdigung
erfahren193. Neben der Entwicklung, den Hintergründen und Zielen
der Casablanca-Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation"
("unconditional surrender") vom Januar 1943194 gehört diese
Episode zweifellos zu den mit am besten und ausführlichsten
untersuchten Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges, soweit es die
amerikanische und alliierte Nachkriegsplanung betrifft. Man muß
sich jedoch davor hüten, diesen Plan, seine Entwicklung, seine
Annahme durch Roosevelt und Churchill und nicht zuletzt auch das
(zumindest
teilweise)
wieder
Fallenlassen
als
isolierten
historischen Vorgang zu sehen. Der Plan steht vielmehr, trotz
aller
mit
ihm
verbundenen
Auseinandersetzungen
in
den
federführenden amerikanischen Ministerien, in einer
193
Vgl. nur H.G. Gelber, Der Morgenthau-Plan, in: VfZG 1965, S. 372
ff.; G. Moltmann, Der Morgenthau-Plan als historisches Problem, in:
Wehrwissenschaftliche Rundschau (V), 1955, s. 15 ff.; J.L. Chase,
The Development of the Morgenthau-Plan through the Quebec
Conference, in: Journal of Politics 1954,
S. 324 ff.. Die Einordnung des Planes in den Zusammenhang der
gesamten amerikanischen Besatzungsplanung findet sich u.a. bei P.Y.
Hammond, Directives for the Occupation of Germany: The Washington
Controversy, S. 348 ff.; J.L. Snell, Wartime Origins of the EastWest-Dilemma over Germany, S. 64 ff.; G. Moltmann, Amerikanische
Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 121 ff..
194
Vgl. dazu noch unten 2. Teil
80
gewissen Planungskontinuität, die als Anknüpfungspunkt nicht nur
(aber auch) die Casablanca-Formel hat.
a. Kein unmittelbarer Planungsbedarf bis zum Sommer 1944. Die
Wurzeln des Plans reichen bis in das Jahr 194 3 zurück. Denn
bereits im Juni 1943 legte Robert McConnell, Mitarbeiter im
Finanzministerium,
Ölmanager
und
damals
Verwalter
der
amerikanischen IG-Farben-Werke195, eine "Vorstufe des MorgenthauPlanes"196 vor197. In seinem Memorandum vom 25. Juni 1943, das zu
diesem Zeitpunkt "a far cry from the post war Problems" (Joseph
O'Connell, jr.)198 war, gab McConnell erste Anregungen für die
wirtschaftliche Nachkriegskon- trolle Deutschlands. Er empfahl
eine lange Waffenstillstandsperiode, in der die Sieger die
deutsche Wirtschaft kontrollieren, kriegswichtige Produktionen
wie die synthetische Herstellung von Benzin und Stickstoff
abbauen und beseitigen und die übermäßige Vorratsbildung bei
bestimmten Rohstoffen verbieten sollten. Er versprach sich davon
eine starke Limitierung eines neuen deutschen Kriegspotentials,
die Deutschland eine zukünftige Bedrohung des Friedens unmöglich
mache199.
Diese im Finanzministerium entstandene Denkschrift hatte jedoch
zunächst keine weiteren Folgen. Die Zeit war offensichtlich noch
nicht reif, um bei den Planungen für Deutschland über generelle
Absichtsbekundungen hinaus zu einer ins einzelne gehenden
Erörterung zu kommen. Dies mußte sich allerdings zwangsläufig
ändern, als im Juni 1944 die Amerikaner und Briten über die
nordfranzösische Küste in Frankreich vorstießen, mit Blick in
Richtung Deutschland. Wollte man nicht gänzlich unvorbereitet in
Deutsch-
195 Zu den verschiedenen Aufgaben, die Robert McConnell im Laufe des
Krieges im Finanzministerium wahrnahm, vgl. J.M. Blum, Deutschland ein
Ackerland? Morgenthau und die amerikanische Kriegspolitik 1941-1945, S.
11 196 W. Krieger, General Lucius D. Clay und die amerikanische
Deutschlandpolitik 1945-1949, S. 29 197 Text in: Morgenthau Diary
(Germany), Hrsg. A. Kubek, Committee
on the Judiciary, U.S. Senate, 2 Vol., S. 353 ff.;
zusammenfassend W. Krieger, ebd., S. 29 f.
198 Morgenthau Diary (Germany), S. 354 199
Morgenthau Diary (Germany), S. 354 ff.
81
land einmarschieren, dann mußten schnellstmöglich Grundsätze über
die
politischen,
wirtschaftlichen
und
organisatorischen
Zielvorstellungen entwickelt werden. Das Bewußtsein für die
Dringlichkeit der Aufgabe war besonders ausgeprägt bei SHAEF.
Eisenhower und seinen Planungsoffizieren war klar, daß die
Verwaltung eines besetzten Deutschland eine Vielzahl von
Problemen aufwerfen würde, die nur durch gezielte Weisungen,
möglichst in einem Dokument zusammengefaßt, in den Griff zu
bekommen waren. Zwar war Eisenhower mit einer Direktive der CCS
ausgerüstet, die unter dem Aktenzeichen CCS 551 bekannt wurde.
Diese Direktive sollte jedoch ausdrücklich nur für die Zeit der
Militärregierung in Deutschland vor dessen Niederlage oder
Kapitulation gelten200. Was danach zu geschehen hätte, lag noch
völlig im Dunkeln.
b. Morgenthaus erste Kontakte mit der bisherigen US-Pla- nung.
Ausgelöst wurde die Washingtoner Kontroverse, als Henry
Morgenthau auf einem Flug nach London von seinem Assistenten
Harry Dexter White die Kopie einer Denkschrift erhielt, die in
einer interministeriellen Arbeitsgruppe erstellt worden war
(Executive Committee on Economic Foreign Policy = ECEFP), der
White als Vertreter des Finanzministeriums angehörte, und deren
Vorsitz Dean Acheson, Unterstaatssekretär im Außenministerium,
innehatte201. Die kurz zuvor fertiggestellte Denkschrift befaßte
sich mit Reparationen, Restitutionen und Eigentumsrechten in
Deutschland202. Die wirtschaftlichen und politischen Ziele der
amerikanischen Regierung wurden darin folgendermaßen zusammengefaßt:
1. Aufrechterhaltung des Friedens durch ein System kollektiver
Sicherheit und die Entwaffnung der Aggressoren.
200
201
202
82
Zu Inhalt und Entstehung der Direktive CCS 551 vgl. unten 1. Teil
IV.5.
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 342 ff.
Text des ECEFP-Memorandums "Summary: Report on Reparations,
Restitutions and Property Rights - Germany" vom
31.07./04.08.1944 in: Morgenthau Diary (Germany), S. 679 ff.;
FRUS 1944 I, S. 287 ff.
2. Schnelle Rückkehr zu einem multilateralen System des internationalen Handels und Finanzwesens durch die Abschaffung
übermäßiger Hindernisse für den Handel mit Gütern und Kapital.
3. Schnelle Wiederherstellung
beeinträchtigten Gebiete.
und
Sanierung
der
vom
Krieg
4. Aufrechterhaltung einer hohen Beschäftigungsrate und eines
hohen Lebensstandards.
5. Für Deutschland wurden zwar Einschränkungen von diesen
Grundsätzen erwogen, eine vollkommene Eliminierung des deutschen
Wirtschaftspotentials jedoch absolut ausgeschlossen: Zwar sollte
Deutschland die Wirtschaftsdominanz in Europa genommen und das
deutsche Kriegspotential überwacht werden. Das bedeutete jedoch
keine ausgedehnte und dauernde Beeinträchtigung der ganzen
deutschen
Industrie.
Weiterhin
sollten
in
Deutschland
demokratische
Einrichtungen,
einschließlich
einer
freien
Gewerkschaftsbewegung, gegründet und Deutschland schließlich in
die Weltwirtschaft integriert werden203. Reparationsleistungen,
legte das Memorandum fest, sollten in einem Zeitraum von fünf
Jahren durch Warenlieferungen, bei einer Ausweitung auf zehn
Jahre möglicherweise auch in Geld erbracht werden. Diese
Konzentration des Augenmerks auf Sachgüter entsprang der in den
zwanziger Jahren gemachten Erfahrungen204. In der Denkschrift
hatten vornehmlich die Anschauungen des Außenministers ihren
Niederschlag gefunden205.
Morgenthau meinte später, er habe das Memorandum zuerst mit
Interesse, dann zweifelnd und schließlich mit heftigem Widerspruch gelesen206. Dem Memorandum mangelte es nach seinem
Urteil an einer Auseinandersetzung mit der für ihn grundlegenden
Frage:
FRUS 1944 I, S. 288
FRUS 1944 I, S. 295
205 O. Nübel. Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber
Deutschland 1941-1945, S. 83
106 H. Morgenthau, jr., "Our Policy Toward Germany", The New York post,
24.11.1947, S. 2
103
104
83
" - the establishment of conditions which
would
prevent
Germany
from
imposing
devastation and terror upon a helpless
Europe for a third time in a single
century."
Er habe dann versucht, berichtete Morgenthau weiter, alles über
die amerikanischen Planungen für Deutschland herauszufinden, um
feststellen zu können, ob diese Art des Denkens charakteristisch
sei207.
Entgegen Morgenthaus Vermutung hatte die ECEFP sich durchaus die
Frage vorgelegt, wie das deutsche Kriegspotential unter Kontrolle
gehalten werden könnte. Anders als Morgenthau hatte die
Arbeitsgruppe unter der Ägide des Außenministeriums jedoch schon
recht frühzeitig erkannt, daß jede andere Politik, als die einer
Rückführung Deutschlands mit allen seinen Ressourcen in den
Welthandel, an der Realität Vorbeigehen würde. Ziel der
amerikanischen Politik in Deutschland müsse es sein, so
vermeldete das ECEFP in einem zweiten Memorandum, Frieden und
Sicherheit in der Welt zu stützen, indem man helfe, Bedingungen
in der wirtschaftlichen Sphäre zu erzeugen, die die Gefahr einer
zukünftigen Aggression durch Deutschland beseitigten. Lange
anhaltende
Kontrollen
über
die
deutsche
Wirtschaft
aus
Strafzwecken oder aufgrund der Suche nach Sicherheit zu
verhängen, stehe im Gegensatz zu den Zielsetzungen der
amerikanischen Politik208. Auch im Hinblick auf das deutsche Volk,
das wußte man im ECEFP, wäre eine solche Politik völlig unrealistisch:
"An indefinitely continued coercion of more
than sixty million technically advanced
people, however, would at best be an
expensive undertaking and would afford the
world little sense of real security. More
important still, there exists no convincing
reason to anticipate that the victor powers
would be willing and able indefinitely to
apply coercion.
207
208
H. Morgenthau, jr., ebd.
FRUS 1944 I, S. 279
For the longer run, therefore, only those
economic measures should be envisaged which
are a part of general arrangements for
collective security and which could be
applied to each and every major power whose
actions were deemed to constitute a threat
to
the
maintenance
of
peace
and
security."20®
Morgenthau jedoch war zu einer differenzierenden Beurteilung
Deutschlands und des deutschen Volkes weder fähig noch bereit.
Ein weiteres Dokument, das ihm sein Mitarbeiter bei SHAEF in
London, Colonel Bernard Bernstein, während der Europareise in die
Hände spielte, vergrößerte Morgenthaus Befürchtung vor einer zu
milden Behandlung Deutschlands noch. Bei diesem Dokument handelte
es sich um ein "Basic Handbook for Military Government of
Germany". Erstellt hatte dieses Handbuch die sogenannte "German
Country Unit", eine im Februar 1944 in der G-5 Abteilung von
SHAEF gebildete Landeseinheit für Deutschland, die die Funktionen
der Militärregierung in Deutschland übernehmen und den dafür
notwendigen Apparat solange bereitstellen sollte, bis die
Kontrolle durch eine Alliierte Hohe Kommission übernommen würde.
Bei ihrer Gründung arbeitete diese Einheit, ebenso wie SHAEF G-5
überhaupt, ohne jegliche politische Richtlinie210.
Im Laufe des Frühjahrs und Sommers 1944 waren insgesamt drei
Entwürfe des Handbuches vorbereitet worden, zusammen mit
verschiedenen funktionalen Dienstvorschriften mit detaillierten
Plänen für die öffentliche Sicherheit, örtliche und regionale
Militärverwaltung und andere Dinge211. Die Autoren des Handbuches
machten einen Unterschied zwischen der nationalsozialistischen
Regierung und dem deutschen Volk212. Die Deutschland-Abteilung bei
SHAEF bereitete ausführliche Besatzungspläne vor,
109
110
211
112
FRUS 1944 I, S. 279
C.F. Latour/Th. Vogelsang, Okkupation und Wiederaufbau, S. 33
H. Zink, American Military Government in Germany, S. 43
H.G. Gelber, VfZG 1965, S. 378
85
"... die eher auf einen konstruktiven
Pragmatismus als auf negative Strafmaßnahmen hinausliefen, jedoch alles andere
als 'weich' waren. Zwar erkannten sie die
Nutzlosigkeit einer Revanchepolitik, doch
sahen sie eine gründliche Umbildung des
deutschen
Regierungsapparates
und
die
Liquidierung des deutschen Kriegspotentials
vor. Die Deutschland-Abteilung faßte es als
eine Aufgabe der Militärregierung auf, die
Erholung der deutschen Wirtschaft zu
beschleunigen und die Verantwortung dafür
zu übernehmen, daß für die deutsche
Bevölkerung die Härten gemildert würden.
"213 _
Das im Juni 1944 fertiggestellte Militärregierungs-Handbuch, das
dementsprechend eine "feste, aber gerechte" Behandlung (G.
Moltmann)214 der Deutschen propagierte, war für Morgenthau der
letzte Anstoß zur Einmischung in die amerikanische Deutschlandund Besatzungsplanung. In Gesprächen mit General Eisenhower und
führenden britischen Politikern (Churchill, Eden, Anderson)
äußerte er daraufhin erstmals Vorstellungen über eine komplette
Zerstörung
der
deutschen
Industrie
und
die
Überführung
Deutschlands
in
einen
Agrarstaat.
Widerstand
seiner
Gesprächspartner
erklang
kaum,
aber
auch
vorbehaltlose
Befürwortung kam nicht zum Ausdruck215. Noch verhielten sich die
Briten, offensichtlich überrascht durch derartig rigorose und
realitätsferne Gedanken, Morgenthau gegenüber eher indifferent.
c. Morgenthaus Einfluß auf den Präsidenten und Roosevelts erste
Stellungnahme.
Nach Washington zurückgekehrt, wandte sich
Morgenthau gleich am darauffolgenden Tag an Roosevelt, um ihn
über die Ergebnisse der Reise zu informieren, ganz
213
214
215
86
C.F. Latour/Th. Vogelsang, Okkupation und Wiederaufbau, S. 33 ff.;
vgl. auch H. Zink, American Military Government in Germany, S. 19
f.
G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg,
S.
122
Zu den in Großbritannien geführten Gesprächen Morgenthaus vgl. J.L.
Chase, Journal of Politics 1954, S. 329 ff.. Die zeit_ weilig
vertretene These, Eisenhower sei der eigentliche Urheber des
Morgenthau-Planes gewesen, widerlegt G. Moltmann, Wehrwiss.
Rundschau V, 1955, S. 19 f..
besonders aber über die amerikanische und anglo-amerikani- sche
Nachkriegsplanung. Roosevelt sagte nach Morgenthaus Bekundung bei
diesem Gespräch, man müsse mit dem ganzen deutschen Volk hart
sein, nicht nur mit den Nazis216. Am 25. August händigte der
Finanzminister dem Präsidenten ein SHAEF-Handbuch und ein
Memorandum aus, in dem er Auszüge aus dem Handbuch aufgeführt
hatte217. In der am selben Tag stattfindenden Kabinett-Sitzung
deutete Roosevelt bereits an, daß er gegenüber Deutschland eine
harte Linie zu fahren beabsichtige. Unter Hinweis auf den hohen
Grad der Industrialisierung Deutschlands und deren große
Bedeutung für ganz Europa versuchte Kriegsminister Stimson
Einfluß auf Roosevelts Überlegungen zu gewinnen. Man einigte sich
schließlich, einen Kabinetts-Ausschuß ("cabinet committee")
zusammenzurufen, bestehend aus dem Außen-, dem Kriegs- und dem
Finanzminister, um dort das Problem der Behandlung Deutschlands
zu erörtern218.
Nachdem Roosevelt die Eingaben Morgenthaus vom Vortag gelesen
hatte, schickte er seinem Kriegsminister am 26. August ein
geharnischtes
Memorandum,
in
dem
er
den
Inhalt
des
Militärregierungs-Handbuches scharf angriff:
"This so-called 'Handbook' is pretty bad.
... If it has not been sent out as
approved, all copies should be withdrawn
and held until you get a chance to go over
it.
It gives me the impression that Germany is
to be restored just as much as The
Netherlands or Belgium, and the people of
Germany brought back as quickly as possible
to their pre-war estate.
It is of the utmost importance that every
person in Germany should realize that this
time Germany is a defeated nation. I do not
want them to starve to death but, as an
example, if they need food to keep body and
soul together beyond what they have, they
should be fed three times a day with soup
from Army soup kitchens. That will keep
them
116
117
118
Vgl. H.G. Gelber, VfZG 1965, S. 381
Morgenthau Diary (Germany), S. 440 ff.
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 355
87
perfectly healthy and they will remember
that experience all their lives. The fact
that
they
are
a
defeated
nation,
collectively and individually, must be so
impressed upon them that they will hesitate
to start any new war."219
Damit stellte sich Roosevelt eindeutig auf die Seite seines
Freundes Henry Morgenthau. Die Besetzung Deutschlands sollte eine
Art Strafaktion sein, die sich aber nicht nur gegen die
nationalsozialistische Regierung, sondern gegen alle Deutschen
richten mußte. Die These von der Kollektivschuld der Deutschen
klingt dabei bereits unüberhörbar mit. In Roosevelts Deutschlandund Weltbild hatten sich die Deutschen als Volk gegen die
"moderne Zivilisation" vergangen. Er schrieb am Ende des
Memorandums an Stimson:
"Too many people here and in England hold
to the view that the German people as a
whole are not responsible for what has
taken place - that only a few Nazi leaders
are responsible. That unfortunately is not
based on fact. The German people as a whole
must have it driven home to them that the
whole nation has been engaged in a lawless
conspiracy against the decencies of modern
civili- zation."220
Solche destruktiven Zielsetzungen mußten für alle konstruktiven
und realistischen Deutschlandplanungen das Ende bedeuten. Sie
waren gleichzeitig aber auch eine Gefahr für die Zukunft Europas,
die nicht zuletzt von der Wirtschaftskraft Deutschlands und der
friedlichen Stabilität und Koexistenz in der Mitte des Kontinents
abhängig war. Roosevelts Destruktivismus war ein starker
Rückschlag vor allem für das Kriegsministerium, weil ja gerade
das Militär im besetzten Deutschland die Dinge in die Hand nehmen
mußte, um in dem absehbaren Chaos für Ruhe und Ordnung zu sorgen.
Und um eine vernünftige Politik betreiben zu können, benötigte
man ebenso vernünftige politische Zielvorgaben aus Washington.
Der von Roosevelt im Sog von
219
220
Morgenthau Diary (Germany), S. 443
Morgenthau Diary (Germany), S. 445
Henry Morgenthau eingeschlagene Weg konnte deshalb die Planer im
Kriegsministerium
nicht
zufriedenstellen,
wenngleich
Unterstaatssekretär McCloy und CAD-Chef General Hilldring nach
eigenem Bekunden im wesentlichen mit der vom Präsidenten
vertretenen Ansicht übereinstimmten221. Nach der Aufhebung des
Handbuches durch den Präsidenten stand die Armee erneut ohne
Direktive oder sonstige Anleitung für die Nach-Kapitulationszeit
da. Das Kriegsministerium befand sich in einer ungewöhnlichen und
verzwickten Lage. Die Hoffnungen, nur für eine kurze Zeit in
Deutschland Verantwortung tragen zu müssen, in der man in der
Militärregierung eine Art politische Neutralität walten lassen
und die politischen Fragen bis zu einem späteren Zeitpunkt, nach
der Militärregierungs-Zeit, aufschieben könne, wurden zunehmend
geringer. Wollte man sich nicht nur zum Sprecher der Politik
anderer Ministerien machen und den Kopf für Maßnahmen hinhalten,
die man zwar als dafür verantwortliches Ministerium ausführte,
deren geistige Urheberschaft aber bei anderen lag, dann war jetzt
der Moment gekommen, die politisch neutrale Haltung zugunsten
einer aktiven politischen Teilhabe an der Diskussion aufzugeben.
Die Möglichkeiten dafür boten sich für Stimson insbesondere am
Kabinettstisch und in dem neu geschaffenen Kabinetts- Ausschuß222
.
IV.
2. Entstehen und Inhalt das Morgenthau-Plans
a. Erster Entwurf des Morgenthau-Plans, 2. September 1944. Am 2.
September 1944 hielt der Kabinetts-Ausschuß eine vorbereitende
Sitzung ab, an der die Stellvertreter der Minister teilnahmen.
Das Finanzministerium nutzte die Gelegenheit, indem es durch
Harry D. White einen ersten Entwurf dessen vorlegte, was später
unter der Bezeichnung "Morgent- hau-Plan" eine so traurige
Berühmtheit erlangte. Dieser Entwurf trug die Überschrift:
"Suggested Post-Surrender Program for Germany"223. Entstanden war
das Papier in einer
221
222
223
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 356
P.Y. Hammond, ebd., S. 358 ff.
Text des Entwurfs: FRUS The Conference at Quebec 1944, S. 86 ff.;
Morgenthau Diary (Germany), S. 463 ff.
89
von Harry D. White geleiteten Arbeitsgruppe des Finanzministeriums, die Morgenthau unmittelbar nach seiner Rückkehr aus
Europa zusammengestellt hatte224. Am 1. September hatte das
Finanzministerium eine Kopie des Entwurfes an Morgenthau
geschickt, der sich zu dieser Zeit in seinem Wohnort Fishkill,
N.Y., aufhielt, ganz in der Nähe von Roosevelts Anwesen in Hyde
Park, N. Y. . Am selben Tag, als in Washington die Mitarbeiter
des Ministeriums zur vorbereitenden Sitzung des KabinettsAusschusses zusammentrafen, übergab Morgenthau Roosevelt den
Entwurf des Finanzministeriums226. Das zehn Punkte umfassende
Programm sah im einzelnen vor:
1. Vollständige
Entmilitarisierung
kürzestmöglichen Zeit.
Deutschlands
in
der
2. Teilung Deutschlands durch Verlust von Grenzgebieten im Osten
an Polen und die Sowjetunion, im Westen an Frankreich und im
Norden an Dänemark und die Schaffung dreier Staaten: ein
Südstaat, ein Nordstaat und eine Internationale Zone im
Ruhrgebiet und angrenzenden Industriegebieten (Rheinland) . Im
Anhang zum Programm befand sich eine Karte mit den vorgeschlagenen Grenzen.
3. Internationalisierung der Ruhr und Übertragung des Eigentums
und der Kontrolle des größeren Industriebesitzes auf eine
internationale Organisation, die diese Zone regieren solle. Die
Organisation solle sich weiterhin von zwei allgemeinen
Prinzipien leiten lassen: Die natürlichen Ressourcen und die
Industrie-Kapazität der Ruhr dürften nicht derart verwendet oder
entwickelt werden, daß dadurch in irgendeiner Form etwas zum
deutschen Militärpotential an der Ruhr beigetragen werde. Die
Zone solle ein Freihandelsgebiet, die Einfuhr von Kapital jedoch
verhindert werden.
4. Keine
Reparationen
in
der
Form
laufender
Zahlungen
Lieferungen. Restitutionen und Reparationen sollten gelei-
224
225
226
90
Vgl. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 353, 361 f.
Morgenthau Diary (Germany), S. 463
FRUS Quebec 1944, S. 86, Anm.l
und
gtet werden durch den Transfer existierender deutscher Ressourcen
und Territorien. Als Reparationsleistungen schlug Morgenthau
unter anderem die Nutzung deutscher Zwangsarbeit außerhalb
Deutschlands und die Beschlagnahme deutscher Auslandsguthaben
vor.
5. Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern. Alle
Mitglieder bestimmter Gruppen (S.S., Gestapo, alle hohen
Offiziellen von Polizei, S.A. und anderen Sicherheitsorganisationen, alle hohen Regierungs- und Nazi-Partei-Offi- ziellen,
alle bekannten Persönlichkeiten, die eng mit dem Nazismus
verbunden waren) sollten zurückgehalten werden, bis der Umfang
der Schuld jedes einzelnen festgestellt sei. Schon die
Mitgliedschaft in der S.S., Gestapo und ähnlichen Gruppen solle
die Grundlage bilden für ihre Einbeziehung in ZwangsarbeitsBataillone.
Auflösung der NSDAP und aller angeschlossenen Organisationen.
Entlassung der Angehörigen bestimmter Gruppen (NSDAP- Angehörige,
Nazi-Sympathisanten, Junker und Offiziere) aus öffentlichen
Ämtern, und ihre Nichtbeschäftigung in bestimmten Berufen (vor
allem im Unterrichts- und Rechtswesen) .
Zerbrechen aller Junker-Liegenschaften und Aufteilung unter
Kleinbauern und Abschaffung des Systems des Erstgeburtsrechts und
der festgelegten Erbfolge.
6. Aufhebung aller Vorkapitulations-Gesetze, -Verordnungen und Vorschriften, die auf der Grundlage von Rasse, Hautfarbe,
Glaubensbekenntnis und politischer Meinung diskriminierten.
7. Schließung aller Schulen und Universitäten. Keine weiteren
Veröffentlichungen der deutschen Presse und keine weiteren
Sendungen deutscher Radiostationen.
91
8. Politische
Dezentralisierung
durch
Unterstützung
der
Wiedereinrichtung der Länderregierungen, auch im Hinblick auf die
geplante Teilung Deutschlands.
9. Der alleinige Zweck des Militärs in der Kontrolle der
deutschen Wirtschaft sei die Förderung militärischer Operationen
und der militärischen Besetzung. Die alliierte Militärregierung
solle keine Verantwortung übernehmen für wirtschaftliche Probleme
wie Preiskontrollen, Rationierung, Arbeitslosigkeit usw. oder
irgendwelche Maßnahmen zur Aufrechterhaltung oder Stärkung der
deutschen Wirtschaft vornehmen .
10. Die Ausführung dieses Programms liege in der gemeinsamen
Verantwortlichkeit der Vereinten Nationen. Aus praktischen
Gründen spielten die USA, Großbritannien und die Sowjetunion die
Hauptrolle in der Entmilitarisierung Deutschlands, während die
Ausführung anderer Teile des Programms am besten durch die
Nachbarn Deutschlands gehandhabt werden könne.
Am Ende des Programms wurde noch darauf hingewiesen, daß die
Durchführung dieses Planes es erlauben könnte, die amerikanischen
Truppen in einer recht kurzen Zeit zurückzuführen227 .
In der vorbereitenden Sitzung legte neben dem Finanzministerium
auch das Außenministerium ein Deutschland-Programm vor .
Meinungsunterschiede zeigten sich vor allem in zwei Bereichen: in
der Teilungsfrage und in der Frage nach der Behandlung der
deutschen Wirtschaft. Das Problem der staatlichen Einheit
Deutschlands beinhaltete für das Außenministerium nicht die
etwaige Abtrennung von Ostpreußen und Danzig und ihre
Angliederung an Polen. Diese Möglichkeit wurde durchaus
zugestanden.
Eine
Zerstückelung
Deutschlands
in
mehrere
selbständige Staaten, wie es auch in dem Memorandum des
Finanzministeriums zu lesen war,
227
228
92
FRUS Quebec 1944, S. 86 ff.
FRUS Quebec 1944, S. 81 ff.
werde jedoch den damit verbundenen politischen Zielsetzungen
nicht gerecht. Jedes Wiederaufleben einer deutschen Aggression
werde dadurch nämlich nicht verhindert. Eine solche Maßnahme
mache die Notwendigkeit weitreichender Sicherheitskontrollen über
Deutschland für eine unbestimmte Zukunft nicht überflüssig. Wegen
des hohen Grades an ökonomischer, politischer und kultureller
Integration in Deutschland sei zu erwarten, daß die Teilung nicht
nur mit Gewalt auferlegt, sondern auch aufrechterhalten werden
müsse. Die siegreichen Mächte würden dann eine lästige und
niemals endende Aufgabe übernehmen mit der Verhinderung
heimlicher Zusammenarbeit zwischen den geteilten Staaten und der
Zurückhaltung nationalistischer Entschlossenheit, sich wieder zu
vereinen, was nach aller Wahrscheinlichkeit die Antwort des
deutschen Volkes sein werde. Statt einer Teilung Deutschlands
empfahl
das
Außenministerium,
müßten
alle
Anstrengungen
unternommen werden, in Deutschland ein föderales Regierungssystem
zu fördern229. Dadurch wollte man die Nachteile sowohl einer
Teilung als auch des zentralistischen Regierungssystems in
Deutschland vermeiden230.
Obwohl die Autoren des State Department-Memorandums, Matthews und
Riddleberger, bis zum 2. September noch keinen schriftlich
fixierten Plan Morgenthaus gesehen hatten, waren ihnen die
Vorstellungen Morgenthaus zur Agrarisierung Deutschlands dennoch
geläufig. Sie machten deshalb in dem Memorandum des State
Department auf die durch eine derartige Politik mit aller
Wahrscheinlichkeit hervorgerufenen Folgen aufmerksam. Falls man
sich auf ein weitreichendes Programm industrieller Zerstörung und
Demontage einige, sei es offensichtlich, daß es beträchtliche und
wichtige Veränderungen in der Wirtschaft ganz Europas mit sich
bringe. Es sei außerdem sehr zweifelhaft, ob ein solcher Plan,
demzufolge Deutschland überwiegend zu einem Agrarstaat gemacht
werden solle, durchgeführt werden könne, ohne die Beseitigung
oder Emigration mehrerer Millionen Deutscher. Falls
229
230
FRUS Quebec 1944, S. 82 f.
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 361
93
die Amerikaner für ein "wrecking program" einträten, müßten sie
wegen der Auswirkungen auf die ganze Ökonomie Europas mit
erheblichem Widerstand in Europa rechnen231.
Damit blieb das Außenministerium seiner bisherigen Linie treu,
wonach man bestrebt war, in einem dezentralen, aber als Staat
grundsätzlich erhaltenen Deutschland, eine Friedenswirtschaft
aufzubauen, unter internationaler Kontrolle, zum Wohl des
gesamten alten Kontinents. Die anderen in dem Memorandum
aufgeführten. Punkte zeugten von dem interministeriellen Konsens
in den anderen Bereichen der Deutschlandplanung: Auflösung und
Entwaffnung der deutschen Streitkräfte, der paramilitärischen und
polizeilichen Organisationen; Liquidation der NSDAP und ihrer
Erscheinungsformen;
Aufhebung
aller
Gesetze
mit
nationalsozialistischem Inhalt oder sonst aufgrund der Rasse, der
Hautfarbe, des religiösen Bekenntnisses oder der politischen
Einstellung diskriminierender Bedeutung. Parteimitglieder sollten
von politischen oder zivilen Aktivitäten ausgeschlossen und einer
Anzahl
von
Restriktionen
unterworfen
werden.
Politische
Tätigkeiten sollten grundsätzlich verboten werden, Ausnahmen nur
von der "Supreme Allied Authority" zugelassen werden. Adolf
Hitler, seine Hauptgefährten in der NSDAP, Amtsträger auf
Ministerialebene oder andere, die im Besitz wichtiger Posten
waren, Verdächtige eines Kriegsverbrechens und andere von den
drei Hauptalliierten zu bestimmende Personen sollten in Haft
genommen und bis zu einer "späteren Anordnung" ("subsequent
disposition")
festgehalten
werden.
Außerdem
sollten
alle
vorhandenen Informationsdienste (Presse, Radio etc.) und alle
Kommunikationskanäle unter einer von der "Supreme Allied
Authority" formulierten Politik verwaltet werden232.
Die Fronten, aber auch eine Fülle an Gemeinsamkeiten, waren somit
zwischen Außen- und Finanzministerium abgesteckt. Aber Morgenthau
selbst war mit dem Entwurf seiner eigenen Mitarbeiter nicht
völlig einverstanden. Ihm war der Plan
231
232
FRUS Quebec 1944, S. 84 f.
FRUS Quebec 1944, S. 83 f.
noch nicht hart genug. Insbesondere die Ruhr erschien ihm nach
dem vorliegenden Plan noch zu sehr intakt zu bleiben. Er zog
einen Plan vor, der die vollständige Demontage der Ruhrindustrie
und ihre Verteilung unter die Nationen, die Deutschland zum Opfer
gefallen waren ("which had been vic- tims of Germany"), vorsah233.
b. Erste Sitzung des Kabinetts-Ausschusses, 5. September 1944. Am
5. September 1944 trat erstmalig der Kabinetts- Ausschuß
zusammen. Außenminister Hull präsentierte seinen Kollegen Stimson
und Morgenthau sowie Harry Hopkins ein von Riddleberger
entworfenes Memorandum. Riddleberger machte darin den Versuch,
unter Beibehaltung der Gemeinsamkeiten die Entscheidung über
Themen mit Divergenzcharakter vorläufig zurückzustellen. Erst
müsse man sich ein Bild über die innere Situation in Deutschland
schaffen und über die Haltung der Alliierten in dieser Frage,
bevor man eine Entscheidung für oder gegen die Teilung treffen
könne.
Allerdings sollte eine Dezentralisierung gefördert und, wenn
Tendenzen hin zu einer spontanen Teilung Deutschlands aufkämen,
diese nicht entmutigt werden. Seperatistische Tendenzen waren
durchaus erwünscht. Auch hinsichtlich der deutschen Wirtschaft
sollte eine endgültige Festlegung zunächst vermieden werden. Die
amerikanische
Regierung
habe
kein
eigenes
Interesse
an
Reparationen aus Deutschland und somit auch kein Interesse am
Aufbau
der
deutschen
Wirtschaft,
um
laufende
Reparationsleistungen zu beziehen. Die Sowjetunion und das
Vereinigte Königreich, zusammen mit einer Anzahl kleiner Staaten,
könnten jedoch Ansprüche an die deutsche Produktion haben, die
sie für Zwecke der Wiederherstellung benötigten. Deshalb sollten
die Amerikaner zu dieser Zeit noch keine feste Position zur
Reparationsfrage beziehen, sondern erst einmal die Ansichten der
unmittelbar interessierten Regierungen abwarten234.
233
234
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 364
FRUS Quebec 1944, S. 96
Die
primären
Ziele
amerikanischer
Wirtschaftspolitik
in
Deutschland waren jedoch, in Abwendung von bisherigen Denkschriften des State Department, mit eindeutig negativen
Vorzeichen versehen: Der Lebensstandard der deutschen Bevölkerung
sollte auf dem Existenzminimum gehalten werden, Deutschlands
Position als Wirtschaftsmacht in Europa sollte gebrochen und
seine Wirtschaftskapazität in einer Weise umgewandelt werden, so
daß es abhängig vom Im- und Export sei und nicht durch eigene
Vorhaben
auf
Kriegsproduktion
umgestellt
werden
könne235.
Genereller
Konsens
herrschte
über
die
Entmilitarisierung Deutschlands,
Auflösung
nationalsozialistischer Gliederungen, Internierung einer großen
Zahl SS- und Gestapo-Angehöriger ("Large groups of particulary
objectionable elements, especially the SS and the Gestapo, should
be arrested and interned"), Verurteilung von Kriegsverbrechern,
Entfernung von Parteimitgliedern aus politischer und ziviler
Tätigkeit und Unterwerfung unter zahlreiche Einschränkungen,
Aufhebung nationalsozialistischer Rechtsvorschriften, umfassende
Kontrolle
der
Kommunikations-,
Presseund
Propagandaeinrichtungen sowie des Schul- und Erziehungssystems.
Daneben hatte das State Department auch eine Forderung aus dem
ersten Morgenthau-Plan übernommen, wonach die großen JunkerLiegenschaften, die angeblich die Grundlage für das Bestehen
einer "Militär-Kaste" in Deutschland gewesen seien, zerbrochen
und der Grundbesitz an die Pächter ("tenants") verteilt werden
müsse236.
Morgenthau stand dem Kompromißvorschlag des Außenministeriums
jedoch sehr skeptisch gegenüber. Zwar waren Hull und Riddleberger
deutlich auf ihn zugegangen, doch konnte ihn das noch nicht
zufriedenstellen, weil das eindeutige Ziel des Finanzministers,
die Agrarisierung Deutschlands, auch durch dieses vermittelnde
Dokument noch nicht zum Programmpunkt erhoben wurde. Morgenthau
bezog deshalb in der Sitzung noch keine abschließende Stellung zu
diesem Entwurf237.
235
236
237
96
FRUS Quebec 1944, S. 97
FRUS Quebec 1944, S. 96
Hull, Memoirs, S. 1608 f.
Kriegsminister Stimson wandte sich als einziger gegen die
negativen wirtschaftlichen Pläne des State Department. Seine
besondere Kritik richtete sich gegen den Vorschlag, der deutschen
Bevölkerung lediglich ein Leben auf dem Exi- stenzminimum zu
gewähren238. Nach Schluß der Sitzung, aber noch am selben Tag,
faßte Stimson seine Einwände in einem Memorandum zusammen, das er
an Hull sandte, damit dieser es an den Präsidenten sowie an
Morgenthau und Hopkins weiterleite239. Mit allen sonstigen Punkten
stehe er in Übereinstimmung, betonte Stimson, nur nicht mit den
vorgeschlagenen Wirtschaftsmaßnahmen. Zur Begründung verwies er
auf die große Rolle, die das Ruhrgebiet für Deutschland und für
Europa spielte, als Rohstoffquelle wie für den An- und Verkauf
wichtiger Güter in andere europäische Länder, für deren
Entwicklung die Industrie des Ruhrgebiets auch weiterhin eine
große Rolle spielen mußte240.
Stimson meinte zu den diesbezüglichen Planungen in Außen- und
Finanzministerium:241
"I cannot treat as realistic the suggestion
that such an area in the present economic
condition of the world can be turned into a
non-productive 'ghost territory' when it
has become the center of one of the most
industrialized continents in the world,
populated by peoples of energy, vigor and
progressiveness."242
Um einen Mißbrauch dieser Produktion durch Deutschland zu
verhindern, könne er sich auch ein System der Kontrolle oder
Treuhänderschaft oder die Übertragung von Eigentumsrechten an
andere Nationen vorstellen, nicht jedoch die Umwandlung eines
solchen Geschenks der Natur in einen Müllhaufen. Die ins Auge
gefaßte Übertragung des Eigentums an Ostpreußen, Oberschlesien
und Elsaß-Lothringen, die Aufer-
238
239
240
241
242
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 365
Stimson and Bundy, On Active Service in Peace and War, S. 570
ff.
Stimson-Memorandum, in: FRUS Quebec 1944, S. 98 ff.
Morgenthau Diary (Germany), S. 530 ff.
FRUS Quebec 1944, S. 99
97
legung von Wirtschaftskontrollen und die mögliche Teilung
Deutschlands in zwei oder mehr Staaten seien ausreichende
Vorsichtsmaßnahmen, die es nicht weiter notwendig machten, die
ganze Industrieproduktion im Ruhrgebiet zu zerstören. Auch sei er
nicht einverstanden, daß es eines der Ziele sein solle, die
deutsche Bevölkerung auf einem Existenzminimum festzuhalten. Dies
liefe nach seiner Ansicht auf eine Versklavung des ganzen
deutschen Volkes hinaus und lasse Spannungen und Verstimmungen
entstehen, die jegliche unmittelbare Sicherheitsvorteile weit
überträfen und dazu führen würden, die Schuld der Nazis und die
Bösartigkeit ihrer Doktrin und Taten zu verdunkeln243. Stimson
faßte am Ende seiner Denkschrift seine Folgerungen zusammen in
dem Satz:
"My basic objection to the proposed methods
of treating Germany ... was that in
addition to a system of preventive and
educative punishment they would add the
dangerous weapon of complete economic
oppression. Such methods, in my opinion do
not prevent war; they tend to breed war."244
Stimson hatte den Eindruck, alle anderen in der Frage der
Behandlung Deutschlands gegen sich zu haben, insbesondere auch
den
Außenminister.
McCloy
stellte
fest,
er
habe
den
Kriegsminister noch nie so niedergeschlagen erlebt wie nach der
Sitzung
am
5.
September245.
McCloy
hingegen
versicherte
Morgenthau, abgesehen vom Zusperren der Ruhr, das auch er für
einen Fehler halte, gehe er in den anderen Punkten mit dem
Finanzminister völlig konform246.
c. Zweite Sitzung des Kabinetts-Ausschusses, 6. September
1944. Zweite Fassung des Morgenthau-Plans. Als sich der Kabinetts-Ausschuß am 6. September zu seiner nächsten Sitzung
243
244
245
FRUS Quebec 1944, S. 99 f.
FRUS Quebec 1944, S. 100
Morgenthau Diary (Germany), S. 532 f.; Stimson selbst meinte dazu: "I
found myself a minority of one and I labored vigorously but entirely
ineffectively against my colleages. In all the four years that I have
been here I have not had such a difficult and unpleasent meeting
although of course there were no personalities", Stimson and Bundy,
On Active Service in Peace and War, S. 570
246
Morgenthau Diary (Germany), S. 583
98
im Weißen Haus zusammenfand, Ubergab Hull dem Präsidenten das
Memorandum des Außenministeriums, das er tags zuvor bereits
seinen Kollegen im Ausschuß unterbreitet hatte. Er informierte
Roosevelt, daß die Ausschußmitglieder eine Einigung über dieses
Memorandum noch nicht erzielt hätten, und es deshalb als
Diskussionsgrundlage dienen möge247.
Morgenthau legte einen überarbeiteten und verschärften Entwurf
des Finanzministeriums vor248. Seine Mitarbeiter hatten am Ende
des Schriftstücks drei Punkte eingebaut, die Roosevelt gegenüber
Morgenthau nach der Durchsicht des ersten Entwurfs aus
psychologischen und symbolischen Gründen angemahnt hatte: Verbot
des Gebrauchs von Abzeichen und Uniformen für Deutsche, Verbot
militärischer Paraden und Beschlagnahme aller Luftfahrzeuge
militärischer und nicht-militärischer Art249.
Alle anderen Änderungen beruhten auf den Gedanken Morgent- haus.
Neben der Waffenindustrie wollte er nun auch alle anderen
"Schlüsselindustrien" ("key industries"), die die Basis der
militärischen Stärke bildeten, entfernen oder zerstören lassen250.
Das Ruhrgebiet (einschließlich Rheinland, Kielkanal und alles
Gebiet nördlich des Kanals) sollte nicht nur der gegenwärtig
existierenden Industrie beraubt, sondern so geschwächt und
kontrolliert werden, daß es in absehbarer Zeit nicht wieder zu
einem Industriegebiet werden könne. Innerhalb eines Zeitraums von
nicht mehr als sechs Monaten nach Ende der Feindseligkeiten
sollten alle Industrieanlagen und Gerätschaften, die nicht schon
durch militärische Aktionen zerschlagen worden waren, vollständig
abgebaut und aus diesem Gebiet entfernt oder komplett zerstört
werden. Aus den Minen sollten alle Geräte entfernt und die Minen
selbst völlig in Trümmer gelegt werden ("... and the mines shall
be throughly wrecked."). Zur Durchführung dieses Planes schlug
Morgenthau drei Phasen
247
248
249
250
Hull, Memoirs, S. 1609
Text dieses zweiten Entwurfs des Morgenthau-Plans in: FRUS Quebec
1944, S. 101 ff.; Morgenthau Diary (Germany), S. 548
ff.
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 364, 366 FRUS
Quebec 1944, S. 101
99
vor: In der ersten Phase sollten die militärischen Einheiten
unmittelbar nach ihrem Eintreffen in dieser Gegend alle Anlagen
und Gerätschaften zerstören, die nicht weggeschafft werden
könnten. In der zweiten Phase sollten Mitglieder der Vereinten
Nationen Anlagen und Gerätschaften als Restitutionen und
Reparationen entfernen. Was nicht innerhalb von sechs Monaten
entfernt worden sei, werde dann in der dritten Phase vollkommen
zerstört oder zu Schrott gemacht (”... reduced to scrap ...") und
den Vereinten Nationen zur Verfügung gestellt werden. Allen
Leuten in dieser Gegend solle beigebracht werden, daß dieses
Gebiet niemals wieder zu einem Industriegebiet werden dürfe.
Deshalb sollten alle diejenigen mit besonderen Fähigkeiten oder
einer technischen Ausbildung ermuntert werden, auf Dauer
fortzuziehen und so weit wie möglich zerstreut werden. Dieses
Gebiet solle dann, wie es schon der erste Entwurf vorgesehen
hatte, zu einer Internationalen Zone werden, regiert von einer
von
den
Vereinten
Nationen
eingesetzten
Sicherheitsorganisation251.
Besonderes Augenmerk richtete Morgenthau in seinem zweiten
Entwurf auf die Frage der Bestrafung von Kriegsverbrechern. Zu
diesem Zweck fügte er seinem Memorandum noch einen gesonderten
Anhang
bei,
der
sich
ausschließlich
mit
diesem
Thema
auseinandersetzte252. In diesem mit "Punishment of Certain War
Crimes and Treatment of Special Groups" betitelten Zusatz befaßte
er sich zunächst mit den "Erzkriminellen" ("Archcriminals").
Morgenthau sprach sich aus für das Aufstellen einer Liste von
"Erzkriminellen", deren offenkundige Schuld von den Vereinten
Nationen anerkannt worden sei. Diese Liste sei dann den
militärischen Autoritäten zuzusenden, verbunden mit den folgenden
Instruktionen:
"(a) They (die "Erzkriminellen", d.
Verf.) shall be apprehended as soon as
possible and identified as soon as possible after apprehension, the identifi-
251
252
FRUS Quebec 1944, S. 102
FRUS Quebec 1944, S. 105 ff./Morgenthau Diary (Germany), S.
551 ff.
cation to be approved by an officer of the
General rank.
(b) When such identification has been made
the person identified shall be put to death
forthwith by firing squads made up of
soldiers of the United Nations. "253
Neben diesen summarischen Exekutionen ohne Gerichtsverhandlung
sah das Papier für andere "Kriegsverbrecher" die Aburteilung
durch
Militärkommissionen
vor,
die
von
der
alliierten
Militärregierung einzusetzen seien. Gegenstand der Verurteilung
sollten Verbrechen sein, die gegen die "Zivilisation” begangen
worden seien ("... certain crimes which have been committed
against civilization."). So schnell wie praktisch möglich sollten
Repräsentanten
der
befreiten
Länder
Europas
an
diesen
Kommissionen beteiligt werden. Die Art der "Verbrechen", wie
Morgenthau sie verstand, wurde von diesem jedoch nicht genauer
spezifiziert, wie schon die Bezugnahme auf die "Zivilisation"
andeutete. Drei Situationen führte er an, bei deren Vorliegen
eine Verurteilung zu erfolgen habe:
- Wenn die Ursache des Todes eines Menschen auf einer gegen das
Kriegsrecht verstoßenden Handlung beruhe,
- wenn das Opfer als Geisel in Vergeltung ("reprisal") für die
Taten anderer Personen getötet worden sei,
- wenn das Opfer den Tod gefunden habe wegen seiner Nationalität,
Rasse,
Hautfarbe,
seines
Religionsbekenntnisses
oder
einer
politischen Verurteilung254.
Diese Aufzählung erhob jedoch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Morgenthau erwähnte vielmehr noch, daß es auch noch
andere "Verbrechen" gebe, "as such military commissions may be
ordered to try from time to time."255.
253
254
255
FRUS Quebec 1944, S. 105 f.
FRUS Quebec 1944, S. 106
FRUS Quebec 1944, S. 106
Damit hatte Morgenthau der alliierten "Verbrechens-Rechtschöpfung" Tür und Tor geöffnet. Schon der zweite und dritte
Punkt seiner kurzen Aufzählung möglicher Kriegsverbrechen war
äußerst fragwürdig, waren Repressalien doch ein legitimes Mittel
in Kriegszeiten (bei Vorliegen entsprechender Voraussetzungen)256
und unterlagen Tötungen von Deutschen aus den im einzelnen
aufgeführten
Beweggründen
nicht
der
Gerichtsbarkeit
des
Kriegsgegners.
Jeder
Verurteilte
sollte
nach
Morgenthaus
Vorschlag
mit
dem
Tode
bestraft
werden,
und
nur
in
Ausnahmefällen, beim Vorliegen mildernder Umstände, könne auch
eine andere Bestrafung zugemessen werden, einschließlich der
Deportation in eine Strafkolonie außerhalb Deutschlands. Das
Urteil müsse unverzüglich vollstreckt werden257.
Alle Angehörigen bestimmter Gruppen sollten nach Morgenthaus Plan
in Haft genommen werden bis zu einer Entscheidung über den Umfang
ihrer Schuld. Zu diesen Gruppen gehörten die SS, die Gestapo,
alle
hohen
Amtsträger
der
Polizei,
SA
und
anderer
Sicherheitsorganisationen, alle hohen Amtsträger der Regierung
und der Partei sowie alle führenden Personen des öffentlichen
Lebens mit einer engen Verbindung zum Nationalsozialismus.
Abgesehen von der Frage nach der Schuld für besondere Verbrechen
reiche schon die bloße Mitgliedschaft in der SS, der Gestapo und
ähnlichen Gruppen dafür aus, diese Personen in ZwangsarbeitsBataillone
zu
stecken,
um
außerhalb
Deutschlands
zu
Wiederaufbauzwecken zu dienen258. Neu im Programm Morgenthaus war
auch ein rigoroses Verbot der Emigration aus Deutschland. Dieses
Verbot sollte durch eine entsprechende Proklamation bekannt
gemacht werden, Ausnahmen von einer Erlaubnis der alliierten
Militärregierung abhängen. Ein Verstoß gegen die Proklamation
sollte hohe Strafen nach sich ziehen, einschließlich der
Todesstrafe259.
256
Vgl. zu Repressalien: K.J. Partsch, Repressalie, in:
Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, S. 103 ff.
257
258
259
FRUS Quebec 1944, S. 106
FRUS Quebec 1944, S. 106 f.
FRUS Quebec 1944, S. 107 f.
102
Durch diese Ergänzungen seines ursprünglichen Planes erweiterte
Morgenthau die Anzahl der unter den drei Ministern streitigen
Themen von zwei auf drei: Neben der Teilungsfrage, die zwischen
Finanz- und Außenministerium nicht abgestimmt werden konnte, und
der Wirtschaftspolitik, in der sich Finanz- und Kriegsministerium
in den Haaren lagen, wurde nun auch die Frage nach der Behandlung
von sogenannten "Kriegsverbrechern", wie der gesamte Komplex der
"Entnazifizierung"260, aktuell. In der Sitzung vom 6. September
kam es allerdings noch zu keiner Erörterung dieses Themas.
Vermutlich waren Außen- und Kriegsministerium derart überrascht
von dem plötzlichen Vorpreschen Morgenthaus auf diesem Gebiet,
daß
es
keines
von
beiden
auf
eine
unvorbereitete
Außeinandersetzung ankommen lassen wollte. Auch von Roosevelt ist
keine Reaktion auf die neuen Vorschläge Morgenthaus, soweit sie
die Kriegsverbrecher- und Entnazifizierungsfrage betrafen,
überliefert. Stimson hatte den Eindruck, der Präsident richte die
meisten seiner Bemerkungen an seine, Stimsons, Adresse. Roosevelt
kam auf seinen Vorschlag zurück, daß Deutschland glücklich und
zufrieden von Suppe aus Suppenküchen leben könne. Dennoch schien
er Morgenthaus Überlegungen zur Zerstörung der Ruhrindustrie
nicht vorbehaltlos gewogen zu sein. Seine Bedenken entsprangen
vor allem der Überlegung, daß die Briten sich nach dem Krieg in
einer schwierigen Lage befinden würden und die Produkte der Ruhr
dann die britische Stahlindustrie mit Rohmaterial versehen
könnten261. Entscheidungen wurden noch nicht getroffen auf dieser
Sitzung des Kabinetts- Ausschusses mit dem Präsidenten.
d. Dritte Sitzung des Kabinetts-Ausschusses, 9. September 1944.
sympathisiert mit Morgenthaus Vorschlägen. Am 9.
September trat der Kabinetts-Ausschuß zum dritten Mal innerhalb
weniger Tage zusammen. Morgenthau und Stimson waren erneut mit
Denkschriften versehen, mit deren Hilfe jeder der beiden den
Präsidenten in seinem Sinne beeinflussen
Roosevelt
260 Zur Entstehung des Begriffes
"Entnazifizierung" vgl. L.
Niethammer, Entnazifizierung in Bayern, S. 12.
261 Stimson and Bundy, On Active Service in Peace and War, S. 573 f.
103
wollte. Morgenthaus Ziel war es, die Bedenken des Präsidenten auf
der letzten Sitzung zu zerstreuen. Er bestritt energisch, daß das
Ruhrgebiet, und mithin Deutschland, für die wirtschaftliche
Entwicklung Europas von so eminenter Bedeutung sei, wie Stimson
behauptet hatte. Schon die neu gewählte Überschrift der
Denkschrift des Finanzministeriums zeigte, daß Morgenthau
bestimmte Akzente betonen wollte. Hatte es dort bisher immer
wertneutral von der (beabsichtigten) Behandlung Deutschlands
geheißen, so war in dem neu vorgeschlagenen Entwurf zu lesen, es
handele sich um ein "Program to Prevent Germany From Starting a
World War III"262. Das Angstbild vom Bedroher des Weltfriedens,
der allein in den Deutschen, ihrem Wohlstand und ihrer industriellen und wirtschaftlichen Potenz zu sehen sei, wurde dadurch
von Morgenthau erneut an die Wand gemalt. Für Morgenthau, aber
auch für die große Zahl der anderen Leiter und Mitarbeiter in den
Planungsstäben Washingtons, lag die Gefahr im Charakter und Wesen
der Deutschen, nicht im nationalsozialistischen Regime begründet.
In einer Zusammenfassung der Denkschrift des Finanzministeriums
vom 9. September, die einen Tag später erstellt wurde, hieß es
diesbezüglich, das Nazi-Regime sei im wesentlichen der Höhepunkt
des
unveränderlichen
deutschen
Aggressionstriebes
("The
Naziregime is essentially the culmination of the un- changing
German drive toward aggression.")263.
Die Analyse führte zu dem Ergebnis, daß es sich bei dem deutschen
Volk und der deutschen Gesellschaft um eine Inkarnation des Bösen
schlechthin handeln mußte, unfähig zu einer Umkehr aus eigenem
Willen und Rückkehr in eine (imaginäre) Völkergemeinschaft. Die
Sicherheit in der Welt machte aufgrund einer derartigen Denkweise
einschneidende und rigorose Maßnahmen offensichtlich zwingend
notwendig. Das Finanzministerium vertrat die Auffassung:
"The Nazi regime is not an excrescence
on an otherwise healthy society but an
262
263
104
Text des dritten Entwurfs des Morgenthau-Planes in: FRUS Quebec
1944, S. 128 ff.. Zur Entstehung dieses Entwurfes im
Finanzministerium vgl. Morgenthau Diary (Germany), S. 591 ff..
Morgenthau Diary (Germany), S. 599
organic growth out of the German body
politic. ... What the Nazi regime has done
has been to systematically debauch the
passive German nation on an unprecedented
scale and shape it into an organized and
dehumanized military machine integrated by
all the forces of modern technique and
science."
Eine Auflösung der NSDAP werde deshalb allein die Zerstörung des
militärischen Geistes nicht sicherstellen, der dem deutschen Volk
Uber Generationen nahegebracht worden sei und im letzten
Jahrzehnt einen überwältigenden Auftrieb ("overwhelming impetus")
erfahren habe. Die Ausmerzung des militärischen Geistes werde ein
mühsamer Prozeß sein,
"... and for a long time to come it would
be gambling with the very destiny of
civilization to rely on an unproven German
capacity for self-regeneration in the face
of its proven capacity for creating new
weapons of destruction to be used in wars
of aggression."264.
Auf der Grundlage dieser Mixtur aus historischer Dichtung und
Wahrheit
folgerte
der
Finanzminister,
im
Interesse
der
"Weltsicherheit" ("world security") seien außer der Entwaffnung
und Schwächung Deutschlands als Militärmacht noch zusätzliche
Maßnahmen
zu
ergreifen:
Reduzierung
der
deutschen
Industriekapazitäten, so daß Deutschland nicht länger eine
wirtschaftliche, militärische und politische Macht darstelle, und
gleichzeitig Stärkung der Nachbarn Deutschlands in politischer
und ökonomischer Hinsicht265.
Aber war das nicht ein Widerspruch? Konnte es eine prosperierende
Wirtschaft in Europa geben, ohne daß Deutschland als Im- und
Exportgroßmacht daran beteiligt war? Konnte man unter Umkehrung
der Vorzeichen eine Zweiklassen-Gesell- schaft in Europa
aufbauen, in der Deutschland mit allen seinen Möglichkeiten und
Kenntnissen als eine der bislang führenden Industrienationen auf
den Agrarsektor heruntergeschraubt werden sollte und die
Bevölkerung auf dem Exi
64 Morgenthau Diary (Germany) , S. 599
265
2 Morgenthau Diary (Germany), S. 599 f.
105
stenzminimum zu leben hatte, während zum Teil wirtschaftlich
zurückgebliebene und unterentwickelte Nachbarstaaten plötzlich zu
Industrienationen würden? Morgenthau glaubte an diese Quadratur
des Kreises. Entgegen allen wirtschaftspolitischen Erkenntnissen
behauptete Morgenthau in der Sitzung am 9. September, es sei ein
Trugschluß, daß Europa ein starkes und industrialisiertes
Deutschland brauche ("It is a fallacy that Europe needs a strong
industrial Ger- many.")266. Die Annahme, Deutschland sei eine
unentbehrliche Versorgungsquelle mit Industriegütern für den Rest
Europas, bezeichnete er als nicht stichhaltig. In der
Nachkriegsphase
könne
die
ausgedehnte
industrielle
Leistungsfähigkeit der Vereinten Nationen, allen voran natürlich
der
Vereinigten
Staaten,
leicht
die
Wiederaufbauund
Industriebedürfnisse versorgen, auch ohne deutsche Hilfe. Europa
sei auch nicht abhängig von der Ruhrkohle. Vielmehr werde den
Briten ein lästiger Konkurrent auf dem Weltmarkt genommen, so daß
sie nun auch die vorher von Deutschland versorgte französische
und belgische Stahlindustrie beliefern könnten267. Gedanklich
konsequent folgerte Morgenthau weiter, daß die Sieger auch
keinerlei Reparationen verlangen dürften, da Reparationen ein
mächtiges Deutschland bedeuteten ("Reparations mean a powerful
Germany"). Falls man von Deutschland laufende Reparationen in
Form von Geld oder Sachleistungen erwarte, setze das ein
sofortiges
Wiederaufbauprogramm
zugunsten
der
deutschen
Volkswirtschaft
voraus.
Nach
Einstellung
der
Reparationslieferungen
werde
Deutschland
dann
über
eine
leistungsfähigere Wirtschaft verfügen als in den dreißiger
Jahren268. Stattdessen sollte Deutschland "Restitutionen" leisten,
worunter der amerikanische. Finanzminister Gebietsabtretungen,
Beschlagnahme
deutschen
Auslandsvermögens,
Aufstellung eines
deutschen
Zwangsarbeiterheeres, Transfers ganzer Fabrikanlagen, Maschinen
und Apparate, technischer Ausrüstungen, deutscher
266
267
268
106
FRUS Quebec 1944, S. 133
FRUS Quebec 1944, S. 133 ff.; vgl. auch Morgenthau
Diary (Germany), S. 600 ff.
FRUS Quebec 1944, S. 131
Rohstoffvorräte und Verkehrsmittel (u.a. Schiffe und Eisenbahnen)
verstand269.
Diese
Ausführungen
waren
bei
den
wirtschafts-politischen
Diskussionen des Sommers 1944 der Höhepunkt einer negativen
Entwicklung weg von der Vernunft und hin zu irrationalen, aber
politisch opportun erscheinenden emotionsgeladenen Überlegungen.
Otto Nübel hat das so beschrieben:
"(Die wirtschafts- und reparationspolitische Diskussion) hielt sich im Sommer
1944 nicht mehr an die Grenzen wirtschaftstheoretischer
und
wirtschaftspolitischer Zusammenhänge. Ihnen trug die
Willensbildung von dieser Zeit an kaum noch
Rechnung.
Man
orientierte
sich
in
zunehmendem Grade an politischen Erwägungen
.... Das Maß aller Dinge bildeten immer
seltener die sinnvolle Einbettung des
Reparationsvorganges
in
das
weltwirtschaftliche System und ein möglichst umfassender Nutzen zur Wiedergutmachung von Kriegsschäden. Reparationsplanungen wurden immer deutlicher Mittel
zu politischen Zwecken."270
Der soeben beschriebene wirtschaftspolitische Teil des Morgenthau-Planes war für diese Entwicklung das Paradebeispiel.
Blindlings hatte man im Finanzministerium ein Wirtschaftsprogramm
für Deutschland (und mithin Europa) zusammengeflickt, das
jeglichen Realitätsbezuges entbehrte und geeignet war, ganz
Europa am Ende des Krieges in eine neue Krise zu treiben. Auch
war es eine offensichtliche Abkehr von der Vorstellung einer
multilateralen
Weltwirtschaftsordnung,
wie
Roosevelt
und
Churchill sie als Nachkriegsziel noch in der Atlantik-Charta
proklamiert hatten271.
Den wirtschaftspolitischen Teil des Morgenthau-Planes hat Nübel
zutreffend charakterisiert:
FRUS Quebec 1944, S. 132 270 O. Nübel, Die amerikanische
Reparationspolitik gegenüber
Deutschland 1941-1945, S. 84 271 tun diesbezüglichen Inhalt
der Atlantik-Charta vgl. oben 1.
Teil, I.2.a..
107
"Es war dies alles ein Durcheinander von
Wahrheiten,
Halbwahrheiten
und
unzutreffenden
Behauptungen.
Die
wirtschaftswissenschaftliche Fragwürdigkeit der
aufgestellten
Kausalketten
ließe
sich
überdies rasch nachweisen. Aber auf sie kam
es nicht einmal an. Dem Finanzministerium
lag
ausschließlich
daran,
sein
Vernichtungsprogramm
durchzusetzen,
und
dafür genügte seine dem ersten Anschein
nach
zutreffende
Argumentation.
Die
vereinfachenden Thesen des Morgenthauplanes
boten rasche Lösungen für ein Problem, dem
man sonst ratlos ausgesetzt blieb, wenn man
den multilateralen Planungen der ersten
Kriegsjahre nicht folgen wollte. Überdies
kam Morgenthau den seit langem anwachsenden
amerikanischen
Neigungen
zu
härteren
Friedensbedingungen
für
Deutschland
entgegen,
und
diese
Momente
besaßen
entschieden mehr Gewicht als die Frage nach
der
Stichhaltigkeit
seiner
Gedankengänge."272
Kriegsminister Stimson ging auf der zweiten Sitzung mit dem
Präsidenten (9. September) erneut deutlich auf Distanz zu
Morgenthaus wirtschaftspolitischen Ansichten273. Er verwies neben
der Wichtigkeit Deutschlands für die Weltwirtschaft auch noch auf
eine
mögliche
psychologische
Auswirkung,
wenn
die
Zerstörungsvorschläge Morgenthaus durchgeführt würden: Die
unnatürliche Zerschlagung dieser Industrie werde sicherlich in
der Welt Sympathie für die Deutschen hervorrufen, und die
Deutschen würden dann in Amerika und auch sonstwo Freunde finden,
wohingegen zur Zeit die meisten Völker der Welt völlige Abneigung
gegen die Deutschen empfänden274. Den Teilungsplänen Morgenthaus
war Stimson zugeneigt. Eine endgültige Entscheidung hatte er
allerdings noch nicht gefaßt und empfahl einen Gedankenaustausch
zu dieser Frage mit den Russen und Engländern. Daneben
befürwortete er auch territoriale "Amputationen": Wenn die Russen
oder Polen Ostpreußen und einige Teile Schlesiens übernähmen,
sollten die Amerikaner
272
273
274
108
0. Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber
Deutschland 1941-1945, S. 84
Text des Stimson-Memorandums in: FRUS Quebec 1944, S. 123 ff.;
Morgenthau Diary (Germany), S. 612 ff.
FRUS Quebec 1944, S. 124
keine Einwände erheben, aber auch keinen Anteil nehmen an der
Verwaltung dieser Gebiete; Frankreich erhalte Elsaß- Lothringen
und solle statt weiterer deutscher Gebiete besonders von der
Internationalisierung von Ruhr und Saar und den damit
einhergehenden Vorteilen profitieren275.
Auf dieser Sitzung wurde jedoch deutlich, daß Morgenthau und
Stimson noch bei einem zweiten wichtigen Punkt unterschiedlicher
Auffassung waren. Mit summarischen Erschießungen ohne vorherige
gerichtliche
Verurteilung
war
der
Kriegsminister
nicht
einverstanden. Die Methode der Behandlung von "Erzkriminellen"
und anderen "Verbrechern" verlange ein sorgfältiges Nachdenken
und ein gut definiertes Verfahren. Dieses Verfahren müsse
wenigstens die rudimentären Aspekte der "Bill of Rights"
enthalten, nämlich dem Angeklagten den gegen ihn erhobenen
Vorwurf bekanntzumachen, Anspruch auf rechtliches Gehör und der
Aufruf von Zeugen der Verteidigung; letzteres allerdings nur
innerhalb "vernünftiger Grenzen" ("reasonable limits"). Dabei
standen jedoch keine Fragen der Gerechtigkeit und der
Rechtmäßigkeit
eines
Gerichtsverfahrens
für
Stimson
im
Vordergrund, sondern die Nutzung eines solchen Prozesses und der
damit anfallenden Materialien für Zwecke der historischen Stoffsammlung und deren politische Verwendung:
"I do not mean to favor the institution of
state trials or to introduce any cumbersome
machinery but the very punishment of these
men in a dignified manner consistent with
the advance of civilization, will have all
the
greater
effect
upon
posterity.
Furthermore, it will afford the most
effective way of making a record of the
Nazi system of terrorism and of the effort
of all Allies to terminate the system and
prevent its recurrence."276
Er glaube, daß zumindest die führenden Amtsträger der Nazis
("chief Nazi officials") vor ein internationales Tribunal
gestellt werden müßten, an dem auch die Amerikaner teilneh
275 FRUS Quebec 1944, S. 125 f.
276 FRUS Quebec 1944, S. 125
109
men sollten. Sie sollten angeklagt werden wegen strafbarer
Handlungen gegen das Kriegsrecht, indem sie zügellos und
unnotwendig Grausamkeiten in Verbindung mit der Fortsetzung des
Krieges begangen hätten277. Bei den anderen von Morgenthau
vorgebrachten möglichen "Kriegsverbrechen" hatte Stimson hingegen
große Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer solchen Anklage,
insbesondere auch für die Aburteilung von Geschehnissen innerhalb
Deutschlands und gegenüber Deutschen. Stimson führte dazu aus:
"I have great difficulty in finding any
means whereby military commissions may try
and convict those responsible for excesses
committed within Germany both before and
during' the war which have no relation to
the conduct of the war.
I would be prepared to construe broadly
what constituted a violation of the Rules
of War but there is a certain field in
which I fear that external courts cannot
move.
Such
courts would be without
jurisdiction in precisely the same way that
any foreign court would be without
jurisdiction to try those who were guilty
of, or condoned, lynching in our own
country."
Roosevelt äußerte sich während der Sitzung nicht zu diesem neuen
Disputgegenstand.
Seine
Begeisterung
für
Morgenthaus
wirtschaftspolitische Vorstellungen war derart groß, daß dieser
Aspekt der Deutschlandplanung sein ganzes Denken beherrschte. Als
er beim Durchlesen des Memorandums zu der Stelle kam, an der
Morgenthau es als einen Trugschluß be- zeichnete, daß Europa ein
starkes industrialisiertes Deutschland benötige, merkte der
amerikanische Präsident laut an:
"This is the first time I have seen anybody
say that. ... All the economists disagree
but I agree with that."
Und zu den damit verbundenen wirtschaftlichen Auswirkungen auf
das hochindustrialisierte Deutschland meinte Roosevelt:
277
278
110
FRUS Quebec 1944, S. 125
FRUS Quebec 1944, S. 125
"As far as I am concerned I'd put Germany
back as an agricultural country. "279
Das konnte nur bedeuten, daß er sich mit Morgenthaus wirtschaftspolitischen
Darlegungen
identifizierte
und
sie
zu
unterstützen bereit war. Der amerikanische Finanzminister nahm es
mit Befriedigung zur Kenntnis. Auch Außenminister Cordell Hull
ließ seinen Kollegen im Finanzministerium wissen, das MorgenthauMemorandum sei eine ausführliche Darstellung all dessen, für was
sie beide stünden280.
Auch auf Roosevelts Einstellung zur Behandlung der "Kriegsverbrecher "-Frage verfehlte das Finanzministerium seine Wirkung
nicht. Wie er noch am 9. September in einem Gespräch mit Robert
Murphy erklärte, hoffe er, man werde mit "Kriegsverbrechern"
"summarisch" verfahren ("War criminals, the President hoped,
might be dealt with summarily."). Er sei gegen lange und sich
hinziehende Verfahren281. Trotz der offensichtlichen Sympathien
Roosevelts für Morgenthaus Gedankengänge, kam es jedoch auch auf
dieser Sitzung zu keinem greifbaren offiziellen Ergebnis. Es war
die letzte Sitzung des Ausschusses vor der Abreise Roosevelts
nach Quebec, wo er sich vom 11. bis 16. September mit Premierminister Churchill traf.
IV. 3. Die Konferenz von Quebec - Roosevelt und Morgenthau setzen
sich durch
In Quebec wurde der amerikanische Präsident zunächst von keinem
seiner Minister begleitet. Er hatte vorsorglich einen Entwurf des
Morgenthau-Planes
in
der
zuletzt
vorgetragenen
Fassung
mitgenommen. Doch schon kurz nach Beginn der anglo-amerikanischen
Gespräche ließ er seinen Freund und Finanzminister Morgenthau
nachkommen.
279 Morgenthau Diary (Germany), s. 609
280 Morgenthau Diary (Germany), S. 609
281 FRUS Quebec 1944, S. 145
111
Der wirtschaftspolitische Teil. Morgenthau sollte auf Wunsch
Roosevelts dem britischen Premier und dem ihn begleitenden
Außenminister Eden den von seinem Ministerium aufgestellten
Deutschland-Plan vorstellen. Als Morgenthau am Abend des 13.
September
seine
wirtschaftspolitischen Ansichten
Churchill
unterbreitete, reagierte der mit heftiger Ablehnung. Morgenthau
mußte später eingestehen, niemals in seinem Leben einer größeren
Beschimpfung ausgesetzt gewesen zu sein. Während Roosevelt sich
nicht in die Auseinandersetzung einmischte und seinen Günstling
Morgenthau
im
Regen
stehen
ließ,
warf
Churchill
dem
amerikanischen Finanzminister vor, er werde mit seinem Plan
England an eine deutsche Leiche ketten282.
a.
Am darauffolgenden Morgen hatte Morgenthau ein Gespräch mit dem
persönlichen
Berater
Churchills
in
wissenschaftlichen
Angelegenheiten, Lord Cherwell. Nachdem er den Plan kurz
überflogen hatte, meinte Cherwell, er könne gar nicht verstehen
warum Churchill soviel Widerstand geleistet habe. Er führte es
letztlich darauf zurück, daß Churchill nicht ganz verstanden
habe, was Morgenthau eigentlich wolle. Morgenthau machte
daraufhin seine Zielsetzung noch einmal deutlich, indem er
behauptete, man habe die Wahl: "Do you want a strong Germany and
a weak England or a weak Germany and a strong England?"283.
Cherwell, der solchen Ideen gegenüber aufgeschlossen war, gelang
es dann doch noch, Churchill für eine (zumindest modifizierte)
Fassung der amerikanischen Pläne zu gewinnen. Ob dabei das von
Morgenthau
ins
Feld
geführte
Argument
den
britischen
Premierminister überzeugte, daß eine Zerschlagung der deutschen
Industrie den Briten einen lästigen Konkurrenten auf dem
Weltmarkt vom Leib halten werde, ist mit recht angezweifelt
worden. Churchill handelte vielmehr aus einer Zwangslage heraus,
in seinen Memoiren berichtet er, daß Roosevelt und Morgenthau
äußerst hartnäckig auf seine Unterschrift gedrängt hätten, er
selbst aber von den Amerikanern auch viel zu verlangen ge
282
283
112
J.L. Chase, The Development of the Morgenthau Plan through the Quebec
Conference, Journal of Politics 1954, S. 355 f.
FRUS Quebec 1944, S. 330
habt habe284. Somit wurde die Zustimmung zu den Morgenthau'schen
wirtschaftspolitischen
Vorstellungen
zu
einem
Kompensationsgeschäft: Die Zustimmung erfolgte als Gegenleistung
für die Gewährung eines amerikanischen Dollarkredits285.
Churchill
beabsichtigte
aber
nicht,
dem
amerikanischen
Deutschlandplan in seiner ursprünglichen Form nachzugeben. Er
beauftragte Lord Cherwell, zusammen mit Morgenthau ein britischamerikanisches Memorandum zu entwerfen. Diese maßgeblich von
Cherwell geprägte Denkschrift wich in entscheidenden Punkten von
Morgenthaus bisher vorgetragenen Ideen ab: Zwar wollte auch
Cherwell die deutsche Rüstungsindustrie abbauen, doch sollten
sich Produktionsbeschränkungen nur auf die Erzeugung von Stahl
und chemische sowie elektrotechnische Artikel beziehen. Die Ruhr
und gegebenenfalls noch andere in Betracht kommende Gebiete
würden dann unter eine internationale Autorität gestellt werden,
der die Entscheidung zufalle, ob, wann und bis zu welchem Umfang
die Industrie wieder aufgebaut werden sollte. Der deutsche Lebensstandard werde den im nationalsozialistischen Deutschland
übersteigen286. Diese Aussagen waren alles andere als ein blindes
Folgen auf dem von Morgenthau vorgezeichneten Weg. Das bemerkte
auch Morgenthau recht schnell. Für ihn ging die Denkschrift zu
weit in die falsche Richtung ("The Secretary felt that the
memorandum went too far in the wrong direction"), ja daß sie zwei
Schritte rückwärts bedeute. Er faßte den Entschluß, Churchill
erneut in seinem Sinn zu bearbeiten287.
Den Gegenentwurf, den Morgenthau daraufhin Churchill unterbreitete, sprach sich für eine völlige Freistellung von Demontagen an der Ruhr und im Saargebiet aus. Allen Alliierten,
auch den Sowjets, sollte erlaubt werden, nach eigenem Gutdünken
Industriebetriebe zu entfernen. Dies sollte aber
284 W. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, VI/1, S. 192
285 G. Moltmann, Der Morgenthau-Plan als historisches Problem,
Wehrwiss. Rundschau /(V), 1955, S. 25
286 FRUS Quebec 1944, S. 343 f.
287 FRUS Quebec 1944, S. 3 59
113
nur der Auftakt für ein viel größeres Programm sein. Mor- genthau
schrieb in diesem Sinn weiter:
"This programme for eliminating the warmaking industries in the Ruhr and in the
Saar is part of a programme looking forward
to diverting Germany into largely an
agricultural country."288.
Churchill wies
nicht das, was
nunmehr selbst
die dann auch
hieß es:
das Papier mit der Begründung zurück, das sei
er gewollt habe289. Er nahm sich der Angelegenheit
an und diktierte kurzerhand eine eigene Fassung,
von Roosevelt und ihm unterzeichnet wurde. Dort
"In einer Konferenz zwischen dem Präsidenten und dem Premierminister, über den
besten
Weg,
eine
Wiederaufrüstung
Deutschlands zu verhindern, war man sich
darüber einig, daß ein wesentlicher Aspekt
der künftige Zustand des Ruhr- und des
Saargebietes sei.
Die Leichtigkeit, mit der die metallurgischen,
chemischen
und
elektrischen
Industrien Deutschlands von Friedens- zur
Kriegsproduktion umgestellt, werden können,
wurde uns bereits durch bittere Erfahrung
eingeprägt. Auch darf man nicht vergessen,
daß die Deutschen einen großen Teil der
Industrie Rußlands und anderer alliierter
Staaten zerstört haben. Es ist nur gerecht,
daß diese Länder, die Schaden erlitten haben, berechtigt sein sollen, die Maschinerie zu entfernen, die sie brauchen,
um ihre Verluste wiedergutzumachen. Die
schon erwähnten Industrien im Ruhr- und
Saargebiet würden also notwendigerweise
außer Dienst gestellt und geschlossen
werden müssen. Man war der Meinung, daß
diese beiden Gebiete einer Körperschaft im
Rahmen der Weltorganisation unterstellt
werden sollten, die die Demontage dieser
Industrien überwachen und gleichzeitig
aufpassen würde, daß sie nicht wieder unter
irgendeinem Vorwand aufgebaut werden.
Dieses
Programm
der
Beseitigung
Kriegsindustrien im Ruhr- und im Saar-
288
289
114
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 368
FRUS Quebec 1944, S. 361
der
gebiet faßt die Verwandlung Deutschlands in
ein Land ins Auge, das in erster Linie
einen landwirtschaftlichen und ländlichen
Charakter hat.
Der Premierminister und der Präsident haben
diesem Programm zugestimmt"
Danach folgten - am 15. September 1944 - die Unterschriften der
beiden Regierungschefs290
Mit diesen Formulierungen fand Churchill einen Kompromiß zwischen
seinen und Roosevelts bzw. Morgenthaus wirtschaftspolitischen
Ansichten. Die geplanten Deindustrialisierungsmaßnahmen wurden
zwar räumlich (nur Ruhr- und Saargebiet) und sachlich (nur
metallurgische, chemische und elektrotechnische Industrie)
begrenzt, ihnen stand als quasi übergeordnetes und mit allen
Mitteln zu erstrebendes Ziel jedoch die Agrarisierung des ganzen
Deutschland gegenüber, wie es der vorletzte Satz bestimmte.
In seiner Widersprüchlichkeit und unterschiedlichen Interpretierbarkeit waren beide Argumentationsweisen denkbar: Entweder
man berief sich auf die ersten und mehr oder weniger konkreten
Handlungsauftrag beinhaltenden Sätze, wie es wohl im Interesse
der Briten lag, oder man verlangte mit Blick auf den letzten Satz
eine
schrankenlose
Deindustrialisierung
Deutschlands,
was
Roosevelts und Morgenthaus Vorstellungen entsprach. Jedenfalls
war
es
ein
Dokument
diplomatischer
Finesse,
das
die
Meinungsdifferenz kaschierte und jeder der beiden Parteien die
Möglichkeit einer Berufung auf dieses Papier mit dem Ziel, den
eigenen Standpunkt zu stärken, offenhielt. Letztendlich aber war
dieses Papier zweifellos ein Erfolg Morgenthaus. Gerade die weite
Auslegungsfähigkeit der Forderung nach Agrarisierung Deutschlands
vermied einen ins einzelne gehenden wirtschaftspolitischen
Deutschlandplan, erlaubte aber gleichzeitig, zumindest in der
eigenen Besatzungszone, die Umsetzung der bisherigen Planung in
praktische Handlungen
290 Text in: FRUS Quebec 1944, S. 466 f.; P.Y. Hammond, Directives for
Germany, S. 368 f.; dt. Übersetzung: H.G. Gelber, VfZG 1965, S. 389
f.
115
der Industriezerschlagung. Daß der britische Außenminister Eden
seinen Regierungschef wegen dieser Denkschrift mit kritischen
Äußerungen bedachte291 und Morgenthau der festen Überzeugung war,
einen großen Sieg davongetragen zu haben292, unterstreicht eine
solche Beurteilung der Ereignisse in Quebec.
Der "Kriegsverbrecher"-Beschluß. Morgenthau war in Quebec auch
noch auf einem zweiten Feld der Besatzungsplanung erfolgreich,
ohne dabei allerdings viel Überzeugungsarbeit gegenüber den
Briten leisten zu müssen: in der Frage nach dem bei deutschen
"Kriegsverbrechern" anzuwendenden Verfahren. Churchill und andere
führende britische Persönlichkeiten waren mit Morgenthau und
Roosevelt einig, daß summarische Exekutionen der maßgeblichen
"Kriegsverbrecher", worunter sie vor allem die Führungspositionen
in Staat und Partei verstanden, einem Gerichtsverfahren
vorzuziehen seien293. Britischer Vordenker solcher Strafmaßnahmen
war der ehemalige Innen- und Außenminister und von 1940 bis
1945 als Lord-Kanzler agierende Lord Simon. Churchill hatte dann
diesen Standpunkt auch im britischen Kriegskabinett vertreten,
hatte dort jedoch wenig Zustimmung gefunden, weil die anderen
Regierungsmitglieder
deutsche
Repressalien
gegen
britische
Kriegsgefangene befürchteten294. Die beiden Briten nutzten deshalb
ebenso wie ihre amerikanischen Verhandlungspartner die Konferenz
in Quebec, um auf internationaler Ebene politische Fakten
festzulegen, die ihrem Konzept entsprachen und andernfalls in den
eigenen Entscheidungsgremien nur schwer eine Mehrheit gefunden
hätten.
b.
Basis der Vereinbarung von Quebec bildete eine Denkschrift Lord
Simons vom 4. September 1944295. Er vertrat darin die Ansicht, die
Methode eines Gerichtsverfahrens, Schuldigsprechung und Urteil
durch ein Gericht sei völlig
291
292
293
294
295
FRUS
P.Y.
Vgl.
B.F.
Text
Quebec 1944, S. 362
Hammond, Directives for Germany, S. 369
B.F. Smith, The Road to Nuremberg, S. 45
Smith, ebd., S. 45 f.
in: FRUS Quebec 1944, S. 91 ff.
unangebracht für "bekannte Rädelsführer" ("notorious ringleaders") wie Hitler, Himmler, Göring, Göbbels und Ribbentrop.
Neben
den
riesigen
Schwierigkeiten,
einen
Gerichtshof
einzusetzen, der eine Anklage zu formulieren und Beweise
zusammenzutragen habe, sei die Frage nach deren Schicksal
"... a political, not a judicial question.
It could not rest with judges, however
eminent or learned, to decide finally a
matter like this, which is of the widest
and most vital public policy."296
Er sei sich in gleicher Weise klar darüber, fuhr Simon fort, daß
diese führenden und bekannten Verbrecher ("these leading and
notorious criminals") nicht unangetastet bleiben dürften, während
geringere Leute, die unter ihren Befehlen und mit ihrer
Einwilligung Grausamkeiten und Kriegsverbrechen begangen hätten,
verurteilt und hart bestraft würden297. Das britische Foreign
Office hatte aus diesem Anlaß eine Liste mit "Kriegsverbrechern"
zusammengestellt, deren genauer Inhalt leider nicht bekannt
ist298. Dieses Memorandum Simons lag auf der selben Linie wie die
dazu von Morgenthau gemachten und von Roosevelt für gut
befundenen Vorschläge. Nach einer kurzen Erörterung des Themas am
15. September, bei der Roosevelt sich noch einmal stark machte
für
eine
Erschießung
der
"Nazi-Führer"
ohne
jegliche
Verhandlung299, einigten sich Roosevelt und Churchill, die
Vorschläge Lord Simons ebenso wie die Liste Marschall Stalin
zukommen zu lassen300. Von amerikanischer und britischer Seite
waren die Exekutionen somit zum Programm erhoben.
Auf beiden Planungsgebieten, die zwischen Morgenthau und Stimson
vor der Konferenz von Quebec zum Disput geführt hatten, war
Morgenthau durch Roosevelts Unterstützung und
296
297
298
296
30
0
FRUS Quebec
FRUS Quebec
Ein Hinweis
S. 92.
B.F. Smith,
FRUS Quebec
1944, S. 92
1944, S. 92
auf diese Liste befindet sich in FRUS Quebec 1944,
The Road to Nuremberg, S. 47
1944, S. 467
117
die
Entscheidung
auf
überstaatlicher
anglo-amerikanischer
politischer Ebene als eindeutiger Sieger hervorgegangen. Durch
die Zwangssituation der Briten hatte er ihnen, trotz Churchills
Formulierungskünsten,
sein
wirtschaftspolitisches
Programm
aufoktroyieren können, in der Frage summarischer Exekutionen
waren sich die in Quebec versammelten politisch Verantwortlichen
ohnehin einig.
IV. 4. Außen- und
Morgenthau entgegen
Kriegsministerium
treten
Roosevelt
und
a. Stimson plädiert für eine konstruktive Planung. Während
Morgenthau in Kanada seinem größten politischen Erfolg entgegenstrebte, ließ Henry Stimson durch seinen Unterstaatssekretär
John. J. McCloy ein neues Memorandum gegen Morgenthau
vorbereiten, nicht ahnend, daß der amerikanische Finanzminister
zur gleichen Zeit den Sieg - vorläufig - schon davongetragen
hatte. Die Denkschrift wurde am 15. September beendet und
Roosevelt nach Hyde Park geschickt, wo er sie nach der Rückkehr
aus Quebec vorfand. Stimson versprach sich von diesem Papier
keine Wende in der Mor- genthau-Roosevelt'schen Politik, sandte
es aber dennoch ab, um, wie er sich ausdrückte, die Achtung vor
sich selbst nicht zu verlieren301. Die Unterschiede zwischen ihm
und Morgenthau lägen nicht in ihrer Zielsetzung - fortwährendem
Weltfrieden -, sondern seien eine Frage der Mittel, ließ Stimson
den Regierungschef wissen:
"When we discuss means, the difference is
not whether we should be soft or tough on
the German people, but rather whether the
course proposed will in fact best attain
our agreed objective, continued peace.
... The question is not whether we want
Germans to suffer for their sins. Many of
us would like to see them suffer the
tortures they have inflicted on others.
The only question is whether over the years
a group of seventy million educa-
301
118
Vgl. Stimson and Bundy, On Active Service in Peace and War, S. 578
ff.; Text des Memorandums in: FRUS Quebec 1944, S.482 ff.;
Morgenthau Diary (Germany), S. 621 ff.
ted, efficient and imaginative people can
be kept within bounds on such a low level
of subsistence as the Treasury proposals
contemplate. I do not believe that is
humanly possible."302.
Stimson gestand ein, daß er gegen Morgenthaus Vorschläge nichts
einzuwenden hätte, wenn sie das Ziel eines dauerhaften
Weltfriedens wirklich erreichen könnten. In Geist und Aussage
seien sie jedoch strafend, nicht ausgleichend oder konstruktiv,
und deshalb eher geeignet, einen anderen Krieg zu erzeugen statt
ihn zu verhindern. Er verwies noch einmal auf die enorme
internationale Bedeutung der deutschen Volkswirtschaft, und daß
Deutschland nicht nur ein Wettbewerber der Briten auf dem
internationalen Markt sei, sondern auch ein potentieller
Abnehmer. Auch der Hinweis auf den Widerspruch mit den in der
Atlantik-Charta bestimmten Grundsätzen fehlte nicht in Stimsons
wirtschaftspolitischer Morgenthau-Schelte303.
Die Argumente des Kriegsministers waren eine Mischung aus
humanitären Überzeugungen und politischer sowie wirtschaftlicher
Vernunft. Er schien seine Lektion aus der Zeit zwischen den
Kriegen anders gelernt zu haben als die meisten seiner Kollegen,
Roosevelt eingeschlossen. Nicht Bestrafung eines ganzen Volkes,
seine Degradierung von einer Industrienation zu einem Agrarstaat
war das Gebot der Stunde, sondern die Umsetzung der in der
Atlantik-Charta feierlich beschworenen Ziele. Stimson gelang es,
sich von dem um ihn herum herrschenden geistigen Provinzialismus
zu befreien und über das momentane Triumpfgefühl nicht die so
viel größeren, so viel komplexeren und komplizierteren weltpolitischen Zielsetzungen zu vergessen. Nicht das rückwärtsgewandte
Bestrafungs- und Rachedenken prägte seine Haltung in dieser
Frage, sondern ein realistischer und problembewußter Blick nach
vorn. Deshalb läßt sich Stimson auch nicht in das häufig bemühte
Bild pressen, das die in den USA und andernorts planenden und
verantwortlichen Personen nach Befürwortern eines "weichen" oder
eines "harten" Kurses
302
303
FRUS Quebec 1944, S.483
FRUS Quebec 1944, S.483 f.
119
gegenüber Deutschland und dem deutschen Volk einordnet304. Während
die Behandlung Deutschlands für Morgenthau und offensichtlich
auch für Roosevelt und die meisten anderen amerikanischen
Politiker von zentraler Wichtigkeit war, sah man doch allein in
Deutschland den Aggressor und Bedroher des Weltfriedens, war es
für Stimson nur ein Mosaiksteinchen in seinem Weltbild, das nicht
nach den Kriterien von Strafe und Begnadigung, von "hart" oder
"weich" zu lösen war, sondern zukunftsorientiert und konstruktiv.
In diesem Sinne schrieb Stimson an Roosevelt:
"Enforced poverty is even worse, for it
destroys the spirit not only of the victim
but debases the victor. It would be just
such a crime as the Germans themselves
hoped to perpetrate upon their victims - it
would be a crime against civilization
itself.
... The sum total of the drastic political
and economic steps proposed by the Treasury
is an open confession of the bankruptcy of
hope
for
a
reasonable
economic
and
political settlement of the causes of war.
I plead for no "soft" treatment of Germany.
I urge only that we take steps which in the
light of history are reasonably adapted to
our purpose, namely, the prevention of
future wars.
The Carthaginian aspect of the proposed
plan would, in my judgement, provoke a
reaction on the part of the people in this
country and in the rest of the world which
would operate not only against the measures
advocated but in its violence would sweep
away the proper and reasonable restrictive
measures
that
we
could
justifiably
impose."305
b. Hull geht zunehmend auf Abstand zu Morgenthau. Am 20.
September informierte Morgenthau seine Kollegen im Kabinetts -Aus
schuß über Verlauf und Ergebnis der Quebecer Konferenz. Stimsons
Vermutung, Churchill habe sein Einverständnis erklärt, um das
Leih- und Pachtverhältnis und somit weitere amerikanische
Unterstützung nicht zu gefährden,
304
305
120
Vgl. dazu noch ausführlicher unten 1. Teil, IV.15.
FRUS Quebec 1944, S.483 ff.
verneinte Morgenthau, wenngleich er zugeben mußte, daß dies
Churchills vorrangiges nichtmilitärisches Ziel in Quebec gewesen
sei. Hull, der in den letzten Tagen vor Beginn der Konferenz
immer stärker auf Morgenthaus Kurs eingeschwenkt war, rang sich
auf dieser Sitzung erstmals wieder zu einer kritischen Anmerkung
durch. Seine Bemerkungen richteten sich aber noch nicht gegen den
Inhalt des Quebecer Beschlusses, sondern gegen die Art und Weise,
wie er zustande gekommen war, nämlich ohne vorherige Konsultation
der Sachverständigen der amerikanischen Regierung und ohne Rücksicht auf die vorhergegangenen Besprechungen306. Edens Widerspruch
in Quebec war für Hull ein weiterer Hinweis für Morgenthaus
Neigung zur Einmischung in Dinge, die eigentlich nur das
Außenministerium betrafen307. Als Hull verbittert meinte, daß er
zunehmend das Interesse an der ganzen Angelegenheit verliere, und
daß er sein Interesse ganz verlieren würde, sollte er von den
Diskussionen und Entscheidungen derart wichtigen Charakters
weiterhin ferngehalten werden, entgegnete Morgenthau ruhig und in
vollem Bewußtsein seiner enormen momentanen Einflußmöglichkeiten,
er werde sich auch weiterhin dafür interessieren, eine aktive
Rolle bei Überlegungen hinsichtlich der gegenüber Deutschland
einzuschlagenden Politik und ähnlicher Dinge solange zu spielen,
wie der Präsident ihn dazu ermutige308.
Mittlerweile hatte auch die Presse Wind von den Vorgängen in
Roosevelts Kabinett und den Besprechungen und Entscheidungen in
Quebec erhalten. Ihre Reaktion war unterschiedlich und reichte
von Zustimmung zu Morgenthaus Ideen und dem Quebecer Beschluß bis
zu strikter Ablehnung. Das Wall Street Journal veröffentlichte am
24. September eine nahezu vollständige Zusammenfassung des
Morgenthau-Plans. Eine kontroverse öffentliche Debatte über die
Nachkriegsbehand- lung Deutschlands war jedoch das letzte, was
Roosevelt sich
306
Foreign Relations of the United States (FRUS), Die Konferenzen von
Malta und Jalta, dt. Ausgabe, S. 125 f.
307 Hull, Memoirs, S. 1616
308 FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 130
121
damals leisten konnte, waren es doch kaum noch sechs Wochen bis
zur nächsten Präsidentenwahl309.
In einem Memorandum vom 25. September 1944 fragte Hull beim
Präsidenten vorsichtig nach, ob es nicht ratsam sei, das volle
Einverständnis Großbritanniens und der Sowjetunion in bezug auf
die gegenüber Deutschland zu verfolgende Politik zu erzielen.
Gerade die EAC sei zu dem Zweck geschaffen worden, um solche
Probleme zu erörtern. Ein Abweichen von dieser Linie vermehre
nicht nur die Schwierigkeiten und die Verantwortung der Soldaten
in der unmittelbar bevorstehenden militärischen Besatzungszeit,
sondern auch die der Beamten in der danach folgenden
Kontrollperiode. Die britische Regierung habe nach seinen
Informationen zweifellos eigene Gedanken, was die Anwendung
wirtschaftlicher Kontrollen in Deutschland anbetreffe, und die
Amerikaner besäßen keinen Hinweis, daß die Briten die
vollständige Ausrottung der deutschen Industriekapazität an Ruhr
und Saar für angebracht hielten. Da über die Haltung der
Sowjetunion zu diesem Thema nichts bekannt war, regte Hull an,
das Außenministerium könne über die EAC oder auf andere Weise die
britischen und russischen Ansichten über die Behandlung der
deutschen Industrie erfragen310.
Kurz darauf wurde Hull im Weißen Haus vorstellig. Er sagte dem
Präsidenten, der Morgenthau-Plan sei nicht von Experten
vorbereitet worden, da sich nur 60 Prozent der Bevölkerung aus
der Landwirtschaft würden ernähren können, 40 Prozent müßten
sterben. Die Politik seines eigenen Hauses umriß Hull knapp:
Deutschland müsse so lange unter militärischer Kontrolle gehalten
werden, bis die Theorien des Nationalsozialismus und der
rassischen Überlegenheit vollständig ausgerottet seien, was
möglicherweise 25 bis 50 Jahre in Anspruch nehmen könne. Den
Lebensstandard in Deutschland wollte Hull unterhalb des
durchschnittlichen
Lebensstandards
der
Nachbarbevölkerungen
halten und ihn erst dann an309
310
Vgl. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 378; H.G.
Gelber, VfZG 1965, S. 393
FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 132 f.; Hull, Memoirs, S. 1616 f.
heben, wenn
Menschenrechte, Freiheitsrechte
und Frieden
sich
verbessert hätten311.
c. Roosevelts taktischer Rückzug. Bei Roosevelt machte sich in
den folgenden Tagen, wohl nicht zuletzt wegen der für ihn
teilweise unangenehmen Pressereaktionen, Unruhe breit. Er blies
nun doch vorsichtig zum taktischen Rückzug. In dem Gespräch mit
Hull deutete er an, daß er an den Plan nicht gebunden sei312, und
Stimson hatte nach einem Telefonat mit ihm am 27. September den
Eindruck, Roosevelt sei zu der Überzeugung gekommen, einen Fehler
gemacht zu haben, und versuche nun, sich herauszureden313. Am 26.
September löste der Präsident den Kabinetts-Ausschuß auf und
versuchte durch die Herausgabe einer Stellungnahme die hohen
Wogen in der Öffentlichkeit zu glätten, ohne daß er auf die
aufgeworfenen Fragen allerdings sachlich-inhaltlich eingegangen
wäre. Er wollte die öffentliche Aufmerksamkeit vielmehr vom
Problem der Nachkriegsgestaltung Deutschlands ablenken, anstatt
die Öffentlichkeit zu unterrichten - ein erneuter Hinweis darauf,
daß insbesondere der Präsident selbst nicht geneigt war, sich in
der zukünftigen Politik festzulegen314. Am 29. September antwortete
er auf Hulls Memorandum vom 25.. Die EAC als Konsultationsorgan
zu nutzen, um dort die Ansichten Großbritanniens und der
Sowjetunion zur Nachkriegsbehandlung Deutschlands zu erfahren,
lehnte Roosevelt ab. Er teilte seinem Außenminister mit, für ihn
bewege sich die EAC auf dritter und nicht einmal auf zweiter
Ebene. Kern der ganzen Angelegenheit sei, Großbritannien davor zu
bewahren, am Ende des Krieges bankrott zu sein. Jedoch
beabsichtige
niemand,
aus
Deutschland
ein
völlig
landwirtschaftliches Land zu machen und die industrielle
Produktionskapazität an Rhein und Ruhr vollständig zu vernichten.
Stattdessen beabsichtigte er, eine beinahe umfassende Kontrolle
in diesen beiden Gebieten durchzusetzen315.
311
312
313
314
315
Hull, ebd.
Hull, ebd., S. 1618
Stimson and Bundy, On Active Service in Peace and War, S. 580
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 379
FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 144 f.
123
Am 1. Oktober legte Hull dem Präsidenten eine weitere Denkschrift
vor, in der er den Stand der Beschlüsse in der EAC referierte und
die Vorstellungen des Außenministeriums zur Besatzungspolitik in
Deutschland etwas ausführlicher darstellte. In diesem letzten
Punkt war ganz offensichtlich wieder eine Rückbesinnung auf die
im Memorandum vom 4. September niedergelegten Prinzipien zu
erkennen. Eine wirtschaftliche Vormachtstellung Deutschlands in
Europa sollte ein für allemal ausgeschaltet werden. Zu diesem
Zweck wollte er alle Fabriken zerstören, bei denen eine Umstellung auf friedliche Zwecke nicht möglich schien, während alle
anderen Fabriken umzuwandeln seien. Weiterhin sollte Deutschland
durch Reformen von den Weltmärkten abhängig gemacht werden, die
Schlüsselindustrie und der Außenhandel kontrolliert und die
Vormachtstellung der Großindustriellen und Großgrundbesitzer
zerschlagen werden. Dann sei es Deutschland unmöglich, einen
neuen Krieg zu entfachen, seine wirtschaftliche Vormacht in
Europa sei gebrochen und die anderen Nationen könnten
Wiedergutmachungsleistungen und Reparationen verlangen. Hull
blieb auch bei seiner schon früher geäußerten Meinung, eine
Entscheidung
über
die
Teilung
Deutschlands
(territoriale
Amputationen waren damit nicht gemeint) noch nicht zu treffen. In
allen anderen Punkten bestand ohnehin weitgehend Konsens:
Vollkommene Entmilitarisierung Deutschlands, Auflösung der NSDAP
und der angeschlossenen Organisationen, Festnahme und Internierung von SS- und Gestapo-Mitgliedern, Verhör von Kriegsverbrechern und, falls (offensichtlich ohne Gerichtsverhandlung) für
schuldig befunden, deren Hinrichtung, sowie Ausschluß aller
aktiven Parteimitglieder von jeder politischen oder zivilen
Tätigkeit
und
deren
Unterwerfung
unter
zahlreiche
Einschränkungen. Außerdem sollten Nachrichtenwesen, Presse,
Propaganda und Erziehungssysteme streng überwacht werden, um NSEinfluß und -Doktrin auszumerzen316.
316
124
FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 145 ff.
Welche Einstellung der amerikanische Außenminister zum deutschen
Volk
hatte,
ließ
er
im
letzten
Absatz
seines
Memorandums
durchblicken:
"Es ist von höchster Wichtigkeit, daß in
den Anfangsjahren der Lebensstandard der
deutschen Bevölkerung derart zugeschnitten
wird, daß es ihr bewußt wird, daß sie den
Krieg verloren hat, und daß sie alle ihre
überheblichen Theorien, sie gehöre einer
höheren Rasse an, die geboren sei, die Welt
zu regieren, auf- gibt. Durch Mangel an
Luxus werden wir ihr beibringen, daß sich
ein Krieg nicht bezahlt macht."317
Roosevelts Abrücken von Morgenthaus Plänen, die ja auch seine
eigenen gewesen waren und vielleicht immer noch waren, zeigte
sich auch darin, daß er Morgenthau Ende September nicht zu sich
vorließ und ihm sagen ließ, er wolle ihn nicht sehen318.
Kriegsminister Stimson schien beim Präsidenten nun eher gelitten
zu sein. Ihm gegenüber sagte Roosevelt am 3. Oktober, Morgenthau
habe einen "Schnitzer" ("boner") gemacht. Als Stimson ihm
daraufhin die Passage aus dem Beschluß von Quebec vorlas, nach
der Deutschland ein landwirtschaftliches Gebiet werden sollte,
meinte der Präsident nur, er habe keine Ahnung, wie er das habe
abzeichnen können. Er habe es offensichtlich ohne viel Überlegung
getan319. Daß dies nicht mehr als eine billige Ausrede war,
scheint eindeutig. Roosevelt hatte sich ja schon Tage vor der
Quebecer Konferenz mit Morgenthaus Ideen vertraut gemacht, kannte
die Einwände von Stimson und hörte in Kanada die Bedenken
Churchills und Edens, um dennoch seinen Finanzminister in dessen
Plänen, die er zu seinen eigenen machte, vorbehaltlos zu
unterstützen. Als alter politischer Fuchs, der es verstand, die
Öffentlichkeit mit seinen Reden zu begeistern und zu bewegen, der
aber auch die Stimmungen in der Bevölkerung immer gut
einzuschätzen und dann gegebenenfalls für seine Zwecke zu nutzen
wußte, hatte Roosevelt bemerkt, daß die kontroverse öffentliche
Deutschlanddiskus-
317
318
319
FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 148
Morgenthau Diary (Germany), S. 678
Stimson and Bundy, On Active Service in Peace and War, S. 581
125
sion ihm im Wahlkampf nur schaden konnte. Er kehrte deshalb
schnellstmöglich zu seiner schon vor der Morgenthau-Affäre
betriebenen
Politik
der
Verzögerung
deutschlandpolitischer
Entscheidungen zurück. Eleanor Roosevelt, die Frau des Präsidenten, wies später überzeugend darauf hin, daß Roosevelt
innerlich nie vom Morgenthau-Plan abgerückt sei. In der letzten
Nacht vor seinem Tod habe er sogar noch mit Mor- genthau in
diesem Sinn gesprochen320.
Am 20. Oktober teilte Roosevelt dem amerikanischen Außenminister
in Beantwortung von dessen Memorandum vom 29. September mit, er
mache ungern ins einzelne gehende Pläne für ein Land, das noch
gar nicht besetzt sei. Dennoch stimmte er Hulls Vorschlägen zur
Entmilitarisierung, zur Entnazifizierung und zur Überwachung
bestimmter Bereiche des öffentlichen Lebens ohne Einschränkungen
zu. Lediglich die Entmilitarisierungs-Bestimmungen wollte er auch
auf Flugzeuge angewendet sehen. Auch mit dem Aufschub der
Teilungspläne war er einverstanden321.
Der Morgenthau-Plan in seiner Quebecer Form, also nur auf die zu
verfolgende Wirtschaftspolitik bezogen, wurde damit aus der
öffentlichen Schußlinie herausgenommen. Die Gedanken und Ideen
aber, die Morgenthau weit über die Wirtschaftspolitik hinaus und
in die meisten anderen Bereiche hineingehend in seinen
Denkschriften verfochten hatte, waren dadurch nicht von den
Tischen der Planungsabteilungen der amerikanischen Ministerien
herunter. Denn bei näherer Betrachtung der interministeriellen
Debatten um den ursprünglichen Plan, insbesondere in der Form vom
9. September 1944, wird klar, daß im Grunde Streitgegenstand nur
die Behandlung von Wirtschaft und Industrie in Deutschland war,
mit Abschwächungen auch die Teilungs- und Kriegsverbrecherfrage,
daß aber in allen anderen Bereichen fast deckungsgleiche
Ansichten bestanden. Beispielgebend sei nur der Lebensstandard
des deutschen Volkes genannt, den man übereinstimmend auf einem
niedrigen Niveau halten wollte.
320
321
126
E. Roosevelt, This I Remember, S. 333 ff.
FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 148 f.
Selbst
in
den
streitigen
Punkten
hatten
Außenund
Kriegsministerium
keine
einheitliche
Phalanx
gegen
das
Finanzministerium gebildet. Hull zeigte sich lange Zeit den
Wirtschaftsplänen Morgenthaus gegenüber äußerst aufgeschlossen,
bejahte die summarische Erschießung von Deutschen, denen ein
Kriegsverbrechen vorgeworfen wurde, und beharrte lediglich in der
Teilungsfrage auf seinem Standpunkt. Stimson wiederum hatte keine
Bedenken gegen die Zerschlagung Deutschlands, opponierte jedoch
gegen Morgenthaus Wirtschafts- und Kriegsverbrecherpläne. Die
unterschiedlichen Positionen blieben bestehen, nur wurden sie in
den nächsten Monaten nicht mehr in der Öffentlichkeit
ausgetragen, sondern im Rahmen von konkreten Planungen für eine
Direktive, anhand derer der für die Militär-Verwaltung in der
amerikanischen
Zone
zuständige
Oberbefehlshaber
seine
besatzungspolitischen Maßnahmen ergreifen sollte. Die Planungen
für diese Anweisung hatten bereits im Frühjahr und Sommer 1944
eingesetzt und erhielten ihre Prägung auch - und gerade - durch
Morgenthau und - mehr noch - durch die Tatsache, daß Roosevelt
augenscheinlich einem "harten" Frieden für Deutschland das Wort
redete.
IV.5. Die Direktive CCS 551 ("Pre-Surrender-Directive")
Vor allen Dingen im Kriegsministerium und in den Armeestäben
machten sich die Verantwortlichen schon frühzeitig Gedanken,
welche Weisungen der Armee für den Fall an die Hand zu geben
seien, daß die Amerikaner in Deutschland einmarschieren würden.
Zwar stand das Diensthandbuch FM 27-5 zur Verfügung, doch
enthielt es nur mehr oder weniger abstrakte Formulierungen, die
nicht auf die in Deutschland erwartete Lage zugeschnitten waren,
wenn auch - wie wir schon gesehen haben322 - die in dem
Diensthandbuch
im
Dezember
1943
vorgenommenen
Änderungen
eindeutig Deutschland im Visier hatten. Was not tat, war eine
Direktive, die den Besatzungsoffizieren zumindest anfänglich und
für eine Übergangszeit sagte, welche
322
Vgl. oben 1. Teil II.2.d.
127
Maßnahmen in welchen Bereichen des deutschen Staatswesens
vorzunehmen waren. Es ging schließlich darum, einen der
hochindustrialisiertesten Staaten der Welt zu verwalten, ein
Chaos, Unruhen und Widerstand gegen die Besatzungstruppen zu
vermeiden und eine auf längere Sicht angelegte Friedenspolitik
vorzubereiten. Um dies alles gewährleisten zu können, benötigte
die Armee klare Weisungen.
Schon im Dezember 1943 wurden im Kriegsministerium die ersten
Untersuchungen über das deutsche Verwaltungssystem angestellt,
bis dann am 28. April 1944 eine Direktive des Gemeinsamen
Generalstabes der Briten und Amerikaner an den alliierten
Oberbefehlshaber in Kuropa, General Eisenhower, erlassen wurde.
Eisenhower hatte schon vorher bei den CCS (Combined Chiefs of
Staff) nach einer Direktive für die Militärregierung in
Deutschland angefragt. Das Kriegsministerium hatte daraufhin die
Initiative ergriffen, bei der Erstellung des Entwurfes aber auch
Außen-, Finanz- und Marineministerium zu Rate gezogen und
divergierende Ansichten mit Großbritannien abgeklärt323. Die
Direktive trug das Aktenzeichen CCS 551 und war überschrieben mit
"Combined Directive for Military Government in Germany Prior to
Defeat or Surrender"324. Ihr AnwendungsZeitraum war somit auf die
Besatzungszeit vor der Kapitulation beschränkt. Die Kapitulation
war das entscheidende Ereignis, hatte man doch danach keine
Feindseligkeiten
mehr
seitens
organisierter
deutscher
Streitkräfte zu erwarten. Die CCS gingen bei ihrer Direktive von
der Annahme aus, daß das deutsche Regierungssystem, die
staatlichen und politischen Strukturen sowie die Wirtschaft
größtenteils noch in Ordnung seien, und die Anglo-Amerikaner
durch eine "indirect rule" ihre Aufgaben als Militärverwaltung
würden erfolgreich ausüben können. Über die Eisenhower als
323
324
128
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 328; F.C. Pogue, The
European Theatre of Operations. The Supreme Command. United States
Army in World War II, S. 346 ff.
Text der Direktive CCS 551 in: H. Holborn, American Military
Government - Its Organization and Policies, S. 135 ff.. Zur
Entstehung der Direktive vgl. auch E.F. Ziemke, The U.S. Army in the
Occupation of Germany 1944-1946, S. 57 ff..
Oberbefehlshaber der alliierten
Befugnisse sagte die Direktive:
Besatzungstruppen
zustehenden
"By virtue of your position you are clothed
with supreme legislative, executive, and
judicial authority and power in the areas
occupied by forces under your command. This
authority will be broadly construed and
includes authority to take all measures
deemed by you necessary, desirable and
appropiate in relation to the exigencies of
military operations and the objectives of a
firm military government."
Die Combined Chiefs of Staff vergaßen aber nicht, in einem
weiteren Satz klarzustellen:
"Your rights
in Germany prior to
unconditional
surrender or German
defeat will bethose of an occupying power."325
Der eigentlichen Direktive waren noch ein "Political Guide", ein
"Financial Guide" und ein "Economic and Relief Guide" für
Deutschland beigegeben326. Der "Political Guide" verpflichtete
Eisenhower, jeden Kontakt der alliierten Truppen mit deutschen
Amtsträgern und der Bevölkerung nachdrücklich zu unterbinden
(sog. Non-Fraternization- Befehl). Die Absicht der militärischen
Besatzung sei die Unterstützung der militärischen Operationen,
Zerstörung des Nazismus-Faschismus und der Nazi-Hierarchie, die
Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung und die Wiederherstellung
normaler Zustände unter der Zivilbevölkerung, soweit diese nicht
mit militärischen Operationen in Widerstreit gerieten. Die
Direktive
enthielt
auch
bereits
eine
Aufforderung
zur
Internierung bestimmter Personengruppen. Als zu verhaftende
Einzelperson war nur Adolf Hitler genannt. Dazu gehörten weiter
seine
325
326
H. Holborn, ebd., S. 136
Der "Political Guide" lag der Direktive bereits am 28. April 1944
bei, die drei anderen wurden erst am 31. Mai 1944 an Eisenhower
übermittelt. Der "Financial Guide" wurde im August 1944 noch
einmal überarbeitet, vgl. H. Holborn, ebd., S. 135 Anm. 1.
129
"Hauptnazigefährten" ("chief Nazi associates"), alle Personen,
die eines Kriegsverbrechens verdächtigt würden, die Köpfe der
Ministerien und andere hohe politische Funktionäre des Reiches
und solche Deutschen, die in von Deutschland ehemals besetzten
Gebieten hohe politische Stellungen innegehabt hätten. In die
Arrestkategorien fielen darüber hinaus die Sicherheitspolizei,
einschließlich Gestapo, aber ohne Kriminalpolizei, und der
Sicherheitsdienst. Von der SS war in dieser Direktive noch keine
Rede. Andere Paragraphen beschäftigten sich mit der Auflösung der
NSDAP, Verhinderung der Anwendung diskriminierender NS-Gesetze
und der Suspendierung von Straf- und Zivilgerichten in
Deutschland. Sie sollten jedoch zum frühestmöglichen Zeitpunkt
unter alliierter Überwachung und Kontrolle wieder zugelassen
werden. Die Wiedereinsetzung zuvor entfernter Amtsinhaber in der
örtlichen Verwaltung wurde in das Ermessen Eisenhowers gestellt.
Die gesamte NS-Führung sollte von allen Amtsposten entfernt
werden, und kein dauernder Angehöriger des deutschen Generalstabs
und der NS-Hierarchie dürfe eine wichtige Regierungs- oder zivile
Position bekleiden. Politische Aktivitäten jeder Art sollten
nicht zugelassen und alle Kommunikationseinrichtungen wie Presse,
Rundfunk, Post, Telefon und andere je nach Notwendigkeit im
Interesse der militärischen Sicherheit zensiert werden327.
Dem
"Economic
Relief
Guide"
merkte
man
an,
daß
die
wirtschaftspolitischen Akzentverschiebungen vom Dezember 1943 im
FM 27-5 auch auf die Direktive CCS 551 durchgeschlagen waren.
Sofern praktisch durchführbar und in Übereinstimmung mit den
Anforderungen der militärischen Sicherheit sollte in nicht mehr
umkämpften Gebieten das System der Produktion, Kontrolle,
Sammlung
und
Verteilung
von
Nahrungsmitteln
und
landwirtschaftlichen
Produkten
beibehalten
werden,
die
Nahrungsmittelfabriken
ihren
Betrieb
fortsetzen
und
die
notwendigen Arbeitskräfte und Transportmöglichkeiten beschafft
werden, um eine maximale
327 H. Holborn, American Military Government, S. 136 ff.
130
Produktion sicherzustellen328. Diese Bemühungen sollten jedoch
nicht zu dem Zweck geschehen, der deutschen Bevölkerung einen den
Kriegsumständen nach angemessenen Lebensstandard zu sichern. Die
Direktive CCS 551 fügte vielmehr hinzu:
"German food and other supplies will be
utilized for the German population to the
minimum extent reguired to prevent disease
and unrest."
Ansonsten
sollten
auch
die
Versorgungseinrichtungen
wiederhergestellt, ebenso die Kohlengruben erhalten und betrieben
werden. Ein Kontrollsystem, das neben der Ein- und Ausfuhr von
Gütern auch das Schiffahrtswesen und andere Bereiche überwachen
sollte, wurde ebenfalls von den CCS gefordert330.
Trotz der Beschränkung auf die Vorkapitulationszeit war die
Direktive unverkennbar so zusammengestellt worden, daß sie auch
für die Zeit nach der Kapitulation umgewandelt werden konnte zu
einer endgültigen politischen Richtlinie. Die Ausmerzung des
Nationalsozialismus als Ideologie und seiner Erscheinungsformen
in Staat und Gesellschaft war ja bereits in der Atlantik-Charta
festgelegt worden, wenn auch die Internierungskategorien in ihrem
Umfang und mangelnder Spezifizierung über das vom militärischen
Sicherheitsinteresse der Besatzungsmächte gebotene Maß weit
hinausgingen. Trotz der Härte und Strenge in Fragen der
Entnazifizierung und der Versorgung der Bevölkerung, war doch der
Wegweiser in die Zukunft nicht zu verkennen: Eine Industrie mit
der Produktion von Gütern, die keine Kriegsverwendung finden
konnten,
sollte
beibehalten
werden.
Insofern
war
die
wirtschaftspolitische Kernaussage der Direktive noch gemäßigt,
was besonders augenscheinlich wird, wenn man sie mit den eben
erörterten Zielsetzungen Morgenthaus oder mit den weiter unten
noch zu behandelnden
328
329
330
H. Holborn, ebd., S. 143
H. Holborn, ebd.
H. Holborn, ebd.
131
Planungen für eine neue Direktive, diesmal für die Zeit nach der
Kapitulation gedacht, vergleicht.
IV.6. Eisenhower fordert eine Nachkriegs-Direktive für Deutschland
a. Möglicher Wegfall der Grundprämissen von CCS 551. Mitte August
1944 kamen General Eisenhower Zweifel, ob die Grundprämissen, von
denen die CCS beim Entwurf von CCS 551 ausgegangen waren,
überhaupt noch in der Art in Deutschland vorgefunden würden. Am
23. August teilte er den CCS mit, daß die Direktive, unter der er
momentan arbeite, veraltet und nicht länger anwendbar sei. Die in
der Direktive vorausgesetzten Bedingungen bestünden nicht mehr.
Die Fortexistenz einer zentralen deutschen Regierung zum
Zeitpunkt der Kapitulation oder der endgültigen militärischen
Niederlage erschien Eisenhower zunehmend unwahrscheinlicher.
SHAEF hätte in einem solchen Fall nicht mehr nach der Methode der
"indirect rule" verfahren können, sondern selbst Verantwortung
für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und für die
Kontrolle des Wirtschaftssystems übernehmen müssen331. Es war die
Meinung vieler mit der Nachkriegsplanung befaßter Dienststellen,
insbesondere in den militärischen Stäben, daß - wie es Morgenthau
ausdrückte - ein Chaos in Deutschland unumgänglich sei ("chaos
was inevitable")332.
Die
nachfolgenden
Gespräche,
Beratungen,
Entwürfe
und
Ausfertigungen der neuen Direktive waren geprägt und maßgeblich
bestimmt durch die Kontroverse um den Morgenthau-Plan und, von
besonderer Bedeutung, die Tatsache, daß der Präsident als der
eigentliche
Entscheidungsträger
in
der
Deutschlandund
Besatzungspolitik diesen Plan nicht nur mit seinem politischen
Wohlwollen bedachte, sondern gezielt förderte und sich dadurch
als der Vertreter einer Deutschland
331
332
132
Vgl. C.F. Pogue, The European Theatre of Operations: The
Supreme Command, S. 353 f.
E.F. Penrose, Economic Planning for the Peace, S. 246; P.Y.
Hammond, Directives for Germany, S. 352
gegenüber strengen und unnachsichtigen Politik zu erkennen gab.
Die Entschlossenheit des Präsidenten zu einem harten Vorgehen
gegen das geschlagene Deutschland und die allgemeine Stimmung für
einen "harten Frieden" waren das psychologische und politische
Umfeld, in dem zwangsläufig nur eine politische Planung
erfolgreich sein konnte, die sich eben diese Haltung zu eigen
machte und in besatzungspolitische Grundsätze umsetzte. Hatte
SHAEF bis in den August hinein zumindest noch die Hoffnung, bei
einem plötzlichen Zusammenbruch Deutschlands auf der Grundlage
des Militärregierungs-Handbuches arbeiten zu können, wurde auch
diese Absicht durch die Suspendierung des Handbuches durch
Roosevelt zunichte gemacht.
Überarbeitung des SHAEF-Handbuches . Wie man sich innerhalb
kürzester Zeit auf den unteren Entscheidungsebenen auf die
verhärtete Haltung
in
den politischen
Führungspositionen
einstellte, zeigt aufschlußreich die weitere Entwicklung des
SHAEF-Handbuches333. Da die German Country Unit mittlerweile schon
nicht mehr bestand, mußte die Überarbeitung vom G-5-Stab bei
SHAEF vorgenommen werden, der seinerseits in der Handbuch-Frage
von einem gemeinsamen Komitee für Zivilangelegenheiten der Briten
und Amerikaner ("Combined civil Affairs Committee", CCAC) in
Washington überprüft wurde. Während in der ursprünglichen Fassung
der erste Absatz einer vom alliierten Oberbefehlshaber zu
erlassenden Proklamation noch von Deutschland als einem
"befreiten" ("liberated") Land sprach, stellte der Gebrauch des
Wortes "befreit" in bezug auf das deutsche Volk die Planer vor
die ersten Probleme. Sie waren es seit Jahren gewöhnt, zwischen
"befreitem" freundlichen und "besetztem" feindlichen Gebiet zu
unterscheiden. Das Wort "Besatzer" aber sollte vermieden werden,
weil es als Synonym für "Ausbeuter" ("exploiter") galt und die
daraus möglicherweise erwachsenden psychologischen Handikaps
nicht erwünscht waren. Die
b.
333
Zur Entstehung des SHAEF-Handbuches und dessen Suspendierung vgl.
oben 1. Teil, IV.l.b.,c..
133
Antwort fand man dann in dem Satz: "We come as conquerors, but
not as oppressors."334
Außerdem sollte nun jede Ausgabe des Handbuches gleich am Anfang
eine Warnung enthalten, bestehend aus drei Grundsätzen: Gleich im
ersten kam der Roosevelt- Morgenthau'sehe Geist voll zum
Durchbruch, der eine Verantwortung der Alliierten für den
weiteren Betrieb der Wirtschaft in Deutschland ablehnte. Es hieß
dort:
"No steps looking toward the economic
rehabilitation of Germany are to be
undertaken
except
such
as
may
be
immediately
necessary
in
support
of
335
military operations."
Der zweite Punkt befaßte sich mit den nach Deutschland zu
bringenden Hilfslieferungen von alliierter Seite. Sein Inhalt war
seit der Revision von FM 27-5 in Washington umstritten, und auch
die Briten hatten nichts gegen die Überbetonung der militärischen
Notwendigkeit einzuwenden. Punkt zwei lautete:
"No relief supplies are to be imported or
distributed beyond the minimum necessary to
prevent disease and such disorder as might
endanger or impede military operations."336
Die Entnazifizierung wurde im letzten Punkt angesprochen. Die
Auflösung der NSDAP und der ihr untergeordneten Organisationen
war nicht neu. Erstmalig aber wurde die Entlassung "aktiver
Nazis" oder von "Nazi-Sympathisanten" aus ihren Ämtern zur
Pflicht erhoben, ohne daß Eisenhower - wie in CCS 551 - ein
Ermessensspielraum eingeräumt worden wäre und ohne daß eine
nähere Definition erklärte, wer damit eigentlich gemeint war. Aus
der Washingtoner
334
E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany 1944- 1946,
S. 88, der anmerkt, daß das Wort "Eroberer" ("conqueror") aufgrund
einer Initiative der Psychological Warfare Division, SHAEF, von
einem deutschen Übersetzer dann noch in "siegreiches Heer"
umgewandelt wurde.
335 E.F. Ziemke, ebd., S. 89
336 E.F. Ziemke, ebd.
134
Perspektive sah die Handhabung der damit verbundenen Probleme
bedeutend leichter aus, als es vor Ort dann tatsächlich der Fall
war. In diesem Sinn bestimmte Punkt drei:
"Under no circumstances shall active Nazis
or ardent sympathizers be retained in
office for purposes of administrative
convenience or expedi- ency."337
Die Deutschland und das ganze deutsche Volk, nicht nur den
Nationalsozialismus und seine Anhänger, betreffende zunehmende
Verhärtung der Atmosphäre in den politischen Führungsetagen
Washingtons schlug damit auch nachhaltig auf die unteren
Planungsebenen durch. Dies galt nicht nur für die Revision des
SHAEF-Handbuches, sondern mehr noch für die Erstellung einer
Direktive für die Zeit nach der deutschen Kapitulation.
IV. 7. Die Entwicklung der ersten Fassung der Besatzungsdirektive
JCS 1067
a.
Erste
Entwürfe
in
der
EAC-Delegation
und
im
Kriegsministerium. Bereits am 12. Juli 1944 entwarf das "Planning
Committee" der US-Delegation in der EAC eine "General Directive
for Germany". Diese Direktive verpflichtete die drei alliierten
Oberbefehlshaber unter anderem, soweit es die militärische
Sicherheit und die Durchsetzung der Kapitulations-Bedingungen
erlaubten, dem deutschen Volke bei der Errichtung einer
effizienten
Verwaltung
und
bei
der
Entwicklung
einer
Nationalökonomie behilflich zu sein, die dann ein Minimum an
deutscher Versorgung beschaffen und Deutschland in den Stand
versetzen
werde,
einen
Maximalbeitrag
an
Erleichterung,
Normalisierung und Reparationen zu erbringen. Soweit durchführbar
sollte Deutschland indirekt verwaltet werden und die Amtsträger
und sonstigen Bediensteten in der
337
E.F. Ziemke, ebd., S. 90, für den Punkt drei "the first
outright plunge into the semantic jungle of denazification"
ist.
135
öffentlichen Verwaltung in ihren Funktionen weitermachen. Ihres
Amtes enthoben werden sollten nur "aktive Naziführer" und solche
andere, unter ihnen Regierungsbedienstete, die als unzuverlässig
angesehen würden. Sie sollten ersetzt werden durch kompetente
Menschen, die mit der Militärregierung vollständig kooperierten338.
Am 6. September 1944 schickte Kriegsminister Stimsons Assistant
Secretary, John J. McCloy, an das Außenministerium den Entwurf
einer Besatzungsdirektive für die Zeit, die unmittelbar auf die
Beendigung des organisierten Widerstands bzw. nach der Niederlage
Deutschlands folge. Sie sollte eine bloße Interimsdirektive sein,
mit Augenmerk nur auf Deutschland und ohne Einbeziehung
grundlegender europa- und weltpolitischer Zusammenhänge. Weite
Teile eines Direktiven-Entwurfes zur Wirtschaftspolitik, der
einen Tag zuvor im Finanzministerium von dem MorgenthauMitarbeiter William H. Taylor angefertigt worden war339, wurden in
das
Papier
des
Kriegsministeriums
wörtlich
übernommen.
Offensichtlich war man unterhalb der Ministerebene(Stimson)
gegenüber
den
Ideen
des
Finanzministeriums
bedeutend
aufgeschlossener, was insbesondere auf John J. McCloy zugetroffen
haben dürfte, als es der Widerstand Stimsons gegen den
Morgenthau-Plan vermuten läßt.
Die sich gerade entwickelnde Diskussion um den Morgenthau- Plan
ließ
noch
keine
langfristigen
und
über
den
rein
germanozentrischen
Blickwinkel
hinausgehenden
Perspektiven
erkennen. Da sich diese unklare Situation auch bis zum
Kriegsende, und noch zwei Jahre darüber hinaus, nicht wesentlich
zum besseren veränderte, betrafen die Planungen für Deutschland
immer nur die Interimsdirektive und überwogen die negativen und
destruktiv-zerstörerischen Akzente alle anderen. Die Direktive,
die sich an den alliierten Oberbefehlshaber, General Eisenhower,
wandte.
338
339
136
FRUS 1944 I, S. 244 ff.
Vgl. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 372 f.
drückte diese Tendenz bereits in ihrem zweiten Absatz nachhaltig
aus:
"Your primary objectives are of short term
and military character rather than of a
long view governmental policy type. Germany
will not be occupied for the purpose of
liberation but as a defeated enemy nation.
The clear fact of German military defeat
and the undesirability of the results of
aggression must be appreciated by all
levels of the German population. The German
people must bear the invitable consequences
of their own acts. Your occupation and
administration will be just but firm and
distant."340
In
der
beigefügten
"Politischen
Direktive"
hatte
das
Kriegsministerium die Arrest-Kategorien, verglichen mit CCS 551,
noch erweitert: Auch prominente Nationalsozialisten, die wichtige
Stellungen und Schlüsselpositionen auf Reichsund Gauebene in
öffentlichen und Wirtschaftsorganisationen bekleideten, die in
Unternehmen und anderen Organisationen, an denen die Regierung
ein erhebliches finanzielles Interesse habe, in der Industrie,
dem Finanz-, Erziehungsund Gerichtswesen, bei der Presse und
anderen Nachrichten und Propaganda verbreitenden Institutionen
beschäftigt waren, sollten neben den Richtern und Staatsanwälten
des Volksgerichtshofes interniert werden. Hinzu kamen noch die
Angehörigen der Sicherheits- und politischen Polizei (Gestapo und
SD waren ja schon in CCS 551 genannt worden) und alle hohen
Polizeipräsidenten und sonstigen hohen Polizeiführer341. In
wörtlicher Übereinstimmung mit dem dritten Punkt der revidierten
Handbuch-Fassung wurde Eisenhower die Entfernung "aktiver Nazis"
und "eifriger Sympathisanten" zur unumgehbaren Pflicht gemacht.
Ansonsten aber blieb es seinem eigenen Gutdünken überlassen, ob
den Zielen der Militärregierung besser gedient sei durch die
Ernennung von Offizieren der Besatzungstruppen oder durch die
Verwendung der Dienste Deutscher342.
340
341
342
FRUS Quebec 1944, S. 110 f.
FRUS Quebec 1944, S. 112 f.
FRUS Quebec 1944, S. 113
137
Die "Wirtschafts-Direktive" atmete auch bereits den neuen Geist
in Washington. Eisenhower sollte die Kontrolle übernehmen über
die
bestehenden
industriellen,
landwirtschaftlichen
und
gemeinnützigen
Nachrichtenund
Transporteinrichtungen,
Versorgungs- und sonstigen Dienste zu dem Zweck, die unmittelbare
Einstellung der Produktion, des Erwerbs und der Entwicklung von
Kriegsgerät einzustellen. Außerdem sollte dadurch die Herstellung
und das Aufrechterhalten von Gütern und Dienstleistungen
gewährleistet werden. Dieser zweite Zweck wurde jedoch nicht
verfolgt, um der Bevölkerung im Besatzungsgebiet, vor allem der
Zivilbevölkerung,
Unterstützung
zu
gewähren,
sondern
um
Epidemien, ernsthafte Erkrankungen und schwerwiegende bürgerliche
Unruhen und Aufruhr zu verhüten oder zu mildern, die - und das
war das allein Ausschlaggebende - die Besatzungstruppen und die
Ziele der Besatzung gefährden könnten. Darüber hinaus versprach
man sich Güter für die Fortsetzung des Krieges gegen Japan und
für die Versorgung und Belieferung der alliierten Nationen343.
Daß der Feind nicht nur die nationalsozialistische Regierung oder
der Staat Deutsches Reich war, sondern das ganze deutsche Volk,
jeder einzeln und alle gemeinschaftlich, zeigte sich ganz kraß
und drastisch in der Direktive über Hilfsmaßnahmen ("Relief
Directive"). Eisenhower wurde auferlegt, maximalen Gebrauch von
den Vorräten, Beständen und verfügbaren Hilfsquellen zu machen,
um die notwendige Einfuhr aus dem Ausland niedrig zu halten. Wie
in den nachfolgenden Absätzen deutlich werden wird, verfolgte das
Kriegsministerium
das
Ziel,
aus
Deutschland
soviel
herauszupressen wie nur irgend möglich, gleichzeitig aber die
Situation nicht so kritisch werden zu lassen, daß ein
amerikanisches
Eingreifen
durch
Nahrungsmittel-Importe
erforderlich würde. Die Interimsdirektive bestimmte:
343
138
FRUS Quebec 1944, S. 118
"2. The scale of relief to be provided will
in no event exceed the minimum quantity of
food, fuel, medical, sanitary and agreed
essential supplies necessary to maintain
the health and working capacity of the
civilian population, to preserve public
order, to develop local resources in order
to lighten the burden on the Allied armies,
and to accomplish the objectives of the
occupation.
3. You will provide for importation of
civilian supplies into Germany only to the
extent that critical shortages of any
essential items threaten clear and imminent
interference with the policies set forth in
paragraph 2 of this directive.
4.
You will untertake measures necessary
for the control, prevention and treatment
of epidemie and other diseases and the
promulgation of such medical and sanitation
measures, including emergency shelter, as
will preserve the state of public health
and protect the occupying forces."344
Soviel der vierte Absatz auch für die Deutschen in Aussicht
stellte, so wenig war er doch wert angesichts der Bestimmung in
Absatz zwei, daß die Bevölkerung nur mit der minimalsten Menge an
medizinischer und sanitärer Ausstattung versorgt werden sollte.
Ein Reduzieren und bewußtes Niedrighalten auf dem geringsten nur
denkbaren Lebens- und Überlebensniveau war ganz zweifellos eine
Strafmaßnahme, die das ganze Volk treffen sollte, nicht nur ein
paar einzelne. Die gesamte Bevölkerung sollte diesmal die
Schrecken und das Elend des Krieges zu spüren bekommen. So hatte
es Roosevelt gefordert und so setzten es die Planer im
Kriegsministerium auch in der Direktive um. In diesem Denken und
in diesen Plänen kam die These von der kollektiven Schuld des
deutschen Volkes zum Ausdruck. In die gleiche Richtung ging auch
das schon in der Direktive CCS 551 und in der revidierten Fassung
der Dienstvorschrift FM 27-5 festgeschriebene FraternisierungsVerbot, das in der Folgezeit in keinem Direktivenentwurf mehr
fehlte.
344
FRUS Quebec 1944, S. 119 f.
139
Konnte
man
diesem
Verbot
in
Zeiten
militärischer
Auseinandersetzungen noch einen gewissen Sinn zuerkennen, so war
es nach der endgültigen und unwiderruflichen Niederlage der einen
Seite nur noch eine Schikanemaßnahme, die ein ganzes Volk in
seinem Innersten treffen und ihm seinen minderen Wert gegenüber
dem Besatzer vor Augen führen sollte. Die militärische
Niederwerfung der feindlichen Armeen sollte durch die persönliche
Diskriminierung und moralische Unterwerfung jedes einzelnen bis
zum Exzeß gesteigert werden. Die Planungen für den Lebensstandard
der Deutschen und das Verbot des Fraternisierens dokumentieren
unmißverständlich,
daß
der
Krieg
nicht
gegen
den
Nationalsozialismus, seine Repräsentanten und seine Anhänger
geführt wurde, sondern daß mit zunehmender Kriegszeit und hysterie das ganze deutsche Volk unterschiedslos mit dem
Nationalsozialismus,
insbesondere
seinen
Auswüchsen,
gleichgesetzt, moralisch abqualifiziert und nur noch mit einer
subalternen Stellung bedacht wurde.
Auf einer Sitzung am 17. September 1944 konzentrierte sich das
Finanzministerium
besonders
darauf,
die
EntnazifizierungsBestimmungen
im
Entwurf
des
Kriegsministeriums
noch
zu
verschärfen, um nur ja keine Schlupflöcher offenzuhalten und um
den Ermessensspielraum der Offiziere vor Ort bei Internierungen
aufgrund der vorgegebenen Kategorien einzuengen. In früheren
Vorschlägen
war
General
Eisenhower
die
alleinige
Entscheidungsbefugnis zuerkannt worden, nach eigenem Belieben
bestimmte Arrest-Kategorien unbeachtet zu lassen. Nun drängte das
Finanzministerium auf einen Passus, der Eisenhower verpflichten
sollte, erst in Washington um eine Erlaubnis zur Außerachtlassung
dieser Personengruppen zu ersuchen345.
a. Interims-Direktive JCS 1067, 22. September 1944. Als am 22.
September 1944, eine Woche nach der Konferenz von Quebec, das
Außen-, das Kriegs- und das Finanzministerium der InterimsDirektive ihre Zustimmung erteilten, enthielt
345
140
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 373 f.
sie neben den zwischen Kriegs- und Finanzministerium schon zwei
Wochen
vorher
vereinbarten
einschneidenden
Wirtschaftskontrollmaßnahmen,
den
rigorosen
Aussagen
zur
Güterverteilung in Deutschland und dem vom Finanzministerium am
17. September verlangten Passus auch noch eine erweiterte
Internierungsliste’”.
in
die
Arrestkategorie
fielen
nun
zusätzlich alle NSDAP- Ortsgruppenleiter, die Offiziere und
Unteroffiziere der Waffen-SS und alle Mitglieder anderer Zweige
der SS sowie alle Beamte der Polizei und der SA mit einem (nicht
näher definierten) hohen Rang. Sollten nach dem Entwurf des War
Department vom 6. September 1944 nur "prominente Nazis" in
wichtigen und Schlüsselpositionen in den dort näher genannten
staatlichen und privaten Einrichtungen interniert werden, so
erweiterte die Direktive vom 22. September diesen Kreis auch auf
"Nazi-Sympathisanten". Um den mit der Verhaftung betrauten
Offizieren in diesen schier unüberschaubaren Arrestkategorien das
Auffinden der betreffenden Personen zu erleichtern, wurde
gleichzeitig - gegen alle rechtsstaatlichen Grundsätze der
Beweislast - bestimmt, es könne ganz allgemein mangels
gegenteiliger Beweise angenommen werden, daß alle Personen, die
solche Stellungen innehätten, Nazis oder Nazi-Sympathisanten
seien347. Diese willkürliche Ausdehnung der zu internierenden
Personengruppen war ebenfalls auf Anregung des Finanzministeriums
erfolgt, ohne daß von Kriegs- oder Außenministerium Einspruch
eingelegt worden wäre348. Im Gegenteil: Als im Dezember 1944 das
Außenministerium im Rahmen einer Revision der gesamten Direktive
doch
noch
einen
Vorstoß
wagte,
um
die
ausufernden
Arrestkategorien zu beschränken, lehnte das Kriegsministerium
ohne jegliche Kompromißbereitschaft ab. Grund für diese Haltung
war nicht die Tatsache, daß man im Kriegsministerium etwa von der
Sache selbst überzeugt gewesen wäre, sondern Rücksicht auf
346
347
348
Text der am 22.09.1944 verabschiedeten Interims-Direktive in: FRUS
Malta und Jalta (dt.), S. 133 ff.
Vgl. FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 135 f.
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 374; L. Niethammer,
Entnazifizierung in Bayern, S. 62 f.
141
das Finanzministerium, dem irgendwelche Änderungen nicht gefallen
würden349.
Gleiches galt auch für die Entlassungskategorien. Waren davon
bisher nur "aktive Nazis" betroffen, so sollten nach der
Direktive vom 22. September "alle Mitglieder der Nazi- Partei und
eifrigen Verfechter des Nazismus" aus ihren Regierungsstellen
(auch auf Landes-, Kreis- und Ortsebene) und von allen
Schlüsselstellungen der Industrie, des Bankwesens, der Erziehung,
der Rechtsprechung und aus anderen öffentlichen Diensten entfernt
werden. Ausnahmen aus verwaltungsmäßigen Zweckdienlichkeits- und
Nützlichkeitsgründen
wurden
ausdrücklich
nicht
zugelassen.
Eisenhower selbst oblag die Entscheidung, ob er die Lücken durch
Offiziere der Militärregierung oder durch die Inanspruchnahme vom
alliierten
Sicherheitsdienst
bereits
entlasteter
Deutscher
ausfüllen wollte350.
Wie durch Heranziehen von Militärregierungsoffizieren die
zweiffellos
durch
die
"Säuberung"
entstehenden
riesigen
personellen und administrativen Probleme - angesichts von nur ca.
2000 zu diesem Zweck ausgebildeten Offizieren - bewältigt werden
sollten, wurde dabei unberücksichtigt gelassen. Als das State
Department auch in den Entlassungskategorien Modifikationen
vorschlug, blockte das War Department ebenfalls351, und die Joint
Chiefs of Staff behaupteten, diese Kategorien reflektierten die
Ansicht auch der anderen Regierungsstellen und stimmten überein
mit Erwägungen der militärischen Sicherheit352. Die Internierungsund Entlassungsvorschriften der Interimsdirektive vom 22.
September 1944 erfuhren deshalb auch in der Folgezeit keine
moderatere Gestaltung. Auch das Außenministerium hatte ja
ursprünglich diesen Kategorien zugestimmt, und die späteren
Wünsche zur Entschärfung der Bestimmungen fanden im Kriegs- und
Finanzministerium kein Gehör. Unabhängig von allen anderen
Planungsbereichen hatte
349
350
351
352
142
FRUS
FRUS
FRUS
FRUS
1944 X, S. 420
Malta und Jalta (dt.), S. 137
1944 I, S. 420
1944 I, S. 375
man in der Entnazifizierung einen kleinsten gemeinsamen Nenner
gefunden, der allerdings bei seiner Weitläufigkeit den größten
Schaden
in
Deutschland
anzurichten
geeignet
war.
Die
Entnazifizierung
war
zum
"fetischisierten
Hauptziel
antifaschistischer Reform in der US- Deutschlandpolitik" (L.
Niethammer)353 geworden. Die eigentlich naheliegende Überlegung,
wie man denn den anfallenden Mengen an Internierten, zu denen
noch Millionen von Kriegsgefangenen kamen, verwaltungstechnisch
Herr werden und was danach mit ihnen geschehen sollte, wurde
nicht angestellt. Bereits Ende August 1944 hatte der deutsche
Emigrant Hajo Holborn im Office of Strategie Services, War
Department, die Zahl der am Kriegsende und danach in Deutschland
zu internierenden Personen auf über 278.000 veranschlagt.
Ungefähr 200.000 Internierte sollten aus den Reihen der
Allgemeinen SS, der Gestapo und des SD kommen. Die Aufstellung
der zu arrestierenden Personengruppen umfaßte in Holborns Planung
auch bereits die Ortsgruppenleiter der NSDAP, jedoch noch nicht
die
führenden
Persönlichkeiten
der
privatwirtschaftlichen
Einrichtungen und die Offiziere und Unteroffiziere der WaffenSS354. Auf der Grundlage der Internierungsbestimmung in der
Direktive vom 22. September 1944 dürfte die Anzahl der zu
internierenden Personen weit über 300.000 gelegen haben - dies
konnte
mit
militärischen
Sicherheitsinteressen
der
Besatzungstruppen wohl kaum noch gerechtfertigt werden.
Die Interimsdirektive befaßte sich erstmalig auch mit dem
deutschen Offizierskorps, das nicht nur für das Finanzministerium
ein Hort des Militarismus zu sein schien, ähnlich wie die niemals
näher definierten "Junker". Von der Auflösung des deutschen
Offizierskorps als Institution versprachen sich die Autoren der
Direktive einen bedeutsamen Beitrag zur "totalen Zerstörung des
deutschen Militarismus". In der Direktive hieß es dazu weiter:
353
354
L. Niethammer, Entnazifizierung in Bayern, S. 62
H. Holborn, Office of Strategie Services, an Gen. Hilldring,
mit Anhang ("List of Nazis to be arrested"), 31.08.1944; RG 165
CAD 014 Germany (1) (7-10-42) Sec. 8
143
"Alle Generalstabsoffiziere, die nicht als
Kriegsgefangene inhaftiert wurden, sind zu
verhaften und festzuhalten bis zum Eingang
weiterer Informationen, wie mit ihnen zu
verfahren ist."355
In diesem Satz waren zwei Dinge bereits andeutungsweise
erkennbar, denen bei den nachfolgenden Planungen ein immer
größeres Gewicht zufiel: Zum einen, daß offensichtlich nicht
alle Generalstabsoffiziere als Kriegsgefangene behandelt werden
sollten, wie es nach der Genfer Konvention von 1929 die Pflicht
der amerikanischen Streitkräfte gewesen wäre. Zum anderen, daß
für die Generalstabsoffiziere eine "Sonderbehandlung" ins Auge
gefaßt wurde, über die man im September 1944 entweder noch
nichts sagen wollte oder - was aufgrund der allgemein
undurchsichtigen Planungssituation näher liegt - noch gar nichts
Genaues sagen konnte.
b. Britische Einwände gegen JCS 1067. Die Direktive wurde mit
Roosevelt
abgeklärt
und
am
27.
September
über
das
Außenministerium an den amerikanischen Botschafter in London,
Winant, übermittelt, ohne daß dieser sie jedoch an die EAC
weiterleiten sollte. Die amerikanischen Joint Chiefs of Staff
(JCS) empfahlen das Dokument auch der Aufmerksamkeit der
amerikanisch-britischen Combined Chiefs of Staff (CCS), um auch
für die Zeit nach der deutschen Niederlage oder Kapitulation
eine gemeinsame Direktive zu besitzen. Auf diesem Weg erhielt
die Direktive die Aktenbezeichnung JCS 1067356. Die Briten
reagierten jedoch alles andere als erfreut auf die amerikanische
Weisung. Aus grundsätzlichen Erwägungen heraus wünschte das
britische
Kriegskabinett
nicht,
die
Russen
mit
einer
kombinierten und vereinbarten britisch-amerikanischen Politik zu
behelligen.
Außerdem
glaubte
es,
daß
alle
Nachkriegsangelegenheiten vor die EAC gehörten. Und falls man
dort in der verbleibenden Zeit keine Einigung erzielte, könnte
man mit der Direktive CCS 551 Weiterarbeiten. In jedem Fall aber
sei
die
amerikanische
Direktive,
verglichen
mit
den
detaillierten
355
356
144
FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 136
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 376
Anweisungen der Briten, zu vage und in einigen Dingen fehlerhaft.
Der britische General Macready, von dem John J. McCloy diese
Information erhielt, übte darüber hinaus auch Kritik an einigen
markanten Stellen der Direktive JCS 1067. Über den Plan, die
Offiziere und Unteroffiziere der Waffen- SS zu internieren,
meinte der Brite, daß
" ... the Waffen-SS should not be arrested
- the Waffen-SS were primarily military
figures and not security police and that
London felt they should not be treated
differently than the Wehrmacht."3B7
Die Amerikaner wollten die Waffen-SS jedoch nicht in erster Linie
aus Straf- oder Sicherheitszwecken internieren, sondern:
"Our idea of having them arrested was to
discredit
them
more
than
anything
else."(J.J. McCloy)358
Weitere Einwände erhoben die Briten gegen die geplanten
Schulschließungen, die Arrestierung bestimmter Offiziere und die
direkte Kontrolle Deutschlands durch eine viel zu geringe Anzahl
an Militärregierungs-Offizieren. Auch mit der vorgesehenen
Versorgung Deutschlands erklärten sie sich nicht einverstanden.
Während in der Direktive CCS 551 der kommandierende General noch
autorisiert
worden
war,
solche
Versorgungsmaßnahmen
durchzuführen, die notwendig waren, um Unruhen und Krankheiten zu
verhindern, sollte das nach JCS 1067 nur für "ernsthafte" Unruhen
und Krankheiten gelten. In London hielt man diese Änderung für
unbegründet und die Unterscheidung von "ernsthaften" und "nicht
ernsthaften" Unruhen und Krankheiten für nicht durchführbar.
Überhaupt sei die ganze amerikanische "Hände-weg-Politik"
("hands-off policy") geeignet, ein Chaos in Deutschland
hervorzurufen, für das sich die Amerikaner nach britischer
Einschätzung jedoch nicht zuständig fühlten, und zu dessen
Verhinderung
357
358
J.J. McCloy, "Memorandum for Colonel Chanler", 12.10.1944; RG 107
ASW 370.8 Germany
J.J. McCloy, "Memorandum for Colonel Chanler", 12.10.1944; ebd.
145
sie keinerlei Aktivitäten beabsichtigten. McCloy faßte den
britischen Standpunkt gegen die amerikanische Deutschland- und
Besatzungspolitik, wie sie sich in JCS 106/ manifestiert hatte,
so zusammen:
"Their thinking was along the line that
chaos in Germany was apt to produce chaos
in Europe and that it would result in
greater complications and difficulties than
we were seeking to avoid by a hands-off
policy.
Moreover,
they
thought
it
impractical to suggest that chaos could be
tolerated if we were occupying the country
- armies were bound to bring about order
and quiet; chaos is the negation of
occupation."3S9
Die Briten hatten stattdessen in London seit geraumer Zeit eigene
Richtlinien für die Besatzungszeit in Deutschland aufgestellt,
die - gemessen an JCS 1067 - umfassender und in den meisten
Sachbereichen auch konstruktiver und realitätsbezogener waren360.
Folgerichtig verweigerten die britischen CCS-Repräsentanten am 3.
Oktober 1944 dem amerikanischen Antrag, die Direktive als
gemeinsame britisch-amerikanische Weisung an Eisenhower zu
schicken, ihre Zustimmung361. Ohne britisches Einverständnis hätte
die Direktive JCS 1067 lediglich in der US-Besatzungszone
Gebrauch finden können; eine gemeinsame anglo- amerikanische, ja
alliierte
Politik
gegenüber
Deutschland
erschien
immer
unwahrscheinlicher.
IV.8. Die erste Revision der Besatzungsdirektive JCS 1067
In Washington war man in den folgenden Herbst- und Wintermonaten
1944/45 eilfertig bemüht, JCS 1067 einer Revision zu unterziehen,
die ihre Vorlage, Diskussion und vielleicht sogar Annahme in der
EAC ermöglichen sollte. Es zeigte sich jedoch schon nach kurzer
Zeit, daß die
359
360
361
J.J. McCloy, "Memorandum for Colonel Chanler", 12.10.1944, ebd.; zu
den britischen Bedenken vgl. A. Tyrell,
Großbritannien und die Deutschlandplanung der Alliierten 1941- 1945,
S. 290 ff..
Vgl. dazu A. Tyrell, ebd., S. 293 ff.
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 376
Gegensätze in den Ministerien durch das gemeinsame Papier vom 22.
September 1944 nur notdürftig überbrückt worden waren. JCS 1067
auch nur in Teilbereichen zu modifizieren, sie insbesondere
gemäßigter zu formulieren und mit längerfristigen Zielsetzungen
zu
versehen,
war
ein
schier
aussichtslos
erscheinendes
Unterfangen solange es auf interministerieller Basis vonstatten
ging und Roosevelt keine entscheidenden Akzente setzen wollte.
Vor allem dem Finanzministerium war sehr daran gelegen, an der
Direktive in ihrer bisherigen Form festzuhalten, hatten doch
seine Vorstellungen dort erstmals und zunächst für alle
Beteiligten
bindend
ihren
Niederschlag
als
offizielle
amerikanische Deutschlandpolitik gefunden. Zur Koordinierung der
anstehenden und Deutschland betreffenden Fragen wurde am 1.
Dezember 1944 erneut ein Komitee berufen, bestehend aus den
Unterstaatssekretären von Außen-, Kriegsund Marineministerium,
ohne Beteiligung des Finanzministeriums. Der Ausschuß arbeitete
unter dem Namen "State-War-Navy Coordinating Committee" (SWNCC).
Dort einigte man sich am 27. Dezember vorläufig auf einen
Entwurf, dessen finanzpolitischer Teil vor einer endgültigen
Beschlußfassung noch dem Finanzminister eingereicht wurde362. Da
bis zur nächsten Sitzung von Morgenthau noch keine Stellungnahme
eingegangen war, beschlossen die SWNCC-Mitglieder am 6. Januar
1945, die von ihnen überarbeitete und gebilligte Fassung, unter
Zurückstellung des finanzpolitischen Teils, an Botschafter Winant
nach London zu senden, um es den EAC-Delegierten als
amerikanischen Vorschlag zu unterbreiten363.
Grundlegende Änderungen zur ursprünglichen Direktive waren jedoch
nicht zu erkennen. Das lag daran, daß das Kriegsministerium, in
dem sich Stimson mittlerweile fast gänzlich aus Enttäuschung über
die amerikanische Deutschlandpolitik von dieser zurückgezogen und
seinem Mitarbeiter, John J. McCloy, das Feld überlassen hatte, in
362
363
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 4 02
FRUS 1945 III, S. 378; Text der revidierten Fassung von JCS 1067
vom 6.01.1945 ebd., S. 378 ff.
147
den zentralen Fragen den Positionen Morgenthaus sehr nahe stand,
zumindest was die Ziele anbetraf, weniger in den Gründen. Im
Kriegsministerium war man sich der Schwere der Aufgabe bewußt,
die
eine
Verantwortung
der
Besatzungsarmee
für
die
Aufrechterhaltung der Wirtschaft wie für das gesamte Leben und
Auskommen der Bevölkerung in der amerikanischen Besatzungszone
mit sich bringen mußte. Deshalb neigte man seit dem
entsprechenden Hinweis Eisenhowers im August 1944 dazu, sich bei
der Besetzung Deutschlands ganz auf die Bedürfnisse der eigenen
Besatzungsarmee zu konzentrieren, um sich - abgesehen von den
repressiven Maßnahmen, die man eigenverantwortlich ergreifen
wollte - von allen anderen unangenehmen, mit Komplikationen und
Schwierigkeiten
verbundenen
Aufgaben
einer
Besatzungsmacht
freizusprechen und sich der damit verbundenen Verantwortung zu
entziehen. Dazu gehörte insbesondere die Zuständigkeit für die
Instandhaltung und den weiteren Betrieb der Wirtschaft in
Deutschland mit dem Ziel, Chaos und Unterversorgung in der
Bevölkerung zu vermeiden. Diese einseitige Fixierung auf die
Interessen der Besatzungsmacht hatte ihre Festlegung bereits klar
im Papier vom 22. September gefunden und wurde auch im Entwurf
vom 6. Januar 1945 aufrechterhalten. Gleiches galt für die
Entnazifizierungs-Vorschriften. Für das Finanzministerium war der
"automatische Arrest" der erste Schritt auf dem Weg zu
Kriegsverbrecherprozessen und die Internierung selbst schon so
etwas
wie
eine
Strafund
Sühneleistung,
während
das
Kriegsministerium die Internierung als ein Verwaltungsmittel
ansah, um unerwünschte Personen aus dem Verkehr zu ziehen364.
Trotz dieser unterschiedlichen Ausgangspositionen unterstützte
das Kriegsministerium die Bemühungen des Finanzministeriums, die
Internierungs-Kategorien
in
alle
Bereiche
der
deutschen
Gesellschaft auszudehnen und auch in der Pyramide der NaziHierarchie immer tiefer anzusetzen. Im Kriegsministerium sah man
die Pflicht zur massenhaften Internierung deshalb mit der Zeit
immer weniger als Bürde,
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 391
denn als eine scheinbar unumgängliche Notwendigkeit an365. In dem
Papier vom 6. Januar 1945 wurden die zu inhaftierenden leitenden
Beamten und Inhaber hoher politischer Ämter erstmals so weit
gefaßt, daß auf unterster Ebene auch alle Bürgermeister in den
Städten und auf dem Land, sowie Amtsträger mit entsprechendem
Rang, davon betroffen waren366.
Alles in allem hatte sich die Direktive vom 6. Januar nicht allzu
weit von ihrer Vorläuferin entfernt. Die uneinsichtige Haltung
des War Department führte letztendlich dazu, daß die Direktive in
ihrer grundsätzlichen Aussage und in ihrer Substanz die gleiche
geblieben war. Besonders deutlich wurde der Einfluß Morgenthaus
in dem vom Finanzministerium überarbeiteten finanzpolitischen
Teil der Direktive, der am 12. Februar beendet wurde und die
Direktive
JCS
1067
in
ihrer
revidierten
Fassung
vervollständigte367.
Ganz überraschend war es nun der amerikanische Botschafter in
London, Winant, der sich weigerte, die überarbeitete Direktive in
der EAC vorzulegen. Er hatte vom wirtschaftspolitischen Teil den
Eindruck, jede Zone solle als separate wirtschaftliche Einheit
behandelt werden. Alle anderen EAC-Delegationen hatten in den
vorangegangenen Monaten aber immer wieder Wert darauf gelegt,
Deutschland als wirtschaftliche Einheit zu verwalten und die
Zonengrenzen nicht als Wirtschaftsgrenzen anzusehen 368.
Zwar versuchte das State Department, Winant vom Gegenteil zu
überzeugen, indem es auf den prinzipiellen Vorrang von
Kontrollrats-Entscheidungen
gegenüber
Entscheidungen
der
einzelnen Zonenoberbefehlshaber hinwies369. Winant hatte jedoch in
Gesprächen
mit
führenden
Offizieren
der
militärischen
Planungsstellen in London den Eindruck
365
366
367
368
369
P.Y. Hammond, ebd., S. 402
Vgl. FRUS 1945 III, S. 381 f.
Morgenthau Diary (Germany), S. 935 ff.; P.Y. Hammond,
Directives for Germany, S. 405
FRUS 1945 III, S. 396 f.
FRUS 1945 III, S. 398 f.
149
gewonnen, diese wollten die amerikanische Zone in Deutschland als
abgetrennte und eigenständige Einheit verwalten370. Durch Winants
Zurückweisung von JCS 1067 wurde die ohnehin fragliche Chance auf
eine gemeinsame alliierte Deutschlandpolitik, zumindest für eine
Phase des Übergangs, noch geringer. Neue Impulse erwarteten die
nationalen Planer in Washington und London von der Konferenz der
drei Regierungschefs Roosevelt, Churchill und Stalin in Jalta.
IV.9. Die Konferenz von Jalta und die diesbezüglichen Vorarbeiten
des Außenministeriums
Vorbereitende
Papiere
des
Außenministeriums.
Von Jalta
erhoffte sich Stettinius, der am 1. Dezember 1944 den kranken und
den an ihn gestellten Anforderungen schon lange nicht mehr
gewachsenen Cordell Hull als Außenminister abgelöst hatte, in den
noch immer streitigen Planungsbereichen eine den Vorstellungen
des State Department entgegenkommende graduelle Verschiebung der
Gewichte. Zu diesem Zweck ließ er in seinem Ministerium
detaillierte Papiere zur Behandlung Deutschlands ausarbeiten, die
er Präsident Roosevelt noch vor Konferenzbeginn vorlegte371.
a.
Dabei handelte es sich einmal um ein Papier zur generellen
Behandlung Deutschlands sowie um zwei weitere zur Wirtschaftsund Reparationspolitik. Das hervorstechende Merkmal aller drei
Papiere war die überaus starke Betonung einer langfristigen
Politik gegenüber Deutschland mit dem Ziel, einer eigenen
demokratischen Entwicklung Gelegenheit zur Entfaltung zu geben.
Die
Einflußnahme
der
Besatzungsmächte
sollte
sich
auf
Korrekturmaßnahmen beschränken, insbesondere im Erziehungssystem,
sobald eine "Säuberung" des Personals und der Lehrmittel beendet
worden sei372.
370
371
372
FRUS 1945 III, S. 405
Texte in FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 167 ff.
Vgl. FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 171 f.
Dennoch enthielten die Vorschläge eine ähnlich kurzsichtige und
"harte" Deutschlandpolitik wie sie auch bereits in den
vorangegangenen Direktiven ihren sichtbaren Ausdruck gefunden
hatte. Die diesbezüglichen Vorhaben waren ganz offensichtlich
noch immer an der bekannt harten und unnachgiebigen Haltung
Roosevelts gegenüber Deutschland orientiert, hatte doch der
Präsident
jedermann
unmißverständlich
wissen
lassen,
die
Deutschen müßten diesmal erfahren, daß sie geschlagen seien, und
lernen, daß die Deutschen Hilters Schuld teilten373.
Zu den sicherheitspolitischen Aufgaben der Militärregierung in
der Zeit unmittelbar nach Einstellung des organisierten
Widerstands zählte das Außenministerium unter anderem die
Demobilisierung
und
Auflösung
der
deutschen
Streitkräfte
einschließlich der halbmilitärischen Organisationen, Auflösung
und
verbot
aller
militärischen
und
halbmilitärischen
Dienststellen, Beschlagnahme und Zerstörung aller deutschen
Waffen, Munition und Kriegsgeräte und das Verbot ihrer
Herstellung, Zerstörung von Industrieanlagen und Maschinen, die
nicht zu friedlichem Gebrauch umgewandelt werden könnten,
Demontage der Luftfahrtindustrie und Verbot der Herstellung von
Luftfahrzeugen374.
Zu
den
politischen
Maßnahmen
gehörten
insbesondere
diejenigen
zur
Zerstörung
des
nationalsozialistischen Systems, wie Auflösung der NSDAP und der ihr
angeschlossenen und von ihr überwachten Organe, Abschaffung
nationalsozialistischer Gesetze und Einrichtungen und die
Entfernung aktiver Nazis aus dem öffentlichen und quasiöffentlichen Dienst und aus wichtigen Positionen in der
Privatwirtschaft. Wer zu inhaftieren und zu bestrafen sei, wurde
nicht näher ausgeführt. Es war nur ganz allgemein die Rede von
"hauptsächlich politischen Missetätern und Kriegsverbrechern"375.
Gleichzeitig sprach sich das State Department für
Reparationsleistungen in Form von Zwangsarbeit aus, die
373
374
375
deutsche
Vgl. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 409
FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 169
FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 170
151
wahrscheinlich besonders von der Sowjetregierung gewünscht
würden. Es sah, wie es sich ausdrückte, keinen zwingenden Grund,
sich solchen Forderungen zu widersetzen, solange sie sich in
angemessenen Grenzen hielten und bei der Aushebung der
Arbeitskräfte ein Unterschied zwischen vormals aktiven Nazis und
politisch passiven Deutschen gemacht werde. Für letztere müsse
hinsichtlich ihrer Behandlung ein Mindeststandard und eine
verhältnismäßig kurze Dienstzeit vorgesehen werden376. Zur ersten
Gruppe rechnete das State Department insbesondere die SS, ohne
zwischen Waffen-SS und Allgemeiner SS zu unterscheiden, und ohne
die britischen Einwände, bei der Waffen-SS handelte es sich
lediglich um einen der Wehrmacht ähnlichen Truppenteil, gebührend
zu berücksichtigen377. Wenn schon für den "normalen", d.h. völlig
unbelasteten deutschen Zwangsarbeiter nur ein Mindeststandard
gelten sollte, wird offensichtlich, welches Schicksal das State
Department den sogenannten "aktiven Nazis" und Mitgliedern von
"Naziorganisationen wie der SS"378 zugedacht hatte - ohne Anhörung
des Einzelnen, Feststellung individueller juristischer Schuld
oder gar einer Gerichtsverhandlung.
Als
Endziel
bezeichnete
das
des
politischen
Papier
die
Wiederaufbaus
Errichtung
eines
Deutschlands
demokratischen
Systems, die abhängig sei von einem erträglichen Lebensstandard
und der Mäßigung der noch vorherrschenden ultra-nationalistischen
Mentalität379. Dieser Zielsetzung widersprach jedoch der Plan für
die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern ganz
erheblich. Den erhöhten Lebensstandard sollten sich die Deutschen
durch den Beweis demokratischer Lebensformen erst noch verdienen.
Vorerst seien sie auf das Allernotwendigste zu beschränken. Daß
ein von alliierter Seite auferlegtes Leiden eines ganzen Volkes
einer
demokratischen
Entwicklung
kontraproduktiv sein könnte,
376
377
378
379
152
FRUS
Vgl.
Vgl.
FRUS
Malta und Jalta (dt.), S. 183
FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 170
FRUS Malta und Jalta (dt.),ebd.
Malta und Jalta (dt.), S. 174
nicht
förderlich,
sondern
wurde dabei nicht beachtet. Der entsprechende Absatz in dem
Papier des State Department lautete:
"Im Hinblick auf die Behandlung der
deutschen Bevölkerung sollten von den
Besatzungsbehörden
keinerlei
Schritte
unternommen
werden,
um
einen
höheren
Lebensstandard zu schaffen, als er zur
Verhütung von Krankheiten und Unruhen
erforderlich ist. Eine Übereinkunft in
bezug auf eine einheitliche quantitative
Definition
dieses
Standards
und
der
Maßnahmen, die die Siegermächte notfalls zu
ergreifen bereit sind, um dieses Minimum zu
gewährleisten, sollte angestrebt werden.
Dieses vereinbarte Minimum sollte dann
erhöht werden, wenn man übereinstimmt, daß
die politischen Tendenzen in Deutschland
eine gewisse Lockerung rechtfertigen; den
Bedürfnissen der befreiten Völker ist in
jedem Fall Vorrang zu gewähren."380
Die in JCS 1067 niedergelegte Politik des "Hände weg" lehnte das
US-Außenministerium weiterhin ab. Vielmehr empfahl es, mit Briten
und Sowjets eine Übereinkunft zu erzielen über die Übernahme der
Verantwortung zur Lenkung und Umorientierung des deutschen
Wirtschaftslebens. Es sei gänzlich unmöglich, daß eine Politik
des "Hände weg" von allen Großmächten akzeptiert und eingehalten
werde. Deshalb müsse man bereit sein, in der ersten Zeit der
Besatzung alle möglichen Schritte zu unternehmen, um die
Entwicklung einer chaotischen, unhaltbaren wirtschaftlichen Lage
zu vermeiden. Das sei auch eine Voraussetzung für die Ausübung
wirksamer wirtschaftlicher Kontrollen. Darüber hinaus sollte ein
Herstellungsverbot ergehen für Land- und Seekriegsausrüstungen.
Alle Flugzeugtypen und die Spezialanlagen für ihre Herstellung
sollten zerstört werden. Außerdem sollte ein Herstellungsverbot
für
eine
Auswahl
industrieller
Schlüsselerzeugnisse
(synthetisches Benzin und Gummi, bestimmte Werkzeugmaschinen und
Präzisionsgeräte), und es sollten Exportverbote oder -beschränkungen für Metalle, Metallerzeugnisse und Chemikalien
380
FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 179
153
in Erwägung gezogen werden. Die verbliebene deutsche Industrie
sollte auf Friedensproduktion umgestellt werden, insbesondere auf
die Produktion von Reparationsgütern."381
Das State Department ordnete die Reparationspolitik der
Sicherheitspolitik und den repressiven wirtschaftlichen Maßnahmen
unter, wie es auch schon Morgenthau getan hatte. Auf keinen Fall
dürften Sicherheits- und Wirtschaftsmaßnahmen geändert oder
abgeschwächt werden, um Deutschland in die Lage zu versetzen,
größere Reparationen zu leisten. Neben die schon oben
angesprochene Zwangsarbeit sollten als weitere Reparationsform
Güter aus der laufenden Produktion treten. Falls große Teile der
deutschen Industrie für immer demontiert werden sollten, müsse
das Hauptgewicht der Reparationsleistungen notwendigerweise mehr
auf der Ablieferung der bestehenden deutschen Anlagen als des
laufenden Ausstoßes liegen, wodurch der Gesamtumfang der
Reparationsleistungen aber verhältnismäßig gering sein werde. Um
Transferschwierigkeiten zu
vermeiden, sollten Reparationen
vorwiegend
"in
Naturalien",
d.h.
eher
in
Waren
und
Dienstleistungen als in Devisen bezahlt werden. Damit sich der
normale
Handel
schnell
wieder
erhole,
dürfe
das
Reparationsprogramm
jedoch
von
nur
kurzer
Dauer
sein,
möglicherweise beschränkt auf fünf Jahre, keinesfalls mehr als
zehn382.
Zu Restitutionsleistungen merkte das Papier an, Deutschland solle
grundsätzlich
die
uneingeschränkte Verpflichtung
auferlegt
werden, identifizierbares gestohlenes Eigentum zu ersetzen.
Geplündertes
Eigentum
sollte
durch
eine
Wiedererstattungskommission
an die Regierung
zurückgegeben
werden, deren Gerichtsbarkeit der Ort der früheren Lage des
Eigentums unterstehe, nicht an die einzelnen ehemaligen
Eigentümer383. Ein völkerrechtliches Novum stellte der nächste
Absatz dar, in dem es hieß:
381
382
383
154
FRUS Malta und Jalta
FRUS Malta und Jalta
FRUS Malta und Jalta
(dt.), S 179
. 182
(dt.), s.
(dt.), s. 183
"Jegliches Eigentum, welches während der
deutschen Besatzungszeit nach Deutschland
gebracht wurde, sollte als zwangsweise
entfernt betrachtet werden und folglich als
geplündertes Eigentum behandelt werden."
Dies bedeutete, daß durch die Wiedererstattung nicht begangenes
Unrecht und eine unrechtmäßige Eigentumsverlagerung rückgängig
gemacht werden sollten, sondern selbst ordnungsgemäß erworbene
und bezahlte Güter, z.B. aus Frankreich, als "geplündert"
angesehen wurden und zurückerstattet werden mußten385.
Die
Ergebnisse
der
Krim-Konferenz.
Jalta wurde jedoch,
entgegen aller damit verbundenen Hoffnung, kein Markstein für
eine substantielle Deutschlandpolitik der Alliierten. Keine der
drei Mächte war in der Lage, Vorschläge für eine umfassende kurzwie langfristige Deutschlandpolitik zu unterbreiten, die auch nur
eine annähernde Aussicht auf Annahme gehabt hätten. So begnügte
man sich auf der Krim damit, Einzelprobleme zu beraten und wenn
möglich auch zu entscheiden. Die EAC-Protokolle über die
Zoneneinteilung und den Kontrollrat fanden die Zustimmung der
drei Staatsoberhäupter386, die Teilungsfrage wurde beraten und zur
weiteren Erörterung an ein dafür extra geschaffenes Komitee
verwiesen387.
b.
Besonderen Raum nahm die Reparationsfrage ein. Die Sowjets, die
sich in diesem Punkt anders als die amerikanische Delegation
intensiv vorbereitet hatten, forderten Reparationen im Wert von
wenigstens zehn Milliarden Dollar. Der Plan zielte auf deutsche
Sachgüter und Dienstleistungen
384
385
FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 183
So wurden von den Franzosen nach dem deutschen Zusammenbruch unter
dem Titel "Restitutionen" selbst Güter aus der französischen Zone
abtransportiert, die noch aus Geschäftsbeziehungen aus der Zeit vor
1939 stammten, vgl. K.- D. Henke, Politik der Widersprüche - Zur
Charakteristik der französischen Militärregierung in Deutschland nach
dem Zweiten Weltkrieg, VfZG 1982, S. 500 ff., insb. S. 520 ff..
386
Vgl. den Bericht über die Krimkonferenz in: W. Cornides/H.
Volle, Um den Frieden mit Deutschland, S. 54 ff.
387 Vgl. dazu unten 2. Teil, VI.1.
155
ab und war eine Verkoppelung von sicherheitspolitischen und
reparationspolitischen Motiven. Insgesamt sollte innerhalb der
ersten beiden Jahre der Besatzung 80 Prozent der deutschen
Schwerindustrie demontiert und ins Ausland geschafft werden,
während die restlichen 20 Prozent zur Deckung der inländischen
Bedürfnisse Deutschlands ausreichen würden. Außerdem wollten die
Sowjets alle diejenigen Industriezweige demontiert wissen, die
nach ihrer Auffassung militärischen Zwecken dienten. Darüber
hinaus sollte Deutschland auch Reparationen aus der laufenden
Güterproduktion leisten388. Die Konferenzteilnehmer einigten sich
schließlich auf die Annahme einer die aufbrechenden Gegensätze
zwischen den Briten und Sowjets nur mühsam überbrückenden
Formulierung im Abschlußkommunique. Eine feste Reparationssumme
wurde nicht genannt. Es wurde jedoch grundsätzlich festgelegt,
daß Deutschland in größtmöglichem Umfang verpflichtet werde,
Ersatz für den verursachten Schaden zu leisten. Alles weitere
wurde
der
neu gegründeten Moskauer
Reparationskommission
übergeben, die die Frage des Umfangs und der Art und Weise der
Wiedergutmachung
behandeln
sollte.
In
einem zusätzlichen
Geheimabkommen sprachen sich die drei Regierungschefs dafür aus,
daß Deutschland die Reparationen unter anderem in Form von
Warenlieferungen und
- von besonderer Bedeutung - durch die Verwendung deutscher
Arbeitskräfte erbringen solle389
IV. 10. Das Memorandum des State Department vom 10. März 1945
Als Roosevelt am 28. Februar von der Krim nach Washington
zurückkam, übertrug er seinem Außenminister die Verantwortung für
die Ausführung der in Jalta gefaßten Beschlüsse mit Ausnahme der
militärischen Angelegenheiten. Andere Regierungsstellen sollten
nur insoweit hinzugezogen
388
389
156
. Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber
Deutschland 1941-1945, S. 119 ff.
O. Nübel, ebd., S. 125; W. Cornides/H. Volle, Um den Frieden
mit Deutschland, S. 55, 57
werden, als ihre jeweiligen Sachfelder berührt waren390.
Stettinius erkannte die Möglichkeit, auf der Basis dieses
Auftrags die bisherige Deutschlandplanung, soweit sie im
Außenministerium auf Ablehnung gestoßen war, in eine ihm gemäße
Richtung zu beeinflussen. Schon am 10. März 1945 ließ er
Roosevelt eine neue Fassung einer Direktive zur Behandlung
Deutschlands zukommen391.
Anders als die vor der Krim-Konferenz an Roosevelt übergebenen
Papiere enthielt der neue Entwurf des State Department keinerlei
langfristige Zielsetzungen und konzentrierte sich, wie schon JCS
1067, auf die erste Phase nach der Kapitulation oder Niederlage.
Den bei weitem umfassendsten Teil bildete die wirtschaftliche
Kontrolle Deutschlands, lag doch in diesem Bereich der
Schwerpunkt der Meinungsverschiedenheiten. Gleich zu Beginn des
wirtschaftspolitischen
Abschnitts
hatten
die
Planer
in
Stettinius' Ministerium der Kritik Winants an der letzten Fassung
von JCS 1067 Rechnung getragen, indem sie feststellten, daß bis
zu
einer
endgültigen
Entscheidung
über
Grenzänderungen,
Deutschland, wie es am 1. Januar 1938 existierte, als
wirtschaftliche Einheit zu verwalten und zu kontrollieren sei mit Ausnahme von Ostpreußen und Oberschlesien. Repressive
Eingriffe in die deutsche Industrie sollten sich vor allem auf
die Kriegsgüterproduktion beziehen, die zu stoppen und für die
Zukunft zu verhindern sei. Dies entsprach ebenso den vor Jalta
gemachten Vorschlägen wie das Verbot der Produktion und des
Beibehaltens von Produktionsanlagen für Flugzeuge, synthetisches
Benzin und Gummi sowie Leichtmetalle. Um die Metall-, Maschinenund Chemische Industrie in anderen Ländern zu fördern und zu
entwickeln, sollte der Export konkurrierender deutscher Produkte
für eine erhebliche Zeit unterdrückt werden392.
390
391
392
FRUS 1945 III, S. 433
Text des Entwurfs des Außenministeriums: FRUS 1945 III, S. 434 ff.;
Morgenthau Diary (Germany), S. 953 ff.
FRUS 1945 III, S. 436, 438
157
Übernommen aus den vorangegangenen Direktiven-Entwürfen wurde
unter anderem die "disease and unrest"-Klausel, wenngleich im
Entwurf des State Department gesprochen wurde von "disorder and
disease", was aber im Ergebnis keinen Unterschied gemacht haben
dürfte. Diese Gefahren im Interesse der Besatzungsmacht zu
verhüten, war die Aufgabe des Militärgouverneurs, der dafür einen
Mindeststandard an Lebensumständen für das deutsche Volk
bereitzustellen
hatte,
wozu
neben
Nahrungsmitteln
auch
Unterkünfte, Kleidung und medizinische Versorgung gehörten393. Die
Reparationsverpflichtungen müßten so sein, daß Deutschland sich
ihrer innerhalb eines Zeitraumes von zehn Jahren entledigen
könne394.
Die Entnazifizierungs-Bestimmungen des State Department waren in
vielen Teilen moderater als es bisher in JCS 1067 zu lesen war.
Arrest
und
Bestrafung
bezogen
sich
lediglich
"nationalsozialistische politische Übeltäter" ("Nazi
auf
political
malefactors") und Kriegsverbrecher. Auch die aus ihren Ämtern und
Positionen - unter anderem auch von beherrschenden Stellungen in
Industrie,
Handel
und
Finanzwesen
-
zu
entfernenden
Personengruppen wurden nur recht allgemein bestimmt, so daß den
Ausführenden ein gewisser Entscheidungsspielraum gelassen wurde.
Zu
Reparationsarbeiten
Deutsche
sollten
außerhalb
sich
Deutschlands
vornehmlich
aus
den
heranzuziehende
Reihen
aktiver
Nationalsozialisten und aus NS-Organisationen rekrutieren, wobei
ausdrücklich die SS und die Gestapo genannt wurden395. Gerade der
letzte Punkt war durch den entsprechenden Beschluß der drei
Regierungschefs in Jalta in den kommenden Debatten in Washington
von
besonderer
Schwere.
Reparationsarbeit
mußte
zwangsläufig
Sklavenarbeit heißen. Konnten die politisch Verantwortlichen das
noch
vertreten
und
mit
ihrem
eigenen
Selbstverständnis
vereinbaren? Die diesbezüglichen Planungen waren zwar nicht neu,
traten aber durch den Beschluß von Jalta nun erstmals
393
394
395
158
FRUS 1945 III, S. 436
FRUS 1945 III, S. 437
FRUS 1945 III, S. 435, 437
in ein Stadium ein, in dem eine definitive Entscheidung von
amerikanischer Seite nicht mehr zu umgehen sein würde.
Zunächst stimmte Roosevelt der Vorlage des Außenministers ohne
irgendwelche Anmerkungen oder Einschränkungen in der für ihn
typischen Art mit "OK FDR" zu und gab sie an Stettinius zurück396.
Nicht weniger typisch war, daß er schon wenige Tage danach, als
sich der Widerstand von Finanz- und Kriegsministerium andeutete,
einen Rückzieher auf der ganzen Linie machte und Stimson zu
verstehen gab, er könne sich an das Dokument nicht erinnern und
habe es nach seinem Kenntnisstand auch nicht gelesen .
IV.
11.
Dia
Reaktionen
in
Kriegs-
und
Finanzministerium-
gemeinsames Memorandum vom 23. März 1945
a. Widerstand gegen das State Department Memorandum. Morgenthau
und McCloy, der in Deutschlandfragen die Richtung des War
Departments anstelle des resignierten Stimson bestimmte, gingen
gemeinsam, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, gegen das
Papier vom 10. März vor. Der grundlegende Meinungsunterschied
entzündete sich an der Frage, welcher Spielraum den Tätigkeiten
der alliierten Militärregierung zu gewähren sei und inwieweit
überhaupt ein Bedürfnis nach einer alliierten Vereinbarung über
die Behandlung Deutschlands bestehe. Während das Außenministerium
eine möglichst breite alliierte Einigung über Deutschland und ein
aktives
und
gegebenenfalls
zentrales
Eingreifen
der
Zonenkommandeure zur Aufrechterhaltung der Friedenswirtschaft
herbeiführen
wollte,
widersetzten
sich
Finanzund
Kriegsministerium diesem Ansinnen. Beide hatten kein Interesse
daran, den amerikanischen Zonenkommandeur auf eine bestimmte
Politik festzulegen und ihn auch noch für die deutsche Wirtschaft
verantwortlich zu machen. Das Finanzministerium erhoffte sich
davon ein Chaos in Deutschland, das Kriegsministerium hingegen
wollte die militärischen Stellen nicht zu lange
396
397
FRUS 1945 III, S. 433, Anm. 43
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 418
159
mit zu viel politischen Dingen beschäftigt wissen und bevorzugte
deshalb die vollkommene Autorität des Zonenkommandeurs, selbst
über die zu treffenden Entscheidungen (unter militärischen
Gesichtspunkten) bestimmen zu können. Dementsprechend sollte jede
Zone
als
eigene
Einheit
verwaltet
werden
und
die
Besatzungstruppen fast ausschließlich nur mit ein paar einfachen
Aufgaben befaßt sein, wie mit der Entnazifizierung und
vornehmlich der Entwaffnung. Von fast allem anderen sollten sie
die Finger lassen, um sich so schnell wie möglich zurückziehen zu
können, und die zukünftige Entwicklung Deutschlands den Deutschen
überlassen. Im State Department bezeichnete man dieses Konzept
als "zerschlagen und wegrennen" ("smash-andrun")398.
Im
Finanzund
im
Kriegsministerium
wurden
daraufhin
Denkschriften angefertigt und zirkuliert, um den eigenen
Vorstellungen Nachdruck zu geben399. In einer Besprechung mit
Roosevelt am 22. März 1945 legte dieser nun doch einmal so etwas
wie eigene Vorstellungen zur Besatzungspolitik in Deutschland auf
den Tisch. Er distanzierte sich ausdrücklich von dem Papier vom
10. März, konnte aber nicht umhin zuzugeben, daß lenkende
Eingriffe in die Volkswirtschaft notwendig seien, um die Ziele
der amerikanischen Besatzungspolitik zu erreichen. Von einer
vollständigen Zerstörung der deutschen Industrie wollte er nichts
mehr wissen. Die Kompetenzen des Kontrollrats und der einzelnen
Zonenkommandeure sollten genauer bestimmt werden. McCloy hatte
den Eindruck, Roosevelt suche einen Mittelweg zwischen den
ursprünglichen Plänen Morgenthaus und den Vorschlägen des
Außenministeriums vom 10. März400. Die Ergebnisse des Gesprächs
mit Roosevelt wurden vom War Department zusammengefaßt und nach
geringen Änderungen durch Finanz- und Außenministerium von
Roosevelt am 23. März 1945 genehmigt401. Es blieb die letzte
offizielle
398
399
400
401
160
Vgl. FRUS 1945 III, S. 457
Vgl. FRUS 1945 III, S. 460 ff.; Morgenthau Diary (Germany), S.
1001 ff.; P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 418 ff.
Morgenthau Diary (Germany), S. 1070 ff.; P.Y. Hammond,
Directives for Germany, S. 420
Text dieses Papiers: FRUS 1945 III, s. 471 ff.; vgl. auch
Äußerung Roosevelts zur Besatzungspolitik in Deutschland. Drei
Wochen später starb der Präsident.
Inhalt der gemeinsamen Denkschrift vom 23. März 1945. Die
Denkschrift vom 23. März sollte in der EAC bekannt gemacht werden
und gleichzeitig als Grundlage dienen für Direktiven an den
kommandierenden General der Vereinigten Staaten in Deutschland.
Die Autorität des Kontrollrates im Hinblick auf die Formulierung
der Politik, die Deutschland als Ganzes betreffe, stehe an erster
Stelle, und die dort vereinbarten politischen Maßnahmen sollten
in jeder Zone durch den dortigen Kommandeur ausgeführt werden.
Eigene Entscheidungsbefugnisse in Übereinstimmung mit den an ihn
ergangenen Direktiven wurden dem Zonenkommandeur nur für den Fall
zugestanden, daß eine gemeinsame Politik nicht vereinbart sei,
und sie nur Angelegenheiten beträfen, die ausschließlich die
eigene Zone angingen. Nachdrücklich wurde auf das Ziel der
Dezentralisierung der politischen Struktur in Deutschland und der
Entwicklung
lokaler
Verantwortlichkeiten
hingewiesen.
Dezentralisiert werden sollte außerdem die deutsche Wirtschaft.
Ausnahmen von diesem Grundsatz, und damit eine zentrale
Kontrolle, dürften nur in ein paar wenigen, genau bezeichneten
Gebieten zugelassen werden. Kontrollen sollten der deutschen
Wirtschaft nur insoweit auferlegt werden, wie es notwendig sei,
um
das
Programm
der
industriellen
Entwaffnung
und
Entmilitarisierung, Reparationen und die Versorgung befreiter
Gebiete auszuführen und die Produktion und Beibehaltung von
Gütern und Dienstleistungen zu gewährleisten, die verlangt
würden, um die Bedürfnisse der Besatzungstruppen und nach
Deutschland verschleppter Personen ("Displaced Persons") zu
befriedigen. Herstellung und Aufrechterhaltung von Gütern und
Dienstleistungen sollten darüber hinaus, aber bezeichnenderweise
an letzter Stelle genannt, dazu dienen, eine Hungersnot oder
solche Krankheiten und zivile Unruhen zu verhindern, die die
Besatzungstruppen gefährden könnten. Keinesfalls aber dürften
Maßnahmen ergriffen werden, auch nicht in
a.
Morgenthau Diary (Germany), S. 1115 ff.
161
Ausführung des Reparationsprogramms, die zu einer Unterstützung
des grundlegenden Lebensstandards in Deutschland führen würden,
der höher sei als der in irgendeinem der Nachbarländer. Die
Verantwortung für die deutsche Wirtschaft, auch für die
Kontrollen, sollte Deutschen übertragen werden. Dadurch sollte
dem deutschen Volk klargemacht werden, daß es selbst die
Verantwortung für den Zusammenbruch der Wirtschaft trage402.
Dies war angesichts der durch den Krieg herbeigeführten
Zerstörungen und der geplanten Demontagen quasi ein Todesurteil
für die deutsche Industrie, die nur sich selbst überlassen und
ohne Stützung durch die Alliierten unmöglich überleben konnte.
Auf diese Art und Weise hätte man von amerikanischer Seite ihre
Zerstörung zwar nicht eigenhändig vorgenommen, durch tatenloses
Zusehen aber letztendlich das gleiche Ziel erreicht. Wie auf
diesem Boden eine Erneuerung und Rückführung der deutschen
Wirtschaft auf den internationalen Markt vonstatten gehen konnte,
wie es den Plänen des Außenministeriums ja eigentlich entsprach,
blieb eine ungelöste Frage. Daß Chaos, Hunger und eine
zerschlagene Wirtschaft in den amerikanischen Überlegungen eine
feste Größe waren, die man gar nicht mit allen zur Verfügung
stehenden Mitteln zu bekämpfen gedachte, sondern vielmehr als
eine angemessene "Strafe" für die Deutschen ansah, zeigte ein
Absatz des Memorandums vom 23. März, in dem es hieß:
"Germany's ruthless warfare and fanatical
Nazi resistance have destroyed German
economy and made chaos and suffering
inevitable. The Germans cannot escape
responsibility for what they have brought
upon themselves."403
Damit war gerade in der zentralen Streitfrage, der Behandlung der
deutschen Wirtschaft, das Außenministerium erneut unterlegen. In
den
Bereichen
Auflösung
von
NSDAP
und
untergeordneten
Organisationen, Aufhebung von NS-Gesetzen,
402
403
162
FRUS 1945 III, S. 471 f.
FRUS 1945 III, S. 471
Kontrolle des Erziehungswesens stimmten die Ministerien ohnehin
überein, und die Arrest- und Entlassungskategorien wurden derart
vage formuliert, daß es auch hier zu keinen Meinungsdifferenzen
kam404.
IV.12. Letzte Revision von JCS 1067
In Washington ging man nun daran, die im Memorandum vom 23. März
niedergelegten grundsätzlichen Aussagen in die Direktive JCS 1067
einzupassen. Zu diesem Zweck hatte Roosevelt auf Anregung von
Stettinius ein "Informal Policy Committee on Germany" (IPCOG)
zusammengestellt, das unterteilt war in Unterausschüsse für
politische, finanzielle und wirtschaftliche Angelegenheiten405.
Das Ergebnis war eine insgesamt 52 Absätze umfassende Direktive,
die am 11. Mai 1945 vom neuen amerikanischen Präsidenten Harry S.
Truman gebilligt und drei Tage später als dritte offizielle
Version von JCS 1067 an den amerikanischen Oberbefehlshaber,
General Eisenhower, gesandt wurde406.
Der Versuch, das Memorandum vom 23. März in der EAC zum
Gegenstand von Verhandlungen zu machen und in diesem Gremium
gemeinsame Besatzungsrichtlinien zu
erarbeiten,
scheiterte
letztlich daran, daß den Delegierten nicht ausreichend Zeit
blieb, die amerikanischen Vorschläge und die von den Briten
vorgelegten Neufassungen bis zur Potsdamer Konferenz und der
nachfolgenden Auflösung der EAC hinreichend ausführlich zu
erörtern407. Damit blieb die Interims-Direktive nur für den
amerikanischen Oberbefehlshaber für dessen Vorgehen in der
amerikanischen Zone bindend. Briten und Sowjets - nach Potsdam
auch die Franzosen - gingen nach eigenen Plänen vor; einer
gemeinsamen Politik über den alliierten Kontrollrat war ebenfalls
wenig Erfolg beschieden.
404
405
406
407
FRUS 1945 III, S. 472 f.
Über die Arbeit des IPCOG vgl. P.Y. Hammond, Directives for
Germany, S. 422 ff..
P.Y. Hammond, ebd., S. 427
Vgl. A. Tyrell, Großbritannien und die Deutschlandplanung der
Alliierten, S. 325 ff.
163
Inhalt
der
revidierten
Fassung.
Das
Ergebnis
der
amerikanischen Besatzungsplanung war ein äußerst negatives
Dokument,
das
den
maßgeblichen
Einfluß
Morgenthau'schen
Gedankenguts
nicht
verbergen
konnte.
In
dem
Abschnitt
"Grundlegende Ziele der Militärregierung in Deutschland" von JCS
1067 stand als Weisung an den kommandierenden General der
amerikanischen Besatzungstruppen wie schon in der Denkschrift vom
23. März zu lesen:
a.
"Es muß den Deutschen klargemacht werden,
daß
Deutschlands
rücksichtslose
Kriegführung und der fanatische Widerstand
der Nazis die deutsche Wirtschaft zerstört
und Chaos und Leiden unvermeidlich gemacht
haben, und daß sie nicht der Verantwortung
für das entgehen können, was sie selbst auf
sich geladen haben."
Der dann folgende Satz kann gleichsam als Motto der Direktive,
als Ausdruck des ihr zugrundeliegenden Geistes und Wegweiser für
die Tendenz der geplanten - und weitestgehend in den ersten
beiden Nachkriegsjahren durchgeführten - US-Besatzungspolitik. in
Deutschland gelten:
"Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke
seiner Befreiung, sondern als besiegter
Feindstaat."408 .
Als alliierte Besatzungsziele wurden aufgeführt, Deutschland
daran zu hindern, je wieder eine Bedrohung des Weltfriedens zu
werden,
die
Abwicklung
des
Reparationsund
Restitutionsprogramms, Nothilfe für die durch den Nazi- Angriff
verwüsteten Länder sowie die Betreuung und Rückführung der
Kriegsgefangenen und Verschleppten der Mitgliedstaaten der
Vereinten Nationen409.
408
409
164
Dt. Text der Direktive JCS 1067 in W. Cornides/H. Volle, Um den
Frieden mit Deutschland, S. 58 ff.; vgl. Originaltext u.a. auch FRUS
1945 III, S. 484 ff., 510 ff.; Morgenthau Diary (Germany), S. 1286
ff.
W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 60
Es wurde der Grundsatz ausgegeben, daß der deutschen Wirtschaft
in dem Maße Kontrollen auferlegt werden könnten, wie sie
erforderlich seien, um die vorstehend genannten Ziele zu
erreichen und soweit sie zum Schutz der Sicherheit und zur
Befriedigung des Bedarfs der Besatzungs- streitkräfte, zur
Sicherung der Produktion und Aufrechterhaltung von Lieferungen
und Dienstleistungen notwendig seien, um Hungersnot oder
Krankheiten und Unruhen, die eine Gefährdung dieser Streitkräfte
darstellen würden, vorzubeugen410. Weiterhin hieß es in JCS 1067:
"Sie werden bei der Durchführung des
Reparationsprogramms
oder
anderweitig
nichts unternehmen, was geeignet wäre, die
grundlegenden
Lebensbedingungen
in
Deutschland oder in Ihrer Zone auf einem
höheren Stand zu halten, als in irgendeinem
benachbarten Mitgliedstaat der Vereinten
Nationen."411
Das bedeutete unter anderem für die Wirtschaft in der
amerikanischen Zone eine "Hände-weg"-Politik soweit es um eine
positive und fördernde Einflußnahme zur Erhaltung und Stärkung
ging, während Eingriffe in die Substanz der Industrie durch
Demontagen und Zerstörungen befürwortet wurden. Die deutsche
Wirtschaft sollte so verwaltet und kontrolliert werden, daß die
genannten Hauptziele erreicht würden. Soweit es zur Erreichung
dieser Ziele notwendig sei, seien auch Wirtschaftskontrollen
einzuführen. Danach hieß es:
"Abgesehen von den für diese Zwecke
erforderlichen Maßnahmen werden Sie keine
Schritte unternehmen, die
(a)
zur
wirtschaftlichen
Wiederaufrichtung Deutschlands führen könnten oder
(b)
geeignet
sind,
die
deutsche
Wirtschaft zu erhalten oder zu stärken."412
410
411
412
W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 60 f.
W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 61, 66
W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 65
165
An diesem Abschnitt zeigt sich, daß die Bemühungen de:;
Außenministeriums aus dem Frühjahr 1945, den US- Oberbefehlshaber
zu einem konstruktiven wirtschaftspolitischen Vorgehen zu
verpflichten, dem einhelligen Widerstand von Kriegs- und
Finanzministerium zum Opfer gefallen waren. Die Wirtschaft
insgesamt, vorneweg die Industrie, durch Kriegseinwirkungen
beschädigt
und
durch
nachfolgende
Demontagen
vollends
ausgeblutet, sollte sich selbst überlassen bleiben. Das mußte für
Deutschland dem Morgenthau-Plan ähnliche Folgen nach sich ziehen.
Wie Deutschland unter diesen Prämissen Reparationen und
Hilfsgüter liefern sollte, ohne dabei selbst zu kollabieren, war
eine nicht zu beantwortende Frage. Denn nur von der eigenen
landwirtschaftlichen
Erzeugung,
die
freilich
auf
einen
Höchststand gebracht werden sollte413, konnten die Deutschen
unmöglich überleben.
Unter dem Punkt "Entnazifizierung" wurde all jenes aufgezählt,
worüber in Washington bereits seit Monaten Einverständnis
bestand: Auflösung der NSDAP, ihrer Gliederungen, angeschlossenen
Verbände, untergeordneten Organisationen und aller öffentlichen
Nazi-Einrichtungen, die als Werkzeuge der Parteiherrschaft
gegründet worden waren; Aufhebung der Gesetze, die den
politischen Aufbau des Nationalsozialismus und die Grundlage für
das Hitler- Regime schaffen sollten, und aller Gesetze, Erlasse
und Verordnungen, die eine unterschiedliche Behandlung aufgrund
von Rassezugehörigkeit, Nationalität, Glaubensbekenntnis und
politischer Meinung anordneten. Sodann folgte eine ausufernde
Liste derer, die aus ihren öffentlichen Ämtern und aus wichtigen
Stellungen in halbamtlichen und privaten Unternehmungen entfernt
und ausgeschlossen werden sollten. Dazu gehörten alle Mitglieder
der Partei, die nicht nur nominell in der Partei tätig gewesen
seien, alle, die den Nazismus oder Militarismus aktiv unterstüzt
hätten, sowie alle die Personen, die den alliierten Zielen
feindlich gegenüberstünden. Die auf diese Weise zu säubernden
Einrichtungen umfaßten quasi alle staatlichen und
413
166
W. cornides/H. Volle, ebd., s. 66
gesellschaftlichen Bereiche: Organisationen des Bürgerstandes,
des Wirtschaftslebens und der Arbeiterschaft, Körperschaften und
andere Organisationen, an denen die deutsche Regierung oder
Unterabteilungen ein überwiegend finanzielles Interesse habe,
Industrie, Handel, Landwirtschaft und Finanz, Erziehung und
Presse sowie Verlagsanstalten und andere der Verbreitung von
Nachrichten und Propaganda dienende Stellen414.
Dieser Katalog war eine Neuauflage der Kategorien, die schon in
der ursprünglichen Direktive vom 22. September 1944 enthalten
gewesen waren. Gleiches galt für die Internierungskategorien. Von
ihnen sollten laut JCS 1067 "als Kriegsverbrecher verdächtige
Personen und Verhaftungen im Interesse der Sicherheit" erfaßt
werden. Zur ersten Gruppe zählten Adolf Hitler, seine "HauptNazi-Komplizen", andere Kriegsverbrecher und alle die Personen,
die an der Planung oder Durchführung von Nazi-Unternehmungen
beteiligt
gewesen
seien,
die
mit
Greueltaten
oder
Kriegsverbrechen in Verbindung gestanden oder zu solchen geführt
hätten. Zur zweiten Gruppe gehörten alle diejenigen Personen, die
die Erreichung der Besatzungsziele gefährden würden, wenn man sie
in Freiheit ließe415. Eine Liste der in diese Kategorie Fallenden,
die dem entsprechenden Abschnitt von JCS 1067 anhing, wurde noch
Jahre danach von den Amerikanern nicht veröffentlicht, da sie
befürchteten, einige der immer noch Gesuchten könnten dadurch
gewarnt werden und sich ihrer Verhaftung entziehen416. Aus einer
späteren
Veröffentlichung
wissen
wir,
daß
diese
Liste
deckungsgleich war mit der in der September-Direktive von 1944,
also auf dem Höhepunkt der Morgenthau-Erfolge, enthaltenen417.
Weiterhin verpflichtete JCS 1067 den Oberbefehlshaber, alle
außerordentlichen Gerichtshöfe aufzulösen und alle Straf-, Zivilund Verwaltungsgerichte zu schließen. Sie dürften ihre Tätigkeit
erst wieder aufnehmen, wenn alle Spuren des
414
415
416
417
W. Cornides/H. Volle,
W. Cornides/H. Volle,
W. Cornides/H. Volle,
Vgl. Morgenthau Diary
ebd., S. 61
ebd., S. 62
ebd., S. 63
(Germany), S. 1291 f..
167
Nazismus und das Nazi-Personal entfernt seien. Allo pädagogischen
Einrichtungen in der amerikanischen Zone seien zu schließen und
erst nach ihrer Säuberung wieder zu öffnen418. Die Auszahlung von
Militärpensionen, -einkünften und -Unterstützungen sei ebenso zu
verbieten wie die Auszahlung aller öffentlichen und privaten
Pensionen oder anderer Einkünfte oder Unterstützungen, die
aufgrund der Mitgliedschaft oder Dienstleistungen für die NSDAP,
ihre Gliederungen, angeschlossenen Verbände oder untergeordneten
Organisationen gewährt würden, oder an eine Person, die zu
internieren sei. Kredite von irgendeiner ausländischen Person
oder Regierung dürften Deutschland oder einzelne deutsche
Staatsangehörige nicht erhalten, es sei denn, der Kontrollrat
erteile dazu in besonderen Notfällen seine Genemigung419.
Bewertung der revidierten Fassung. Die Direktive JCS 1067
war, wie selbst Kriegsminister Stimson feststellte (aber erst
1947), "bedauerlich negativ" ("a painfully negative document")420.
Sie "reflektierte in einem großen Maß eine Philosophie von
Quarantäne und Rache" ("... reflected in large measure a
philosophy of quarantine and revenge ...")421. Der amerikanische
Völkerrechtler und Historiker Alfred M. de Zayas charakterisiert
die Direktive folgendermaßen:
b.
"Die Weisung JCS 1067 war also ... eine
Strafmaßnahme, die den wirtschaftlichen
Rückschritt in Deutschland befördern und
die Wiederherstellung des ’status quo ante'
verhindern sollte. Während diese Direktive
die amerikanischen Behörden anwies, darüber
zu
wachen,
daß
sich
der
deutsche
Lebensstandard
nicht
über
den
seiner
Nachbarn hob, versäumte sie jedoch, einen
Mechanismus zu entwerfen, nach dem der
Lebensstandard
der
verschiedenen
in
Betracht kommenden Länder zu messen und zu
vergleichen gewesen wäre. Deshalb nahmen
die alliierten Befehlshaber im besetzten
418
419
420
421
168
W. Cornides/H. Volle, Um den Frieden mit Deutschland, S. 63 f.
W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 71, 73
Stimson and Bundy, On Active Service in Peace and War, S. 582
H. Zink, The United States in Germany 1944-1955, S. 92
Deutschland
schlicht
an,
daß
der
Lebensstandard in den anderen europäischen
Ländern immer noch niedriger als der
deutsche sei, und verhinderten private
Initiativen, die viele Deutsche, vor allem
die
verelendeten
Vertriebenen,
vor
Hungertod und Krankheit hätten retten
können."
JCS 1067 war in seiner abschließenden Fassung nicht so sehr ein
Produkt Morgenthaus, wie häufig angemerkt worden ist423. Das
Papier war vielmehr in seinen allermeisten Punkten - sieht man
einmal vom wirtschaftspolitischen Konzept ab - das Ergebnis einer
gleichgerichteten, der gleichen Interessenlage entspringenden und
den gleichen Zielen dienenden Deutschlandpolitik der drei
zuständigen Ministerien, jeweils ausgerichtet am wirklichen oder
auch vermeintlichen Willen des "spiritus rector" Franklin D.
Roosevelt, dessen - trotz aller argumentativer Mäander - bekannt
"harte" Deutschlandplanung sein Nachfolger Harry Truman zunächst
unbeirrt fortsetzte. In den meisten Fragen mußte Morgenthau sich
gar nicht durchsetzen, weil er gar keinen Widerstand zu
befürchten hatte. Dazu gehört exemplarisch das Problem des
deutschen Lebensstandards, über dessen Niedrighaltung es im
Grunde zwischen allen Ministerien keine Differenzen gab. Viele
weitere Maßnahmen, die man als für eine "harte" Haltung
signifikant
bezeichnen
kann
(z.B.
die
überspannten
und
formalistischen Internierungs- und Entlassungskategorien, keine
Übernahme der Verantwortung für die Aufrechterhaltung der
Volkswirtschaft, exzessive Kontroll- und Überwachungstätigkeiten
in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens etc.) stammten
aus dem Kriegsministerium, entsprachen Morgenthaus Plänen
(zumindest liefen sie ihnen nicht entgegen und ließen sich gut
miteinander harmonisieren) und stießen im Außenministerium auf
keinen Widerspruch, der so durchdacht, in sich differenziert und
entsprechend artikuliert worden wäre, daß er bei Roosevelt
langfristigen Erfolg hätte haben können. Diese Einsichten
422
423
A.M. de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der
Deutschen, S. 150
Vgl. nur R. Murphy, Diplomat unter Kriegern, S. 330; J.P.
Warburg, Deutschland - Brücke oder Schlachtfeld, S. 20
169
exkulpieren nicht Morgenthau, sie belasten vielmehr die anderen
Minister, subalterne Planer und nicht zuletzt natürlich Roosevelt
selbst424.
Nicht durchzusetzen vermochte sich Morgenthau in der Streitfrage
einer
Agrarisierung
Deutschlands.
Es
war
jedoch
ein
offensichtlicher Erfolg für ihn (und das War Department), daß für
die Wirtschaftspolitik der Grundsatz des "Hände weg" gelten
sollte. Dies konnte nur Chaos, Elend und einen totalen
Zusammenbruch der deutschen Volkswirtschaft bedeuten. Die
Agrarisierung wäre von ganz alleine gekommen, nicht von dritter
Seite aufgezwungen, sondern als das zwangsläufige Produkt der
"Hände weg"- Politik. Die Rechtfertigung der Amerikaner für diese
Zustände war in JCS 1067 bereits angelegt: Die Deutschen seien an
diesen Umständen ja schließlich selbst schuld und müßten sich
dies alles selbst zuschreiben. So spielte das Kriegsministerium,
die
volkswirtschaftlichen
Pflichten
einer
Besatzungsmacht
negierend
und
in
Überbetonung
angeblicher
militärischer
Sicherheitsinteressen, dem Finanzministerium - bewußt oder
unbewußt - in die Hände. Das feine Gleichgewicht zwischen den
humanen Pflichten einer Besatzungsmacht gegenüber der Bevölkerung
auf
feindlichem
Gebiet
und
den
eigenen
militärischen
Sicherheitsinteressen geriet in eine vollkommene Schieflage
zugunsten der letzteren. An die Stelle der "militärischen
Notwendigkeit", die in Ausnahmefällen zur Einschränkung der
Fürsorge für die Bevölkerung führen konnte (aber nur solange
überhaupt noch Feindseligkeiten von beiden Seiten vonstatten
gingen), trat in der amerikanischen Planung für die Zeit nach der
Kapitulation
oder
vollständigen
militärischen
Niederlage
Deutschlands die "Verwirklichung der Besatzungsziele". Der
Verfolgung dieser Ziele wurde im Verhältnis zum Wohlergehen der
deutschen Bevölkerung absolute Priorität eingeräumt, soweit nur
ein nicht näher
424
170
Daß JCS 1067 nicht so sehr auf den Einfluß Morgenthaus
beruhte, sondern auch den Ansichten anderer Persönlichkeiten
entsprach, hat zuletzt W. Krieger, General Lucius D. Clay und die
amerikanische Deutschlandpolitik 1945-1949, S. 38 ff., 49 ff.
betont.
bestimmter und nicht weiter verifizierbarer Mindeststandard
garantiert wäre. Daß die Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907
eine derartige Abwägung zwischen dem Wohlergehen der Bevölkerung
und politischen Besatzungszielen nicht kennt, wurde in der
Planung übergangen.
IV.13. Reparationsplanungen nach Jalta
Aus den Planungen für die Besatzungsdirektive war ein Thema nach
der Jalta-Konferenz ausgeklammert worden: Inhalt und Grenzen der
von Deutschland zu verlangenden Reparationen. Auf der Krim hatten
sich
die
drei
Regierungschefs
auf
die
Berufung
einer
Reparationskommission geeinigt, die auch ab März 1945 ständig in
Moskau konferierte. Die Instruktionen für die amerikanische
Delegation wurden im Informal Policy Committee beraten425. Breiten
Raum nahm in den in diesem interministeriellen Organ geführten
Gesprächen die Frage nach der Verwendung von deutschen
Zwangsarbeitern in der Sowjetunion und anderswo außerhalb
Deutschlands ein. Der geheime Beschluß von Jalta, Deutsche als
Zwangsarbeiter auszunutzen und dies alles als Reparationsleistung
zu betrachten, ließ dieses Thema auch im Informal Policy
Committee zum Tagesordnungspunkt werden. Zwangsarbeit war über
die Jahre immer wieder ins Gespräch gekommen, ohne allerdings
jemals in Einzelheiten ausformuliert worden zu sein. Dennoch
bestand in den politischen Etagen und zunehmend auch in der
Bevölkerung
ein
grundsätzliches
Einvernehmen
über
die
Heranziehung deutscher Zwangsarbeiter zu Wiederaufbautätigkeiten
im Ausland nach der militärischen Niederwerfung Deutschlands. Eine
Differenzierung wurde schon in einem Memorandum im November 1944
gemacht: Die Reparationsarbeit solle zum einen von aktiven oder
ehemals aktiven Nazis und zum anderen von politisch passiven
Deutschen erbracht werden. Die Auswahl von "Nazi-Arbeitskräften"
sei aber primär gar kein Reparations-Problem, sondern werde aus
Bestrafungs- und Sicherheitsgründen vorgenommen. Als weitere
Motive für das
425
Vgl. die umfassende Darstellung bei O. Nübel: Die
amerikanische Reparationspolitik gegenüber Deutschland, 1941- 1945,
S. 140 ff.
171
Verlangen
nach
Reparationsarbeitern
wurden
Wiederaufbauzwecke in von deutschen Truppen zerstörten Gebieten
und Vergeltung gegen Deutschland aufgeführt. Im letzteren Sinn
hieß es in der Denkschrift:
"Retribution against Germany as a whole.
There is a widespread belief that the
German people as a whole cannot escape
responsibility for the criminal acts of the
Nazi regime. The concept of reparation in
general is, of course, a reflection of this
view.
Given this premise, not only is the use of
labor for reparation purposes quite proper,
but the selection of such labor from the
general population acquires considerable
moral justification."426
Die
Briten
unternahmen
Ende
Februar
1945
durch
ihren
Delegationsleiter William Strang einen Versuch, in der EAC
gemeinsame
Festlegungen
auf
die
Verwendung
deutscher
Zwangsarbeiter und deren Behandlung zu erreichen, blieben jedoch
erfolglos427. In Washington kristallisierte sich bis Ende April
die Ansicht heraus, Reparationsarbeiter nicht wahllos aus der
Bevölkerung zu rekrutieren, sondern vornehmlich Angehörige von
SS, Gestapo, Offiziere und Unteroffiziere der Wehrmacht und
solche Personen zu verwenden, die an der Finanzierung und am
Aufbau der Nazi- Maschinerie mitgewirkt hatten. Lediglich bei den
Wehrmacht- Soldaten hatten die Planer im Kriegsministerium wegen
der entgegenstehenden Vorschriften der Genfer Konvention noch
Bedenken428.
Gegen jegliche Art von Zwangsarbeit wandte sich in einer Sitzung
am 1. Mai 1945 vehement der Leiter der Foreign
426
"Memorandum # 3 Labor Services as a Form of German Reparation",
22.11.1944, RL, I. Lubin Papers, Box Nr. 107 Reparations-Labor
427
Memorandum der britischen Delegation, "Use of German Labour by the
Allies after the surrender of Germany", 27.02.1945; RL, I. Lubin
Papers, Box Nr. 107 Reparations-Labor
Col. G.A. Brownell, War Dep., Office of the Assistant Seer, of War,
"Memorandum for Mr. McCloy", "Subject: Plan for exaction of
reparation from Germany", 27.04.1945; RG 107 ASW 370.8 Germany [Reparations-]
428
172
Economic Administration (FEA), Leo Crowley429. Er vermochte sich
jedoch nicht durchzusetzen. Zu schwer wog die Tatsache, daß die
Regierungschefs
sich
in
Jalta
auf
Zwangsarbeit
als
Reparationsform verständigt hatten. Hinzu kam der Druck der
Öffentlichkeit, die, einer Meinungsumfrage zufolge, sich zu 71
Prozent dafür ausgesprochen hatte, Rußland drei oder vier
Millionen Deutsche zum Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen430.
Die Vertreter der beteiligten Ministerien einigten sich
schließlich, zur Zwangsarbeit einen mehr oder weniger fest
umrissenen
Personenkreis
zu
verpflichten,
den
sie
für
bestrafenswert
hielten:
Dazu
gehörten
Kriegsverbrecher,
Mitglieder der Gestapo, der SS und des Sicherheitsdienstes der
SS, die leitende Spitze der SA sowie führende Mitarbeiter,
Förderer oder Angehörige der Partei und ihrer ausführenden
Organe431.
Um etwaigen rechtlichen Einwänden gegen die geplante Überstellung
an andere Länder, vorrangig die Sowjetunion und Frankreich, von
vornherein begegnen zu können, wurde das entsprechende Papier
noch Robert H. Jackson vorgelegt, der damals Leiter des
Ausschusses für Kriegsverbrechen war und kurz darauf zum
Hauptankläger in Nürnberg bestellt wurde432. Er legte in seinem
Antwortschreiben vom 14. Mai Wert darauf, daß Kriegsverbrecher
nur dann zu Zwangsarbeiten herangezogen werden dürften, wenn sie
verurteilt worden seien, und auch nur für den im Urteil genannten
Zeitraum und zu den dort genannten Bedingungen. Zu den anderen
Personengruppen wollte Jackson sich nicht äußern, weil sie nicht
in seinen Kompetenzbereich
429
Vgl. Morgenthau Diary (Germany), S. 1343 f.; vgl. zusammenfassend:
"Telephone conversation with Colonel Brownell and Colonel Gerhardt",
02.05.1945; RG 107 ASW 370.8 Germany [ Reparations-]
430
431
Morgenthau Diary (Germany), S. 1348, 1405
Morgenthau Diary (Germany), S. 1406, 1410; vgl. auch den
vorangegangenen Entwurf: "Working Party Draft Statement on Labor
Reparations", 02.05.1945; RG 107 ASW 370.8 Germany [ Reparations]; Zusammenfassung der Diskussion bei O. Nübel,
Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber Deutschland 19411945, S. 155 ff..
Morgenthau Diary (Germany), S. 1414
432
173
fielen433. Dennoch konnte er nicht umhin, seine eigene Meinung quasi als Privatperson - scharf formuliert auszudrücken:
"I think the plan to impress great numbers
of laborers into foreign service, which
means herding them into concentration
camps, will largely destroy the moral
position of the United States in this war.
... What the world needs is not to turn one
crowd out of concentration camps and put
another
crowd
in,
but
to
end
the
concentration camp idea."434
Aber auch gegenteilige Äußerungen wurden laut. Ebenfalls am 14.
Mai schickte G. Harrison Dorr, Mitarbeiter im Kriegsministerium
und ein alter Freund Stimsons, John J. McCloy eine Denkschrift,
in der er sich gegen die Beschränkung auf die zu bestrafenden
Personengruppen aussprach. Seiner Meinung nach sollte das ganze
deutsche Volk zum Wiederaufbau verwüsteter Gegenden verpflichtet
sein:
"If reparations for devastation occasioned
by an unjustified war is conceived of as an
obligation of the German people acting
through the present governmental authority
rather than merely a personal obligation of
individuals who may have participated in
specific crimes, or have been members of
particularly vicious organizational groups,
then the selection of individuals to
perform
this
national
service
of
reparation, it may be argued, no more
435
involves the issue of slave labor..."
Von diesem Begründungsversuch versprach Dorr sich also eine
Vermeidung
des
Wortes
"Sklavenarbeit".
Hätte
die
ganze
Angelegenheit aber erst einmal einen anderen Namen, so hoffte
Dorr offenbar, würde es gelingen, auch größere
433
434
435
174
FRUS 1945 III, S. 1216 f.; Morgenthau Diary (Germany), S. 1279 f.,
1487 f.
FRUS 1945 III, S. 1217
G.H. Dorr, "Memorandum for Mr. John J. McCloy",
"Subject:Compulsory Labor in Reparations", S. 4 f.,
14.05.1945; RG 107 ASW 370.8 Germany [-Reparations-]
Zahlen an Wiederaufbauarbeitern aus der deutschen Bevölkerung zu
selektieren.
Ähnlich
wurde
die
Angelegenheit
auch
im
Finanzministerium gesehen. Dort konzentrierte man sich jedoch
zunächst darauf, die Äußerung von Jackson aus der Welt zu
bekommen. In Jackson sah man eine Gefahr für das ganze
Reparationsarbeiter-Programm436.
Die entscheidende Sitzung des Informal Policy Committee fand dann
am 18. Mai unter Hinzuziehung von Robert Jackson statt.
Morgenthau widersetzte sich lange einem Vermittlungsvorschlag
McCloys. Er war der Ansicht, Arbeitsleistungen seien die einzigen
Reparationen, auf die man zukünftig überhaupt rechnen könne437, und
wollte
sich
deshalb
mit
einer
Eingrenzung
des
Arbeitskräftepotentials
nicht
abfinden.
Erst
nach
einem
persönlichen Gespräch mit McCloy stimmte er dessen Vorschlag zu.
Zu Zwangsarbeit sollten danach nur noch rechtmäßig verurteilte
Kriegsverbrecher
herangezogen
werden
einschließlich
der
Mitglieder solcher Organisationen, die in einem juristischen
Verfahren als kriminell in Zwecksetzung oder Tätigkeiten
überführt würden438.
Dieser Beschluß im Informal Policy Committee diente der
amerikanischen
Delegation
bei
den
Moskauer
Reparationsverhandlungen als offizielle amerikanische Stellungnahme. Eine
Absprache mit den Briten hatte vorher nicht stattgefunden. Am 27.
Mai 1945 ließ der britische Außenminister Eden über seine
Botschaft in Washington beim Stellvertretenden Kriegsminister,
John J. McCloy, nach dem Stand der Dinge in dieser Angelegenheit
fragen. In einer beigefügten Denkschrift sprachen die Briten sich
gegen jegliche Beschränkung der Personenkreise aus, aus denen die
benötigten Arbeitskräfte kommen sollten, wenngleich sie selbst
bemerkten, für die eigenen Bedürfnisse wahrscheinlich nur
deutsche Kriegsgefangene heranzuziehen. Eine Auswahl, wie sie die
Organisations-Klausel im
436
437
438
Morgenthau Diary
Morgenthau Diary
Morgenthau Diary
1224
(Germany), S. 1490
(Germany), S. 1495
(Germany), S. 1502, vgl. FRUS 1945 III, S.
175
amerikanischen
Beschluß
vorsah,
aus
den
deutschen
Kriegsgefangenen zu treffen, hielten die Briten für praktisch
kaum durchführbar. Außerdem würden es viele Länder bevorzugen,
nicht mit Arbeitskolonnen verkehren zu müssen, die gänzlich aus
aktiven
Ex-Nazis
gebildet
seien.
Um
zumindest
einen
Mindeststandard an Nahrungsmitteln, Unterkunft, medizinischer
Versorgung, Arbeit, Bezahlung und Dienstzeit festzulegen, sollten
alle Länder, die Gebrauch von diesen Arbeitern machten, eine
Deklaration mit den entsprechenden Bedingungen unterzeichnen439.
McCloy hatte bereits ein paar Tage vorher von dem engen
Roosevelt-Vertrauten und Richter am Obersten Gerichtshof, Felix
Frankfurter, eine Denkschrift zur Zwangsarbeiter- Problematik
erhalten, die Frankfurter wohl selbst nicht verfaßt hatte, die
aber dennoch bei McCloy einen großen Eindruck hinterließ. Der
Autor stellte nicht in Abrede, daß Deutschland in irgendeiner
Form die Zerstörungen beseitigen müsse, hielt Zwangsarbeit
allerdings für eine denkbar schlechte Lösung, ja für eine Gefahr
für die Zivilisation. Ihm schwebte dagegen eine internationale
Kommission mit deutscher Beteiligung vor, die den Arbeitseinsatz
der von den Deutschen gestellten Kräfte überwachen und
entsprechende Arbeits- und Lebensbedingungen garantieren sollte.
Auch für eine angemessene Bezahlung und Versorgung der
Familienangehörigen müsse wie bei einem Soldaten an der Front
gesorgt werden440. Zu den Zwangsarbeiter-Plänen führte der
Kritiker aus:
"But the anarchic way in which the business
is proceeding is very apt to bring back to
this world the institution of human
slavery, which took centuries of bloody
struggle to eliminate.
439
440
176
R. Makins, Brit. Botschaft, Wash., an J.J. McCloy,
"Memorandum: The Use of German Labour as Reparation",
27.05.1945, RG 107 ASW 370.8 Germany [-Policy for the
Treatment of Germany-]
J.J. McCloy an F. Frankfurter, 14.06.1945, mit undatierter
Abschrift der Denkschrift als Anlage; RG 107 ASW (General
Correspondence) 383.6 Enemy Pow in America-Labor
If the governments of various countries can
help themselves to whatever prisoners are
on hand and transport them into their
interiors,
without
responsibility
to
anyone, slavery has already been started.
... we can well imagine, what information
could be obtained about several million
German prisoners working the interior of
Poland, Russia, Yugoslavia or for that
matter
in
the
French
mines.
These
individuals would become the victims of
irresponsible exploitation. It is no answer
to say that the Germans deserve it - which
they certainly do -, because I am talking
now about the damage to civilization in reinstituting human slavery, and not the
suffering of individual Germans.
It is also idle to suppose that once
slavery is accepted for Germans, it will
always remain limited to them, because
human freedom is indivisible. If slavery
comes back, it comes back as an institution
and
not
as
special
treatment
for
Germany."441
Dieses Memorandum schickte McCloy an die Briten mit dem Bemerken,
es entspreche seinen eigenen Vorstellungen am besten. Obwohl in
der Denkschrift eine Unterscheidung verschiedener Personengruppen
nicht vorgenommen worden war, was mit ihrer grundlegenden Aussage
auch in keinem Fall vereinbar gewesen wäre, merkte McCloy
abschließend an:
"On the other hand, I
do not see why
making members of the
SS and Gestapo
primarily eligible forsuch labor is a bad one."442
Nicht einverstanden mit dem Sinneswandel zur Zwangsarbeit und den
daraus resultierenden Restriktionen bei der Arbeitskräfteauswahl
war man in der USGCC. Sie sah das ganze Aufbauprogramm außerhalb
Deutschlands dadurch in Frage gestellt. Nun hoffte sie, das
Versprechen
von
drei
Mahlzeiten
täglich
und
adäquater
Unterbringung werde angesichts der Zustände in Deutschland
ausreichen, viele
441
442
McCloy an Frankfurter, 14.06.1945, ebd.
J.J. McCloy an R. Makins, Brit. Botschaft, Wash., 14.06.1945; RG
107 ASW 370.8 Germany [-Reparations-]
177
Deutsche zur freiwilligen Arbeit außerhalb Deutschlands zu
veranlassen443. Der Reparationskommission in Moskau gelang es
jedoch nicht, ein gemeinsames Reparationspapier zu erstellen. Zu
unterschiedlich waren die jeweiligen Standpunkte, selbst Begriffe
wie Reparation, Restitution und Kriegsbeute waren ungeklärt444.
Anfang September 1945 nahm der stellvertretende Militärgouverneur
in der amerikanischen Zone, General Lucius D. Clay, den Gedanken
der selektiven Auslieferung bestimmter Personengruppen erneut
auf.
Er
erwog,
deutsche
Offiziere,
vor
allem
Generalstabsoffiziere, als Zwangsarbeiter nach Rußland und in
andere Länder zu schicken ("... especially General Staff Officers
are proper material for labor gangs ...")445. Das USAußenministerium reagierte jedoch mit heftiger Ablehnung; nicht
wegen grundsätzlicher Bedenken gegen die damit verbundene
"Sklavenarbeit", sondern wegen der Angst, die Sowjets könnten
sich die militärischen Fähigkeiten deutscher Offiziere zunutze
machen. Dementsprechend hieß es in der Antwort, das State
Department
"... would not approve the transfer from
United States custody of any potentially
dangerous German officers, in particular
General Staff officers, in case there were
any
possibilities
that
the
military
training and talents of such officers might
be utilized by the countries to which such
officers were sent." 446
Eine Übergabe zu Zwangsarbeitszwecken wurde auf diese Weise
verhindert. Dennoch kam es im Frühjahr und Sommer 1945 zu
443
444
445
446
178
USGCC, Political Div., Memorandum an R. Murphy, "Subject:
Commentary on Instructions to U.S. Reparation Delegation",
03.06.1945; RG 260/OMGUS POLAD/458/79
Zum Scheitern der alliierten Reparationsverhandlungen in
Moskau vgl. 0. Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik
gegenüber Deutschland 1941-1945, S. 158 ff., 173.
R. Murphy an Seer, of State, 04.09.1945; RG 260/OMGUS
POLAD/728/35, "Subject: Disposition of Potentially Dangerous
Officers of German Armed Forces".
Dep. of State on R. Murphy, 22.10.1945; RG 260/OMGUS
POLAD/728/35
Überstellungen deutscher Arbeitskräfte durch die Amerikaner an
ihre westlichen Verbündeten. Es handelte sich dabei um deutsche
Kriegsgefangene, auf deren Schicksal, besonders in Frankreich,
noch zurückzukommen sein wird447.
IV. 14.______ Praktische _______Schwierigkeiten _______ mit ______ den
wlrtschaftspolitischen Prinzipien von JCS 1067 und Änderungen durch
das Potsdamer Protokoll
General Clays Einschätzung von JCS 1067. General Clay, dem als
Stellvertreter Eisenhowers die Durchführung von JCS 1067 oblag,
meldete schon unmittelbar, nachdem er die Anweisung zugestellt
bekommen hatte, seine Bedenken gegen das Papier an. Was ihm
Sorgen bereitete waren jedoch nicht die politischen Bestimmungen,
die
Verpflichtungen
hinsichtlich
der
hunterttausendfachen
Entlassungen
und
Arrestierungen,
sondern
allein
die
wirtschaftspolitischen Auflagen, auf keinen Fall Schritte zum
Wiederaufbau oder zur Weiterführung der deutschen Wirtschaft zu
unternehmen448. Clay meinte dazu:
a.
"Wir (sein Finanzberater Lewis Douglas und
er selbst, d. Verf.) waren entsetzt nicht
wegen
der
vorgesehenen
Strafmaßnahmen,
sondern über das Versagen, das in dem
Mangel zum Ausdruck kam, die finanziellen
und wirtschaftlichen Zustände, denen wir
uns gegenübersehen würden, zu erkennen.
Wie
die
anderen
grundlegenden
Schriftstücke, in denen die alliierte
Politik bestimmt wurde, war auch dieses vor
der deutschen Kapitulation und ohne Wissen
um die Wirklichkeit, die wir vorfinden
sollten, aufgesetzt worden"
Nach seinem eigenen Bekunden war es Clays vordringliche Sorge,
Leben und Arbeitskraft des deutschen Volkes zu erhalten. Deshalb
habe er von Anfang an um Lebensmittel gebeten, da er sich nicht
habe vorstellen können, daß das
447 Vgl. unten 4. Teil, IV..
448 Vgl. J.H. Backer, Die deutschen Jahre des Generals Clay - Der Weg
zur Bundesrepublik 1945-1949, S. 23
449 L.D. Clay, Entscheidung in Deutschland, S. 33
179
amerikanische Volk wünsche, die Besetzung von Hungersnot und Elend
begleitet zu sehen450.
Ganz im Gegensatz zu dieser gerade aus deutscher Sicht
wünschenswerten Einstellung stand allerdings eine Äußerung, die
er im Juni 1945 in einem Schreiben an John J. McCloy machte, und
die die Nachwirkungen der Kriegshysterie noch deutlich zu
erkennen gab:
"I feel that the Germans should suffer from
hunger and from cold as I believe such
suffering is necessary to make them realize
the consequences of a war which they
caused.
Nevertheless,
this
type
of
suffering should not extend to the point
where it results in mass starvation and
sickness."451
So begab sich auch Clay auf den schmalen Grad, den bereits die
amerikanischen Planer aller damit beschäftigten Ministerien
betreten hatten, als sie schon Monate vorher dem deutschen Volk
ein Leben am Existenzminimum verordnet und die entsprechende
Anweisung in JCS 1067 aufgenommen hatten. Daß eine derartige und
zielgerichtete Limitierung bei einer unvorhergesehenen und
überraschenden
Änderung
der
äußeren
Umstände,
durch
Transportprobleme und das Ausbleiben von Ernteerträgen jederzeit
in
eine
Katastrophe
Umschlagen
konnte,
wurde
bei
der
realitätsfernen Planung übersehen, und selbst Clay glaubte, aus
einer (kontrollierten) Not der deutschen Bevölkerung eine Tugend
von Einsichtsfähigkeit und Schuldbekenntnis entwickeln zu können.
Doch selbst um den minimalsten Überlebensstandard erhalten zu
können, waren fördernde Maßnahmen und Einwirkungen auf die
deutsche Volkswirtschaft unumgänglich. JCS 1067 aber enthielt ein
striktes Verbot solcher Aktivitäten.
450
451
L.D. Clay, ebd., S. 295; den Mangel an Nahrungsmitteln und die nur
sehr geringe amerikanische Unterstützung führte er auf den weltweiten
Getreidemangel zurück, vgl. ebd., S. 296 f..
J.E. Smith (Hg.), The Papers of General Lucius D. Clay,
Germany 1945-1949, 2 Bde., S. 42
Teil-Änderungen in JCS 1067 durch das Potsdamer Abkommen.
Eine eminente Verbesserung trat in dieser Frage durch das
Potsdamer Protokoll ein. Truman, Churchill (der noch während der
Konferenz von seinem Nachfolger Attlee abgelöst wurde) und Stalin
nahmen
Abstand
von
der
Politik
des
"Hände
weg"
in
Wirtschaftsangelegenheiten,
wie
sie
das
amerikanische
Kriegsministerium in der monatelangen Kooperation mit dem
Finanzministerium mit Erfolg vertreten hatte. Nun sollte eine
alliierte Kontrolle über das deutsche Wirtschaftsleben errichtet
werden, wenn auch in engen Grenzen. Zweck der Kontrollen sollte
es unter anderem sein, Warenproduktion und Dienstleistungen zu
sichern, die wesentlich seien für die Erhaltung eines mittleren
Lebensstandards in Deutschland, der den mittleren Lebensstandard
der europäischen Länder nicht übersteige452. Das war ein
erheblicher Fortschritt gegenüber den Strafbestimmungen in JCS
1067. Der Initiator war vermutlich das State Department453, das in
der Vorbereitung auf die Potsdamer Konferenz dem neuen
Präsidenten von JCS 1067 in mancher Hinsicht abweichende
Empfehlungen unterbreitet hatte454.
b.
Bereits eine Woche nach der Veröffentlichung des Potsdamer
Protokolls
legte
Clays
Rechtsberater
Charles
Fahy
ein
Rechtsgutachten vor, in dem er die Auswirkungen der Beschlüsse
von Potsdam auf JCS 1067 untersuchte. Der Kernsatz lautete:
"The (Potsdam) Agreement supersedes JCS
1067 to the extent that the Agreement
covers matters dealt with in JCS 1067; that
is to say, the Agreement shall prevail in
all respects in which its provisions are in
conflict with JCS 1067. Since, however, the
latter has not been rescinded by the United
States, its provisions remain effective
452
453
454
Vgl. FRUS Potsdam, II, S. 1484
P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 435
Vgl. E. Deuerlein, Die amerikanischen Vorformulierungen und
Vorentscheidungen für die Konferenz von Potsdam, in: DA 1970, S.
337 ff.
181
to the extent not in conflict with the
Agreement."455
Zur Begründung führte Fahy an, die Potsdamer Vereinbarung bilde
nicht nur eine Abmachung der Oberhäupter seitens ihrer jeweiligen
Regierungen, sondern müsse ebenfalls als Politik und Instruktion
für die Vereinigten Staaten in der amerikanischen Besatzungszone
und in Angelegenheiten, die Deutschland als Ganzes beträfen, für
den Repräsentanten der USA im Kontrollrat angesehen werden456. Das
amerikanische Außenministerium fertigte später eine ähnliche
Interpretation aus457.
Das bedeutete juristisch, daß JCS 1067 mit dem Inkrafttreten des
Potsdamer Protokolls obsolet geworden war, sofern nicht
ausnahmsweise in der amerikanischen Direktive Themen geregelt
waren, die in der Potsdamer Erklärung nicht auftauchten. JCS 1067
als Ganzes entfaltete seine Wirksamkeit somit nur vom 14. Mai bis
zum 2. August 1945458. Clay schrieb später:
"Die wirtschaftlichen und finanziellen
Bestimmungen des Potsdamer Abkommens hoben
die Verfügungen von JCS 1067 auf, nach
denen wir Kontrollen in finanziellen und
wirtschaftlichen
Angelegenheiten
nicht
ausüben durften. ... Jetzt waren wir direkt
verpflichtet, eine ausgeglichene Wirtschaft
zu entwickeln, die Deutschland auf eigene
Füße stellen sollte."459
Der amerikanischen Besatzungsmacht diente deshalb auch über den
2. August hinaus "ihre" Direktive als besatzungspolitische
Richtlinie. Das war jedoch nicht weiter problematisch, weil
ohnehin
der
ganz
überwiegende
Teil
der
amerikanischen
Deutschlanddirektive
über
den
amerikanischen
Entwurf
zur
Gestaltung der Besatzungspolitik in Deutschland, der vor der
Konferenz in Berlin
455 J.H. Backer, Priming the German Economy
Occupational Policies 1945-1948, S. 27
456 J.H. Backer, ebd.
457 B.R. von Oppen, Documents on Germany, S.
458 J.H. Backer, Priming the German Economy,
459 L.D. Clay, Entscheidung in Deutschland,
182
- American
13
S. 27
S. 57
unterbreitet worden war, auch Eingang in das Potsdamer Protokoll
gefunden hatte. Substantielle Veränderungen betrafen neben dem
eben erwähnten Lebensstandard und der Wirtschaftskontrolle noch
die nunmehr gewährte Erlaubnis zu demokratischer politischer
Betätigung und zum Aufbau einer demokratischen Selbstverwaltung.
In allen anderen Regelungsbereichen gab es keine wesentlichen
Abweichungen von JCS 1067, und wurden Passagen aus ihr und dem
amerikanischen
Konferenzvorschlag
teilweise
wörtlich
übernommen460.
Das ist nicht verwunderlich, bestand doch über die als strafende
und säubernde Maßnahmen betrachteten alliierten Tätigkeiten nicht
nur in Washington, sondern auch mit London und Moskau
grundsätzliches Einvernehmen. Für die Amerikaner erschienen die
meisten geplanten Aktivitäten auch in Potsdam noch immer als
kurzfristige Interimslösung bis zur eigentlichen langfristigen
Planung und alliierten Entscheidung über die in Deutschland
einzuschlagende Verfahrensweise. Auch JCS 1067 war noch immer als
Interimsdirektive gedacht, beladen - und belastet - mit ganz
überwiegend auf Zerstörung und Zerschlagung gesellschaftlicher
und volkswirtschaftlicher Strukturen gerichteter Anweisungen.
Erst nach der erfolgreichen Beendigung dieses Negativprogramms
wollte man positive und gestaltende politische Maßnahmen
ergreifen, die jedoch wegen Roosevelts "Politik der Verzögerung"
und der Rücksichtnahme auf den sowjetrussischen Kriegspartner
weder vor Kriegsende noch in den Monaten danach näher beschrieben
werden konnten. Lediglich über die "Demokratisierung", als
einzige in die Zukunft gerichtete positive Zielvorgabe, waren
sich die Alliierten einig, wobei es gleichzeitig auf der Hand
liegt, daß die Sowjetunion bei genauerer Ausleuchtung dieses
Begriffs etwas anderes darunter verstand als die AngloAmerikaner. Der Sowjetunion kam die negative amerikanische
Haltung sehr entgegen, da sie die amerikanischen Vorschläge
teilte und sie diese auch als
460 Vgl. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 430 ff.; W.
Krieger, General Lucius D. Clay und die amerikanische
Deutschlandpolitik 1945-1949, S. 93 ff.
langfristige
Lösung
des
deutschen
Problems
aus
eigenen
sicherheits- und wirtschaftspolitischen Überlegungen heraus
befürwortete.
Die Briten, die sich während des Krieges regelmäßig um eine
langfristige Deutschlandplanung bemüht hatten, mußten sich auf
diesen kleinsten gemeinsamen Nenner alliierter Deutschlandplanung
beschränken,
um
die
großen
Meinungsund
Weltanschauungsdifferenzen zu überbrücken, die bereits in Jalta
offen zu Tage getreten waren und die es in Potsdam notdürftig zu
kitten galt.
Reparationsbeschlüsse der Potsdamer Konferenz. Den meisten
Raum nahm in Potsdam die Frage nach der wirtschafts-,
insbesondere reparationspolitischen Behandlung Deutschlands ein.
Daß in diesem Bereich die Diskussion so kontrovers geführt wurde
wie in keinem anderen, hatte seinen Grund maßgeblich in der
Tatsache, daß man diesen zentralen Komplex nicht wie die meisten
anderen deutschlandspezifisch angehen und den größten und
wirtschaftlich mächtigsten Staat in Mitteleuropa isoliert
betrachten konnte. Vielmehr mußten sich die entsprechenden auch
kurzfristigen - Weichenstellungen im besetzten Deutschland
zwangsläufig auf Europa auswirken und dessen weitere Entwicklung
in die eine oder andere Richtung lenken. Dieses Sachgebiet, das
war schon in den heftigen Washingtoner Debatten deutlich
geworden, konnte man nicht kurzfristig mit rigorosen destruktiven
Maßnahmen angehen und auf den Trümmern der deutschen Industrie
danach etwas den Alliierten Genehmes aufbauen. Die Frage nach
Deutschlands - und damit auch Europas - Zukunft hatte hier
offenbar ihren zentralen Punkt. Ein Kenner der Materie hat die
Zusammenhänge so beschrieben:
c.
"Billigte man Deutschland über kurz oder
lang eine Möglichkeit zur Rückkehr in
den
Kreis
friedlicher,
gleichberechtigter Nationen zu, so setzte
das reparationspolitische Mäßigung und die
Wahrung
eines
Minimums
volkswirtschaftlicher
Produktivkräfte
voraus, um der Bevölkerung ein
Überleben aus eigener Kraft zu gestatten.
Zielte man dagegen auf eine langfristige
Schwächung oder die endgültige Beseitigung
des
Reiches
als
politischen
und
wirtschaftlichen
Faktor
im Kräftespiel
Europas ab, so boten sich die umfassendsten
Demontagen und hohe Beschlagnahmen aus der
laufenden
Produktion
als
geeignetes
Instrument an."461
Ganz
im
Sinne
der
zweiten
Alternative
agierten
die
Sowjetpolitiker. Stalin kam es vor allem auf die nachhaltige
ökonomische und damit auch politische Schwächung Deutschlands an.
Das konnte seiner bereits in den besetzten östlichen Gebieten
praktizierten Hegemonialpolitik nur entgegenkommen. Während die
Amerikaner das Prinzip der Vorrangigkeit aufrecht erhielten,
demzufolge notwendige Importe nach Deutschland vorrangig aus
deutschen Exporten zu finanzieren seien, wodurch die sowjetischen
Reparationsforderungen
möglicherweise
nur
eingeschränkt
zu
befriedigen gewesen wären, war Stalin natürlich primär daran
interessiert, so viel Wirtschaftspotential wie nur möglich in
Deutschland zu zerschlagen und der Sowjetunion, in vermindertem
Umfang auch den anderen vom Krieg betroffenen Staaten, zukommen
zu lassen462.
Die amerikanischen reparationspolitischen Planungsvorgaben für
Potsdam waren, nach dem durch Truman erzwungenen Ausscheiden
Morgenthaus aus seinem Amt, vor allem vom neuen Außenminister
James F. Byrnes und dem wieder verstärkt deutschlandpolitisches
Interesse bekundenden Kriegsminister Stimson geprägt worden.
Orientierungsgrundlage für die amerikanische Reparationspolitik
bildete dabei in erster Linie das gemeinsame Memorandum vom 23.
März 1945, in dem auch die Postulate der Vorrangigkeit und der
Verweigerung ausländischer Kredite an Deutschland enthalten
waren463. Insbesondere Stimson engagierte sich, um - wie schon in
der
461 O. Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber
Deutschland 1941-1945, S. 204.
462 Vgl. 0. Nübel, ebd., S. 178 ff.
463 Vgl. FRUS 1945 III, S. 472; 0. Nübel, ebd., S. 182 f.
185
Auseinandersetzung
mit
Morgenthau
die
langfristigen
europäischen Perspektiven und die zentrale Rolle, die die
wirtschaftliche Potenz Deutschlands in dieser Entwicklunq spielen
mußte, zu vergegenwärtigen. Deutschland müsse, argumentierte
Stimson, seinen produktiven Aufgaben erneut zugeführt werden. Man
dürfe dem deutschen Volk nicht die Möglichkeit nehmen, zur
Wiederherstellung stabiler Verhältnisse in Europa und in der Welt
beizutragen. Er gestand zwar Demontagen und Zerstörungen aus
Sicherheitsgründen zu, forderte aber gleichzeitig, daß alle
übrigen
deutschen
Kapazitäten
unter
angebrachten
Sicherheitsvorkehrungen so rasch wie möglich die Produktion
wieder aufzunehmen hätten464.
Mit diesen in die Zukunft weisenden Gedanken übte Stimson
bestimmenden Einfluß auf die amerikanischen Anschauungen in
Potsdam aus, was den Konflikt mit den Sowejets unvermeidlich
machte. Der letztendlich ausgehandelte Kompromiß kam auf
Vorschlag der amerikanischen Delegation zustande und lief dem in
den "wirtschaftlichen Grundsätzen" des Protokolls proklamierten
Prinzip, Deutschland als eine "wirtschaftliche Einheit" zu
verwalten, entgegen. Die Delegationen einigten sich auf ein
zonales Entnahmesystem: Sowjetische und polnische Ansprüche seien
aus der sowjetischen Zone und durch angemessene deutsche
Auslandsguthaben zu befriedigen; amerikanische, britische und die
Ansprüche anderer Länder sollten durch Leistungen aus den
westlichen Zonen und ebenfalls Auslandsguthaben gedeckt werden.
Zusätzlich
sollte
die
UdSSR
im
Austausch
gegen
einen
entsprechenden Wert an Nahrungsmitteln und Rohstoffen aus den
westlichen
Zonen
15
Prozent
der
verwendungsfähigen
und
vollständigen industriellen Anlagen sowie weitere 10 Prozent ohne
Gegenleistung erhalten465.
464
465
186
FRUS Potsdam II, S. 754
FRUS Potsdam II, S. 586; Text des Protokolls ebd., S. 1485 ff.; A.
Fischer (Hrsg.), Teheran, Jalta, Potsdam. Die sowjetischen
Protokolle von den Kriegskonferenzen der "Großen Drei", Dokumente
zur Außenpolitik I., S. 397 f.; W. Cornides/H. Volle, Um den
Frieden mit Deutschland, S. 78 ff.
IV.15. Ursachen und Hintergründe der "harten" Ü8Besatzungspolitik gegenüber Deutschland
Am Ende des Kapitels über die amerikanische Besatzungsplanung,
ihre Grundzüge, Tendenzen und Entscheidungen, muß auch die Frage
gestellt werden nach dem "Warum" gerade dieser Politik, die in
der vorangegangenen Untersuchung bereits hin und wieder
angeklungen ist, aber immer nur in Beziehung zu der jeweiligen
konkreten Situation und Entscheidung gewürdigt werden konnte.
Unbeantwortet
blieb
bislang
die
Frage
nach
bestimmten
Vorstellungen
über
Deutschland,
die
Deutschen
und
den
Nationalsozialismus, nach Weltanschauungen oder Ideologien, nach
dem Verständnis von Amerika und amerikanischen Traditionen, die
für sich alleine oder in der einen oder anderen gemeinsamen
Erscheinung die amerikanische Deutschlandplanung bestimmten.
Zwei wesentliche Erkenntnispunkte konnten bereits festgestellt
werden: Zum einen die durch Roosevelt initiierte "Politik der
Verzögerung", die letztlich dazu führte, daß die amerikanischen
Deutschlandpläne nur kurzfristigen Charakter hatten. Zum anderen,
daß diese kurzfristige Politik schlagwortartig als "harte"
Politik bezeichnet werden muß. Das Begriffspaar von "harter" und
"weicher" Deutschland- und Besatzungspolitik hat sich in den USA
bereits früh breit gemacht und diente vornehmlich seit der
Debatte um den Morgenthau-Plan dazu, die Vertreter einer
Gegenposition zu Roosevelt und seinem Finanzminister als
Befürworter einer "weichen" Deutschlandpolitik zu brandmarken.
Die Reduzierung des vielschichtigen Problems der zukünftigen
Behandlung Deutschlands auf dieses plakative Begriffspaar
entsprach
dem
traditionellen
amerikanischen
Streben
nach
pointierter Vereinfachung komplexer Sachverhalte, hat aber für
die vollständige Erfassung bestimmter Beweggründe keinerlei
Erkenntniswert, sondern sorgt lediglich für Verwirrung, wo
Klarheit not täte. Denn
187
wie bereits gezeigt worden ist, lag der eigentliche Punkt der
Kontroverse, in Washington wie in Jalta und Potsdam, im
wirtschaftspolitischen Bereich, bei der Frage nach dem Maß der
Entindustrialisierung Deutschlands sowie Art und Umfang der zu
leistenden Reparationen. Daneben gaben lediglich noch die Fragen
der Teilung Deutschlands und der Behandlung der Kriegsverbrecher
zeitweise Anlaß zur Diskussion. In allen anderen Bereichen
bestand, von mehr oder weniger kleinen
Akzentverschiebungen
einmal
abgesehen,
grundsätzlicher Konsens über eine simplifizierend als "hart" zu
bezeichnende
Politik.
Und
in
der
Wirtschaftsund
Reparationsfrage
war
es
durchaus
nicht
Rücksicht
und
Nachgiebigkeit gegenüber Deutschland, die Stimson zu seiner von
der Mehrheit als "weich" geschmähten Haltung veranlaßte, sondern
allein die vernünftige Einsicht in die weltwirtschaftlichen
Zusammenhänge und die zentrale Bedeutung Deutschlands für den
Wiederaufbau Europas, so schrieb John J. McCloy Ende Oktober 1944
an General Eisenhower:
"Inevitably
the
Press
and
others
oversimplified the issue into 'hard' and
466
'soft' schools... . "
Und Stimson ließ Präsident Roosevelt wissen:
"I plead for no 'soft' treatment of
Germany. I urge only that we take steps
which in the light of history are
reasonably adapted to our purpose, namely.
the prevention of future wars."467
Die Wirtschafts- und Reparationspolitik ließ sich nicht - wie die
anderen Deutschland betreffenden Bereiche - in eine kurz- und
eine langfristige Planung trennen, sondern beide waren aufs
engste miteinander verbunden: Die langfristigen Entscheidungen
waren notwendig bedingt durch die Art der kurzfristigen Maßnahmen
auf diesem besonderen Gebiet. So waren es zwei Dinge, die für die
Wirtschafts- und
466
467
188
J.J. McCloy an General Eisenhower, 25.10.1944; RG 107 ASW 370.8
Germany
FRUS Quebec 1944, S. 485
Reparationskontroverse in Washington verantwortlich waren: Zum
einen die Tatsache, Deutschland in dieser Frage nicht isoliert
behandeln zu können, zum anderen die mit dieser Frage verbundenen
langfristigen
Entscheidungen.
Aufgrund
dessen
ist
die
amerikanische
wirtschaftsund
reparationspolitische
Deutschlandplanung nur bedingt geeignet, um an ihr bestimmte
Motivationsstrukturen aufzeigen zu können, die insbesondere für
die unmittelbare Deutschlandplanung und -politik charakteristisch
waren.
Die Konzentration auf die Kontroverse über einen Ausschnitt der
Deutschlandplanung läßt nur allzuleicht übersehen, daß der
überragende Teil von allen Beteiligten einvernehmlich geregelt
wurde und daß diesbezüglich - um die vereinfachte Darstellung
letztmalig anzubringen - nur von einer "harten" Politik
gesprochen werden kann.
Die Ursache für diese Politik lag in mehreren Geistes- und
Vorstellungsströmungen begründet. Walter L. Dorn, der den
amerikanischen
Entscheidungsprozeß
selbst
miterlebt
hat,
unterscheidet drei Richtungen in der anglo-amerikanischen
Interpretation des Nationalsozialismus, von der jede von sich
glaubte und behauptete, eine verantwortbare Einsicht in das Wesen
des Nationalsozialismus und die für seine endgültige Ausmerzung
wirksamsten Methoden zu haben. Die erste Gruppe vertrat danach
eine
"Theorie
vom
verbrecherischen
Charakter
des
Nationalsozialismus" ("outlaw theorie"), und ihre Anhänger
verlangten einen Strafprozeß oder eine allgemeine Säuberung auf
der Grundlage individueller Verantwortlichkeit nach dem Maß der
Beteiligung an den Verbrechen des Nazi-Regimes. Dieser Gruppe
sei, so Dorn, mit einer zweiten Gruppe, der neomarxistischen
(gebildet vor allem von deutschen Emigranten) gemein gewesen, daß
sie noch gewisse Unterscheidungen zwischen Nazis, Nicht-Nazis
oder Anti- Nazis in der deutschen Gesellschaft vorgenommen
hätten. Diese Neomarxisten hätten im Nationalsozialismus ein
gegenrevolutionäres Phänomen gesehen, das Ergebnis von in der
kapitalistischen Gesellschaft zwangsläufigen sozialen
189
Spannungen. Hitler sei in einem gewissen Sinn "der Kondottiere
der Ruhr-Magnaten und der deutschen Großfinanz, die zusammen ihm
zur Macht verhalfen in der Erwartung und auf die Spekulation hin,
daß er durch autoritäre Methoden das dreifache Gespenst der
Depression, des Sozialismus und der Gewerkschaften austreiben
werde", gewesen468.
Als dritte Gruppe macht Dorn die "Vansittartisten" aus, Anhänger
des britischen Lord Vansittart, die der Meinung waren, eine
Unterscheidung zwischen Nationalsozialisten und anderen Deutschen
sei gar nicht möglich, und der Nationalsozialismus sei lediglich
die
letzte
Offenbarung
einer
tiefverwurzelten
deutschen
Krankheit, die sich seit über einem Jahrhundert entwickelt habe.
Die "Vansittartisten" , die in Großbritannien unter dem Etikett
"konservativ" firmierten und in den USA mit den Namen Henry
Morgenthau und seinem Berater Harry D. White als "kommunistisch"
galten, forderten einschneidende Maßnahmen wirtschafts- und
machtpolitischer Art, wie sie unter anderem im Morgenthau-Plan
ihren Ausdruck fanden469.
Auf die Hintergründe und Argumentationsmuster der politischen
"Linken" in den USA, die in der Roosevelt-Ära ihre Blütezeit und
den
meisten
politischen
Einfluß
in
der
Washingtoner
Administration hatte, hat zutreffend Hans- Peter Schwarz
hingewiesen470.
Für
diese
Politiker,
die
nicht
nur
im
Finanzministerium zu finden waren, und eine große Anzahl von
Roosevelt nahestehenden Printmedien und Publizisten, war das
Deutsche Reich das Reich des Bösen schlechthin. Unter Ausnutzung
von
heftig
geschürten
Emotionen
übertrug
sich
dieses
antifaschistische Bild
468
W.L. Dorn: Die Debatte Uber die amerikanische Besatzungspolitik für
Deutschland (1944-45), in: VfZG 1958, s. 60 ff., insb. 63 f.. Eine
eigene Interpretation von "outlaw theory" gibt L. Niethammer:
Entnazifizierung in Bayern, S. 34, der meint, ihre Vertreter seien
"konservative Exponenten des Finanzkapitals" gewesen, "die im
Faschismus ein Phänomen kollektiver Kriminalität" gesehen hätten;
die neomarxistische Gruppe versteht er als "sozialdemokratische
Faschismusinterpretation".
469
W.L. Dorn, VfZG 1958, S. 64; L. Niethammer, Entnazifizierung in
Bayern, S. 41 ff.
H.P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 92 ff.
470
190
unschwer auf das ganze deutsche Volk. Einige Publizisten hatten
schon während der Kriegszeit nichts unversucht gelassen, um die
untrennbare
Identität
des
deutschen
Volkes
mit
der
nationalsozialistischen
Weltanschauung
der
amerikanischen
Öffentlichkeit vor Augen zu führen471. Das von ihnen geschürte
antideutsche Hysteriefeuer verfehlte seine Wirkung nicht. Die
Anhänger dieser Theorie bekamen mit zunehmender Kriegszeit, wohl
auch bedingt durch das Bekanntwerden nationalsozialistischer
Untaten, ein immer größer werdendes Gewicht. Um dem deutschen
Volk aus seinem krankhaft kriminellen Zustand - wenn möglich irgendwie herauszuhelfen, mußte man dieses Phänomen erst einmal
analysieren, um es anschließend behandeln zu können. Dabei kamen
die zu dieser Zeit gerade in Amerika einen deutlichen
Aufwärtstrend
verzeichnende
Sozialpsychologie
und
die
Psychotherapie zu einer unerwarteten Nutzbarmachung. Hans- Peter
Schwarz meint dazu:
"Ein
gerade unter
den
amerikanischen
Intellektuellen
jener
Dekade
stark
verbreitetes
Denken
in
sozialpsychologischen Kategorien mag eine der
wichtigsten Tendenzen gefördert haben: die
Bereitschaft,
in
den
nationalsozialistischen
Untaten
nur
besonders
krasse
Erscheinungsformen
allgemeiner
deutscher Charakterzüge und Welthaltungen
zu erkennen. 'The German Mind' - das
bedeutete: autoritäre Verhaltensweise in
allen
gesellschaftlichen
Rollen,
Gewissenlosigkeit
und
automatischer
Gehorsam,
Neigung
zu
Aggression
und
Sadismus, Dominieren des Todestriebes. Die
Reduktion des deutschen Faschismus auf den
deutschen
Charakter
war
eine
Hauptvoraussetzung
für
das
Kollektivschulddenken,
das
in
der
öffentlichen Diskussion ebenso wie in den
Ministerien zeitweise den Ton angab."472.
Einschätzungen,
nach
denen
die
Deutschen
von
"ernsthafter
seelischer Krankheit" ("serious spiritual sickness") befallen
seien oder es sich um ein "geistig krankes
471
472
Vgl. die Nachweise bei F.W. Rothenpieler, Der Gedanke einer
Kollektivschuld in juristischer Sicht, S. 75 ff.
H.P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 92 f.
191
deutsches Volk" ("mentally sick German people") handele473, waren
nicht selten. Der einfache amerikanische Bürger konnte sich der
Beeinflussung durch die unzähligen, die Deutschen immer wieder
als
Inkarnation
des
Bösen
schlechthin
darstellenden
Pressepublikationen
nicht
entziehen.
Er
sah
den
Nationalsozialismus
aus
der
Vogelperspektive
seiner
Zeitungslektüre
und
seiner
Wochenschauberichte,
die
die
Informationen aus Deutschland nur selektiv und in Konzentration
auf die Sensationsmeldungen des Terrors Wiedergaben. Quantität
mußte die Qualität der Berichte ersetzen474.
So kann es nicht verwundern, daß eine anwachsende und sich gegen
Ende des Krieges immer lautstärker gebende veröffentlichte
Meinung, unter nachhaltiger Prägung der öffentlichen Meinung,
sich immer mehr Gehör verschaffte und mit ihren Klischeehaften
Kollektivurteilen über das deutsche Volk, nicht nur den
Nationalsozialismus, auch im politischen Lager Anhänger bei den
Entscheidungsträgern gewann. Daraus resultierte der Gedanke einer
Umerziehung des Volkes und seine Entnazifizierung. Diese
ursprünglich von der amerikanischen Linken propagierte Idee wurde
auf dem konservativen Flügel auch von denen, die aus ihrem ganzen
politischen
Selbstverständnis
heraus
als
Vertreter
der
"antikommunistischen Realpolitik"475 galten, übernommen476.
Daß
von
der
amerikanischen
Administration
nicht
der
Nationalsozialismus
oder
die
deutsche
Regierung
als
zu
bekämpfender und völlig niederzuwerfender Feind angesehen wurde,
sondern das deutsche Volk in seiner Gesamtheit, zeigt eine
Episode zu Beginn des Jahres 1945. Die Psychological Warfare
Division bei SHAEF regte an, als
473
474
475
476
192
K.E. Bungenstab, Umerziehung zur Demokratie? - Reeducation Politik im Bildungswesen 1945-1949, S. 22
Vgl. C.M. Totten, Deutschland - Soll und Haben, Amerikas
Deutschlandbild, S. 97 f.
So die Begriffsprägung bei H.P. schwarz, Vom Reich zur
Bundesrepublik, S. 97 ff.
K.E. Bungenstab, Umerziehung zur Demokratie? - Reeducation Politik im Bildungswesen 1945-1949, S. 25
Adressaten der in Casablanca von Roosevelt und Churchill
gestellten Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation" nur die
deutsche Regierung und das Oberkommando der Wehrmacht zu
benennen, nicht aber den einzelnen deutschen Soldaten oder
Zivilisten. Eine Verlautbarung dieser Ansicht, so meinte die
Psychological Warfare Division, könne in Verbindung mit der
Bekanntgabe der eigenen Verpflichtung, die Genfer Konvention und
die Proklamationen des Alliierten Oberbefehlshabers einzuhalten,
der deutschen Propaganda ihre Schärfe nehmen und die Bevölkerung
vor und hinter den Linien mit den Alliierten kooperationsbereit
machen477. Robert Murphy widersprach diesem Ansinnen heftig. Er
wollte keinerlei Versprechungen an das deutsche Volk abgeben. Das
widerspreche der Politik der "bedingungslosen Kapitulation". Es
gelang ihm, die Chiefs of Staff von SHAEF auf seine Seite zu
ziehen. Über das Ergebnis der Sitzung berichtete er dem
Außenminister:
"Thus it was agreed that the proclamations
by the Supreme Commander to the population
of German occupied territory ... do not
constitute commitments, but are merely
expressions of intentions. The Supreme
Commander is under no obligation, even visa-vis the population of German territory
already occupied by Allied forces, to treat
them in accordance with the terms of his
proclamations - or, indeed, in any other
particular way. He is, on the contrary,
free to treat them in any way he chooses,
and to change his treatment at any time and
without warning, and the Germans of the
occupied territory have no rights in the
matter." 478
Nicht durchsetzen konnte sich Murphy allerdings bei der Frage,
gegen wen sich die "bedingungslose Kapitulation" eigentlich
richte. Er meinte, nur das ganze deutsche Volk könne von dieser
Forderung betroffen sein, das ganze Volk
477
478
SHAEF, Psychological Warfare Division, Brig. Gen. R.A: McClure an
Chief of Staff, "Subject: Psychological Warfare Division Propaganda
to Germany", 06.01.1945, RG 2 6 O/OMGUS POLAD/ 32/74
R. Murphy on Seer, of State, "Subject: The Policy of unconditional
Surrender", 14.01.1945, RG 26Q/OMGUS POLAD/32/74
193
müsse gegenüber den Alliierten kapitulieren479. Da eine Einigung im
Hauptquartier Eisenhowers nicht möglich war, trug Murphy den
Streit in Washington vor. Eine Antwort, die offenbar mit
Roosevelt abgesprochen war480, übermittelte ihm sein Außenminister
Stettinius am 10. April 1945. In ihr wurde Murphys Haltung voll
und ganz unterstützt.
"The policy of unconditional surrender was
meant from the start to apply to the entire
German nation, and not merely to the German
Government, the High Command, or the Nazi
Party.
The unconditional surrender itself applies,
without
exception,
to
all
Germans,
individually and collectively, in all
respects, including the sense in which the
German
people
may
be
considered
as
individual human beings"
Durch diese Stellungnahme wurde hinreichend deutlich, wen
Washington als Feind ansah: das ganze deutsche Volk. Diesen galt
es
zu
bekämpfen,
zu
schlagen,
ihm
mußte
der
nationalsozialistische
Geist,
als
scheinbarer
Ausdruck
preußischer Tugenden, entzogen werden. Kriegstreibende Kasten,
die man vor allem bei den sogenannten Junkern und dem Militär
auszumachen glaubte, waren aus der Gesellschaft zu beseitigen,
ihr Einfluß- und Machtpotential (bei den Junkern waren das ihre
Ländereien) war restlos zu zerschlagen. Das galt nach Ansicht der
Linken auch für die deutsche Großindustrie, der man den Vorwurf
machte, Hitler erst an die Macht gebracht zu haben, um davon am
Endo selbst zu profitieren. Daß eine so einfach gestrickte
Auffassung der komplexen Realität vor und während der Zeit des
Dritten Reiches zwar entgegenlief, der breiten Öffentlichkeit in
den Vereinigten Staaten aufgrund der scheinbar einleuchtenden und
logischen Konsequenzen aber
479
480
481
194
R. Murphy on Secr, of state, 14.01.1945, ebd.
Vgl. R.G. O'Connor, Diplomacy for Victory: FDR and
Unconditional Surrender, S. 84
FRUS 1945 III, S. 751; vgl. auch die auszugweise Weiterleitung der
Nachricht von R. Murphy an Brig. Gen. R.M. McClure, Chief,
Psychological Warfare Division, SHAEF, und an Lt. Gen. Sir F.
Morgan, Deputy Chief of Staff, 20.04.1945, RG 260/OMGUS POLAD/728/32
entgegenkam, ist noch irgendwo verständlich, auch wenn dadurch
die ganze Manipulierbarkeit einer Gesellschaft, selbst wenn sie
eine demokratische ist, gezeigt wird. Daß aber auch Politiker und
Staatsmänner die historischen Zusammenhänge, insbesondere die
Bedeutung
des
Versailler
Friedensvertrages
und
seine
Nachwirkungen, nicht erkennen wollten oder konnten, ist doch
etwas überraschend. Der deutsche Nationalökonom Gustav Stolper,
während des Dritten Reiches in die USA emigriert, sah darin einen
amerikanischen Politikern oftmals eigenen Mangel an "Ehrfurcht
vor der Geschichte". Stolper meinte:
"Amerikanische Staatsmänner sind davon
bedenklich frei, weil sie Geschichte, außer
vielleicht die ihres eigenen Landes,
einfach nicht kennen. ... Für sie beginnt
Geschichte mit dem Tag, an dem ihnen eine
Aufgabe zugewiesen wird.
Im Hintergrund haben sie nur eine Tapete
aus Zeitungsphrasen, nicht mit Fleisch und
Blut erfülltes Wissen, keine Erfahrung der
treibenden Kräfte und der Kontinuität der
Geschichte in Raum und Zeit, in die ihre
Handlungen sich einpassen müssen. ... Wir
(die Amerikaner, d. Verf.) behandelten
Deutschland wie ein Schaustück in einem
Experimentierlaboratorium,
aber
das
Deutschland,
das
wir
dem
Experiment
unterzogen, hat es niemals gegeben.
Unser angebliches Versuchsobjekt hatte
nichts mit der deutschen Wirklichkeit zu
schaffen." 482
Der politischen Linken in den USA gelang es dadurch maßgeblich,
die öffentliche Meinung zu beeinflussen und ihr Deutschlandbild
vorherrschend werden zu lassen. Es ist deshalb kein Zufall, daß
in den Vereinigten Staaten die Eliminierung gerade solcher
gesellschaftlicher Gruppen in Deutschland gefordert wurde, was
auch in der Planung und JCS 1067 zum Ausdruck kam, deren
Beseitigung
auch
Moskau
zur
Durchsetzung
der
eigenen
expansionistischen Bestrebungen, der sozialen Umwälzung in
besetzten Ländern und der Installation eines kommunistischen
Regimes anstrebte. Während Stalin jedoch konkrete Vorstellungen
von
482 G. Stolper, Die deutsche Wirklichkeit, S. 245
195
der sowjetischen Nachkriegspolitik hatte, die sich nicht nur im
Zerstören erschöpfte, sondern den schnellen Aufbau sowjetischer
Satellitenstaaten zum Ziel hatte, der auch in Deutschland nur mit
der Bevölkerung, nicht aber unter Kollektivschuldvorwürfen gegen
sie gestaltet werden konnte, war die amerikanisch? Linke
weiterhin in ideologischmoralischen Vorstellungen befangen,
fernab jeglicher Realitätsbezogenheit. Für sie war der Krieg im
Mai 1945 nicht zu Ende. Die Einstellung der Kriegshandlungen
versetzte sie lediglich in die Lage, wie gemäßigtere Kreise
glaubten, nun ungehindert und in enger Zusammenarbeit mit Rußland
die Therapierung des deutschen Volkes in die Tat umsetzen zu
können. Erst wenn dieser Therapie Erfolg beschieden sein würde,
die Deutschen ihr neugewonnenes Verständnis für Demokratie der
amerikanischen Prägung und ihre Einsicht in den verderblichen
Charakter des eigenen Volkes klar unter Beweis gestellt hätten,
was allein der Beurteilung der Alliierten zu unterliegen hatte,
durften sie den Weg zurück in die Gemeinschaft der Völker suchen.
Noch
radikalere
politische Gruppierungen, deren
Exponent
Morgenthau
war,
hielten
die
Deutschen
für
gar
nicht
demokratiefähig, für therapieresistent. Nicht kurzfristige Strafe
und langfristige Erziehung stand in ihrem Programm, sondern
Identität von kurz- und langfristigen Plänen, die sich im rein
Negativen mit Straf- und Kontrollmaßnahmen begnügten.
Gemäßigte und radikale Kreise stimmten jedoch darin überein, daß
ein minimaler Überlebensstandard, das Verbot jeglicher Art
menschlicher Kontakte zwischen Besetzern und Bevölkerung (sog.
Non-Fraternization), Umerziehung und eine -juristische Schuld
zunächst außer acht lassende Bestrafung für die durch
Parteimitgliedschaft und entsprechende Aktivitäten gezeigte
unmoralische
politische
Gesinnung
angebracht
seien.
Die
Rückwärtsgewandheit der amerikanischen Planung verhinderte die
klare und konstruktive Voraussicht auf die offensichtlichen
Schwierigkeiten der Zukunft, die sich in den Interessen- und
Weltanschauungsgegensätzen zwischen der Sowjetunion und
den Vereinigten Staaten, letztere als Führungsmacht der
westlichen demokratischen Staaten, in Jalta und Potsdam bereits
unübersehbar abzeichneten und nur durch das erneute Hinauszögern
endgültiger gemeinsamer Entscheidungen der Alliierten auf einen
späteren Zeitpunkt vertagt werden konnten. Die politische Rechte
in den USA, traditionell realitätsnäher und in machtpolitischen
statt moralischen Kategorien denkend483, erkannte zwar die
kommunistische Gefahr, die aus dem Osten Europas der zerstörten
und zu einer Art Konkursmasse verkommenen Mitte des alten
Kontinents drohte. Sie war sich auch der bereits klassischen
weltgeschichtlichen Rolle Deutschlands als Bollwerk gegen Europa
von Osten bedrohende Mächte sowie seiner zentralen ökonomischen
Aufgabe für die Prosperität seiner Nachbarstaaten bewußt, konnte
diese Einsichten in den politischen Entscheidungsprozeß aber nur
schwer oder gar nicht einbringen. Zu übermächtig war die
moralischideologische Schule der Linken, zu deutlich äußerte sich
Roosevelt selbst in ihrem Sinn, zu viel Gehör schenkte er ihren
Anhängern, als daß die ohnehin nur schwach vertretene
Gegenposition auch nur den Hauch einer Einflußmöglichkeit gehabt
hätte. Vertreter dieser Richtung, der Republikaner Stimson sei
namentlich genannt, hielten sich in Anbetracht der unübersehbaren
Tendenz
der
öffentlichen
Meinung
entweder
zurück
oder
resignierten und verzichteten auf weiteres deutschlandpolitisches
Engagement, was besonders auf Stimson zutraf, der sich nach der
Debatte um den Morgenthau-Plan erkennbar von diesen Fragen
zurückzog und seinem Mitarbeiter John J. McCloy weitgehende
Handlungsfreiheit ließ. Ein Kenner der deutschland-politischen
Diskussion meinte denn auch:
"Anyone who tried to adopt a fairly
tolerant attitude toward Germany was
suspect."484
483
484
Vgl. H.P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 97 ff., der
der "progressiven Linken” die ''realpolitische Schule"
gegenüberstellt.
John L. Snell, Wartime Origins of the East-West Dilemma over
Germany, S. 13
197
Daß eine gemäßigte Einstellung den Deutschen gegenüber night
zwangsläufig etwas deutschfreundliches hatte, sondern zumeist Beispiel Stimson - neben humanen Gründen primär das rationale
Erfassen historischer Bedingtheiten war, wurde dabei übersehen.
Die Simplifizierung des Problems, das Denken in den moralischen
Kategorien von Gut und Böse (in das die Sowjetunion aus
Notwendigkeiten der Kriegsallianz und zur Vertuschung vorhandener
Widersprüche auf der Seite der progressiven "Guten" einbezogen
wurde) feierte einen großartigen Triumph über jegliche Art
weltpolitischer Intelligenz. Der amerikanische Diplomat und
Zeitzeuge George F. Kennan hat die Problematik dieser Denkweise
und ihre gefährliche massenpsychologische Auswirkung auf den
Punkt gebracht:
"In the emotional world of an aroused
democracy evil had always to be singular,
never plural. To admit the complex and
contradictory nature of error would be to
admit the complex and contradictory nature
of truth, as error's complement; and this
was intolerable, for if there were two ways
of looking at a thing, then the whole
structure of war spirit fell to the ground,
then the struggle had to be regarded as a
tragedy, with muddled beginnings and
probably a muddled end, rather than as a
simple heroic encounter between good and
evil; and it had to be fought, then, not in
blind, righteous anger but rather in a
spirit of sadness and humility at the fact
that western man could involve himself in a
predicament so unhappy, so tragic, so
infinitly self-destructive."485
Aber gerade das Bewußtsein, im alleinigen Besitz von Erkenntnis,
Wahrheit und - vor allem - moralischer Rechtfertigung zu sein,
führte zu der paradoxen Situation, daß der so moralisch Gestärkte
glaubte, eben diese von ihm mit soviel Euphorie und innerer
Überzeugung verteidigten Werte gegenüber demjenigen, der sie
nicht teilte oder dem man sie absprach, nicht beachten zu müssen.
Das "Böse" hatte nur Pflichten, keine Rechte oder moralische
485
198
G.F. Kennan, Soviet - American Relations, Bd. II (1958), s. 9
Ansprüche. Beim "Guten" war es umgekehrt. Diese Methode konnte
jedoch nur gelingen, wenn der "böse" Feind aus der Abstraktheit
der
Begriffe
"Deutschland"
(als
Staatsgebilde)
oder
"Nationalsozialismus" (als Ideologie, Gesellschaftsordnung oder
Regierungsform) herausgelöst und gleichsam "personalisiert"
wurde, um ihn in Beziehung zu setzen zum faßbareren und der
menschlichen Vorstellungskraft eher zugänglichen Begriff von
"dem/den Deutschen". Durch eben diesen Kunstgriff wurde die
eigentlich heterogene Masse "deutsches Volk" zum Inbegriff all
jener Merkmale, die der Nationalsozialismus symbolisierte oder
die man - aus dem Ausland besehen - für solche hielt, und
erschien
weithin
als
monolithisches
Gebilde,
dem
Nationalsozialismus nicht nur willen- und bedingungslos ergeben,
sondern diesen verkörpernd.
Mit dieser Verschiebung des Feindbegriffes ging notwendig eine
zweite Änderung einher: Der Feind war keine "relative"
Erscheinung mehr, der zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer
bestimmten bilateralen oder weltpolitischen Situation andere
nationale Interessen vertrat und sich zu ihrer Durchsetzung des
verwerflichen Mittels des Krieges bedient hatte, sondern wurde
zum "absoluten" Feind, von dem immer eine latente Kriegsgefahr
und möglicher Weltenbrand ausging, und der auch in der Zukunft
die friedliebenden Völker der Welt beängstigen würde, legte man
ihm nicht ein für allemal das Handwerk durch eine vernichtende,
Kompromisse und Verhandlungen nicht zulassende militärische und
politische Niederwerfung, bedingungslose Kapitulation genannt,
und die anschließende umfassende Bestrafung, Säuberung und
Kontrolle
der
Gesellschaft,
Vernichtung
der
machtund
wirtschaftspolitischen Potenz und internationale Überwachung der
verbliebenen
Strukturen
und
Ressourcen.
Die
fortdauernde
Isolierung - Roosevelt sprach bekanntlich von "Quarantäne", damit
sich friedliebende Nationen nicht infizierten - war bei dieser
Betrachtungsweise unumgänglich, und erst der Nachweis reuevoller
und tiefgehender demokratischer Genesung konnte auf lange Sicht
gesehen eine Rückkehr - für manchen amerikanischen
199
Beobachter sogar die erstmalige Aufnahme - in die Gemeinschaft
friedliebender Völker sicherstellen.
Dabei darf man ein tragendes und antreibendes, traditionell
amerikanisches Motivationselement nicht übersehen: den in der
amerikanischen
Gesellschaft
tief
verwurzelten
Fortschrittsglauben, die Entwicklung hin zu einer schon von
Woodrow Wilson beschworenen ”one world". Wilsons Vierzehn Punkte,
Roosevelts "Vier Freiheiten" und die Atlantik- Charta waren
Meilensteine auf dem Weg zu einer besseren Welt. Zwar wurden in
allen drei Erklärungen die Feindstaaten nicht ausgeschlossen von
diesen Perspektiven (sondern teilweise sogar ausdrücklich
einbezogen) , doch führte die Verabsolutierung des Feindbegriffes
auch hier schnell zur Geduldigkeit des Papiers und der Faktizität
des Gegenteils. Die besondere amerikanische Problematik hat
Günter Moltmann anschaulich geschildert:
"Der vergangene Krieg wurde von Amerika als
Kreuzzug propagiert. Die Vorstellung, daß
Amerika
kämpft,
um
das
Ideal
einer
Weltfriedensordnung im Sinne der AtlantikCharta zu verwirklichen, beruhte weithin
auf fester Überzeugung. Hierin liegt etwas
vom traditionellen amerikanischen Fortschrittsglauben, von dem Geiste Wilsons,
der das Prinzip der "balance of power"
ersetzen wollte durch das Prinzip der
"community of power", und vom Geist des
Völkerbundes, des Kellogg-Paktes und der
Vereinten Nationen, die alle in Amerika
ihren
Ursprung
hatten.
All
diese
Konzeptionen haben eines gemeinsam: sie
versagen vor dem Druchbruch dämonischer
Mächte in der geschichtlichen Entwicklung,
weil sie deren Existenz nicht begreifen
können. Widerstrebende Mächte, die sich bei
der
Verwirklichung
der
fortschrittlichen idealistischen Konzeption
als störend erweisen, werden zunächst mit
moralischen und rechtlichen Argumenten
verurteilt. Ist zu ihrer Niederringung aber
wie im Falle Deutschland ein Weltkrieg und
der Einsatz von Millionen von Menschenleben
erforderlich, dann ist die Enttäuschung
überaus groß und der Gedanke an eine
radikale Strafmaßnahme vernichtenden
Ausmaßes nicht sehr fern; dann kann sich
zeigen, wie schnell der Übergang vollzogen
ist vom Glauben an die Verwirklichung einer
Idee zum Durchbruch eines gefährlichen
Fanatismus. Dämonische Kräfte auf der einen
Seite wecken dämonische Kräfte auf der
Gegenseite." 4 8 6 .
Das angebliche historische Determiniertsein einer globalen
Evolution hin zu einem Zustand dauernden Weltfriedens, aufbauend
auf den Grundsätzen von Freiheit, Gleichheit und innerstaatlicher
Demokratie sowie - von zunehmender Wichtigkeit in den USA - eines
erdumfassenden
schrankenlosen
wirtschaftlichen
Multilateralismus', machte es aus der amerikanischen Perspektive
notwendig, alles diese Entwicklung Störende oder sie Aufhaltende
zu bekämpfen, um den zwangsläufigen historischen Prozeß weiter
vorantreiben
zu
können.
Wenn
Moltmann
meint,
in
der
amerikanischen Deutschlandplanung habe sich "nicht nur das
Verantwortungsbewußtsein
um
die
Zukunft
der
Menschheit"
widergespiegelt, "sondern auch der Geist der Rachsucht und
Vergeltung"487, so bedarf das vor diesem Hintergrund der
Ergänzung. Denn Rache und Vergeltung sind Handlungsformen, die an
ein vorangegangenes, nicht notwendigerweise unrechtmäßiges
Geschehen anknüpfen, und es fragt sich deshalb, welches Verhalten
auf deutscher Seite für die Amerikaner den entsprechenden
Bezugspunkt
bildete.
Nach
dem
soeben
Erörterten
bleibt
festzuhalten, daß es sich dabei eigentlich allein um das
eigenmächtige und willkürliche Ausbrechen aus der geschichtlichen
Gesetzmäßigkeit
handeln
konnte,
eine
Tatsache,
die
die
Gesetzmäßigkeit der erhofften und prophezeiten Entwicklung selbst
in Frage stellte. Das Überleben, ja vielleicht sogar der Erfolg
autoritärer und totalitärer Gesellschaftssysteme mußte ernste
Zweifel an dieser Gesetzmäßigkeit aufkommen lassen. Diese
Gegenentwicklung
war
der
Anknüpfungspunkt
für
Haßund
Rachegefühle, sie galt es mit revolutionären Mitteln zu stoppen
und die historisch determinierte Weltordnung
486
487
G. Moltmann, Der Morgenthau-Plan als historisches Problem, in:
Wehrwissenschaftl. Rundschau (V), 1955, S. 15 ff, 32
G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 1
201
wiederherzustellen. Daß die kommunistische Sowjetunion auch als
totalitäre, der Gesetzmäßigkeit nicht entsprechende Erscheinung
hätte aufgefaßt werden müssen, wurde zunächst durch den Hinweis
auf die Kriegsallianz umgangen, in der sich laut Roosevelt ja die
"friedliebenden" Nationen zusammengeschlossen hatten, sowie der
weitverbreitete Glaube, bei dem in der Sowjetunion existierenden
Gesellschaftssystem handele es sich um eine Ordnung, die sich der
Demokratie westlicher Form nach dem Krieg immer stärker annähern
werde.
2. TEIL: "UNCONDITIONAL SURRENDER" - VOM EINER POLITISCHEN
FORDERUNG ZU EINEM NEUEN STAATS- UND VÖLKERRECHTLICHEN INSTITUT?
Die
mit
der
politischen
Besatzungsplanung
zwangsläufig
einhergehende
Frage
war
die
nach
der
völkerrechtlichen
Zulässigkeit all dieser Maßnahmen. Gerade die Rechte und
Pflichten einer Besatzungsmacht auf feindlichem Gebiet hatten
schon 1899 und 1907 auf den beiden Haager Konferenzen in den
Artikeln 42 bis 56 der Haager Landkriegsordnung (HLKO) eine recht
detaillierte
Regelung
erfahren,
und
es
konnte
keinen
ernstzunehmenden Zweifel an ihrer Gültigkeit und Anwendbarkeit
bei der alliierten Okkupation Deutschlands geben. Würden aber
diese Regeln ausreichen, um die alliierten Kriegsziele in einem
völkerrechtlich zulässigen Rahmen durchführen zu können? Oder,
wenn dies nicht möglich sein sollte, konnte man durch ganz
gezielte Maßnahmen den völkerrechtlichen Schutz für die
Bevölkerung, ihr Eigentum, ihre Freiheit und ihre sonstigen
Rechte, und für die politischen und staatlichen Strukturen in
Deutschland irgendwie ausschalten? Und gegebenenfalls wie: durch
Zerschlagung des deutschen Staates als politische und rechtliche
Einheit oder durch Übertragung innerstaalicher Befugnisse auf die
alliierten Machthaber durch eine vertragliche Abmachung ? Die
Aufgabe, vor die sich die alliierten Völkerrechtler bei ihrer
Planung gestellt sahen, war eine völlig neue, in der modernen
Kriegshistorie einmalige: durch militärische Operationen und
politische Entscheidungen eine Lage herbeizuführen, in der der
besiegte Feind nicht nur militärisch wehrlos, sondern auch
rechtlos sein würde, in der aus dem völkerrechtlichen Subjekt ein
Objekt willkürlicher, d.h. rechtlich nicht überprüfbarer
Maßnahmen
würde.
Präzedenzfälle
dafür
zu
finden,
mußte
schwerfallen, ebenso wie die rechtliche Konstruktion und
Begründung
einer
solchen
Situation.
Dabei
kam
den
angloamerikanischen Planern jedoch ein schon anachronistischer
und plötzlich scheinbar wieder
203
\
modern gewordener Begriff zur Hilfe: die Forderung
bedingungsloser Kapitulation ("unconditional surrender").
nach
I. Die frühe amerikanische "Unconditional Surrender"-Planung
1.1. Planungen des Subcommittee on Political Problems
Die ersten Planungen, wie das Ende des Krieges mit Deutschland zu
gestalten sei, erfolgten im Subcommittee on Political Problems
bereits im Frühjahr 1942. Unter dem Vorsitz von Sumner Welles
wurden die mit dem Waffenstillstand 1918 gemachten Erfahrungen
aufbereitet1.
Sollte
man
sich
auch
diesmal
mit
einem
Waffenstillstand zufriedengeben oder sollte man weiterkämpfen bis
zu irgendeiner Form von politischer oder militärischer
Kapitulation Deutschlands? Norman H. Davies, Mitglied des
Komitees, der als Finanzberater von Präsident Wilson und der
amerikanischen Delegation bei der Pariser Friedenskonferenz 1919
gewesen war, meinte, die Deutschen würden niemals wieder den
Fehler begehen, einen Waffenstillstandsvertrag zu unterzeichnen:
"This time the war must go to the point of
unconditional surrender, which would mean
that the army itself must surrender"2 .
Damit wollte Davis verhindern, daß (ähnlich wie schon 1918) der
Waffenstillstand von politischer Seite gezeichnet würde und die
militärischen Führer ohne Verantwortung für dieses Ergebnis
blieben. Adolf A. Berle hielt hingegen noch an der Vorstellung
von einem Waffenstillstand fest. Dieser müßte unterschrieben
werden entweder von der existierenden Regierung, von einer neuen
Regierung oder von den Streitkräften3. Letztlich war man jedoch
im Komitee der
1
2
3
204
Dokumente zur Deutschlandpolitik, I. Reihe, Band 2, 11. August 1941
bis 31. Dezember 1942, Amerikanische Deutschlandpolitik, bearbeitet
von M.-L. Goldbach; hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche
Beziehungen, S. 198 ff.
Dokumente zur Deutschlandpolitik, 1/2, S. 199
Dokumente zur Deutschlandpolitik, 1/2, S. 199
Auffassung, daß zwischen Waffenstillstand und Kapitulation ein so
großer Unterschied gar nicht bestehe:
"A German armistice or surrender,didn't make much difference whether
contemplated a negotiated armistice
an uncondtional surrender.”4
it
we
or
Was den kleinen Unterschied anbetraf zwischen beiden Möglichkeiten der Beendigung von Feindseligkeiten, sah ihn Davis
darin, daß das eine " a negotiated cessation of hostilities"
(Waffenstillstand), das andere "an imposed cessation of
hostilities" (bedingungslose Kapitulation) sei5. In den folgenden
Monaten wurden vor allem von General George V. strong, der auch
Mitglied des "Advisory Committee on Post-War Foreign Policy" war,
mehrere Arbeitspapiere erstellt für das "Subcommittee on Security
Problems" über die Bedingungen einer deutschen Kapitulation oder
eines Waffenstillstands zunächst nur gegenüber den USA®, später
auch gegenüber den Vereinten Nationen7. Diese Arbeitspapiere
enthielten
Bestimmungen,
wie
sie
üblicherweise
auch
in
Waffenstillstandsverträgen enthalten sind; sie waren insbesondere
rein militärischer Natur. Am 23. Juli 1942 erstellte das
Subcommittee on Security Problems
einen
Zwischenbericht
über
die
Kapitulationsbedingungen für Deutschland. Dort hieß es:
"1. On the assumption that the victory of
the United Nations will be conclusive,
unconditional surrender, rather than an
armistice, should be sought from Germany.
2. The negotiation of the terms of
surrender with the German High Command and
the enforcement of the terms upon Germany
should be conducted entirely by the
appropriate United Nations military organs
and officers."8
4
5
6
7
8
So die unwidersprochene Formulierung von J. Bowman, in:
Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 201
Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 252; Sitzung vom 6. Mai
1942
Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 265 ff.
Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 521 ff.
Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 433 und die
Wiederholungen in den Zwischenberichten vom 13.8.1942 und
22.10.1942, S. 474 und 570
205
Obwohl damit deutlich zwischen einer bedingungslosen Kapitulation
und einem Waffenstillstand unterschieden wurde, und ersterer
absolute Priorität eingeräumt wurde, waren beide in ihrer
praktischen Auswirkung für das Besatzungsregime in Deutschland
nicht sehr weit voneinander entfernt, zumal auch die Kapitulation
als militärische Vereinbarung gedacht war. Sie unterschieden sich
lediglich darin, daß üblicherweise in einem Waffenstillstand,
wenn man ihn sich als Vereinbarung denkt, die einem
Verständigungsfrieden den Weg ebnen soll, die Bestimmungen in
einer gewissen Weise ausgehandelt werden (wenngleich dies nicht
begriffsnotwendig für einen "Waffenstillstand" ist) , die
Alliierten im Zweiten Weltkrieg jedoch, allen voran die
Amerikaner, von vornherein nur für einen Diktatfrieden gegenüber
den Achsenmächten im allgemeinen, Deutschland im besonderen, zu
haben waren. Einem solchen Diktatfrieden mußte als Vorstadium die
völlige militärische Niederlage vorausgehen, ohne irgendwelche
Zugeständnisse. Den vermeintlichen "Fehler", den die Amerikaner
glaubten am Ende des Ersten Weltkrieges gemacht zu haben, als die
Deutschen auf der Grundlage von Wilsons Vierzehn Punkten in den
Waffenstillstand einwilligten, wollten sie nun nicht wiederholen.
Bedingungen sollten den Deutschen diesmal nicht zugestanden
werden, die Anerkennung der militärischen Niederlage mußte
"bedingungslos" sein. Dieser Zusammenhang wurde schon im Mai 1942
mehr als deutlich. Das Protokoll der Sitzung des Subcommittee on
Security Problems vermerkt:
"Mr. Long (B. Long, zu dieser Zeit Abteilungsleiter im US-Außenministerium und
Mitglied des Advisory Committee on Post-War
Foreign Policy, d. Verf.) remarked that we
are fighting this war because we did not
have an unconditional surrender at the end
of the last one. To this there was also
general agreement." 9
Noch keine Intention hatten die amerikanischen Planer damals,
eine "bedingungslose Kapitulation" in irgendeiner
9
206
Dokumente zur Deutschlandpolitik, 1/2, S. 252
Form als Instrument zur Ausschaltung der völkerrechtlichen
Bindungen und Pflichten der Okkupanten auf besetztem deutschen
Gebiet zu verwenden. Das geht eindeutig aus einem Arbeitspapier
des Subcommittee on Security Problems vom 27. Juli 1942 hervor,
das den Titel trug: "Preliminary Plan for the Occupation of
Germany". Die dort gemachten Ausführungen gehen von der Annahme
aus, daß das Ende der Feindseligkeiten sich entweder als das
Ergebnis einer bedingungslosen Kapitulation Deutschlands oder als
das Resultat eines Waffenstillstandes darstelle. Auch ein
Waffenstillstand, obwohl der Form nach eine Vereinbarung, sei dem
Inhalt nach einer derartigen Kapitulation gleich ("... is in
substance equivalent to such surrender")10. Desweiteren wurde zwischen einer Anfangsphase ("Initial Period") und einer danach
folgenden zweiten Phase ("Second Period") der alliierten
Besatzungsherrschaft
in
Deutschland
unterschieden. Hinsichtlich der völkerrechtlichen Machtbefugnisse
der Alliierten in der Anfangsphase der Besatzung hält das
Arbeitspapier fest:
"During the initial period, the occupying
forces will possess all the powers of a
military occupant under the laws of war.
Martial law will prevail."11
Weiter hieß es in dem Arbeitspapier, die Besatzungsregierung
werde in Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht nur eine
eingeschränkte gesetzgeberische Befugnis ("limited law-making
authority") besitzen. So sei der Militärgouverneur ermächtigt,
Verordnungen zu erlassen in einem Umfang, der notwendig sei, um
die Sicherheit und den Unterhalt der Besatzungstruppen zu
gewährleisten,
wodurch
alle
gegenteiligen
Bestimmungen
automatisch suspendiert würden. In Ausübung dieser Befugnis werde
der Militärgouverneur so schnell wie möglich alle Gesetzgebung
aufheben, in der Na- zigrundsätze verkörpert seien. Ansonsten
sollte
das
deutsche
Rechtssystem,
öffentlichund
privatrechtlich, im allgemeinen in Kraft bleiben. Auch deutsche
Beamte sollten
10
11
Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 437
Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 439 f
207
ihren
Dienst,
unter
alliierter
Oberaufsicht
und
Weisungsgebundenheit,
weiter
ausüben,
sofern
sie
kein
Sicherheitsrisiko für die Besatzungstruppen darstellten. Deutsche
Zivil- und Strafgerichte sollten ihre Tätigkeit weiterführen und
ebenfalls allgemeiner Kontrolle unterliegen12. Erst in der zweiten
Phase des Besatzungsregimes, in der der Militärgouverneur durch
eine "Internationale Zivilkommission" abgelöst werden sollte,
sollte auch das Kriegsrecht an so vielen Orten wie möglich
fallengelassen werden (ohne daß in dem Arbeitspapier zum Ausdruck
gekommen wäre, wie ein solches Ergebnis rechtstechnisch erreicht
werden könnte). Der Internationalen Kommission sollte dann jedoch
die Befugnis zukommen, das Kriegsrecht von neuem für wirksam zu
erklären und Notfallaktionen ("emergency action") durch die
Militärbefehlshaber anzuordnen oder zu genehmigen, wann immer
diese notwendig seien. Die Befugnisse der Besatzungsregierung
während
dieser
zweiten
Besatzungsperiode wären in jeder Hinsicht identisch mit den
Befugnissen während der ersten Besatzungsphase. Gleichwohl werde
jedoch von der Kommission erwartet,
"so far as was consistent with the purposes
and efficiency of the occupation, to relax
the strictness with which certain of these
powers were interpreted and enforced".13
Daß die "bedingungslose Kapitulation" Deutschlands keineswegs das
Ergebnis von Verhandlungen sein durfte, machte das Subcommittee
on Security Problems in seiner Sitzung am 2. Oktober 1942
deutlich. Die möglichen Umschreibungen "Kapitulations-Abkommen"
("convention of surrender") oder "Kapitulations-Vereinbarung"
("agreement of surrender") wurden abgelehnt, da beide einen
Verhandlungsvorgang enthielten, der mit dem Konzept von
"bedingungsloser
Kapitulation"
nicht
vereinbar
sei.
Die
Kommission einigte sich auf Vorschlag von Norman Davis
schließlich darauf,
von
"Übergabebedingungen" ("terms
of
surrender") zu sprechen.
12
13
208
Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 440
Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2. S. 441
Die
bereits
vorliegenden
terminologisch umgestaltet14.
1.
Entwürfe
wurden
entsprechend
2. Roosevelt bekennt sich zum Prinzip der "bedingungslosen
Kapitulation"
Die Planungen des Subcommittee on Security Problems zur
"bedingungslosen
Kapitulation"
blieben
jedoch
nicht
nur
komiteeintern
,
sondern
wurden
bereits
frühzeitig
dem
amerikanischen Präsidenten mitgeteilt. Norman H. Davis, mit
Roosevelt bereits seit langer Zeit befreundet, berichtete dem
Unterausschuß am 20. Mai 1942, daß er die Tätigkeiten des
Ausschusses mit dem Präsidenten diskutiert und mit ihm
Übereinstimmung erzielt habe über die Methode der Beendigung des
Konflikts mit den Hauptachsenmächten.15 Mehrere Monate später,
aber noch vor der Konferenz von Casablanca, orientierte Roosevelt
auch erstmals einen Nichtamerikaner mit seinen Vorstellungen vom
Kriegsende und der Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation".
Gegenüber dem Ministerpräsidenten der polnischen Exilregierung,
General Wla- dyslaw Sikorski, sagte Roosevelt, nachdem er den
Polen Ostpreußen verheißen hatte ("That's right. East Prussia
must be yours..."):
"We do not intend to finish this war by an
armistice or treaty. Germany must surrender
unconditionally. We must dismember her and
she must go in quarantine for a long
period, perhaps thirty years. We have
radically to uproot Hitlerism and build
peace on its ruins."16
Diese
Feststellung
war
sicherlich
mehr
als
eine
situationsbedingte Geste an den polnischen Gesprächspartner, für
den eine solche Äußerung zweifellos große Bedeutung hatte. Am
Verhandlungstisch nach Kriegsende würde für die Deutschen kein
Stuhl reserviert sein, nur für die Alliierten. Verhandlungen
würden nicht mit Deutschland
14
15
16
Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 518
Raymond G. O'Connor, Diplomacy for Victory - FDR and
Unconditional Surrender, S.37
Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 714
geführt werden, sondern Uber Deutschland. Die polnischen
Aussichten,
als
"Aggressions-Opfer"
reichlich
territorial
entschädigt zu werden, mußten durch eine derartige alliierte
Politik eminent steigen. Die Ankündigung Roosevelts war jedoch
mehr als das. Sie war bereits die - zu diesem Zeitpunkt noch
inoffizielle - Festlegung der amerikanischen Deutschlandpolitik
auf das Prinzip der "tabula rasa", in dem Verhandlungen nichts,
die politische Macht aber alles bedeutete.
Roosevelts nächster Schritt war die Information der amerikanischen Generalstabschefs (Joint Chiefs of Staff) über diese
politische Entscheidung. Am 7. Januar 1943 bezeich- nete er
diesen gegenüber die "bedingungslose Kapitulation" als das
geeignete Ziel alliierter Kriegsanstrengungen ("the proper aim of
Allied
war
effort")17.
Ein
Widerspruch
seitens
der
Generalstabschefs erfolgte nicht, obwohl es sich bei diesem
Komplex zunächst um eine Frage militärischer Zweckmäßigkeit und
Effizienz gehandelt hätte und den Militärs berechtigte Zweifel
hätten kommen müssen, ob eine solche Forderung nicht den Krieg
unnötig verlängern mußte. Alfred Vagts meint, die Generäle seien
vermeintlich "in einer amerikanischen Tradition befangen"
gewesen18. Obwohl er den Hintergrund dieser "Tradition" nicht
näher ausleuchtet, ist doch klar, was er meint: eine
unreflektierte Anerkennung des Primats der Politik, selbst wenn
dadurch zutiefst militärische Sachverhalte politisiert und der
Entscheidung der militärisch Zuständigen entzogen werden. Es ist
aber
auch
nicht
auszuschließen,
daß
die
Vereinigten
Generalstabschefs
der
Forderung
Roosevelts
durchaus
aufgeschlossen und wohlwollend gegenüberstanden, hatte sich doch
schon in den Beratungen des Subcommittee ein Militär, General
Strong, durch die Abfassung von Kapitulationsplänen federführend
hervorgetan. Es ist vielleicht bezeichnend, daß die einzige
bekannte Stellungnahme eines amerikanischen Soldaten zu dieser
Zeit gegen Roosevelts Forderungen von einem vergleichsweise
17
18
210
A. Vagts, Unconditional Surrender - vor und nach 1941, in:
VfZG 1959, S. 294
A. Vagts, ebd.
jungen General erhoben wurde. Auf der Sitzung der Joint Chiefs of
Staff war es General A.C. Wedemeyer, der sich gegen dieses
Prinzip aussprach, ohne damit allerdings Erfolg zu haben.
Vermutlich hat Generalstabschef George C. Marshall bereits direkt
nach dem Treffen der JCS mit Roosevelt entschieden, die ganze
Sache sei damit abgeschlossen und eine Diskussion auf JCS-Ebene
sei nicht weiter nützlich19.
Roosevelt jedenfalls brauchte nun Widerstand in den eigenen
Reihen nicht mehr zu fürchten. Außenminister Cordell Hull meinte
zwar später in seinen Memoiren, er und verschiedene seiner
Beamten hätten sich grundsätzlich gegen dieses Prinzip
der
"bedingungslosen
Kapitulation"
gewendet("basically opposed the principle"), weil dieses Prinzip
eine Verlängerung des Krieges aufgrund des härteren Widerstandes
der Achsenmächte bedeuten würde, und nach Kriegsende die
Alliierten zur Übernahme der Verwaltungsaufgaben in den eroberten
Ländern gezwungen wären, ohne dafür ausreichend vorbereitet zu
sein20. Dies vermag allerdings nicht sonderlich zu überzeugen, war
doch gerade Cordell Hull am Ende des Ersten Weltkrieges einer von
denen gewesen, die sich gegen eine Verständigung und für eine
vernichtende Niederlage Deutschlands ausgesprochen hatten21. Seine
politische Vision als Wilsonianer von der "one world" hatte
keinen Platz für Staaten und Nationen, die nach seiner Ansicht
diesem globalen Einigungsprozeß entgegenstanden und deren totale
Niederlage als Grundvoraussetzung für dieses hochgestellte
imaginäre Ziel angesehen wurde.
19
20
21
A.E. Campbell, Franklin Roosevelt and Unconditional Surrender, in:
R.Langhorne (Hrsg.), Diplomacy and Intelligence during the Second
World War, Essays in honour of F.H. Hinsley, S. 219 ff., 224; auf die
Rolle Gerneral Marshalls in dieser Frage weist auch A. Vagts, S. 294,
hin.
Hull, Memoirs, S. 1570
Hull, Memoirs, S. 97 : "How can you negotiate any question with
scoundrels and villains, with assassins and freebooters, with
highwaymen and desperadoes! They must first either be killed or
disarmed, and then let honorable men speak and act for their nation
at the peace table".
211
II. Die Konferenz von Casablanca und die politische
Forderung nach "Unconditional Surrender" II.1.
Die Entstehung der Casablanca-Formel
Mit dieser Rückendeckung in Washington konnte Roosevelt beruhigt
zur Konferenz mit Premierminister Winston Churchill nach
Casablanca reisen, die vom 14. bis zum 24. Januar 1943 stattfand.
Wie Roosevelt seinen Vereinigten Generalstabschefs bereits wenige
Tage vorher angekündigt hatte22, machte er auf der Konferenz seine
geplante Forderung zum Thema eines Gesprächs. Churchill war
begeistert. Elliot Roosevelt, der Sohn des Präsidenten,
berichtete
später,
Churchill
habe
zugestimmt
mit
den
Worten:"Ausgezeichnet! Ich kann mir vorstellen, wie Göbbels und
die ganze Gesellschaft toben werden!" Und Roosevelt habe
hinzugefügt, das sei gerade das Richtige für die Russen, sie
könnten sich gar nichts besseres wünschen als die "bedingungslose
Kapitulation"; Stalin könne den Ausdruck selbst erfunden haben23.
Die "bedingungslose Kapitulation" war schon vor dem 20. Januar
1943 Gegenstand eines Gesprächs zwischen Roosevelt und Churchill.
Am 20. Januar 1943 berichtete der britische Premierminister an
sein Kriegskabinett in London, daß für die Pressekonferenz am
Ende des Casablanca-Treffens ein Passus vorgesehen sei, in dem
von Deutschland und Japan, jedoch nicht von Italien, die
"bedingungslose Kapitulation" gefordert werden solle. Auf seiner
Sitzung vom gleichen Tag entschied das Kriegskabinett, das
Prinzip voll anzuerkennen und es auch auf Italien anzuwenden24.
Bereits vor der abschließenden Pressekonferenz war die Forderung
nach "bedingungsloser Kapitulation" somit gemeinsame angloamerikanische Kriegspolitik.
22
23
24
212
Vgl. A.Vagts, VfZG 1959, S. 294
E.Roosevelt, Wie er es sah, S. 151 f., 153, der das Gespräch auf
den 23.1.1943 datiert.
G. Moltmann, Die Genesis der Unconditional-Surrender- Forderung,
Wehrwissenschaftliche Rundschau (VI) 1956, S. 105 ff., 107 f.
Auf der Pressekonferenz am Schlußtag der Beratungen wurde die
Forderung durch Roosevelt zum ersten Mal öffentlich verkündet,
und Churchill stimmte den Ausführungen des amerikanischen
Präsidenten ausdrücklich zu25. Roosevelt stützte sich bei seinen
Ausführungen auf Notizen, die er bereits vorher angefertigt
hatte26 und sagte zu den versammelten Pressevertretern aus aller
Welt:
"Ich glaube, unser aller Sinnen und
Trachten zielte längst auf etwas, das
jedoch weder vom Premierminister noch von
mir jemals zu Papier gebracht worden ist,
und das ist die Entscheidung, daß der
Weltfrieden
nur
durch
die
totale
Elimination der deutschen und japanischen
Kriegsmacht herbeigeführt
werden
kann...Die
Elimination der deutschen, japanischen und
italienischen
Kriegsmacht
ist
gleichbedeutend mit der bedingungslosen
Kapitulation Deutschlands, Italiens und
Japans. Darin liegt eine vernünftige
Sicherung des künftigen Friedens in der
Welt."27
Dies bedeute aber nicht, so fügte Roosevelt weiter hinzu, die
Vernichtung
der
deutschen,
italienischen
und
japanischen
Bevölkerung, sondern nur die Zerstörung der Weltanschauung in
diesen Ländern, die auf Eroberung und Unterjochung anderer Völker
angelegt sei28.
25
26
27
28
Berichte über die Pressekonferenz finden sich bei:
R.E.Sherwood, Roosevelt and Hopkins, S. 566 f., 569 f.; J.L.
Chase, Unconditional Surrender Reconsidered,in: Political Science
Quarterly 1955, S. 258 ff.; G. Moltmann, Die Genesis der
Unconditional-Surrender-Forderung, Wehrwissenschaftliche Rundschau
(VI) 1956, S. 105 ff.; Texte der Pressekonferenz vom 24.1.1943 und
des offiziellen Kommuniques vom 26.1.1943 in:
The Public Papers and Adresses of Franklin D. Roosesvelt (hg. von
Samuel I. Rosenman) Bd. 1943, S. 37 ff., 48 ff.
R.E.Sherwood, Roosevelt und Hopkins, S. 570 f.
The Public Papers an Adresses of Franklin D. Roosevelt, Bd. 1943,
S. 37 ff.(39); dt. Text zitiert nach: G. Moltmann, Wehrwiss.
Rundschau 1956, S. 106; sprachlich etwas geänderte Übersetzungen
auch bei G. Zieger, Alliierte Kriegskonferenzen 1941-1943, S. 98
und M. Arndt, Völkerrechtliche und staatsrechtliche Bedeutung der
Berliner-Erklärung vom 5. Juni 1945, Diss. iur., S.6
The Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt, Bd.
1943, S. 37 ff.; G. Zieger, Kriegskonferenzen, S. 98
213
II.2. Das "Neuartige" der Casablanca-Formel
Roosevelt und Churchill verkündeten in Casablanca ein Kriegsziel,
das - verbunden mit dem Begriff "bedingungslose Kapitulation" zwar zu diesem Zeitpunkt für die Weltöffentlichkeit überraschend
kam und neu war, das aber - in anderer Terminologie - schon seit
geraumer Zeit ein alliiertes Kriegsziel darstellte. Denn schon
auf der Atlantik-Konferenz im August 1941 hatten die beiden als
unabdingbare Grundvoraussetzung für die bei diesen Beratungen
knapp umrissene Nachkriegsordnung die "endgültige Zerstörung der
Nazityrannei" gefordert29, und Umschreibungen, wie sie in der
Öffentlichkeit auch schon vorher gefallen waren, lagen auf einer
Linie mit der "neuen" Forderung:
"The words had indeed not been used in
public before, but phrases like fighting on
till the total defeat of the enemy, and
ending the power to wage aggressive war,
had been common enough, and it is hard to
see that they implied in practice anything
less than unconditional surrender." 30
Die Casablanca-Formel hatte jedoch im Vergleich mit anderen
ähnlichen Formulierungen eine Rigorosität und Radikalität, von
der es für die Alliierten keinen Weg mehr zurück an den
Verhandlungstisch
gab.
Waren
alle
anderen
Formulierungen
vielleicht noch irgendwie auslegungs- und modifikationsfähig, so
war es die Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation" nicht
mehr. Sie bedeutete Diktat-, nicht Verhandlungsfrieden, sie hatte
Deutschland
(und
daneben
insbesondere
Japan)
bei
den
Nachkriegsplänen eine reine Objektrolle zugedacht. Daß sich die
Forderung nicht nur auf das nationalsozialistische Regime bezog,
sondern auf die Deutschen als Volk, machte Roosevelt klar, als er
wenige
29
30
Vgl. zur Atlantic-Charta oben 1. Teil, I.2.
A.E. Campbell, Franklin Roosevelt and Unconditional Surrender, S.
225; ähnlich auch R.G. O'Connor, Diplomacy for Victory - FDR and
Unconditional Surrender, S. 53, der auf die sonst übliche
Kriegsbeendigungs-Terminilogie verweist, die in der Substanz ähnlich
einer "bedingungslosen Kapitulation" sei.
Monate nach dem Treffen in Casablanca, im Mai 1943, dem
britischen Premierminister eine Erweiterung des Inhalts der
Casablanca-Formel vorschlug, die Churchill allerdings ablehnte.
Roosevelt wollte den Briten darauf verpflichten, daß
"die Vereinten Nationen niemals mit der
Naziregierung, dem deutschen Oberkommando
oder sonst einer Organisation oder Gruppe
oder Einzelpersonen in Deutschland über
einen Waffenstillstand verhandeln würden."
31
Aber auch ohne daß diese Passage zur offiziellen alliierten,
zumindest anglo-amerikanischen Politik erhoben wurde, war doch
von Anfang an sicher, daß der Casablanca- Formel "der fragwürdige
Zug einer kollektiven Diskriminierung eines ganzen Volkes"
anhaftete32.
Durch
diese
Formel
wurde
selbst
ein
Verständigungsfrieden
mit
anti-nationalsozialistischen
Gruppierungen für den Fall der Überwindung des Regimes vollkommen
ausgeschlossen.
II.
3. Hintergründe der Casablanca-Formel
Es ist vielfach untersucht worden, welche Motive im einzelnen
Roosevelt bewogen haben - und daß die Initiative dafür von
Roosevelt ausging, bedarf keiner näheren Erläuterung -, die
Casablanca-Formel zur zentralen Kriegsforderung zu machen, die an
Destruktivität nur noch durch die Forderung nach völliger
physischer Vernichtung des Feindes zu überbieten gewesen wäre.
Der erste und wohl auch wesentlichste Grund erschließt sich dem
Betrachter schon, wenn man die Vorgeschichte der Formel im
Subcommittee on Political Problems noch einmal Revue passieren
läßt: Die Beendigung des Ersten Weltkrieges durch einen
Waffenstillstand auf der Grundlage von Wilsons Vierzehn Punkten
mit der anschließenden Versailler Friedenskonferenz wurde als
Fehlschlag
angesehen,
hatte
es
doch
diese
Art
der
Kriegsbeendigung nach amerikanischer
31
32
R.Sherwood, Roosevelt und Hopkins, S. 648
G. Moltmann, Wehrwiss. Rundschau 1956, S. 109
21S
Auffassung den Deutschen offensichtlich erlaubt, nach 20 Jahren
dort weiterzumachen, wo sie im Ersten Weltkrieg aufgehört hatten,
und den "Weltfrieden" erneut zu bedrohen. Bei der Fehlersuche war
man in Amerika schnell fündig geworden: Man hatte sich durch die
Vierzehn Punkte zu früh gegenüber Deutschland festgelegt und
überdies den Deutschen dadurch die Möglichkeit gegeben,
vermeintliche Rechtsansprüche geltend zu machen, anstatt schon
den Ersten Weltkrieg bis zur "bedingungslosen Kapitulation"
Deutschlands durchzufechten, um dann auf den deutschen Trümmern
die Vision von einer "Mächtegemeinschaft" ("community of power")
zu verwirklichen33.
Daß der Fehler von 1918 vielleicht in dem Wortbruch der Sieger
gegenüber Deutschland, in der Nichtbeachtung der Vierzehn Punkte,
in der Nichtzulassung Deutschlands an den Verhandlungstisch und
dem Diktatcharakter dieses Friedensvertrages, also in der
politischen Diskriminierung des besiegten Feindes, zu suchen war,
fand so gut wie keine Vertreter. Zumindest erhoben sie ihre
Stimmen nicht laut, oder ihnen fehlte der notwendige politische
Einfluß. Günther Moltmann hat die historischen Erkenntnisse, die
man in den Vereinigten Staaten aus den Erfahrungen des Ersten
Weltkrieges glaubte ziehen zu müssen, treffend umschrieben:
"Das Kernübel des Friedens von 1919 war
sein Kompromißcharakter. An ihm scheiterte
die Rettung des Friedens in Europa und in
der Welt... Die Verhandlungsbasis der
Vierzehn Punkte hatte einen 'Frieden ohne
Sieg' gebracht. Roosevelt nahm sich vor,
diesmal klüger zu handeln und den Deutschen
keine Gelegenheit zu Rechtsansprüchen zu
geben.
Die
Unconditional-SurrenderForderung kann
33
216
Die Ursächlichkeit der vermeintlichen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg
für die Casablanca-Formel wird sehr umfassend und zutreffend
analysiert von G. Moltmann, ebd., S. 186 ff.; die Entscheidung am Ende
des Ersten Weltkrieges zwischen "bedingungsloser Kapitulation" und
einem Waffenstillstand wird von A. Vagts, Unconditional Surrender,
VfZG 1959, S. 288 ff., aufgearbeitet, der meint, "1918 war ein
Lehrjahr für die amerikanischen Staatsmänner des Zweiten Weltkrieges,
die Demokraten wie Hull und Franklin D. Roosevelt, in dessen
Gedächtnis..., the phrase stuck"', ebd. , S. 288.
nur als logische Konsequenz aus einer
solchen Haltung bezeichnet werden."34
"Bedingungslose Kapitulation" versprach völlige Handlungsfreiheit
für die alliierten Sieger, die Welt und ganz besonders die
Feindstaaten nach dem eigenen Willen gestalten zu können aufgrund
der dann vorhandenen absoluten politischen Machtvollkommenheit.
Da Roosevelt für eine frühzeitige konkrete Planung der ins Auge
zu fassenden Maßnahmen nicht zu gewinnen war ("policy of
postponement")35, brachte ihm die Casablanca-Formel auch noch
einen
zweiten
"Vorteil":
Der
Blick
der
amerikanischen
Öffentlichkeit, aber auch der alliierten Regierungen, sollte auf
das Gewinnen des Krieges gerichtet werden, um mit dem Hinweis
darauf, erst müsse der Krieg gewonnen werden, erst dann könne man
in konkrete Planungen eintreten, eine frühzeitige Diskussion
alliierter Kriegsziele zu verhindern36. Roosevelt vertraute auf
seine
Fähigkeiten,
auf
einer
Nachkriegskonferenz
durch
Verhandlungsgeschick eine Weltordnung nach seiner Vorstellung
zustande bringen zu können. Bei Planungen während des Krieges sah
er die Gefahr, die Alliierten könnten sich entzweien und
Deutschland mit seinen Verbündeten davon profitieren. Auf das
rein negative, destruktive Kriegsziel konnte man die Alliierten
noch festlegen. Bei den Vorstellungen der Alliierten von der
Friedensordnung der Nachkriegsweit mußten die Gemeinsamkeiten
aber wohl aufhören. "Bedingungslose Kapitulation" war somit auch
ein vorbeugendes Mittel, das die Festlegung auf Bedingungen
sowohl mit den Alliierten als auch gegenüber Deutschland
verhindern sollte37. Außerdem konnte dadurch, wenn jeder Alliierte
sich zu dieser Formel bekannte, ein Ausscheren des einzelnen aus
34
35
36
37
G. Moltmann, Die Genesis, ebd., S. 185 f.; ähnlich auch J.L.
Chase, Political Science Quarterly 1955, S. 278
Vgl. oben 1. Teil
S. Welles, Where Are We Heading?, S. 18 f.
G. Moltmann, Wehrwiss. Rundschau 1956, S.186 f.; J.L. Chase,
Political Science Quarterly 1955, S. 275
217
der Phalanx der Alliierten und der mögliche Abschluß
Separatfriedens mit den Achsenmächten unterbunden werden38.
eines
Roosevelt verfolgte also mit seiner Forderung ganz gezielt einen
politischen Zweck, eine vollständige politische Handlungsfreiheit
gegenüber Deutschland am Ende der Feindseligkeiten. Daß er der
Casablanca-Forderung
auch
eine
juristische
Komponente,
insbesondere
eine
völkerrechtliche,
zu
diesem
Zeitpunkt
zugemessen hat, ist nicht anzunehmen39. Im Vordergrund stand
eindeutig
das
Verhindernwollen
von
alliierten
Bindungen
untereinander
und
gegenüber
Deutschland,
wobei
Roosevelt
offensichtlich nur an rechtliche oder moralische Bindungen
aufgrund von Vereinbarungen dachte. Daß die Alliierten auch kraft
Gesetzes gebunden waren, nämlich durch die HLKO und die Genfer
Konvention, war ihm damals entweder nicht klar oder für ihn nicht
von Bedeutung. Es sollte deshalb erst den Planungen auf einer
unteren Verwaltungsebene Vorbehalten bleiben, aus dem in
Casablanca verkündeten politischen Prinzip auch ein juristisches
Prinzip zu entwerfen.
III. "Unconditional Surrender" als Versuch, in Deutschland einen
völkerrechtsfreien Raum zu schaffen
III.l. Das Pollock-Memorandum vom April 1943
Bereits im April 1943 erstellte der Politikwissenschaftler und
Deutschlandexperte James K. Pollock, Professor an der Universität
Michigan, auf Anfrage des Kriegsministeriums eine Denkschrift mit
dem Titel "What does "Unconditional Surrender' mean as applied to
Germany"40. In seiner Studie berücksichtigte Pollock neben
militärischen auch politische
38
39
40
218
A.E. Campbell, Franklin Roosevelt and Unconditional Surrender, S. 226
f.
So auch G. Moltmann, Wehrwiss. Rundschau 1956, S. 108: "In
Casablanca wurden keine juristischen Überlegungen angestellt.
Roosevelt verkündete ein politisches Prinzip".
JCS, "Memorandum Information No. 61", "Note by the Secretaries"
(cover note) vom 20.4.1943, "Enclosure: What does 'Unconditional
Surrender' mean as applied to Germany", o. D., von J.K. Pollock; RG
218 CCS 384.1 Germany (4-17-43)
Faktoren. Als abschreckendes Negativ-Beispiel dafür, wie man
einen Krieg nicht beenden dürfe, erschien auch ihm der Erste
Weltkrieg. In dem Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen hätten
die Amerikaner erfahren, daß die Art und Weise, in der ein großer
Krieg beendet werde, auch den Erfolg des nachfolgenden Friedens
beeinflusse, wenn es diesen nicht sogar bestimme: "The mistakes
of 1918 should not be repeated"41.
Bevor der Befehl zur Feuereinstellung erfolge, meinte Pollock,
müßten bestimmte militärische Vorbedingungen erfüllt sein.
Deutschland müßte diesmal selbst Schlachtfeld werden und
Verhandlungen über eine Kapitulation Deutschlands sollten nicht
früher erwogen werden, bis sechs von zwölf von ihm näher
bezeichnete Städte von den Armeen der Vereinten Nationen
eingenommen und die Teilentwaffnung des Feindes verlangt worden
sei.
Die neue juristische Komponente, die mit einer "bedingungslosen
Kapitulation" verbunden werden konnte, formulierte Pollock dann
folgendermaßen:
"Whoever has legal power at the time in
Germany to give political and military
orders to the German people and to the
German armies must be required in a written
document
a) to surrender unconditionally; and
b)
to transfer supreme authority (Oberste
Staatsgewalt) to the United Nations Supreme
Command.
... It establishes the legal basis for the
work
of
an
International
Governing
Commission...
Es sei zu dem Zeitpunkt, in dem die Denkschrift erstellt wurde,
zwar noch unsicher, wer diese "Oberste Staatsgewalt" im Moment
der deutschen Niederlage innehaben werde, aber...
"...the authority will be lodged somewhere
and we should not deal with
41
42
J.K. Pollock-Memorandum, ebd., S. 1
J.K. Pollock-Memorandum, ebd., S. 2, 3
219
any
person
or
persons
except
those
possessing the power of control over
43
Germany (Staatsoberhaupt) ".
Von einer schnellen Übertragung der "Staatsgewalt" versprach sich
Pollock, neben der Schaffung einer Rechtsgrundlage für die
Tätigkeiten der vorgeschlagenen Kommission (s.o.), vor allem auch
die
mögliche
Verhinderung
revolutionärer
Bewegungen
in
Deutschland. Die "International Governing Commission" wollte er
in Berlin einrichten. Sie sollte sich nach der vollständigen
Besetzung Deutschlands zusammensetzen aus je einem Repräsentanten
der USA, Großbritanniens, der Sowjetunion, der Niederlande und
Norwegens. Die Mitglieder der ersten Kommission sollten
Militäroffiziere sein. Weitere Vorschläge befaßten sich mit der
territorialen und funktionalen Organisation dieser Kommission,
die sich über regionale Verwaltungseinrichtungen über ganz
Deutschland erstrecken und durch eigene Abteilungen für die
unterschiedlichsten Sachbereiche zuständig sein sollte. Die
alliierten Truppen sollten nur solange in Deutschland verbleiben,
wie es notwendig sei, um die deutsche Zivilbevölkerung zu
beeindrucken und die Kommission einzusetzen44. Zu den Aufgaben der
Kommission zählte Pollock neben der Verwaltung Deutschlands und
der Wiederherstellung einer normalen Regierungstätigkeit die
vollständige Entwaffnung Deutschlands und die Überführung der
deutschen Streitkräfte in eine Zivilarbeiter-Truppe ("Civilian
Labor Force") unter dem Kommando der Vereinten Nationen. Aus
diesem Grund und um angeblich durch eine Entlassung entstehendes
Durcheinander
und
Unordnung
zu
vermeiden,
dürfe
eine
Demobilisierung der deutschen Truppen nicht vor Ablauf eines
erheblichen Zeitraums geschehen. Der letzte Abschnitt befaßte
sich kurz mit der Aburteilung der Kriegsverbrecher45.
In dieser Denkschrift wurde somit, bereits drei Monate nach
Erhebung der "bedingungslosen Kapitulation" zu einem
K. Pollock-Memorandum, ebd., S. 2
K. Pollock-Memorandum, ebd., S. 3, 4 K.
Pollock-Memorandum, ebd., S. 5
offiziellen anglo-amerikanischen Kriegsziel, erstmalig auch die
Möglichkeit gesehen, diese Forderung zu einem Instrument zu
machen, mit dessen Hilfe den Alliierten umfassende rechtliche
Kompetenzen im besetzten Deutschland übertragen werden sollten.
Dabei bleiben insbesondere zwei Dinge festzuhalten: Erstens, daß
Pollock nur einen einzigen Weg für die Alliierten sah, um für
sich bzw. für die einzusetzende Kommission in den Besitz dieser
Rechte zu kommen, nämlich durch die schriftliche Übertragung
dieser Rechte durch deren Inhaber auf deutscher Seite, das
jeweils regierende Staatsoberhaupt. Ob sich Pollock diese
Übertragung in Form eines (vielleicht einem Waffenstillstand
nachgebildeten) Vertrages oder einer einseitigen Erklärung des
Staatsoberhauptes dachte, geht aus seinem Memorandum nicht
eindeutig hervor. Klar ist jedoch, daß er einen Weg, der später
zu Diskussionen Anlaß gab, als mögliche Rechtsquelle vollständig
ausschloß: die einseitige "Übernahme" dieser Befugnisse durch
eine alliierte Erklärung. Zweitens, daß der Begriff der "supreme
authority" in dieser Denkschrift nachweislich zum ersten Mal im
Zusammenhang mit einem Mehr an Rechten für die Besatzer
Erwähnung fand und Pollock unter Übertragung von "supreme
authority" die Übertragung der "obersten Staatsgewalt" verstand.
Dieser Begriff unterlief danach über zwei Jahre hinweg
verschiedene Entwicklungen bis er dann als zentraler Begriff
auch in der Berliner Erklärung der Alliierten vom 5. Juni 1945
auftauchte.
Pollocks auf knapp fünf Seiten niedergeschriebene militärische,
politische und juristische Gedanken stießen im Kriegsministerium
auf heftigen Widerstand. Die Research and Analysis Branch, Office
of Strategie Services, setzte sich in einer Denkschrift Mitte Mai
1943 mit Vehemenz gegen die meisten Vorschläge des Professors aus
Michigan zur Wehr. Sie erschienen in vielen Belangen als
oberflächlicher und gefährlich vereinfachender Versuch, eine
schwierige und komplexe Situation zu handhaben ("...feels that
Mr. Pollock's memorandum represents a superficial and dangerously
over-simplified attempt to deal with what will
221
at best be an exceedingly complex situation requiring careful
study and planning")46. Neben einer umfangreichen Kritik an
Pollocks militärischen Vorschlägen, enthielt das Memorandum auch
äußerst ablehnende Anmerkungen zu dem Plan, die deutschen
Soldaten nach ihrer Entwaffnung in Zwangsarbeitseinheiten zu
pressen:
"...(Professor Pollock) advises against
demobilization and calmly suggests their
transformation in a civilian labor force 10 000 000 organized slaves!"47
Hinsichtlich des Kapitulations-Dokumentes machten die Mitarbeiter
des Kriegsministeriums auf die Schwierigkeiten aufmerksam, die
entstehen könnten, wenn am Ende der Feindseligkeiten eine
deutsche Regierung gar nicht mehr bestünde oder nur die HitlerRegierung existiere, mit der die Alliierten aber keinesfalls zu
verkehren bereit seien. Eine Ausdehnung der Befugnisse der
Besatzer wurde gar nicht für notwendig erachtet - man glaubte mit
den üblichen Rechten einer "occupatio bellica" auskommen zu
können:
"In fact, of course, the victorous Allies
will need no better legal support to
whatever action they elect to take after
unconditional surrender than the laws of
belligerent occupation".48
46
47
48
222
W.J. Donovan, Direktor des "Office of Strategic Services", an JCS,
3.6.1943; RG 218 CCS 384.1 Germany (4-17-43)
"Memorandum from Research and Analysis Branch, Office of Strategic
Services, to Brigadier General William J. Donovan", "Subject: Joint
Chiefs of Staff-Memorandum for Information No. 61 - What
Does'Unconditional Surrender' mean as Applied to Germany",
11.5.1943, S. 1; RG 218 CCS 384.1 Germany (4-17-43)
Research an Analysis Branch-Memorandum vom 11.5.1943; ebd., S. 2
III. 2. Britische Bedenken hinsichtlich der völkerrechtlichen Zulässigkeit bestimmter Besatzungsmaßnahmen
Die
eminente
völkerrechtliche
Problematik
zukünftiger
Besatzungsmaßnahmen der Alliierten in Deutschland wurde den
amerikanischen Planern erst im November 1943 durch eine Anfrage
des britischen Kriegsministeriums ins Bewußtsein gerufen. In
London
fragte
man
sich,
zuerst
im
Außen-,
dann
im
Kriegsministerium, inwieweit die Besatzer befugt wären, in
Deutschland
Gesetze
aufzuheben,
insbesondere
solche
mit
nationalsozialistischem Inhalt. Nach Art. 43 HLKO hat der
Besatzer in dem besetzten Gebiet
"alle von ihm abhängigen Vorkehrungen zu
treffen,
um
nach
Möglichkeit
die
öffentliche Ordnung und das öffentliche
Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung
der Landesgesetze."
Dieser letzte Halbsatz stellte für die britischen Planer ein
rechtliches Hindernis dar, das es zu überwinden galt.
Um eine gemeinsame Vorgehensweise in dieser Frage zu erreichen,
wandten sie sich an ihre amerikanischen Kollegen49.
Die Ausarbeitung einer Antwort auf amerikanischer Seite oblag dem
"Office of the Judge Advocate General" im Kriegsministerium. In
einer achtseitigen Denkschrift konzentrierte man die britische
Anfrage auf deutsche Gesetze, die entweder den Mitgliedern der
NSDAP eine privilegierte Stellung verschafften oder den Juden
eine untergeordnete Position zuwiesen. Die mögliche Aufhebung
auch anderer, politisch-ideologisch neutraler Gesetze wurde
ausgeklammert. Der "Judge Advocate General" kam zu dem Ergebnis:
49
War Office (London) an Col. C.E. Ryan, ETOUSA, Nov. 1943; RG 165
CAD 014 Germany (7-10-42) Sec. 3
223
"The occupying power must respect the laws
in force concerning public order and
safety, unless absolutely prevented. (Hague
Regulations, Art. 43; FM 27 - 70, par.
282). It may not make permanent changes in
the constitutional or fundemental laws of
the occupied country, though in a proper
case it may suspend the operation even of
such laws. It may change the laws so far as
necessary for the safety of its own army
and the realization of the purposes of the
war. Changes designed to destroy the
privileged status of members of the Nazi
party and the inferior position of the Jews
are within the last category and may
lawfully be made".50
Die britische Ungewißheit, ob die Besatzungsmacht diese Gesetze,
soweit sie die NSDAP-Mitglieder und die Juden betrafen, nicht nur
aufheben, sondern auch rechtmäßig ändern könne, hielt der Judge
Advocate General eher für eine theoretische denn eine praktische
Frage. Die einzige Garantie der Dauerhaftigkeit solcher
Änderungen sei ohnehin nur eine Bestimmung im Friedensvertrag,
die von der feindlichen Macht verlange, die Änderungen aufrecht
zu halten oder die Einsetzung einer liberalen Regierung, die das
aus eigenem Antrieb tue.51
IV. Diskussion in der European Advisory Commission über Form und
Inhalt der Kapitulations-Urkunde
IV. 1. Amerikanische Vorüberlegungen zur Kapitulations- urkunde
Die weitere Erörterung der völkerrechtlichen Probleme bei der
Besetzung Deutschlands nach Kriegsende oblag in der Folgezeit vor
allem der interalliierten European Advisory
50
Col. A. King, JAGD, Chief, War Plans Division, "Memorandum for The
Judge Advocate General", "Subject: Changes in German
Law"(SPJGW 1943/18261), 16.12.43, Abs. Nr. 17; Maj. Gen. M.C.
Cramer, The Judge Advocate General, an Maj. Gen. J.H. Hilldring,
Director, CAD, 21.12.1943; RG 165 CAD 014 Germany (7-10-43) Sec. 3
51
Col. A. King, JAGD, Memorandum vom 16.12.1943, Abs. Nr. 17; ebd.
224
Commission (EAC), deren Gründung im Oktober 1943 auf der Moskauer
Außenministerkonferenz beschlossen worden war52.
Als im Dezember 1943 das erste Zusammentreffen der Repräsentanten
der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und der Sowjetunion in
der European Advisory Commission (EAC) in London unmittelbar
bevorstand, war es für die Planer im Außen- und im
Kriegsministerium an der Zeit, ein Dokument zu entwerfen, das
Botschafter Winant als amerikanische Verhandlungsgrundlage nutzen
konnte. Funktionsgemäß war es das Außenministerium, das zwar noch
keinen ausgefeilten Entwurf einer "bedingungslosen Kapitulation"
vorlegte, wohl aber eine Darstellung, welche Regelungspunkte ein
solches Dokument beinhalten sollte. Im Hinblick auf die
Behandlung Deutschlands unterschied das Papier zwischen den
Maßnahmen,
die
während
einer
"Waffenstillstand-Phase"
("armisticeperiod")
durchzuführen
seien
(Besetzung,
interalliierte Kontrolle, Gemeindeverwaltung, Auflösung der
NSDAP, Reparationen, Entwaffnung) und Maßnahmen, die den
dauernden Status Deutschlands berühren mußten (Problem der
politischen
Einheit,
demokratische
Regierungsform,
Dezentralisierung und Grenzen). Die diesbezüglichen Überlegungen
waren jedoch zumeist nur in Programmsätze gebettet, ohne schon in
irgendeiner Weise konkret zu werden.
Aufgegriffen wurde zum ersten Mal nach Pollocks Memorandum vom
April 1943 aber wieder der Gedanke, das Kapitulations- Dokument
als
Ermächtigungs-Instrument
und
Rechtsquelle
für
die
durchzuführenden Maßnahmen zu nutzen. Zu diesem Zweck sollte das
Kapitulations-Dokument
nach
Ansicht
des
amerikanischen
Außenministeriums bestimmte Prinzipien berücksichtigen:
"1. That an instrument be signed which
contains an admission of the total defeat
of Germany.
52
Zur Vorgeschichte der EAC vgl. B. Kuklick, The Genesis of the
European Advisory Commission, in: Journal of Contemporary History
1969, H.4, S. 189 ff.
225
2. That the instrument be signed both by
an authorized agent of whatever German
Government may exercise power de jure or de
facto and by an authorized agent of the
military authorities.
3. That the instrument empower the United
Nations to exercise all the rights of an
occupying power throughout Germany". 53
Der letzte Punkt überrascht etwas, hat der Besatzer während einer
kriegerischen Besetzung doch immer die entsprechenden, in der
HLKO geregelten Rechte (und Pflichten). Die besondere Nennung
erscheint jedoch dann nicht mehr überflüssig, wenn man daran
erinnert , daß es für die Amerikaner gar nicht als
selbstverständlich galt, im Zeitpunkt der Kapitulation schon das
ganze Deutschland besetzt zu halten. Sie mußten damit rechnen,
daß es noch Gebiete in Deutschland gab, die noch im Besitz der
deutschen Truppen waren. So gesehen hatte diese Klausel durchaus
einen Sinn, erstreckte sie doch die Rechte der Alliierten als
Besetzer auch auf noch nicht von ihnen besetzte Gebiete. Bei den
weiteren Punkten wurde danach unterschieden, zu welchen Maßnahmen
die Alliierten eine Ermächtigung benötigten, weil sie diese
selbst vornehmen wollten, und Maßnahmen, die die deutsche
Regierung vornehmen sollte. Im letzten Fall brauchten die
Alliierten keine Ermächtigung, sondern es reichte aus, die
deutsche Regierung durch das Kapitulations-Dokument rechtlich zu
binden und die Durchführung zu überwachen. Als Ermächtigung
sollte die Kapitulationsurkunde dienen für die Regelung der
Entlassung der deutschen Streitkräfte und Überwachung der
wirtschaftlichen Tätigkeit Deutschlands. Die deutsche Regierung
sollte zu folgenden Maßnahmen verpflichtet werden: Auslieferung
aller noch in deutschem Gewahrsam befindlicher Kriegsgefangener
und sonstiger internierter Angehöriger der Vereinten Nationen,
Aufgabe der Konzentrationslager und Auslieferung von als
Kriegsverbrecher
gesuchten
Personen,
die
fortdauernde
Aufrechterhaltung aller Behörden zur Wirtschaftskontrolle
53
226
Department of State,"The Treatment of Germany", o. D.; RG
260/OMGUS AGTS/32/1-4
zusammen mit dem Betriebspersonal, vollständigen Akten und
sonstiger Ausstattung zum Zweck späterer Verfügung durch die
Vereinten Nationen und die Aushändigung aller von den Vereinten
Nationen
verlangter
Waffen,
anderer
militärischer
und
Marinebestände und der Vorräte an Rohmaterialien54.
Im Kriegsministerium fanden die Vorschläge allgemeine Zustimmung.
Die JCS meinten, es stimme überein mit den Vorstellungen des
Kriegsministeriums, daß es sich bei der Kapitulationsurkunde um
ein vergleichsweise kurzes Dokument zu handeln habe, das durch
Befehle,
Proklamationen
und
Verordnungen
der
Besatzungsstreitkräfte
ausgeführt
werde.
Lediglich
die
Bezeichnung der ersten Besatzungszeit nach der Kapitulation als
"Waffenstillstands-Phase" stieß bei den JCS auf Widerspruch. Als
Ersatz empfahlen sie die Bezeichnung "Nach-Kapitulations-Phase"
("post surrender period")55. Das Wort "Waffenstillstand", so
meinten die JCS, bedeute eine zeitlich begrenzte Einstellung der
Feindseligkeiten und sei deshalb unangemessen, um einen Zeitraum
zu beschreiben, der unmittelbar auf eine totale Kapitulation
folge56.
Anfang Januar 1943 wurde dann im neu gegründeten Working Security
Committee
(WSC)
ein
Memorandum
fertiggestellt,
das
dem
amerikanischen EAC-Vertreter in den Verhandlungen über die zu
entwerfende Kapitulationsurkunde als Richtschnur dienen sollte.
Das Working Security Committee war eigens aus Repräsentanten des
Außen-, des Kriegs- und des Marineministeriums zusammengestellt
worden, um unter dem Vorsitz von James C. Dunn (Außenministerium)
von Washington aus die amerikanische EAC-Delegation in London zu
unterstützen.57 Die deutsche Kapitulation sollte in einem kurzen
Dokument festgehalten werden, das gleichzeitig eine adäquate
Rechtsgrundlage bilden mußte für die von den
54
55
56
57
Dep. of State-Memorandum, ebd., S. 1, 2
JCS,"U.S. Proposal for the Treatement of Germany"
("Enclosure"), "Note by the Secretaries", 18.12.1943; RG
260/OMGUS AGTS/32/1-4
JCS an Secr. of State, o.D., RG 260/OMGUS AGTS/32/1-4
Vgl. Ph.E. Mosely, The Occupation of Germany, in: Foreign
Affairs 28, S. 580 ff., insb. 583 ff.
227
Vereinten Nationen geplanten politischen, wirtschaftlichen und
Sicherheitskontrollen. Auch Roosevelt sprach sich gegenüber
Churchill für eine kurze Kapitulationsurkunde aus, mit dem
Hinweis, er sei bemüht, die Dinge so weit wie möglich zu
vereinfachen.58
Das WSC-Memorandum legte eindeutig fest, daß sich die von den
Alliierten in Deutschland beanspruchten Rechte nicht auf die im
Kapitulations-Dokument genannten Maßnahmen beschränken dürften.
Vielmehr müsse durch weite und allgemeine Begriffe im
Kapitulations-Dokument die Voraussetzung geschaffen werden, um
auch andere, dort noch nicht spezifizierte Eingriffe in
Deutschland vornehmen zu können. Ohne die Alliierten von
vornherein festzulegen, sollte die Urkunde durch allgemeine
Formulierungen eine unbeschränkte Generalermächtigung sein.
"In general, it is believed that the
document of unconditional surrender should
be a relatively brief instrument, with full
power reserved to implement it by such
proclamations, orders and ordinances as the
occupation authorities and the Governments
which they represent may deem advisable or
necessary."59
Daneben wurde es als "wünschenswert" ("desirable") bezeichnet,
wenn
das
Kapitulations-Instrument
die
deutsche
Regierung
(rechtlich) binde, egal welche politische Struktur und welches
Aussehen sie im Moment der Niederlage habe. Besonderer Wert wurde
von seiten des WSC darauf gelegt, daß der- oder diejenigen, die
das Kapitulations- Dokument Unterzeichneten, auch im Besitz einer
entsprechenden Befugnis ("suitable authority") seien, um die
Urkunde sowohl seitens der deutschen Regierung als auch des
Oberkommandos der Wehrmacht unterzeichnen zu können. Zusätzlich
sollten die höchsten militärischen Führungskräfte auch noch
selbst unterschreiben, um sie für die Ausführung der auferlegten
Bedingungen verantwortlich
58
59
228
FRUS 1944 I, S. 189
FRUS 1944 I,S. 101 (Memorandum vom 3.1.1944, vgl. auch das WSCMemorandum vom 6.1.1944, ebd., S. 104 ff.)
machen zu können und um die Verantwortlichkeit des Deutschen
Militärs für die Niederlage zu betonen. Für den Fall, daß die
deutsche
Regierung
noch
immer
im
wesentlichen
einen
nationalsozialistischen Charakter habe, wurde die Anwesenheit
eines nationalsozialistischen Regierungsvertreters bei der
Unterzeichnung als wichtig erachtet60.
IV.2. Erste Entwürfe der drei EAC-Mitgljeder
a. Der britische 70-Punkte-Entwurf. Den ersten Entwurf eines
Kapitulations-Dokumentes legten die Briten am 15. Januar 1944 in
der EAC vor. Wie Lord Strang seinen Kollegen mitteilte, hatten
die Briten sich bei der Wahl des geeigneten Modus zur Beendigung
der Feindseligkeiten, da man die genauen Umstände in Deutschland
nicht vorhersehen konnte, für einen "hypothetischen" und
umfassenden
Waffenstillstand
("hypothetical
full-dress
armistice") entschieden, dessen Inhalt zwischen den Vereinten
Nationen zu vereinbaren sei, und der der deutschen Regierung und
dem deutschen Volk die Verpflichtung auferlege, an der
Durchführung mitzuwirken. Als Alternativen zu dem ausführlichen
Waffenstillstand hatte die britische EAC- Delegation einen kurzen
Waffenstillstand erwogen, der die Machtbefugnisse ganz allgemein
übertragen sollte conferring general powers"), sowie - ohne
Waffenstillstand eine Reihe rein militärischer Kapitulationen der
örtlichen deutschen Kommandeure, beide Möglichkeiten jedoch
zurückgestellt61.
Der Grund für diese Entscheidung zugunsten des langen
Waffenstillstands dürfte vor allem in dem Bemühen der Briten zu
sehen sein, schon während des Krieges die drei führenden
alliierten Mächte zu einem Konsens hinsichtlich der Behandlung
Deutschlands nach dem Krieg zu bewegen und auf bestimmte,
schriftlich
fixierte
Forderungen
festzulegen.
Diese
Vorgehensweise, die schon zu frühzeitigen Planungen in London
über die Gestaltung
60
61
FRUS 1944 I, S. 101 f.
FRUS 1944 I, S. 113
229
Nachkriegs-Deutschlands geführt hatte62, fand allerdings weder bei
den Amerikanern ("policy of postponement") noch bei den Sowjets
Widerhall, die sich ihre politische Verfügungsfreiheit bis nach
dem Ende der Feindseligkeiten bewahren wollten.
Der von Lord Strang vorgelegte Waffenstillstands-Entwurf enthielt
insgesamt 70 Punkte, in denen recht detailliert die von den
Alliierten beanspruchten und ihnen zu übertragenden Rechte in
allen wichtigen politischen Bereichen aufgeführt waren (viele
Punkte begannen mit: "The United Nations will have the right
to...") bzw. die "deutschen Autoritäten" ("German authorities")63
verpflichtet
wurden,
bestimmte
Dinge
selbst
auszuführen.
Unterschreiben sollte den Waffenstillstand eine Person, die
gleichzeitig das Oberkommando der Wehrmacht repräsentieren und
von der deutschen Regierung ordnungsgemäß ermächtigt sein sollte.
Neben den Spezialermächtigungen und “Ver pflichtungen enthielt
Artikel 59 des Waffenstillstandes aber auch noch eine Art
Generalermächtigung.
"Without prejudice to any other provisions
of the present Instrument, the United
Nations shall be entitled to exercice all
or any of the powers possessed at the date
of the present Instrument, or subsequently
acquired, by the German Government, the
German Supreme Command and any State,
municipal
or
local
Government
or
authority."64
b.
Der
amerikanische Entwurf. Es dauerte bis Mitte Februar 1944 bevor
62
63
64
230
auch die amerikanische und die sowjetische EAC- Delegation von
ihren Regierungen mit diskutierbaren Kapitulations-Entwürfen
ausgerüstet wurden.
Das
Vgl. A. Tyrell, Großbritannien und die Deutschlandplanung der
Alliierten, S. 85 ff.
Unter "German authorities" verstanden die Briten die deutsche
Regierung, das Oberkommando der Wehrmacht mit allen untergeordneten
militärischen Stellen, alle staatlichen und lokalen Regierungen
oder Autoritäten sowie alle Behörden und Beamten in Verwaltung und
Justiz; vgl. FRUS 1944 I, S. 138.
Das lange Waffenstillstands-Dokument: FRUS 1944 I, S. 121-139.
amerikanische Papier hatten die JCS entworfen. Neben dem
eigentlichen "Instrument and Acknowledgment of Unconditional
Surrrender of Germany" versorgten sie den US- Repräsentanten in
der EAC, Botschafter Winant, auch noch mit einem Memorandum, das
ihm weitere Argumentationshilfen geben sollte65. Die 13 Artikel
umfassende Kapitulationsurkunde war ausgesprochen militärisch
gehalten, politische Forderungen wurden vollständig ausgespart.
Die ursprüngliche Formulierung wandte sich in einzelnen Artikeln
nur an das deutsche Oberkommando und legte diesem bestimmte
Pflichten
auf.
Am
25.
Februar
informierte
das
USAußenministerium Winant, daß in diesen Artikeln des Entwurfs nach
dem Oberkommando auch noch die deutsche Regierung aufzuführen
sei66. Ob neben dem Oberkommando auch die deutsche Regierung das
Dokument unterschreiben sollte, ging aus dem Papier nicht hervor.
Die rechtliche Ermächtigung der Alliierten auf der einen, die
Verpflichtungen Deutschlands auf der anderen Seite wurden
ebenfalls in den Entwurf aufgenommen:
"VII. All German authorities, civil and
military, and the German people, will
comply with and faithfully execute such
duties and conditions as may be imposed by
the occupation authorities...
IX. The rights, powers and privileges of
the Supreme Commander of the Alliied
Expeditionary Forces and the Commander in
Chief of the Armed Forces of the Union of
Soviet Socialist Republics, the Governments
of the United States, the United Kingdom,
and
the
Union
of
Soviet
Socialist
Republics, arising as a result of the
complete
conquest
and
unconditional
surrender of Germany, shall be without
limitation of any character whatsoever."67
Zur Begründung eines solchen kurzen Kapitulationsdokuments ließen
die JCS Winant wissen, daß es nach ihrer Meinung eine Fülle von
Vorteilen für die Alliierten enthalte: Es
65
FRUS 1944 I, S. 167 ff
66
67
FRUS 1944 I, S. 168 f.
FRUS 1944 I, S. 169 f.
231
lasse keinen Raum für Andeutungen, daß nur eine vorübergehende
Aufhebung der Feindseligkeiten geschehen sei, wie sie ein
Waffenstillstand enthalte; kein Dokument könne alles enthalten
oder alle möglichen Ereignisse vorhersehen; mit einem kurzen
Dokument, das breite allgemeine Klauseln enthalte, gebe es keine
rechtlichen Hindernisse für eine Vielzahl von Maßnahmen, zu denen
die JCS insbesondere auch die Bevölkerungsumsiedlungen zählten;
das deutsche Volk habe sich unter dem Nazi-Regime an Befehle aus
militärischen oder halbmilitärischen Quellen gewöhnt und sich
ihnen unterworfen, woraus die JCS folgerten, daß die Stellung der
Kommandeure der alliierten Streitkräfte erheblich geschwächt
würde, falls die Direktiven abhängig wären von einer rechtlichen
Prüfung und Erörterung vor ihrer allgemeinen Annahme68. Den
ausschlaggebenden Vorteil versprachen sich die JCS von der
geringen auslegungsfähigen Substanz eines kurzen Dokuments und
der damit verbundenen Tatsache, daß die Sieger und Okkupanten
mangels konkreter Bestimmungen sich auch nicht der Gefahr
aussetzen würden, des Vertragsverstoßes verdächtigt zu werden:
"Each covenant of as document necessarily
creates a condition of surrender binding in
law upon the conquered and the conqueror
alike.
Each
covenant
constitutes
a
subtraction from the powers bestowed upon
the victor by the unconditional surrender
of the enemy state. There is little room
for legal quibbling over a short instrument
and the victor cannot be accused of bad
faith or a violation of its agreement."69
c. Der sowjetische Entwurf. Der Entwurf, den Fedor T. Gusew für
die Sowjetunion der EAC unterbreitete, war ebenfalls inhaltlich
knapp
gehalten
und
beschränkte
sich
auf
militärische
Angelegenheiten. Der letzte der 20 Artikel beinhaltete die
Ermächtigungsklausel, die den Eindruck erwecken mußte, als
beabsichtigten die Russen gar nicht
68
69
232
FRUS 1944 I, S. 171 f.
FRUS 1944 I, S. 171
selbst, tiefgreifende Eingriffe in Deutschlands politische,
wirtschaftliche und soziologische Struktur vorzunehmen, sondern
allein
durch
die
deutsche
Regierung
und
das
deutsche
Oberkommando,
die
die
Kapitulations-Urkunde
unterzeichnen
sollten, zu handeln:
"The Representatives of the Supreme Command
of the Allies will present additional
requirements
on
political,
economic,
military and all other questions connected
with the surrender of Germany; and the
German Government and the German Supreme
Command undertake to carry out these
requirements unconditionally."70
Ein Artikel des sowjetischen Entwurfs, der eigentlich nur eine
Selbstverständlichtkeit zum Gegenstand hatte, sollte in den
folgenden Monaten noch zu erheblichen Auseinandersetzungen in der
EAC führen und wäre beinahe noch zum Stolperstein für die
Kapitulations-Urkunde geworden. Artikel 2 der sowjetischen
Urkunde sah vor, daß die deutschen Streitkräfte, die zum
Zeitpunkt der Kapitulation innerhalb Deutschlands in den Grenzen
vom 1. Januar 1938 stationiert seien, ihre Waffen und sonstige
Ausrüstung komplett zu übergeben hätten. Zu diesen Einheiten
zählten die Russen auch die SS, die SA und die Gestapo. Das
gesamte "Personal" dieser Einheiten sollte bis zu einer weiteren
Entscheidung zu Kriegsgefangenen erklärt werden ("...and the
personnel of all these formations and units shall be declared
prisoners of war, pending further decisions.")71. Der britische
und der amerikanische Entwurf hatten diesbezüglich nichts
enthalten; der britische hatte lediglich vorgesehen, daß unter
den Begriff "deutsche Streitkräfte" auch SS, SA, Polizei- und
sonstige militärische oder paramilitärische Einheiten gehörten72.
Für die Sowjetunion war die Sache jedoch nicht ganz so einfach.
Da sie die Genfer Konvention von 1929 nie unterzeichnet hatte,
bestand für sie an und für sich keine
70
71
72
FRUS 1944 I, S. 173 ff., 179
FRUS 1944 I. S. 174
FRUS 1944 I, S. 138
233
Pflicht, die von ihr in Gewahrsam genommenen deutschen Soldaten
nach der Konvention zu behandeln73. Vermutlich versprachen sich
die Sowjets von einem solchen Passus, daß er der deutschen Seite
die Unterzeichnung des Kapitulations-Dokumentes erleichtern
könnte, hatte sich durch die Erklärung der gefangengenommenen
deutschen Soldaten zu Kriegsgefangenen die Sowjetunion damit doch
selbst der Genfer Konvention unterworfen, um sich aber
gleichzeitig einen Widerruf vorzubehalten. Psychologisch hatte
dieser Artikel somit durchaus Sinn74. Rechtlich eine neue
Situation schaffen konnte er jedoch nur zwischen dem Deutschen
Reich und der Sowjetunion. Amerika und Großbritannien waren als
Unterzeichnerstaaten ohnehin an die Genfer Konvention gebunden
und hatten die deutschen Soldaten, die in ihre Hände fielen,
entsprechend zu behandeln. Dabei kam es nicht darauf an, ob man
die deutschen Soldaten zu Kriegsgefangenen "erklärte", weil sie
diesen völkerrechtlich geschützten Status bereits "automatisch"
hatten aufgrund ihrer vorangegangenen Stellung als Kombattanten.
IV.
3.
Differenzen
in
Washington
und
in
der
EAC über
die
Behandlung deutscher Kriegsgefangener nach der Kapitulation
Obwohl Winant zunächst meinte, er sehe keine allzugroßen
Unterschiede bei der praktischen Anwendung der drei Entwürfe75,
war man insbesondere bei den JCS in Washington ganz anderer
Ansicht.
Lediglich
in
zwei
Punkten
stimmten
die
drei
Londoner
Verhandlungspartner von Beginn an überein: erstens in der
Prämisse, daß am Tag der Kapitulation noch eine zentrale deutsche
Regierung,
kompetent
zur
Unterzeichnung
des
Dokumentes,
existieren werde, und zweitens, daß die Kapitulationsbedingungen
den drei alliierten Regierungen eine Machtfülle verleihen müßten,
die weit über die Rechte eines Besatzers bei einer normalen
militärischen Besetzung
73
74
75
234
FRUS 1944 I, S. 194
Vgl. FRUS 1944 I, S. 197 f., 199
FRUS 1944 I, S. 190
hinausgingen76. Recht unterschiedliche Positionen bezogen die drei
Delegationen aber in Fragen der Reichweite und des Inhalts der
Kapitulations-Urkunde (wie ihrer Länge und Struktur überhaupt)
und der Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen. Daneben gab es
noch Differenzen, ob die Urkunde einen Kriegsschuldartikel
enthalten sollte (dafür sprachen sich in ihren Entwürfen
Großbritannien und die Sowjetunion aus, während die USA aus
psychologischen Gründen dagegen waren)77, in wessen Namen die
Urkunde von alliierter Seite zu unterzeichnen sei und ob andere
Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, soweit sie sich am Krieg
beteiligt hatten, ihr Einverständnis mit den in der EAC
ausgehandelten Kapitulationsbedingungen geben sollten78. Die in
dem britischen und dem sowjetischen Entwurf aufgeworfene Frage
der Zoneneinteilung wurde unabhängig vom Kapitulations-Dokument
diskutiert.
Diese
Frage
wurde
aus
der
eigentlichen
Kapitulationsproblematik ausgeklammert, da man sie als einen
Bereich ansah, der zwar einer Vereinbarung der Alliierten
bedurfte, zu der man aber keine Vereinbarung mit Deutschland
treffen mußte79.
a. Amerikanische Einwände gegen den britischen Entwurf. Die
ersten ablehnenden Stellungnahmen zum "Waffenstillstands"Entwurf der Briten kamen in Washington aus dem Kriegsministerium.
Schon der Begriff "Waffenstillstand" bereitete den Planern in der
CAD und bei den JCS Unbehagen. "Bedingungslose Kapitulation" in
Form eines Waffenstillstandsvertrages sei ja gerade nicht
"bedingungslos", sondern schaffe Bedingungen, an die dann auch
die Alliierten gebunden seien. Statt der gewünschten unbegrenzten
Machtvollkommenheit hätten sie sich erneut an Bedingungen
gebunden:
"Being so detailed, the document would be
subject to strict construction, leading to
limitations
on
our
authority...Unconditional surrender
76
77
78
79
Vgl. auch Lord Strang, Home and Abroad, S. 209; FRUS 1944 I,
S. 190
Vgl. FRUS 1944 I, S. 121, 174
Lord Strang, Home and Abroad, S. 212
Vgl. FRUS 1944 I, S. 191
235
must be just that, a surrender to the
victor of the territory, the people, the
Government, and resources, to do with as we
will."80
Nur der amerikanische und der sowjetische Entwurf seien wirklich
eine "bedingungslose Kapitulation", der britische Entwurf jedoch
nicht, ließ das US-Außenministerium seinen Botschafter in London
wissen81.
a. Das
US-Außenministerium
wendet
sich
gegen
die
Behandlung
deutscher Soldaten als Kriegsgefangene - Denkschrift vom 4. März
1944. Aber auch mit dem sowjetischen Entwurf konnten sich die
Amerikaner nicht uneingeschränkt einverstanden erklären. Die
Angehörigen der deutschen Streitkräfte zu Kriegsgefangenen zu
erklären, paßte nicht ins amerikanische Konzept. Das USAußenministerium meinte, es sei in diesem Zusammenhang von
Interesse, festzustellen, ob die Sowjetunion beabsichtige, die
deutschen Kriegsgefangenen nach den Bestimmungen der Genfer
Konvention zu behandeln, und falls nicht, welche Art der
Behandlung sie sich ansonsten vorstelle82.
Amerikaner und Briten waren sich einig, daß sie die Verantwortung
für die kapitulierenden deutschen Truppen nicht übernehmen
wollten. Ihrer Verpflichtung, die Kriegsgefangenen gemäß der
Genfer Konvention mit Nahrungsmitteln, Unterkünften, Bekleidung
und medizinischer Betreuung zu versorgen, entsprechend dem
Standard der eigenen, alliierten Truppen, wollten sie sich
entziehen. Sie rechneten mit einer Kriegsgefangenenzahl zwischen
drei und sechs Millionen und, wie der britische EAC-Vertreter
Lord Strang berichtet, hielten es für praktisch unmöglich, den
angespannten Hilfsquellen diese zusätzliche Belastung aufzubürden
("...it would be a practical impossibility for
80
81
82
236
CAD, "Memorandum: Subject: 'Draft German Armistice', submitted by
the British", 11.1.1944; RG 165 CAD 014 Germany (7-10-42) Sec. 3;
vgl. auch das CAD-Papier "A Comparison of the British Draft German
Armistice and the American Provisions for Imposition Upon Germany at
Time of Surrender", 15.2.1944, RG 165 CAD 014 Germany (7-10-42) Sec.
4
FRUS 1944 I, S. 195
FRUS 1944 I, S. 191
the British and American Commands to place this additional burdon
upon their strained resources.")83. Eine Behandlung der deutschen
Kriegsgefangenen nach den Bestimmungen der Genfer Konvention wäre
nach Strangs Darstellung einem "Verwöhnen" gleichgekommen, das
angesichts der Bedürfnisse der Bevölkerung in den ehemals von
Deutschland besetzten Gebieten politisch nicht opportun erschien
("... it would have been politically out of the question to
pamper Germans in this way when their victims, the liberated
populations of our Allies, were in desperate want.")84.
Um einem Widerspruch zwischen den völkerrechtlichen Pflichten der
Alliierten und deren politischen Zielsetzungen zu entgehen, hatte
man sich in den USA und Großbritannien entschieden, die deutschen
Truppen gar nicht zu Kriegsgefangenen zu "erklären". Waren sie
keine Kriegsgefangenen, so die anglo-amerikanische Logik, dann
konnte auch die Genfer Konvention auf sie keine Anwendung finden,
und sie hätten der uneingeschränkten alliierten Verfügungsgewalt,
ja Willkür, unterlegen, ohne selbst irgendwelche Rechte für sich
beanspruchen zu können.
Das US-Außenministerium ließ am 4. März 1944 ein Memorandum
zirkulieren, in dem diese Position nachhaltig vertreten wurde.
Üblicherweise, so führte die Denkschrift aus, sei der Begriff
"Kriegsgefangener" immer nur auf Personen anwendbar gewesen, die
auf dem Schlachtfeld gefangengenommen worden seien oder im
Verlauf des Gefechtes kapituliert hätten, nicht aber auf
Soldaten, die im Zeitpunkt der Kapitulation aufgäben:
"It would impose an exceptional procedure
to regard as prisoners of war the entire
armed forces of a nation sololy as the
result of surrender."85
83
84
85
Lord Strang, Home and Abroad, S. 211
Lord Strang, ebd.
State Dep., Memorandum, "Comment on the Proposal to Declare
all Surrendered German Forces Prisoners of War", 4.3.1944,
Abs. Nr. l; RG 260/OMGUS AGTS/88/9
237
Letztere fielen erst dann unter den Schutz der Genfer Konvention
und des Haager Abkommens, falls sie zu "Kriegsgefangenen erklärt"
würden. Eine solche Erklärung würde den Vereinten Nationen eine
enorme Last und Kosten auferlegen aufgrund der Notwendigkeit,
Millionen kräftiger Deutscher in Lagern oder Wohnräumen zu
versorgen, gemäß den völkerrechtlichen Bestimmungen, und nicht,
wie es die Sowjets vorgeschlagen hatten, in einer von den
Repräsentanten des Oberkommandos der Alliierten anzuordnenden Art
und Weise86 Dadurch würde das "Recht" ("legal right") der
Vereinten Nationen, mit ihnen (wie auch immer) zu verfahren, in
hohem Grade eingeschränkt. Wenn aber eine solche Bestimmung nicht
getroffen würde, könnten die Vorschriften der "bedingungslosen
Kapitulation" von den Deutschen verlangen, was immer die
Vereinten Nationen mit ihnen beabsichtigten ("If no such
stipulation were made, the terms of unconditional surrender, not
being thus limited, could require of German persons whatever the
United Nations might desire of them")87.
Die Verfasser des Memorandums verschlossen allerdings ihre Augen
auch nicht vor den möglichen politischen Konsequenzen einer
solchen Haltung: möglicherweise wachsende Schwierigkeiten mit der
Demobilisierung, größere Zahl benötigter Besatzungstruppen, die
Frage nach der Verwendung solcher Personen für Wiederaufbau- und
Reparationszwecke innerhalb und außerhalb Deutschlands und die
mögliche Behinderung der Bemühungen der Vereinten Nationen, in
Deutschland
die
Fähigkeit
wiederherzustellen,
die
eigene
Bevölkerung selbst zu versorgen und damit die Last der
Unterstützung zu verringern88.
Trotz des Erkennens der möglicherweise schlimmen Folgen eines
solchen Vorgehens, den kapitulierenden deutschen Streitkräften
den Schutz des Völkerrechts nicht zukommen zu lassen, entschieden
die Planer des Außenministeriums sich gegen das Völkerrecht:
86
87
88
238
State Dep., Memorandum v. 4.3.1944, Abs. Nr.2; ebd.
State Dep., Memorandum v. 4.3.1944, Abs. Nr. 3; ebd.
State Dep., Memorandum v. 4.3.1944, Abs. Nr. 4; ebd.
"In general, it would appear that the
freedom of action of the United Nations and
the achievement of the purposes of the
Soviet Union itself (whatever they may be)
would be better served by the omission of
this stipulation."89
Ausgehend von der fraglichen Rechtskonstruktion, daß die
Soldaten, die sich im Rahmen einer allgemeinen Kapitulation
ergeben, ohnehin keine "Kriegsgefangenen" seien und für sie
deshalb per se kein völkerrechtlicher Schutz bestehe, bedeutete
das, daß sie mangels einer ausdrücklichen Zuerkennung des
"Kriegsgefangenen-Status" ohne jeglichen Rechtsschutz und der
willkürlichen
Verfügungsgewalt
der
einzelnen
Alliierten
ausgesetzt gewesen wären.
b. Der
Judge
Advocate
völkerrechtlichen
Schutz
General,
deutscher
US-Army,
beharrt
Kriegsgefangener
auf
dem
nach
der
Kapitulation - Denkschrift vom 15. März 1944. Diese Behandlung
stellte allerdings ein völkerrechtliches Novum dar. Niemals zuvor
hatte ein kriegführender Staat sich angemaßt, die Truppen des
Gegners zu Kriegsgefangenen zu "erklären" bzw. ihnen diesen
Status abzusprechen. Der Kriegsgefangenen-Status ist vielmehr
eine Rechtsstellung, die der Disposition des Gewahrsamsstaates
entzogen ist und die regelmäßig erst durch die ordnungsgemäße
Rückführung des Kriegsgefangenen in sein Heimatland erlischt. Auf
diese eindeutige Rechtslage wies am 15. März 1944 der im Pentagon
für Rechtsfragen zuständige Judge Advocate General, US Army, den
Direktor der CAD mit Nachdruck hin:
" When no provision is made for the
demobilization of surrendering forces they
automatically, by operation of law, become
prisoners of war, with all the rights
attaching to that status. If a properly
authorized capitulation were consummated,
this principle would apply to all German
troops and individuals who have assisted
them. If the unconditional surrender of the
German armed forces, including formations
and units of the S.S., the S.A. and the
89
State Dep., Memorandum v. 4.3.1944, Abs. Nr. 4, ebd.
239
Gestapo they would all automatically become
prisoners of war.
There is, however, no legal objection to
the capitulation expressly stating that all
individuals surrendered are to be prisoners
of war. It would be merely declaratory of
their status without such an express
statement, but would make doubly clear the
intend as regards the members of the S.S.,
the S.A., and the Gestapo with reference to
whom argument might otherwise arise. ...,
the proposal of the U.S.S.R., if followed,
would be without legal effect whether
included or not. However, if such groups as
the S.S., the S.A. , and the Gestapo were
not
specifically
surrendered
in
the
capitulation any attempt thereafter to
include them by interpretation of its terms
might well result in serious disagreement.
What is intended to be implied in the
statement in the Comment of the Departement
of State officials, that the terms of
unconditional surrender could require of
German individuals, •whatever' the United
Nations might desire to them, is not
understood. The statement, in terms, is so
broad
as
to
be
susceptible
of
misconstruction.
Collective
punishment,
enslavement, or reprisals against such
prisoners of war would be prohibited. If
the individuals involved were not set at
liberty forthwith, treaty provisions and
the customary rules of international law
concerning prisoners of war would apply to
them irrespective of the presence or
absence of any statement that they were to
be 'prisoners of war'."90
Das war eine eindeutige, abgewogene und völkerrechtlich fundierte
Aussage
des
Judge
Advocate
General.
Sie
steckte
den
Gestaltungsspielraum der Alliierten gegenüber den deutschen
Kriegsgefangenen klar ab. Entweder nahm man schon in das
Kapitulations-Dokument Bestimmungen über die Demobilisierung der
deutschen Truppen auf, und das hieß nach Art. 75 der Genfer
Konvention "Heimschaffung" der Kriegsgefangenen, oder man hatte
die Pflichten der
90
240
J.M. Weir, Brig. Gen., Acting the Judge Advocate General, an Maj.
Gen. J.H. Hilldring, Direktor CAD, SPJGW 1944/905-S, 15.3.1944;
RG 165, CAD 014 Germany (7-10-42) Sec. 4
Gewahrssamsmacht zu beachten und die Gefangenen nach der Genfer
Konvention zu behandeln.
c.
Der Judge Advocate General, US-Navy, wendet sich ebenfalls
gegen das Außenministerium - Denkschrift vom 24 . März 1944 . Diese
Einschätzung teilte auch der Judge Advocate General, US Navy
(Marineministerium), der sich wenige Tage danach, am 24. März
1944, zu Wort meldete. Er ließ keinen Zweifel daran, daß sowohl
die SS- als auch die SA-Einheiten als wesentlicher Bestandteil
der Streitkräfte in die gleiche Kategorie einzureihen seien wie
die "Reichswehr" (damit meinte der J.A.G., US Navy, natürlich die
"Wehrmacht"). Etwas differenzierter müsse man lediglich die
Gestapo sehen. Soweit Gestapo-Angehörige mit den Truppen an der
Front oder an der Besetzung eroberter Gebiete beteiligt gewesen
seien, seien sie eindeutig "Hilfstruppen" ("auxiliaries") und
damit Kriegsgefangene. Bei anderen, deren Aktivitäten nicht in
Beziehung zu denen der Streitkräfte gestanden hätten und die weit
ab von der Front tätig gewesen seien, wollte sich der J.A.G., US
Navy, nicht festlegen91.
Die Rechtsauffassung des State Department, Kriegsgefangene seien
nur solche Personen, die im Laufe der Feindseligkeiten
gefangengenommen worden seien, wurde vom J.A.G., US Navy,
entschieden bestritten:
"We cannot agree that the term 'prisoner of
war' has usually been applied to persons
captured in the field of battle or
surrendering in the course of combat, but
not to those who surrendered at time of
capitulation.
There are a number of cases where
surrendering troops were made prisoners of
war under the terms of capitulation.
If the terms of capitulation do not provide
otherwise,
troops
surrendering
automatically become prisoners of war."92
91
T.L. Gatch, J.A.G., US Navy, an "Chief of Naval Operations",
Memorandum, "Subject: Status of German Armed Forces after
Surrender", 24.3.1944, Abs. Nr. II. b.; RG 2 6 O/OMGUS AGTS//88/9
92
J.A.G., US Navy, Memorandum v. 24.3.1944, Abs. Nr. III. 1.; ebd.
241
Der
sowjetische
Vorschlag,
deutsche
Kriegsgefangene
zu
Reparations- und Rekonstruktionszwecken zurückzuhalten und über
ihre Entlassung und Rückführung keine weiteren Festlegungen zu
treffen, sondern dies allein von den späteren Vereinbarungen der
Alliierten abhängig zu machen, wurde unter Hinweis auf Art. 75
der Genfer Konvention als völkerrechtswidrig verworfen:
"This, in our opinion, is not legal under
the terms of the Geneva Convention. ... It
is a general principle that prisoners of
war shall be released as soon as possible
after the cessation of hostilities."93
Auch das Ansinnen des Außenministeriums, wenn man die deutschen
Truppen nicht zu Kriegsgefangenen erkläre, mit ihnen nach eigenem
Belieben verfahren zu können, stieß auf heftigen Widerspruch des
J.A.G., US Navy, weil der Wortlaut in der Aussage des
Außenministeriums einer weiten Auslegung Raum gebe, der selbst
die Versklavung der Bevölkerung nicht ausschließe:
"It is not clear what is meant by this
statement. The implications are very broad.
It might be implied that unconditional
surrender would permit of the enslavement
of the population."94
Soweit aber könne noch nicht einmal eine "bedingungslose
Kapitulation" gehen, meinte der J.A.G.. Auch eine Kapitulation,
und sei sie noch so "bedingungslos", mußte Grenzen haben. In ihr
eine Ermächtigung zu willkürlichem Handeln der Sieger zu sehen,
kam für den J.A.G. nicht in Betracht.
"There exists no right, as a result of
unconditional surrender, for the United
Nations to 'require of German persons
whatever the United Nations might
93
94
242
J.A.G., US Navy, Memorandum v. 24.3.1944, Abs. Nr. Ili. 1.;
ebd.
J.A.G., US Navy, Memorandum v. 24.3.1944, Abs. Nr. III. 3.;
ebd.
require of them'. Without explanation of
what is intended, we are in disagreement
with the implications of the statement."
Für die Kontrolle der Kriegsgefangenen könne dabei nichts anderes
gelten als für die Kontrolle der Tätigkeit der Zivilisten95.
Um die erdrückende Opposition rechtskundiger Stellen im
amerikanischen
Kriegsministerium
gegen
das
Papier
des
Außenministeriums vom 4. März 1944 noch zu vervollständigen, sei
nun auch noch das Ergebnis einer in der "Judge Advocate Section"
von USFET gefertigten Untersuchung wiedergegeben, die unter
Auswertung der eindeutigen völkerrechtlichen Literatur und der
nicht weniger klaren Bestimmungen im amerikanischen FM 27-10
(Rules of Land Warfare) zustande kam:
"From
a careful
study
of available
authorities, the following conclusions may
be deduced:
a. Whether or not military personnel of the
unsuccessful belligerent upon capitulation
should be allowed all the rights and
privileges of ordinary prisoners of war
should be expressed in the instrument of
capitulation;
b. If the instrument of capitulation is
silent on this point, the personnel of the
surrendering army become ordinary prisoners
of war, with all the privileges and rights
granted by the Convention;
c. Since the troops of the capitulating
army are captured or held because of the
war, they should be treated as ordinary
prisoners of war (pars. 70 and 248, FM 2710)."96
95
J.A.G., US Navy, Memorandum v. 24.3.1944, Abs. Nr. III. 3.; ebd.
96
Col. M. Gray, JAGD, "Memorandum for Brigadier General C.W.
Wickersham", "Subject: Rights of Prisoners of War", 23.3.1944, Abs.
Nr. 4; RG 26Q/OMGUS AGTS/88/9
243
In den zentralen Planungsstellen in Washington und London war man
jedoch nicht gewillt, die völkerrechtlichen Bedenken im War- und
Navy-Department zu berücksichtigen. Die Vorstellung, freie Hand
in Deutschland und bei der Behandlung der Deutschen haben zu
können, wenn man dafür eine nur einigermaßen glaubhafte
juristische Begründung finden konnte, war zu verlockend, als daß
man so ohne weiteres bereit gewesen wäre, die bereits auf dem
Verhandlungstisch der EAC liegenden Papiere wieder in die
Schublade zu packen.
IV. 4.
Britische
und
sowjetische
Überlegungen
zum
Kriegsgefangenen-Status deutscher Soldaten
a. Sitzung des "Post-Hostilities Committee" am 27. März
1944. Am 27. März 1944 beschäftigte sich das britische "PostHostilities Committee" mit dem sowjetischen KriegsgefangenenVorschlag. In dieser Sitzung wurden die politischen Leitsätze
aufgezeigt, an denen sich Lord Strang und die britische EACDelegation fortan orientierten. Bereits einen Tag später wurde
auch Winant davon in Kenntnis gesetzt. Die britischen Leitsätze
lauteten: "Bedingungslose Kapitulation" Deutschlands werde den
Alliierten eine "beispiellose Macht" ("unprecedented power")
verleihen. "Bedingungslose Kapitulation" werde bedeuten, daß sich
die gesamte deutsche Bevölkerung, zivile und militärische, der
vollständigen Kontrolle durch die Alliierten unterwerfe. Der
"Kriegsgefangenen-Status", so wie ihn die Genfer Konvention
festlege, sei unter einer "bedingungslosen Kapitulation" nicht
länger anwendbar. Der sowjetische Vorschlag, die deutschen
Streitkräfte zu Kriegsgefangenen zu erklären, sei deshalb rein
nominell und habe nicht die Bedeutung, wie sie die Genfer
Konvention bestimme. Die Alliierten seien dann berechtigt,
deutschen Autoritäten zu befehlen, die Bezahlung, Bekleidung,
Ernährung und Unterbringung des "deutschen Personals", das dem
sowjetischen Vorschlag entsprechend
zu "Kriegsgefangenen"
erklärt werde, fortzusetzen. Das Komitee
empfahl deshalb der britischen
Vorschlag positiv zu betrachten97.
Regierung,
den
sowjetischen
Jb. Informelles Gespräch zwischen Strang und Gusew am 4. April
1944. Um dem sowjetischen Botschafter die Ansicht der Briten über
deren Vorschlag mitzuteilen, rief Lord Strang am Nachmittag des
4. April Gusew an98. Strang versicherte Gusew, die Briten stimmten
mit den Sowjets überein soweit es den Zweck des sowjetischen
Vorschlags betreffe, deutsche Kriegsgefangene für Wiederaufbauund Reparationsarbeit zu verwenden. Die Briten hielten es jedoch
für möglich, dieses Ziel auch zu erreichen, ohne das Personal der
deutschen Streitkräfte zu Kriegsgefangenen erklären zu müssen. So
könnten in den Kapitulations-Bestimmungen Vorkehrungen getroffen
werden für eine ordentliche Auflösung ("orderly disbandment") der
deutschen Streitkräfte in einer Weise, wie sie die Alliierten
anordneten. Die Bestimmungen könnten den Alliierten die
notwendige umfassende Macht zur Kontrolle des Personals der
Streitkräfte geben und von Deutschland verlangen, sofern die
Alliierten dies entschieden, Arbeitskräfte für Reparationen zur
Verfügung zu stellen. Auch könnten die Bestimmungen der
Kapitulation den Alliierten die Macht verleihen, unter anderem
den Umfang der (Nahrungsmittel-) Rationen, der Bekleidung, des
Standortes und des Grades der Bestrafung selbst festzulegen. Um
diese Ziele zu erreichen, sei es nach britischer Auffassung nicht
notwendig, die deutschen Streitkräfte zu Kriegsgefangenen zu
machen. Eine solche Erklärung bringe darüber hinaus auch
schwerwiegende Nachteile mit sich. An erster Stelle nannte
Strang,
daß
das
Wort
"Kriegsgefangener"
einen
genauen
Begriffsinhalt
im
Völkerrecht
habe,
wie
er
in
der
Kriegsgefangenen-Konvention niedergelegt sei. Es werde aber
offensichtlich "physisch"
97
98
Col. T.W.Hammond, jr., EAC-US Delegation, "Memorandum for
Ambassador Winant", "Subject: Prisoners of War (British
attitude)", 28.3.1944; RG 260/OMGUS AGTS/88/9
Die folgenden Ausführungen zu der Unterredung zwischen Gusew und
Strang basieren auf dem von Strang angefertigten GesprächsProtokoll "Record of Conversation with M. Gousev on 4th April,
about the Soviet proposal to declare personnel of the German armed
forces prisoners of war", 4.4.1944; RG 260/OMGUS AGTS/88/9
245
nicht möglich sein, allen deutschen Streitkräften die Wohltaten,
auf die die Kriegsgefangenen ein Anrecht hätten, zu gewähren.
Andererseits sei es für die Briten aber schwierig, sich von der
Genfer Konvention aus allgemeinen moralischen oder politischen
Gründen stillschweigend oder ausdrücklich zu entfernen. Da es
aber nach britischer Auffassung juristisch möglich sei, sich von
den Deutschen einen Verzicht ("waiver") auf ihre Rechte aus der
Konvention zu sichern, sei es unklug, sich selbst dem Vorwurf der
Abwendung
von
der
Konvention
auszusetzen,
auf
deren
Unversehrtheit sie größten Wert legten. Wenn man sich ohne
Notwendigkeit besonders anstrenge, den Begriff "Kriegsgefangene"
in den Kapitulations-Bestimmungen zu verwenden, könne die
Öffentlichkeit fragen, ob die Gefangenen in vollkommener
Übereinstimmung mit der Konvention behandelt worden seien, und
wenn die Briten antworten müßten, wie es der Fall sein werde, daß
das nicht geschehen sei, werde die Öffentlichkeit weiter fragen,
warum man diese ernste Verpflichtung mißachtet habe. Auch wenn
man darauf eine juristische Antwort hätte, würden die Briten
sicherlich in eine politische und moralische Verlegenheit
geraten. Außerdem sei man dann in der unangenehmen Lage, den
Kriegsgefangenen zwei
unterschiedliche Behandlungen zu geben. Diejenigen, die während
der
Feindseligkeiten
gefangengenommen
würden,
würden
in
Übereinstimmung mit der Konvention behandelt werden, während
denjenigen, die nach der deutschen Kapitulation sich ergäben,
diese Behandlung nicht zuteil würde.
Um allen diesen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, machte
Strang einen neuen Vorschlag. Danach sollte in das KapitulationsDokument ein Passus aufgenommen werden, demzufolge das "Personal
der deutschen Streitkräfte", nach ihrer Kapitulation und
Entwaffnung, der Autorität der Repräsentanten des Oberkommandos
der Alliierten unterstellt würden, den von diesen angeordneten
Bedingungen unterworfen seien und allen von diesen ausgegebenen
Direktiven zu gehorchen hätten. Von "Kriegsgefangenen" sollte im
Kapitulations-Dokument keine Rede mehr sein. Es sei aber die
britische Absicht, ließ Strang seinen Gesprächspartner wissen,
sie trotzdem, soweit es irgendwie möglich erscheine, so zu
behandeln, als seien sie Kriegsgefangene.
Gusew antwortete Strang, daß auch die sowjetische Regierung die
Grundsätze der Genfer Konvention akzeptiere, und es sei ihre
Absicht, diese Grundsätze mit solchen Modifikationen zu befolgen,
wie es die Art des Falles erforderlich mache. Einen Vorteil des
sowjetischen Vorschlags sah Gusew darin, daß er dem "Personal der
deutschen Streitkräfte" einen definitiven Status gebe.
Inwieweit die Sowjets im April 1944 überhaupt bereit waren, nicht
nur allgemeine Grundsätze der Genfer Konvention auf die deutschen
Kriegsgefangenen anzuwenden, sondern die eindeutigen Vorschriften
auch konkret zu erfüllen, blieb jedoch weiterhin unklar. Gusew
deutete im Gespräch mit Strang bereits ein "Hintertürchen" an,
das es den Russen nach deren Ansicht jederzeit erlaubte, trotz
der Anerkennung der Genfer Konvention hinsichtlich der deutschen
Kriegsgefangenen in der Praxis dann doch wieder von diesem
eigenen Postulat abzuweichen. Die Deutschen hätten in ihrer
Behandlung
sowjetischer
Gefangener
die
KriegsgefangenenKonvention flagrant verletzt. Das gleiche gelte für die
Behandlung der Zivilisten. Die sowjetische Regierung betrachte
sich deshalb in dieser Hinsicht weder in einer juristischen noch
in einer moralischen Verpflichtung gegenüber den Deutschen. Diese
Aussage Gusews bestätigte die Vermutung, daß die Aufnahme der
Kriegsgefangenen-Klausel
in
die
Kapitulations-Urkunde
von
sowjetischer Seite vor allem als ein Propaganda-Trick gedacht
war, um eine schnellere Kapitulation möglich zu machen, weil die
deutschen Unterhändler nach dieser Klausel davon hätten ausgehen
können, die deutschen Soldaten würden als Kriegsgefangene nach
der Genfer Konvention behandelt. Gusew sagte Strang eine Prüfung
des britischen Gegenvorschlags zu.
247
c. Die US-Delegationen schwenkt auf den britischen Kurs ein. Um
den
russischen
Vorstellungen
etwas
entgegen
zu
kommen,
gleichzeitig aber den gewünschten politischen Handlungsspielraum
nicht aufzugeben, schwenkte auch die amerikanische EAC-Delegation
auf
den
britischen
Vorschlag
ein.
General
Wickersham,
militärischer Berater von Botschafter Winant, legte diesem am 7.
April den amerikanischen Entwurf einer Kriegsgefangenen-Klausel
vor. In seiner Substanz war der Passus mit dem britischen Entwurf
weitgehend deckungsgleich: Die gesamten deutschen Streitkräfte
(einschließlich SS, SA und Gestapo) sollten sich selbst
entwaffnen und ihre Waffen an die örtlichen alliierten
Kommandeure übergeben. Weiter sollte es in der Klausel heißen:
"Demobilization and disbandment of such
forces shall be carried out in accordance
with provisions to be laid down by the
Allied Representatives.
Individuals or units of the German forces
may be designated to be held as prisoners
of war by the Commanding Officers of the
respective United States, British or Soviet
Forces."99
In einer politischen Vereinbarung, die keine Aufnahme ins
Kapitulations-Dokument zu finden brauche, sollten die drei
Regierungen festlegen, daß die Grundsätze der Genfer Konvention
beachtet würden und Anwendung hinsichtlich derer fänden, die man
zu Kriegsgefangenen erklärt habe100.
Die Sowjets ließen sich zunächst jedoch weder durch den
britischen noch durch den amerikanischen Entwurf von ihrer
eigenen Linie abbringen. Gusew teilte Strang am 15. April mit, er
könne keine der beiden angebotenen Alternativen akzeptieren. Die
sowjetische Regierung messe ihrem eigenen
99
100
248
Brig. Gen. C.W. Wickersham,"Memorandum for Ambassador Winant",
"Subject: Disposal of Personnel of German Armed Forces",
7.4.1944, Abs. Nr. 8; RG 260/OMGUS AGTS/88/9
C.W. Wickersham, Memorandum v. 7.4.1944, Abs. Nr. 7; ebd.; wie eine
solche politische Vereinbarung möglicherweise aussehen konnte, zeigte
Wickersham in seinem "Memorandum for Ambassador Winant", "Subject:
European Advisory Commission", 11.4.1944;
RG 260/OMGUS AGTS/88/9
Vorschlag
höchste
Bedeutung
bei,
um
dadurch
in
unmißverständlicher
Form
die
vollständige Niederlage der
deutschen Streitkräfte zu demonstrieren. Jegliche diesbezügliche
Divergenz der drei Kommandeure bei der Erklärung von deutschen
Soldaten zu Kriegsgefangenen, wie das die Amerikaner wollten, sei
ein schlechter Präzedenzfall und werde den Deutschen den Weg
öffnen, unterschiedliche Einstellungen gegenüber den Alliierten
anzunehmen101.
Auf die Frage Strangs, was denn mit den Angehörigen der deutschen
Streitkräfte weiter geschehen solle, wenn sie, wie es der Plan
der Sowjetunion vorsah, zu Kriegsgefangenen erklärt worden seien,
meinte Gusew, daß eine solche Erklärung lediglich eine "AnfangsMaßnahme" ("initial measure") sei, und es obliege den Alliierten
zu entscheiden, wie lange sie diesen Status beibehalten
dürften102. Da die Russen bis dahin noch niemals genauere Auskunft
darüber gegeben hatten, wozu sie die deutschen Kriegsgefangenen
im einzelnen verwenden wollten, versuchte Strang den sowjetischen
Botschafter dazu zu bringen, doch erst einmal den Plan für die
Behandlung der Deutschen in sowjetischer Hand offenzulegen, um
danach zu entscheiden, wie der Passus im Kapitulations-Dokument
zu formulieren sei. Doch auch das lehnte Gusew ab103.
IV.
5. Die drei EAC-Deleaationen
Kriegsgefangenen-Klausel
einigen
sich
über
die
In einem informellen Gespräch der drei Delegationen am
4.
Mai präsentierten die Sowjets doch noch eine abgeänderte
Klausel. Die neue Klausel sah vor, das deutsche StreitkräftePersonal werde nach dem Ermessen der Militärkommandeure als
Kriegsgefangene angesehen oder dazu erklärt, vorbehaltlich
weiterer Entscheidungen, und sie sollten solchen Bedingungen und
Weisungen unterworfen sein,
101
102
103
W.Strang, "Record of a Conversation with M. Gousev at the Soviet
Embassy on April 15th, 1944; RG 260/OMGUS AGTS/88/9
W. Strang, Bericht v. 15.4.1944; ebd.
W. Strang, Bericht v. 15.4.1944; ebd.
249
wie sie die Repräsentanten des Oberkommandos festlegten. Die
Amerikaner konstatierten zutreffend, daß das im wesentlichen mit
dem übereinstimmte, was sie bereits vorgeschlagen hatten104. Die
endgültige Fassung der Kriegsgefangenen-Klausel war nun nur noch
eine Formulierungsfrage, keine der inhaltlichen Substanz. In
Artikel 2. b. des Kapitulations-Entwurfes vom 25. Juli 1944 hieß
es:
"The personnel of the formations and units
of all the forces referred to in paragraph
(a) above105 shall, at the discretion of the
Commander-in-Chief of the Armed Forces of
the Allied States concerned, be declared to
be prisoners of war, pending further
decisions, and shall be subject to such
conditons
and
directions
as
may
be
prescribed
by
the
Allied
106
Representatives."
Um über Tragweite und Aussage dieses Artikels bei den Alliierten
Regierungen
keine
Zweifel
und
differierende
Auffassungen
aufkommen zu lassen, beschloß die EAC noch eine zusätzliche
Empfehlung an die alliierten Regierungen, wie dieser Artikel zu
verstehen sei:
"Under Article 2 (b) of the draft
Instrument of Surrender of Germany, there
is no obligation on any of the three Allied
Powers to declare all or any part of the
personnel of the German armed forces
prisoners of war: it is their right. Such a
decision may or may not be taken, depending
on the discretion of the respective Commanders-in-Chief. Prisoners of war so declared
will be treated in accordance with the
standards of international law."107
Das Beispiel der Kriegsgefangenen-Klausel zeigt sehr deutlich,
wie die alliierten politischen Planer aus Gründen der politischen
Zweckmäßigkeit Uber die eindeutigen
104
105
106
107
250
USFET an War Dep., 5.5.1944; RG 165 CAD 014 Germany (7-10-42) Sec.
5
Dort wurden einschränkungslos auch SS, SA und Gestapo genannt.
FRUS 1944 I, S. 257
FRUS 1944 I, S. 256
völkerrechtlichen Aussagen ihrer Kollegen, insbesondere der Judge
Advocate Generals, hinweggingen, und sie völkerrechtliche
Prinzipien der politischen Absicht unterwarfen, sobald beide zu
Antagonismen wurden. Wo das Recht nicht imstande war der Politik
zu dienen, dort mußte es durch fragwürdige Konstruktionen außer
Kraft gesetzt werden, um dem Primat der Politik einschränkungslos
zum Erfolg zu verhelfen.
IV.
6.
EAC-Beratungen
über
Struktur
und
Länge
der
Kapitulations-Urkunde und den Inhalt der Ermächtigungs- klausel
Neben dem Inhalt der Kriegsgefangenen-Klausel war vor allem die
Struktur und die Länge der Kapitulations-Urkunde zwischen den
drei EAC-Delegationen umstritten. Alle drei stimmten zwar darin
überein, daß die Urkunde eine Ermächtigung der Alliierten
enthalten müsse, damit auch besatzungspolitische Maßnahmen
rechtlich abgesichert wären, die ansonsten Völkerrechtsverstöße
darstellen würden. Zu diesem Zweck sah der britische Entwurf
neben
militärischen
auch
detaillierte
politische
und
wirtschaftliche Klauseln vor, in denen den Alliierten spezifische
Befugnisse
zugestanden
werden
sollten.
Der
sowjetischen
Delegation kam es mit ihrem kurzen Entwurf primär darauf an, die
militärische Kapitulation so schnell wie irgend möglich
herbeizuführen. Sie verzichtete deshalb bewußt auf politische und
wirtschaftliche Vorschriften, da sie befürchtete, dadurch die
Kapitulation der deutschen Streitkräfte nur hinauszuzögern. Neben
den spezifisch militärischen Artikeln enthielt der sowjetische
Entwurf deshalb nur noch eine Ermächtigungsklausel. Der
amerikanische Vorschlag bevorzugte ebenfalls ein kurzes Dokument,
legte
aber
besonderes
Gewicht
auf
die
Übernahme
der
größtmöglichen
(und
das
hieß
für
die
Amerikaner:
der
unbeschränkten) Machtbefugnisse im militärischen, ökonomischen
und politischen Bereich. Die diesbezüglichen 13 Artikel des
amerikanischen Entwurfs waren ebenfalls vorrangig militärischer
Natur mit einer General-
251
ermächtigungsklausel. Konkrete Forderungen an Deutschland sollten
erst nach der Unterzeichnung der Kapitulations- Urkunde in Form
einer Generalproklamation und von drei Generalbefehlen mit
militärischem, wirtschaftlichem und politischem Inhalt gestellt
werden108. Das italienische Beispiel hatte es den militärischen
Führern in Washington ratsam erscheinen lassen, auf einer kurzen
Urkunde zu bestehen109.
Die britischen und russischen Bedenken gegen den amerikanischen
Entwurf richteten sich unter anderem gegen die in Artikel 9
enthaltene
Generalermächtigung.
Winant
teilte
dem
State
Department am 24. Februar 1944 mit:
"They (Sowjets und Briten, d. Verf.) say
paragraph nine could be misinterpreted as
opening way for new dictatorship having no
sanctions, and as now worded would make no
allowances for recognition of such power
restrictions as foreigners' ordinary rights
through international law, or for any
governmental restraints of general moral
nature."110
Die Delegationen kamen sich aber recht schnell in dieser Frage
näher. Bereits in einem informellen Gespräch der drei
Delegationsleiter in Gusews Privatbüro am 7. März 1944 beharrte
Strang nicht mehr auf dem britischen Entwurf, sondern machte
Zugeständnisse. Da sowohl Amerikaner als auch die Sowjets ein
kurzes Kapitulations-Dokument bevorzugten, sprachen sich auch die
Briten für diese Lösung aus, jedoch unter dem Vorbehalt, daß in
der Proklamation
108
Einen kurzen Überblick über die Unterschiede der drei Entwürfe gibt
W. Strang, Home and Abroad, S. 209 f.; vgl. auch H.-G. Kowalski, Die
"European Advisory Commission" als Instrument alliierter
Deutschlandplanung 1943-1945, in: VfZG 1971, S. 270 ff.
109
110
FRUS 1944 I, S. 195
Winant an Secr, of State, 24.2.1944; RG 165 CAD 014 Germany (710-42) Sec. 4; weitere sowjetische Bedenken werden auch
wiedergegeben in dem Schreiben Winants an Secr. of State v.
21.2.1944, demzufolge die Sowjets nur militärische Bestimmungen
in die Urkunde aufnehmen wollten, um z.B. durch die vollständige
Entwaffnung der deutschen Streitkräfte den "myth of invincibility"
zu zerstören; RG 165 CAD 014 Germany (7-10-42) Sec. 4
252
und den Befehlen das enthalten sein müsste, was im britischen
Entwurf stehe. Winant teilte Strang daraufhin mit, er glaube, daß
seine Regierung dem zustimmen werde. Auch Gusew war damit
einverstanden und ergänzte, die neue Aussage Strangs sei mehr als
ein Zugeständnis, sie sei ein Beitrag zu einem generellen
Übereinkommen. Strang regte an, die Amerikaner und Sowjets
sollten ihre Entwürfe zu einem Kompromiß in Form eines kurzen
Dokumentes verarbeiten, die Briten behielten sich jedoch etwaige
Kommentare
ebenso
vor
wie
die
Möglichkeit,
dem
noch
auszuarbeitenden
Kompromiß
noch
ein
oder
zwei
Klauseln
hinzuzufügen111.
Auch in einem damit in Zusammenhang stehenden Punkt erzielten die
drei Delegationen im März 1944 noch Übereinstimmung. Während
Winant ursprünglich davon ausging, die drei Generalbefehle
sollten den Deutschen vor der Unterzeichnung der Kapitulation
gezeigt und erst danach gleichzeitig mit der Proklamation und dem
Kapitulations- Dokument in Deutschland veröffentlicht werden112,
teilte ihm General Wickersham mit, dies sei nicht der Fall113.
Auch Außenminister Cordell Hull sprach sich, wie die Sowjetunion,
gegen ein solches Vorgehen aus. Er wünschte jeden Hinweis zu
vermeiden, daß diese Dokumente irgendeine vertragliche Beziehung
mit deutschen Autoritäten enthalten könnten114.
Die Kritik der Sowjetunion am amerikanischen Entwurf, er sei im
militärischen Bereich inadäquat und in anderen Bereichen zu
weitgehend115, ließ Hull nicht gelten. Er glaube nicht, ließ er
Winant wissen, daß die gegenwärtigen deutschen Führer gewillter
seien, eine im wesentlichen militärische Kapitulation zu
unterzeichnen, wie es der sowjetische Entwurf vorsah, als die
amerikanischen Bestimmungen zu akzeptieren. Man könne annehmen,
daß die Deutschen in jedem Fall mit harten Bedingungen rechneten
111
112
113
114
115
FRUS
FRUS
FRUS
FRUS
Vgl.
1944 I S.
, S.
1944 I
, S.
1944 I
, s.
1944 I
W. Strang,
,
197;
194
198
210
200
Home
210
253
und nur dann kapitulierten, wenn sie keine andere Wahl mehr
hätten116. Bei der Entscheidung zwischen der Ermächtigungsklausel
des amerikanischen und des sowjetischen Entwurfs sprach sich Hull
nachdrücklich für den eigenen Vorschlag aus. Nur durch die
amerikanische
Klausel
könnten
später
rechtliche
Auseinandersetzungen hinsichtlich der Rechte und Machtbefugnisse
der Sieger verhindert werden. Man komme dadurch einer
Wiederholung der nach dem Ersten Weltkrieg geäußerten Kritik
zuvor, die Sieger hätten die Härte der WaffenstillstandBedingungen verschärft, nachdem Deutschland unfähig geworden sei,
die Feindseligkeiten wieder aufzunehmen. Bei Artikel 20 des
sowjetischen Entwurfes, der Ermächtigungsklausel, befürchtete
Hull, er könnte so interpretiert werden, als würden den
Alliierten
dadurch
ernsthafte
Beschränkungen
in
ihrer
Gestaltungsfreiheit in Deutschland auferlegt, da die noch zu
stellenden zusätzlichen Forderungen beschränkt seien auf Fragen,
die im Zusammenhang mit der Kapitulation stünden und von der
deutschen Regierung und dem deutschen Oberkommando auszuführen
seien117. Beides ging Hull offensichtlich nicht weit genug.
Inhaltlich
war
die
Klausel
der
Sowjets
zu
stark
interpretationsfähig, und die Auferlegung der Pflicht zur
Ausführung der alliierten Befehle auf deutsche Behörden, ganz im
Sinne einer "indirect rule", hätte so verstanden werden können,
als ob die Alliierten selbst und unmittelbar durch eigene
Behörden nicht handeln wollten oder handeln dürften. Nur die
amerikanische Formel, davon war Hull überzeugt, würde die
Alliierten
vor
diesen
als
Nachteil
empfundenen
Auslegungsmöglichkeiten bewahren.
"These articles (in dem amerikanischen
Entwurf,d.
Verf.)
would
establish
an
incontestable recognition of our right to
take all measures deemed appropriate for
the control and reorganization of Germany
and for the punishment of war criminals."118
116
117
118
254
FRUS 1944 I, S. 200
FRUS 1944 I, ebd.
FRUS 1944 I, ebd.
Diese Ansicht teilten auch die JCS, die sich im April 1944
nochmals entschieden für das kurze Kapitulations-Dokument
aussprachen und ebenso wie Hull meinten, diese Urkunde müsse
unter anderem enthalten:
"... such other broad and general language
as may be deemed necessary to reserve
absolute authority, without limitation or
condition of any character whatsoever, over
the German Government, territory, people
and
resources,
including
power
to
completely
disarm,
demobilize
and
demilitarize Germany and to take such other
action to implement the surrender terms as
the three Governments may at any time deem
necessary or advisable without consultation
or agreement with the Germans."
Die JCS waren aber durchaus bereit, in der konkreten Fassung von
dem ursprünglichen amerikanischen Entwurf abzuweichen, sofern nur
die Substanz aufrechterhalten werde119. Die Ausarbeitung eines
amerikanisch-sowjetischen Kompromisses stellte die Delegation,
sieht man einmal von der Kriegsgefangenen-Klausel ab, vor keine
allzugroßen Schwierigkeiten. Ausgearbeitet wurde eine 14 Artikel
umfassende
militärische
Urkunde,
versehen
mit
einer
Generalermächtigung,
wie
sie
den
amerikanischen
Wünschen
entsprach, die von Repräsentanten der deutschen Regierung und des
Oberkommandos der Wehrmacht gezeichnet werden sollte120. Auch die
britische EAC-Delegation hatte keine Vorbehalte mehr121.
Am 25. Juli 1944 wurde in der EAC das neu gestaltete
Kapitulations-Dokument angenommen. Es bestand im wesentlichen aus
drei Teilen: Den ersten Teil bildete die Präambel, die eine
Anerkennung
der
vollständigen
Niederlage
der
deutschen
Streitkräfte zu Land, zu See und in der Luft enthielt. Im zweiten
Teil erschienen mehrere militärische Artikel, die neben der
Einstellung der Feindseligkeiten
119
120
121
FRUS 1944 I, S. 210
FRUS 1944 I, S. 256 ff.
FRUS 1944 I, S. 225
255
durch Deutschland (und der Kriegsgefangenen-Klausel) noch
Bestimmungen Uber die Entwaffnung, die Entlassung alliierter
Kriegsgefangener, die Instandhaltung und Aushändigung deutschen
Kriegsgerätes und ähnliche Dinge vorsahen. Den dritten Teil
stellte die Generalermächtigung dar, die in Artikel 12
folgendermaßen lautete:
"(a) The United States of America, the
United Kingdom and the Soviet Socialist
Republics shall possess supreme authority
with respect to Germany. In the exercise of
such authority they will take such steps,
including the complete disarmament and
demilitarization of Germany, as they deem
requisite for future peace and security.
(b) The Allied Representatives will present
additional
political,
administrative,
economic,
financial,
military and other requirements arising
from the surrender of Germany. The Allied
Representatives, or persons or agencies
duly designated to act on their authority,
will
issue
proclamations,
orders,
ordinances and instructions for the purpose
of laying down such additional requirements
and of giving effect to the other
provisions of the present Instrument.
The German Government, the German High
Command, all German authorities and the
German people shall carry out unconditionally the requirements of the Allied
Representatives and shall fully comply with
all
such
proclamations,
orders,
_
ordinances and instructions."122
An dieser Ermächtigungs-Klausel fallen zwei Dinge besonders ins
Auge. Zum einen die "Wiederentdeckung" des Begriffs "supreme
authoritly", zum anderen die Länge und Wortwahl, die - entgegen
den amerikanischen Vorgaben - eine einschränkende Interpretation
durchaus zugelassen hätten.
Der
von
gebrauchte
James
K.
Terminus
Pollock
von
der
in
diesem
"supreme
Zusammenhang
authority",
Pollock die "oberste Staatsgewalt" in Deutschland
122
256
FRUS 1944 I, S. 260
erstmals
unter
der
verstanden hatte, hatte nun doch noch den Weg in die
Kapitulations-Urkunde gefunden. Das Wort "authority" bietet
jedoch bekanntermaßen eine Vielzahl von Übersetzungsmöglichkeiten
ins Deutsche. In welchem Sinn die EAC dieses Wort verwenden
wollte, ist nicht ersichtlich, da eine offizielle deutsche
Übersetzung nicht existiert. Im US- Außenministerium wurde aber
im "Office of European Affairs" eine inoffizielle Fassung
erstellt: "Supreme authority with respect to Germany" wurde dort
übersetzt
mit
"oberste
Machtbefugnis
hinsichtlich
Deutschlands"123.
Nachdem die Repräsentanten der drei Alliierten in der EAC das
Kapitulations-Dokument am 25. Juli 1944 beschlossen hatten,
bedurfte es noch der Zustimmung der drei Regierungen. Roosevelt
stimmte bereits Anfang August zu, die sowjetische Regierung zwei
Wochen später124. Lediglich die britische Regierung schien
Bedenken bekommen zu haben. Ihre Annahme des EAC-Vorschlags
geschah nur bedingt. Grundsätzlich war sie für den Entwurf,
meinte aber, daß Änderungen mit Rücksicht auf die Sichtweisen der
anderen Alliierten noch möglich sein sollten. Insbesondere die
Franzosen sollten dadurch begünstigt werden, ihre eventuell vom
Entwurf abweichenden Vorstellungen noch einbringen zu können125.
Daraufhin zogen auch die Russen ihre zuvor ohne Einschränkungen
erteilte Zustimmung zurück und behielten sich nun das Recht vor,
für den Fall des Auftretens wichtiger neuer Umstände, ebenfalls
entsprechende Änderungen im Kapitulations-Dokument einzufügen126.
Da das mühsam erarbeitete Dokument nun wieder zu scheitern
drohte, suchte US-Botschafter Winant in Gesprächen mit Gusew und
Strang den Entwurf zu retten. Wenn schon das erste in der EAC
entstandene Dokument nicht die ungeteilte und vorbehaltlose
Zustimmung der drei Regierungen erhielt,
123
124
125
126
Dep. of State, Office of European Affairs, Division of Central
European Affairs, "Memorandum for Colonel Allen", 28.8.1944, "German
Translation of the Unconditional Surrender of Germany", Art. 12; RG
165 CAD 014 Germany (7-10-42) Sec. 8
FRUS 1944 I, S. 265, 276
FRUS 1944 I, S. 329 f.
FRUS 1944 I, S. 338
257
dann war das zweifellos auch ein schlechtes Omen für die anderen
im
Entstehen
befindlichen
Dokumente.
Hinant
gelang
es
schließlich, zunächst das Vereinigte Königreich127 und danach auch
die Sowjetunion128 zur uneingeschränkten Annahme des EAC-Vorschlags
zur "bedingungslosen Kapitulation" zu bewegen.
V. Diskussion in Washington über die möglichen völkerrechtlichen
Auswirkungen einer "bedingungslosen Kapitulation"
Keine Erörterungen stellte die EAC über die Frage an, wie denn
eine "bedingungslose Kapitulation" in das völkerrechtliche
Instrumentarium zur Kriegsbeendigung paßte, oder ob es sich
vielleicht sogar um eine neue Art der Kriegsbeendigung handelte.
Welche Auswirkungen konnte eine "bedingungslose Kapitulation"
völkerrechtlich über die Übertragung der "supreme authority”
hinaus haben? Die Position der Briten war bereits in den EACVerhandlungen
deutlich
geworden.
Sie
verstanden
unter
"bedingungsloser
Kapitulation"
nichts
anderes
als
einen
Waffenstillstand, in dem die Reichsregierung und das Oberkommando
der Wehrmacht alle ihre staatsrechtlichen Befugnisse auf die
Alliierten übertragen sollten. An dieser völkerrechtlichen Einschätzung änderte sich auch nichts durch den Verzicht auf das
Wort
"Waffenstillstand"
im
von
der
EAC
verabschiedeten
Kapitulations-Dokument. Die Auffassung der USA war da schon
undurchsichtiger. Schon frühzeitig hatten die Planungsstäbe, vor
allem die JCS, den Begriff "Waffenstillstand" kategorisch
abgelehnt. "Bedingungslose Kapitulation" sollte etwas anderes
sein, etwas Beispielloses in der neueren Geschichte.
V.1. Das Chanler-Memorandum vom Februar 1944
Mit
den
möglichen
völkerrechtlichen
Auswirkungen
"bedingungslosen Kapitulation" beschäftigte sich im Februar
127
128
258
FRUS 1944 I, S. 415
FRUS 1944 I, S. 415, 422
einer
1944 erstmals ein hoher Mitarbeiter der Abteilung für
Zivilangelegenheiten
(CAD)
im
US-Kriegsministerium,
Oberstleutnant William C. Chanler129. Er mußte konstatieren, daß
in den amerikanischen Planungsstäben über die völkerrechtlichen
Konsequenzen "erhebliche Verwirrung" ("considerable confusion")
existiere. Mit seiner Denkschrift wollte er den Versuch einer
Klärung dieses Problems machen.
Da für die Amerikaner weder ein formloses Einstellen der
Feindseligkeiten noch ein Waffenstillstand wie 1918 annehmbar
schien, hatte für Chanler "bedingungslose Kapitulation" nur einen
Sinn:
"While no definition of these words will be
found in text books on international law,
it would seem that they could have but one
meaning: that Germany achnowledges her
total and final defeat and throws herself
upon the mercy of the Allies."130
Was aber bedeutete diese politische Situation völkerrechtlich?
Konnte man darin schon eine "Debellatio" sehen oder war es
zumindest eine Situation, die zu einer "Debellatio" führen
konnte? Es mache keinen Unterschied, stellte Chanler fest, ob die
Militärbefehlshaber mit allen ihren Truppen kapitulierten oder ob
dies durch die anerkannte Regierung geschehe, die die Niederlage
bekenne und allen militärischen Kommandeuren befehle, zu
kapitulieren, was von diesen dann auch getan werde. In jedem Fall
sei der Krieg dann auf Dauer und endgültig beendet. Die eroberte
Nation habe nicht mehr die Kraft, weiterhin Widerstand zu leisten
und sei vollkommen abhängig von der Gnade der Eroberer131. Diese
Situation hatte nach Chanlers Ansicht aber noch nicht unmittelbar
eine "Debellatio" zur Folge. Diese könne aber herbeigeführt
werden durch eine einseitige Erklärung der Annexion oder
129
130
131
W.C. Chanler, Memorandum, "Subject: The Consequences of
Unconditional Surrender under International Law", 12.2.1944 ;
RL Ch. Fahy Papers, Box Nr. 65
W.C. Chanler, Memorandum v. 12.2.1944, Abs. Nr. 4, ebd.
W.C. Chanler, Memorandum v. 12.2.1944, Abs. Nr. 5, 6; ebd.
259
Teilung Deutschlands, wofür kein Vertrag oder Vereinbarung
welcher Art auch immer notwendig sei. Nach Annexion oder Teilung
spiele das Völkerrecht für das Verhältnis der Eroberer zu den
Eroberten keine Rolle mehr. Der annektierende Staat oder der aus
einer Teilung hervorgegangene neue Staat werde der rechtmäßige
Souverän und habe die gleiche absolute und umfassende Herrschaft
über die Personen, das Eigentum und das Gebiet des eroberten
Landes wie innerhalb der eigenen Grenzen auch ("... the annexing
state, or in the event of partitioning, the newly created state
becomes the legitimate sovereign and has the same absolute and
complete dominion over the persons, property and territory of the
conquered country as it has within its own boundaries.")132.
Chanler folgerte daraus, daß sowohl ein genau ausgearbeiteter
Waffenstillstandsvertrag wie auch jede andere Vereinbarung, die
die Rechte und Befugnisse der Deutschen und der Alliierten Mächte
bis zu einer endgültigen Regelung festsetze, überflüssig sei.
Allein notwendig sei ein schlichtes und weitgefaßtes Dokument,
das von den Deutschen unterzeichnet werde und in dem sie ihre
vollständige Niederlage und bedingungslose Kapitulation zugäben.
Alles weitere sollte dann durch die Alliierten in Form von
Proklamationen und Befehlen geregelt werden. Statt von "postarmistice-period"
müsse
man
von
"post-surrenderperiod"
sprechen133.
Was
die
Rechte
der
Besatzungsmächte
in
dieser
"NachKapitulations-Phase" anbetraf, sah Chanler keine allzugroßen
Probleme auf die Alliierten zukommen.
"The rights of an occupying power under
international law are sufficiently broad to
make unnecessary a decision whether they
are binding."134
Lediglich in der Änderung von Gesetzen in Deutschland und im
Gebrauch von deutschen Hilfsquellen im Krieg gegen Japan
132
133
134
260
W.C. Chanler, Memorandum v. 12.2.1944, Abs. Nr. 7; ebd.
W.C. Chanler, Memorandum v. 12.2.1944, Abs. Nr. 8; ebd.
W.c. Chanler, Memorandum v. 12.2.1944, Abs. Nr. 9; ebd.
mochten nach Chanlers Einschätzung rechtliche Probleme stecken.
Alle für Kriegszwecke eingezogenen Sachen würden Deutschland als
ein Teil der Reparationen in einer abschließenden Regelung
("final settlement") auferlegt werden. Die Alliierten seien aber
nicht bereit, mit ihren Maßnahmen bis zu dieser abschließenden
Regelung zu warten. Wenn irgendwelche Einwände gegen diese
Maßnahmen erhoben und sie als Verstoß gegen die Haager Konvention
bezeichnet würden, dann müsse die Antwort lauten, daß diese
ganzen Handlungen in dem Moment Rechtskraft erlangten, wenn man
den
abschließenden
Schritt,
z.B.
in
der
Art
eines
Friedensvertrages, vornehme. Das Argument, daß dann bis zur
endgültigen
Vollziehung
des
Friedensvertrages
in
einer
Interimszeit die Rechte des Eroberers aber begrenzt seien, hielt
er für rein theoretisch135. Chanler meinte:
"Whatever rights it may take would become
legal and valid at the time of the final
consummation of the peace treaty o r
D e c l a r a t i o n of
Partitition."136
Daneben führte Chanler als weiteren möglichen Grund für eine
Nichtgeltung der HLKO ins Feld, diese binde einen Eroberer nach
einer totalen und endgültigen Niederlage des Widersachers nicht
länger. Das grundlegende Konzept der HLKO sei, daß die Besetzung
nur vorübergehend und unsicher sei. Das Element der Unsicherheit
fehle jedoch nun und es erscheine ihm unlogisch, den Eroberer
einzuschränken, der die Existenz des eroberten Staates vernichten
könne, nun aber daran gehindert sein solle, weniger drastische
Schritte durchzuführen, während er noch entscheide, welche
endgültige Regelung er vornehmen wolle137. Chanlers scheinbar
logische Schlußfolgerung war:
"Such a rule would result in forcing the
hand of the conqueror to exercise his
rights to the fullest extent at once - a
result which would clearly be
135
136
137
W.C. Chanler,
ebd.
W.C. Chanler,
W.C. Chanler,
Memorandum
Memorandum
Memorandum
V
.
V
.
V
.
12.2.1944, Abs. Nr. 9, 15 ff.;
12.2.1944, Abs. Nr. 17 ; ebd.
; , 19; ebd
12.2.1944, Abs. Nr. 12
,
261
contrary to the underlying philosophy and
trend of international law."138
V.2- Das Jessup-Memorandum vom Juni 1944
Da Chanler von seinen eigenen völkerrechtlichen Überlegungen aber
offensichtlich selbst nicht ganz überzeugt war, bat er den ihm
befreundeten Professor für Völkerrecht Philip C. Jessup,
stellvertretender Leiter der Marineschule für Militärregierung
und Verwaltung, Columbia Universität in New York, ein Gutachten
über die Folgen der "bedingungslosen Kapitulation" zu erstellen.
Jessup legte sein 24-seitiges Memorandum im Juni 1944 vor. Er
unternahm es darin, den völkerrechtlichen Konsequenzen der
"bedingungslosen Kapitulation" durch eine auch etymologische
Untersuchung auf die Spur zu kommen139. Da Jessups Ausführungen
für das Verständnis des Begriffes und der Auswirkungen von
"bedingungsloser Kapitulation" äußerst aufschlußreich sind,
werden sie im folgenden kurz referiert:
Die dem Jessup-Gutachten zugrunde liegenden Fragen waren (1.) was
ist "bedingungslose Kapitulation", (2.) wie wird sie angefertigt
und angenommen, und (3.) welches sind ihre rechtlichen Folgen?
(1.) In modernen Kriegen wurde es normal, die Feindseligkeiten
durch einen Waffenstillstand zu beenden, dem ein Friedensvertrag
nachfolgte. Es ist deshalb schwierig, Präzendenzfälle für eine
"bedingungslose Kapitulation" zu finden. Die Haager Konventionen
verwenden diesen Begriff nicht, da es sich dabei weder um eine
Kapitulation im Sinne von Art. 35 HLKO noch um einen
138
139
262
W.C. Chanler, Memorandum v. 12.2.1944, Abs. Nr. 19; ebd.
"Informal Memorandum Prepared in June 1944, at Suggestion of
Colonel Chanler, by Professor Philip C. Jessup, Deputy Chief, Naval
School of Military Government&Administration, Columbia University,
New York, N.Y.", "Subject: The Nature and Consequences of
Unconditional Surrender under International Law"; RG 107 ASW 387.4
Germany - Surrender or Defeat, RL Ch. Fahy Papers, Box Nr. 65
Waffenstillstand gemäß Art. 39 HLKO handelt. Denn die
Kapitulation in der HLKO ist eine vertragliche Vereinbarung über
die Kapitulation von Teilen der feindlichen Streitkräfte, nicht
über die totale Unterwerfung des Feindstaates. Auch der
Waffenstillstand ist eine vertragliche Vereinbarung, die vorsehen
kann, daß bestimmte Waffen, Schiffe, Truppenteile oder ähnliches
zu übergeben sind. Es konnte jedoch kein Beispiel dafür gefunden
werden, in dem ein Waffenstillstand die vollständige Übergabe und
Unterwerfung der unterlegenen Macht angeordnet hätte. Allerdings
ist
kein
prinzipieller
Grund
ersichtlich,
warum
ein
Waffenstillstand nicht auch die Übergabe aller Waffen, aller
Schiffe, aller militärischer Befestigungen und aller Truppen des
Verlierers festlegen sollte. Seinem Charakter nach ist ein
Waffenstillstand aber letzten Endes doch eine Vereinbarung,
vorgesehen für einen vorübergehenden, einen Interimszustand, die
die Aussetzung der Kämpfe beinhaltet und spezifiziert und nach
vorne auf den Abschluß eines Friedensvertrages schaut. Aufgrund
der Tatsache, daß der Waffenstillstand selbst eine vertragliche
Abmachung ist, anerkennt er die Fortexistenz der besiegten Macht
als Staat, mit der Fähigkeit, Verträge zu schließen und
auszuführen.
"Bedingungslose Kapitulation" im wörtlichen Sinn ist das, was
Grotius eine "reine Unterwerfung" nennt, die den Kapitulierenden
zu einem Untertanen macht, und demjenigen, dem gegenüber die
Kapitulation erfolgt, die Staatsgewalt (Souveränität) Uber den
Unterworfenen verleiht. Grotius folgert, der Sieger habe absolute
Macht und alle Rechte, mit dem Besiegten nach Belieben zu
verfahren, daß aber ein unbegrenzter Gebrauch nicht klug wäre.
Die meisten älteren und viele der neuen völkerrechtlichen Autoren
betrachten "bedingungslose Kapitulation" als eine besondere
Situation, welche sie üblicherweise im Zusammenhang mit der
Kriegsbeendigung diskutieren. Einer spricht von "deditio" als der
mit "bedingungsloser Kapitulation" identischen Praxis der Römer.
Er denkt dabei
263
an eine Situation, in der die Niederlage so vollkommen ist, daß
keine Gelegenheit für einen Waffenstillstand oder eine andere
vertragliche Abmachung mehr besteht. Der Besiegte wird entweder
ausgelöscht oder ist zu aufgebraucht, als sich vollständig
aufgeben und in die Gnade des Siegers begeben zu können. In einer
weniger extremen Form ist es vielleicht das, was mit dem Terminus
"Debellatio" gemeint ist. Sie liegt dann vor, wenn der feindliche
Staat niedergekämpft und unterworfen wird. Es stehen sich dann
nicht mehr länger zwei Staaten Angesicht in Angesicht gegenüber.
Der Krieg wird beendet durch die Auslöschung der politischen
Existenz eines der beiden Gegner.
Verschiedene Autoren betonen, daß "Debellatio" und "Conquest"
nicht identisch sind. Davon zu unterscheiden ist auch der Begriff
der "Subjugation". "Conquest" ist lediglich eine Voraussetzung
von "Debellatio", reicht aber allein noch nicht aus, um die
juristische Lage herzustellen, die man als "Debellatio"
bezeichnet. Erst der Wille (animus) und der Besitz führen (nach
Strupp) zu dieser Situation. Der Wille muß dahin gehen, den
Gegner ganz und gar zu vernichten. In Verbindung mit der
tatsächlichen Zurückhaltung des Territoriums (Besitz) entsteht
dann die juristische Situation, in der der Eroberer sich das
feindliche Land selbst aneignen kann und dadurch den Krieg
beendet. Wesentlich ist, daß die Souveränität des Feindstaates
nicht mehr länger ausgeübt werden kann, daß die völkerrechtliche
Person,
mit
der
Fähigkeit
Rechtshandlungen
vorzunehmen,
verschwunden ist. Dieser letzte Schritt der Annexion wird auch
"Subjugation" genannt140.
(2.) Das Nichtvorhandensein moderner Präzedenzfälle führt zu der
Feststellung, daß es keine traditionelle Form oder Formel einer
"bedingungslosen Kapitulation" gibt. In seiner einfachsten Form
ist das Kapitulations-Dokument die bloße Wiedergabe einer
Tatsache, nämlich der Tatsache der vollkommenen Niederlage und
die Anerkennung dieser
140 Ph.C. Jessup, Memorandum v. Juni 1944, Abs. Nr. 4-9; ebd.
264
Niederlage, wodurch sich der Besiegte ganz in die Hände des
Siegers begibt. Es bleibt dem Sieger überlassen, mögliche
Einzelheiten der "bedingungslosen Kapitulation" in die Urkunde
aufzunehmen. Es wäre für den Eroberer zweckdienlich, vom
Kapitulierenden zu verlangen, die Kapitulation in einem
geschriebenen Dokument auszudrücken, das dann in einer Heise
unterzeichnet wird, die den Staat bindet. In geeigneten Fällen
mag es notwendig sein, sowohl die Unterschrift der höchsten
zivilen oder Verfassungsautorität und der höchsten militärischen
Autorität zu erhalten. Es ist kein Grund ersichtlich, warum der
Eroberer nicht genau festlegen sollte, wessen Unterschrift er
wünscht, um sicher zu gehen, daß die Kapitulation von allen
einflußreichen Gruppen im Staat des Unterlegenen mitgetragen
wird. Es bleibt dem Sieger überlassen, eine Anmerkung auf dem
Dokument zu machen, daß er die Kapitulation akzeptiert. Eine
Unterschrift ist aber nicht notwendig. Selbst wenn die Annahme
auf dem Kapitulations-Dokument notiert wird, wird dieses dadurch
noch nicht zu einem Vertrag oder Abkommen.
Eine "bedingungslose Kapitulation", wie hier beschrieben, ist
eine Vereinbarung im juristischen Sinn. Der Eroberer verspricht
nichts. Ob der Eroberte etwas zusichert, hängt davon ab, ob er
über die Anerkennung der vollständigen Niederlage hinaus noch
weitere Aussagen in der Urkunde abgibt, die die Form von
Versprechungen des kapitulierenden Staates haben. Diese sind dann
aber nur Zusätze und nichts, was der Kapitulation selbst
innewohnt.
Eine "bedingungslose Kapitulation" kann aber auch, wenn der
Eroberer das wünscht, in ein einseitiges oder zweiseitiges
Abkommen eingefügt werden. Ist das Abkommen nur die Registrierung
einer abgeschlossenen Tatsache, werden die Rechtsnatur oder
Folgen dieser Tatsache nicht durch die Aufnahme in das Abkommen
bestimmt, weil dieselbe Wirkung auch dann eintreten würde, wenn
die vollständige Niederlage nur mündlich erklärt wird. Obwohl
eine in ein Abkommen aufgenommene "bedingungslose Kapitulation"
die vollständige
265
Unterwerfung und die rechtlichen Folgen dieser Unterwerfung nicht
ändert, muß ein solches Abkommen mit großer Sorgfalt erstellt
werden, um ein unerwartetes und unerwünschtes rechtliches
Resultat zu verhindern. Wird das Abkommen nachlässig verfaßt,
könnte es Wirkungen haben wie ein üblicher Friedensvertrag und
alle die Rechtsquellen absorbieren, auf die der Sieger angewiesen
ist. In anderen Worten: Der Sieger würde seine unbeschränkte
Macht verlieren, die aus einer "Debellatio" resultiert, und hätte
nur noch die Befugnisse, die sich aus dem Abkommen herleiten.
Darüber hinaus könnte die Anerkennung des besiegten Feindes als
Vertragspartner mißverstanden werden, als stelle dies die
Leugnung der vollständigen Zerstörung dar, die eine "Debellatio"
ins Auge faßt. Diese Bemerkungen führen zu der Schlußfolgerung,
daß die Lage eindeutiger ist, wenn die Form eines Abkommens
gänzlich vermieden wird141.
(3.) Der Hauptpunkt bei der Frage nach den rechtlichen Folgen
einer "bedingungslosen Kapitulation" ist, ob darin die Beendigung
des Krieges zu sehen ist, und - wenn dem so sein sollte - ob
dieses Resultat automatisch und notwendigerweise eintritt oder ob
es abhängig ist von verschiedenen Umständen. In diesem
Zusammenhang ist es erforderlich, noch etwas näher auf den
Begriff der "Debellatio" einzugehen. Es erscheint wohl begründet,
daß, um eine Beendigung des Krieges im Sinne einer "Subjugation"
herbeizuführen, eine tatsächliche Situation und eine Absicht
Zusammentreffen müssen.
Fraglich ist, worauf diese Absicht gerichtet sein muß. Betont
wird die Annexion des feindlichen Gebietes als ein wesentliches
Charakteristikum einer "Subjugation”. Autoren legten in früheren
Zeiten Wert auf die totale Vernichtung der besiegten Feinde. Es
scheint, als ob das Merkmal der Annexion des feindlichen Gebietes
sich vor allem auf den Nachweis der Intention der Auslöschung des
besiegten Feindstaates bezieht, denn als separate wirkliche
141 Ph.C. Jessup, Memorandum v. Juni 1944, Abs. Nr. 10-12; ebd.
266
Bedingung. Sicher kann es keinen klareren Beweis für die Absicht
zur Vernichtung des feindlichen Staates geben, als ihn zu
annektieren und ihn dem Staatskörper des Siegers einzuverleiben.
Internationale Juristen, die diese Situation analysiert haben,
scheinen trotzdem als letztes Erfordernis daran zu denken, daß
der Sieger die eindeutige Absicht haben muß, so zu handeln, daß
ein Wiederausbruch der Feindseligkeiten unmöglich gemacht wird.
Eine "Subjugation" unterscheidet sich von einer kriegerischen
Besetzung dadurch, daß das grundlegende Charakteristikum der
letzteren die Widerruflichkeit oder Unsicherheit der Situation
ist. Strupp verlangt deshalb den Nachweis des Willens (animus)
des Siegers, seinen Gegner ganz und gar zu vernichten, bevor er
eine "Subjugation" annimmt.
In der römischen Praxis war "deditio" oder "bedingungslose
Kapitulation" eine von "Conquest" und Aneignung von Territorium
zu trennende Kategorie. Das hier in der Diskussion stehende
Problem ist die Beendigung des Krieges, nicht die Fehlerfreiheit
eines Titels (Souveränität), der durch "Conquest" plus Annexion
oder "Subjugation" erlangt wurde. Es ist kein Grund ersichtlich,
warum die Tatbestandsmerkmale einer "subjugation", die eine
Beendigung des Krieges bringen sollen, verbunden werden müssen
mit Fragen der Rechtsnachfolge in Territorien, um adäquat die
Frage der Kriegsbeendigung zu handhaben. Angesichts einer
traurigen Fülle historischer Präzedenzfälle, in denen die Sieger
nur zu begierig danach trachteten, sich den besiegten Staat
einzuverleiben oder ihn aufzuteilen, fühlten Autoren des
Völkerrechts sich nicht generell veranlaßt, sich mit einer Lage
zu befassen, in der der Sieger die Klugheit besaß, mit einem
hilflosen Feind richtig zu verkehren, der bedingungslos
kapituliert hatte.
Demnach ist das Willens-Element bei einer "bedingungslosen
Kapitulation", um eine Kriegsbeendigung zu gewährleisten, in der
eindeutigen Absicht des Siegers zu sehen, von diesem Moment an
nicht weiterzumachen als ein Kriegführender, der
267
sich vorbereitet, einen Friedensvertrag zu schließen, sondern als
einer, der aufgrund der Wirkung der Kapitulation das Recht
besitzt, über den Besiegten zu verfügen wie er es wünscht, ohne
Bezug auf die Rechte und Befugnisse, die dem Status des
Kriegführenden innewohnen.
Die Ablehnung des Siegers, sein Recht zur Annexion des Gebietes
des besiegten Staates auszuüben, mag es zwar schwieriger machen
zu entscheiden, ob der Krieg wirklich zu Ende ist, aber es
verursacht kein absolutes rechtliches Hindernis. Es kann
Vorkommen, daß die Bestimmung über den Tag des Kriegsendes nicht
vorgenommen wird, bevor einige Zeit nach der Kapitulation
vergangen ist. In diesem Fall ist aus dem Verhalten des Siegers
auf seine Intention zu schließen: Hält er sich weiter an die
HLKO,
behandelt
er
die
kapitulierenden
Armeen
als
Kriegsgefangene,
und
trifft
er
Vorbereitungen
für
den
Friedensvertrag, kann das ein Hinweis darauf sein, daß er keine
Absicht hatte, den Krieg zu beenden. Einiges kann man auch
ableiten aus der Form oder den Bestimmungen der KapitulationsUrkunde. Ist sie abgefaßt in der Ausdrucksweise eines Vertrages,
besonders eines Vollzugs-Vertrages, ist das ein Beweis für die
Anerkennung des Feindes als Macht mit der Fähigkeit, Verträge zu
schließen, und legt die Analogie zu einem Waffenstillstand nahe,
der ein Vorspiel für einen Friedensvertrag ist.
Es ist klar, daß es eine Kapitulation geben kann, die weder in
einer "Debellatio" noch in einer Beendigung des Krieges
resultiert. Keine Schwierigkeiten bei der Sicherung des Resultats
bringt es mit sich, wenn die "bedingungslose Kapitulation" den
Krieg nicht beenden würde. Schwierig ist es eher in dem
umgekehrten Fall, in dem man die erforderliche Absicht zu zeigen
wünscht, ohne aber soweit zu gehen, Deutschland als Staat zu
vernichten. Der einfachste und klarste Weg wäre eine Erklärung
zum Zeitpunkt des Erhalts der "bedingungslosen Kapitulation", daß
der Kriegszustand fortbesteht. Ist dies die Absicht, könnte noch
hinzugefügt werden, die Alliierten würden bis
zu ihrer einseitigen Entscheidung hinsichtlich der Zukunft
Deutschlands anfangen mit einer vollständigen kriegerischen
Besetzung des deutschen Territoriums.
Es liegt somit in der Macht der siegreichen Staaten, ob eine
"bedingungslose Kapitulation" in einer Beendigung des Krieges
resultiert oder nicht. Was bleibt, ist eine politische Frage,
welches Ergebnis man herbeiführen will142.
Professor Jessup hatte damit den völkerrechtlichen Rahmen
abgesteckt, in dem die Alliierten ihre Gestaltungswünsche
entfalten konnten. Erst die Rückblende in die Praxis der
Römerzeit erlaubte ihm auch den Zugang zu dem Begriff "bedingungslose Kapitulation". Sie war für ihn ein dritter Weg, mit
dessen Hilfe die sonst nur mögliche Alternative von "Conquest"
und "Debellatio" umgangen werden konnte. Inhaltlich würde sie
eine Übertragung der Rechte des Unterzeichnenden auf die Sieger
zum Gegenstand haben, selbst wenn das im Wortlaut der Urkunde
nicht deutlich gesagt werde. Diese Absicht deckte sich insoweit
auch mit dem Urkundenentwurf der EAC, der ja auch die Übertragung
entsprechender Rechte von dessen Inhaber auf die Sieger vorsah,
ausgedrückt
in
dem
Begriff
"supreme
authority".
Eine
entsprechende Mitwirkungshandlung von seiten einer deutschen
Regierung oder des Oberkommandos der Wehrmacht war dafür aber
zwingend erforderlich. Als einseitige Gestaltungsmöglichkeiten
hatten die Alliierten nur die Wahl zwischen dem Festhalten an dem
durch die vollständige militärische Niederlage herbeigeführten
Zustand
der
"Conquest",
mit
der
Bindung
an
das
Besatzungsvölkerrecht, und der Zerschlagung des deutschen Staates
durch eine dahingehende Willensäußerung.
142 Es folgt nun noch eine kurze Auflistung möglicher rechtlicher
Folgen bei den einzelnen Entscheidungen, Ph.C. Jessup,
Memorandum v. Juni 1944, Abs. Nr. 13-23, ebd.
269
V.3. Chanlers Kritik am EAC-Kapitulations-Dokument
Mit
dem
EAC-Entwurf
zur
"bedingungslosen
Kapitulation"
war
Chanler in weiten Teilen nicht einverstanden. Er störte sich vor
allem an der Sprache, die nach seinem Empfinden der Kapitulation
einen vertraglichen Charakter verleihen würde.
Die Kritik Chanlers galt unter anderem der Fassung des Artikels
13, in dem stand, daß die Kapitulations-Urkunde ("instrument")
unmittelbar nach der Unterzeichnung in Kraft trete. Er schlug
vor, statt von der "Urkunde" ("instrument") davon zu sprechen,
daß die "Anordnungen" ("instructions") nach der Unterzeichnung
wirksam würden143. Chanler erklärte dazu:
"The objection to the language is that it
permits the Germans later to claim that
they only surrendered on the basis of these
'terms' (i.e., 'conditions') and that we
are therefore limited to the powers
reserved in the instrument itself.
While these powers may be very broad, it
nevertheless opens the door to argument and
no doubt the Germans will be able to claim
that in various respects we had violated
the 'terms' of the 'Armistice' as they did
after the last war. All this is removed if
the 'contractual' features of the document
are eliminated."144
Einen weiteren Kritikpunkt bildete die Festlegung in Artikel 1,
Deutschland stelle die Feindseligkeiten überall ein, und die
deutsche Regierung sowie das deutsche Oberkommando würden
entsprechende Anweisungen an die Streitkräfte erlassen, die sich
unter ihrer Kontrolle befänden, die Feindseligkeiten zu einem
bestimmten,
von
den
Alliierten
festzusetzenden
Zeitpunkt
einzustellen. Dies erinnerte
143
144
270
W.C. Chanler, "Memorandum for General Hilldring", "Subject:
Unconditional Surrender Terms for Germany - Latest Draft",
21.06.1944, Abs. Nr. 1-4; RG 165 CAD 014 Germany (7-10-42)
Sec. 7
W.C. Chanler, Memorandum v. 21.06.1944, Abs.Nr. 5, ebd.
Chanler zu sehr an die diesbezüglichen Bestimmungen des
Waffenstillstands von 1918. Der einzige Grund für eine solche
Formulierung sei, daß, wie in einem normalen WaffenstillstandsVertrag üblich, beide Seiten eine vorübergehende Suspendierung
der Auseinandersetzungen vereinbarten. Die Umstände seien von der
Situation am Ende des Zweiten Weltkrieges aber grundverschieden.
Die alleinige Bedeutung von "bedingungsloser Kapitulation" sei,
daß eine Seite ihre Waffen endgültig ("finally") niederlege und
sich der Gnade des Gegners unterwerfe. Die Einstellung der
Feindseligkeiten sei nun nicht mehr nur vorübergehend, sondern
unwiderruflich. Chanler schlug deshalb vor, die Urkunde so zu
verfassen, daß in dem Moment, in dem die Alliierten die
"bedingungslose Kapitulation" akzeptierten, die Deutschen allen
ihren Kommandeuren im Feld zu befehlen hätten, mit den
Kriegshandlungen aufzuhören und sich den ihnen gegenüberstehenden
Kommandeuren bedingungslos zu ergeben145.
Abschließend ging Chanler noch einmal auf die rechtlichen Folgen
einer "bedingungslosen Kapitulation" ein. Sein Fazit:
"As a matter of International Law an
'unconditional
surrender'
can
be
accomplished with equal legal effect if all
military
commanders
surrender
unconditionally to the opposing forces
without the necessity of any other document
whatever. Accordingly, this procedure .. .
would in fact strengthen the United States
position, that this is an unconditional
surrender and not an armistice agreement.
In fact, if this change is made, it matters
very little what language is used in the
rest of the document."146.
Chanler
konnte
sich
mit
seinen
Vorstellungen
von
einer
"bedingungslosen Kapitulation" im Sommer 1944 jedoch noch kein
Gehör verschaffen. Erst die Entwicklung der militärischen Lage in
Europa zu Beginn des nächsten Jahres,
145
146
W.C. Chanler, Memorandum v. 21.06.1944, Abs.Nr. 6-10; ebd.
W.C. Chanler, Memorandum v. 21.06.1944, Abs.Nr. 11; ebd.
271
die anhaltende Sorge, ob am Ende der Kämpfe wirklich noch eine
zur Unterschrift bereite deutsche Regierung vorgefunden würde,
und die damit verbundenen Abänderungs- Bemühungen in eine
einseitige Erklärung der Alliierten, gaben Chanlers politischen
und juristischen Überlegungen ein erneutes Betätigungsfeld.
V.4. Britische Überlegungen zur "bedingungslosen Kapitulation"
Eine neue Runde intensiver und über mehrere Monate hinweg
anhaltender Diskussion völkerrechtlicher Fragen im Hinblick auf
die bevorstehende Besetzung Deutschlands wurde Mitte Dezember
1944 eingeläutet. Anlaß war eine Studie des britischen Teils der
Kontroll-Kommission für Deutschland, die sich mit der rechtlichen
Zulässigkeit
der
Säuberung
deutscher
Organisationen
von
Nationalsozialisten befaßte147.
In dieser Studie wurden verschiedene Situationen gedanklich
durchgespielt. Die grundlegende Unterscheidung war die zwischen
dem Zeitraum vor der in Aussicht genommenen Kapitulation und dem
Zeitraum danach. Hinsichtlich des zweiten Zeitraumes wurde zudem
die Frage aufgeworfen, wie es sich rechtlich auswirke, wenn die
Kapitulations-Urkunde von der deutschen Regierung unterzeichnet
oder aber eine einseitige Erklärung der Alliierten mit dem Inhalt
der Kapitulationsurkunde erlassen werde, für den Fall, daß eine
deutsche Regierung nicht mehr vorhanden oder nicht gewillt sei,
die Urkunde zu unterzeichnen.
Für die Okkupations-Phase vor der Kapitulation wurde die
Anwendbarkeit
der
HLKO
anerkannt.
Allerdings
nur
mit
Einschränkungen. Die Entwicklung der Wirtschaftspolitik seit Ende
des Ersten Weltkrieges, so war in der Studie zu
147
272
Control Commission for Germany,
British Element, "Study on
Legal Aspects of Purge of Nazis from German Organisations", v. Brig.
Andrew Clark, Chief Legal Division, 16.12.1944, RG 260/OMGUS
AGTS/89/2; 44-45/22/1
lesen,
habe
sich
auch
auf
die
HLKO,
vor
allem
Art.
43,
ausgewirkt:
"The Hague Regulations ... represent a
partial codification of rules which had
developed under the "laissezfaire" economic
system of the nineteenth century. They do
not envisage many of the problems which
arise in the complex modern industrial
state.
The
characteristics
of
totalitarian
economics and totalitarian warfare were
unknown
to
the
framers
of
the
Regulations."148
Die Tendenz seit dem Ersten Weltkrieg sei es gewesen, so glaubte
der Verfasser dieser Studie erkannt zu haben, daß die staatliche
Kontrolle Uber die private Industrie größer geworden sei, und die
öffentliche Meinung neige immer stärker dazu, Tätigkeiten als
sozial, national oder staatlich anzusehen, die früher klassische
private Tätigkeiten gewesen seien. Der Stellenwert von Finanzund Industrieunternehmen sei in einer modernen Gesellschaft
derart wichtig, daß der Okkupant zweifelsfrei ermächtigt sei,
Maßnahmen zu ergreifen, die das Funktionieren solcher Unternehmen
sicherstellten,
um
dadurch
ernsten
Problemen
durch
Arbeitslosigkeit
in
dem
besetzten
Gebiet,
einer
damit
einhergehenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung, aber auch
einer
möglichen
Verknappung
lebenswichtiger
Güter
entgegenzutreten.
"These considerations furnish and argument
for a broader interpretation of the Hague
Regulations, and in particular Article
43."149
Daraus wurde gefolgert, in allen jenen Fällen, in denen deutsche
Amtspersonen ("administrative authorities") unter deutschem Recht
die Befugnis zur Kontrolle bestimmter deutscher Geschäftsbetriebe
zustehe, könnte die Besatzungsmacht diesen Personen befehlen,
diese Befugnisse im Interesse von Sicherheit und Ordnung
auszuüben. Diese
148
149
Clark-Studie, 16.12.1944, S. 1; ebd.
Clark-Studie, 16.12.1944, S. 2; ebd.
273
weite Interpretation von Artikel 43 HLKO unter Hinweis auf die
angeblichen Änderungen im wirtschaftspolitischen Bereich erlaube
es nun, Nationalsozialisten auch in der Privatwirtschaft aus
ihren Ämtern entfernen zu lassen150.
Von weit größerem Interesse als die Ausführungen zur VorKapitulations-Phase sind jedoch die Überlegungen zur rechtlichen
Lage
nach
der
Kapitulation.
Auf
noch
recht
sicherem
völkerrechtlichen Parkett bewegte sich die Studie bei der
Annahme, die Kapitulations-Urkunde werde von der zuständigen
deutschen
Regierung
("competent
German
Government")
unterschrieben:
"In that case, the rules of international
law and in particular the Hague Conventions
would apply only in so far as they had not
been modified by the terms of the
instrument of surrender signed by the
German Government."151
Die Bestimmungen des Entwurfs für die bedingungslose Kapitulation
seien so weit, daß durch sie alle Beschränkungen, die dem
Okkupanten durch die Haager Regeln auferlegt seien, beseitigt
würden.
Hinsichtlich der daraus resultierenden rechtlichen Stellung der
Besatzungsmächte in Deutschland wurde die Argumentation jedoch
äußerst gewagt:
"The effect of article 12 of the proposed
instrument of surrender, if accepted by the
German Government, would be to rest in the
three Powers the de facto government of
Germany
while
allowing
the
de
jure
sovereignty to subsist nominally in the
German Government."152
Die
Maßnahmen
zur
Säuberung
des
deutschen
Lebens
von
nationalsozialistischer Beeinflussung ("... to purge German life
of Nazi influence ...") stellten dann rechtlich keine
150
151
152
274
Clark-Studie, 16.12.1944, ebd.
Clark-Studie, 16.12.1944, ebd.
Clark-Studie, 16.12.1944, ebd.
Schwierigkeiten dar, sondern seien bloß eine Sache der Politik
und der Zweckmäßigkeit. Eingriffe in die Privatwirtschaft, beim
Personal wie auch in die Organisationsstruktur, seien dann
zulässig.
Noch größere Begründungsschwierigkeiten mußten sich ergeben für
den Fall, daß eine deutsche Regierung entweder nicht vorhanden,
nicht fähig oder aber nicht willens sein würde, das
Kapitulations-Dokument zu unterzeichnen. Würde eine einseitige
Erklärung der Siegermächte, in der sie die "supreme authority
with respect to Germany including all the powers possessed by the
German Government, the High Command and any state, municipal or
local government authority" übernehmen würden, auch zu einer
Loslösung von den Schranken der HLKO führen? Eine solche
Erklärung, so die Studie, laufe auf eine Übernahme der Regierung
hinaus, sowohl de facto als auch de jure, und bewirke die
Zerstörung Deutschlands als unabhängiger Staat. Tatsächlich
handele es sich dann um eine Übernahme der Souveränität. Dies
entspreche allerdings nicht der Intention der britischen
Regierung:
"It is understood, however, that H.M.
Government have decided that the Allies
will NOT assume sovereignty over Germany
and have been advised that the declaration
in its proposed form does NOT amount to an
assumption of sovereignty.
Die Studie kam deshalb für den Fall einer bloßen alliierten
Erklärung der bedingungslosen Kapitulation zu dem Ergebnis:
"If this contention is correct then the
declaration cannot operate to extend the
rights and powers of the Allies as
occupants and the position remains the same
as in the presurrender period."154
153
154
Clark-Studie, 16.12.1944, S. 4; ebd.
Clark-Studie, 16.12.1944, ebd.
275
V.5. Washington ohne jegliche völkerrechtliche Konzeption
a. Erste amerikanische Reaktionen. Eine erste kurze Reaktion auf
diese britischen Überlegungen erfolgte auf amerikanischer Seite
bereits am 20. Dezember. Colonel John M. Raymond, Chef der Legal
Advice Branch (USGCC, Legal Division) hatte sie ausgearbeitet155.
Mit den britischen Ausführungen zur Vor-Kapitulations-Phase
erklärte er sich einverstanden. Seine Begründung legte jedoch
mehr
Wert
auf
den
Gesichtspunkt
der
Sicherheit.
Die
Besatzungsmächte seien befugt, alle notwendigen Maßnahmen zu
ergreifen, um für die Sicherheit ihrer Truppen zu sorgen und um
zu ihrer Unterstützung und Leistungsfähigkeit beizutragen. Unter
Hinweis auf die amerikanischen "Rules of Land Warfare" (FM 27-10)
führte Raymond aus, die Besatzungsmacht
"will naturally alter or
of a political nature as
privileges and all laws
welfare and safety of his
suspend all laws
well as political
which affect the
command."
Das Funktionieren der Industrie ohne Störung, Sabotage oder
Drosselungen sei unentbehrlich, um die Ablenkung der Truppen für
die Überwachung dieser Arbeit zu vermeiden. Zur Erreichung dieses
Ziels sei deshalb auch die Entfernung von Nationalsozialisten
zulässig156. Während er ansonsten der britischen Studie weitgehend
zustimmte, meldete Colonel Raymond aber Bedenken an in bezug auf
das Ergebnis für den Fall, daß die Kapitulationsurkunde nicht von
der deutschen Regierung unterzeichnet werde. Er meinte:
"... the mere fact that the Allies may have
decided not to assume sovereignty of
Germany would not, in the case of conquest,
alter their right to assume
155
Col. John M. Raymond, USGCC, Legal Division, Legal Advice Branch,
an Director, Legal Division. "Subject: Comments on Opinion of Brig.
Clark with respect to Legal Aspects of Purge Of Nazis", 20.12.1944,
RG 260/OMGUS 44-45/22/1; AGTS/89/2; POLAD/826/34
156
Raymond-Memorandum, 20.12.1944, Abs. Nr. 1; ebd.
276
such attributes of sovereignty as they
might desire."
Für die Beantwortung der damit verbundenen politischen und
rechtlichen Fragen benötige man aber weitere Informationen157.
Um eine Klärung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der nach
dem Inhaber der Souveränität im besetzten Deutschland, auf
höherer Ebene vornehmen zu lassen, wandte sich die Legal Division
am 23. Dezember 1944 an den Direktor der Political Division,
Robert Murphy158. Dieser sollte die Angelegenheit in Washington
zur Sprache bringen. Unmittelbar nach den Weihnachtsfeiertagen,
am 27. Dezember 1944, schickte Murphy von London aus einen Brief
an den Außenminister in Washington, in dem er die Problematik
noch einmal umriß159. Im Anhang zu diesem Brief befanden sich die
seit Mitte Dezember entstandenen Studien der Briten und
Amerikaner. Murphy hoffte, das Außenministerium habe sich bereits
mit diesen Dingen befaßt. Er wäre dankbar, ließ er den
Außenminister wissen, wenn man ihn über die Ergebnisse
informieren würde.
Aber auch in London blieb man in der Folgezeit nicht untätig. Ab
Mitte Januar 1945 tauschten die Legal Division, die Political
Division und das Büro des Acting Deputy der US- Gruppe im
Kontrollrat mehrere Denkschriften aus160. Grundlage für die
Diskussion bildete das Jessup-Memorandum vom Juni 1944, das im
Januar 1945 von der Civil Affairs Division über SHAEF auch bis
zur USGCC nach London gelangt war, dort vervielfältigt und
verbreitet wurde. Die in Professor
157
158
159
160
Raymond-Memorandum, 20.12.1944, Abs. Nr. 2; ebd.
Lt. Col. John. B. Marsh, Acting Director, Legal Division, an
Director Political Division, 23.12.1944, RG 260/OMGUS 4445/22/1; AGTS/89/2; POLAD/826/34
R. Murphy an Secr. of State, "Subject: Legal Status of the
Allied Occupation of Germany", 27.12.1944; RG 260/OMGUS
AGTS/89/2; POLAD/826/34
Vgl. das Schreiben R. Murphys an den US-Außenminister vom
29.01.1945, "Subject: Legal Status of Allied Occupation of
Germany" und die in Anlage beigefügten und durchnummerierten
Memoranden, RG 260/OMGUS POLAD/732/26.
277
Jessups Denkschrift zum Schluß aufgeworfenen Fragen161 mußten als
noch nicht entschieden angesehen werden, stellte der Direktor der
Legal Division USGCC, Colonel John B. Marsh, in seinem Memorandum
vom 20. Januar 1945 fest162. Eine klare und eindeutige Antwort auf
die völkerrechtlichen Fragen traute er sich angesichts der
unsicheren politischen Entscheidungslage in Washington zu diesem
Zeitpunkt noch nicht zu:
"It seems important ... to be aware that
the supreme authority to be asserted on
behalf of the Allied Governments after the
surrender or defeat of Germany must be
construed, and limited in its exercise, to
conform to the legal status of the
occupation and that this has not as yet
been determined by our government. Until
such determination the question as to
whether the occupying powers will have
authority
greater
than
a
'military
occupant' under international law ...
163
cannot be answered."
Bis zu einer verbindlichen Klarstellung von höherer Stelle
wollten
andere
jedoch
nicht
warten.
Die
Vorstellung,
Besatzungspolitik in Deutschland ohne Rücksicht auf rechtliche
Schranken, und somit willkürlich, ausüben zu können, erschien zu
verlockend. Warum sollte man sich da noch Gedanken über
juristische Feinheiten machen? Ihren Ausdruck fand diese Haltung
in einem Memorandum vom 22. Januar, das von Oberstleutnant Henry
Carter erstellt wurde164.
Nach seiner Meinung sollte allein schon die vorgesehene und
geplante
faktische
Machtausübung
der
Besatzungsmächte
in
Deutschland,
im
Zusammenhang
mit
der
"bedingungslosen
Kapitulation" (wobei er dieser jedoch keine eigenständige
Bedeutung beimaß), Zustände schaffen, von denen er voraus
161
162
163
164
278
Vgl. oben 2. Teil, V.2.
Col. John B. Marsh, Director, Legal Division, USGCC; "Subject: Legal
Status of Occupation", 20.01.1945, RG 260/OMGUS
POLAD/732/26 - Memorandum No. 1
Marsh-Memorandum, 20.1.1945, Abs. Nr. 4; ebd.
Lt. Col. Henry Carter an Gen. Milburn, 22.01.45, "Subject: Legal
Status of Occupation", RG 260/OMGUS POLAD/732/26
schauend behauptete, "it would seem to me that there will be a
prima facie case of 'debellation'."165
Auf jeden Fall aber sollten die Planungsstäbe bei ihren
Überlegungen schon einmal davon ausgehen, in Deutschland alle
Freiheiten zu haben, ohne daß die Frage, wie dies rechtstechnisch
zu erreichen sei, auch nur im Ansatz geklärt gewesen wäre. Henry
Carter meinte in seinem Memorandum dazu:
"As a matter of planning it would appear
preferable to proceed on the basis of
unlimited authority to impose our will,
rather than upon the limited basis accorded
a mere occupant - otherwise we shall find
our policies restricted by such provisions
as the Hague Regulations ..."166
Solche Beschränkungen mußten aber nach fast einhelliger
amerikanischer Ansicht vermieden werden. Deshalb unterstützte
auch die Political Division den Vorschlag Carters, zumindest für
Planungszwecke ("for planning purposes") davon auszugehen, daß
man in Deutschland "unlimited authority" haben werde167.
Ansonsten wollten aber Murphy und seine Mitarbeiter in der
Political Division den in Washington oder eventuell in der EAC zu
fällenden Entscheidungen nicht vorgreifen. Obwohl sie sich damit
selbst eine gewisse Zurückhaltung auferlegte, konnte es sich aber
auch die Political Division in ihrem Memorandum vom 24. Januar
1945 nicht versagen, abschließend doch noch die mit der
"bedingungslosen Kapitulation" verbundenen eigenen Erwartungen zu
artikulieren:
"However, it is to be noted that it is the
understanding
of
the
Division
that
unconditional surrender contemplates the
waiver by Germany of all of her
165
166
167
Carter-Memorandum, 22.1.1945, Abs. Nr. 3; ebd.
Carter-Memorandum, 22.1.1945, Abs. Nr. 4; ebd.
Political Division an Gen. Milburn, "Subject: Legal Status of
Occupation", 24.01.1945; RG 260/OMGUS POLAD/732/26
279
rights
under
international
treaties,
conventions, protocols, or agreements and
in the absence of the acceptance of such
terms through the actual occupation of
Germany by the Allied Powers, the same de
facto situation would prevail."168
Diese Einschätzung der aus der bedingungslosen Kapitulation sich
ergebenden völkerrechtlichen Lage, ohne auch nur ein Wort zu den
damit verbundenen rechtstechnischen Problemen gesagt zu haben,
teilte Botschafter Murphy am 25. Januar 1945 in einem Telegramm
über
die
amerikanische
Botschaft
in
London
auch
dem
amerikanischen Außenministerium mit169, US- GCC mache weiter "on
the
assumption
of
unlimited
authority
(free?)
of
all
international rights as well as sovereignty through the waiver by
Germany under unconditional surrender, in planning administrative
measures for Germany."170
War die rechtliche Lage für den Fall, daß sich eine deutsche
Regierung bereitfinden würde, das Kapitulationsdokument zu
zeichnen, noch recht einfach und klar, so ergaben sich doch
scheinbar unlösbare Schwierigkeiten für den Fall, daß es, aus
welchen Gründen auch immer, nicht zu einer vertraglichen
Übertragung der gewünschten Rechte und Befugnisse kommen würde.
Vor allem für die letzte Konstellation wünschte Murphy sich
klärende Hinweise aus dem State Department.
b. Völkerrechtliche
Stellungnahme
des
US-Außenministeriums .
Bereits am 3. Februar 1945 hatte das Außenministerium ein
Antwortschreiben an Murphy fertiggestellt. Die darin enthaltenen
Feststellungen waren eindeutig und rechtlich konsequent. Für die
politischen Planungsstellen aber, die sich schon längst darauf
eingestellt hatten, in einem rechtlichen Vakuum in Deutschland
Politik nach eigenem Gutdünken und ohne Rücksicht auf rechtliche
Restriktionen betreiben
168
169
170
280
Political Division an Gen. Milburn, 24.01.1945, ebd.
American Embassy, London, an Secretary of State, 25.01.1945, RG
107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat
American Embassy, 25.1.1945, ebd.
zu können, war die Rechtsauffassung des Außenministeriums ein
Schuß vor den Bug.
Es wurde zwar in diesem Entwurf dem Okkupanten zugestanden, er
könne auch dann vollständige Autorität über Deutschland und
innerhalb Deutschlands beanspruchen ("occupying powers can ...
assume full authority over and within Germany"), wenn es aufgrund
des
Nichtmehrvorhandenseins
einer
zuständigen
deutschen
Persönlichkeit ("competent German authority") nicht zu einer
Unterzeichnung
des
Kapitulations-Dokumentes
komme171.
Diese
Autorität war aber lediglich die eines militärischen Besetzers,
was auch im weiteren Wortlaut des Entwurfes deutlich wurde:
"The authority of the military occupant is
supreme for all purposes necessary for his
safety and the attainment of his legitimate
objectives. The exercise of such authority
does not have the effect of changing the
sovereignty of the country, but during the
time of such occupation the local sovereign
is deprived of the power to exercise rights
as such sovereign. The relinquishment of
power to the occupant and the act of
depriving the local sovereign of power
result directly from the action of the
occupying power in obtaining actual control
of the occupied territory."
Keine Aussage fand sich zu dem Hinweis Murphys, im Falle der
Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde durch die zuständige
deutsche Autorität gehe man davon aus, in Deutschland die
Souveränität
zu
übernehmen.
Das
Außenministerium
wußte
offensichtlich selbst nicht, und hatte sich bis dahin wohl auch
noch keine Gedanken darüber gemacht, welche rechtlichen Folgen
mit einer vertraglich vereinbarten Kapitulation verbunden sein
würden. Sollte sich aber keine für die Unterzeichnung zuständige
deutsche Stelle finden, insbesondere keine Regierung mehr
vorhanden oder nicht gewillt sein, die Unterschrift unter dieses
Ermächtigungsdokument der Alliierten zu setzen, dann war
171
172
Entwurf des Schreibens vom 03.02.1945 ohne konkrete Angabe des
Verfassers in RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat
Entwurf v. 3.2.1945; ebd.
281
die Rechtslage für das Außenministerium klar: Mangels einer
wirksamen Übertragung aller der deutschen Regierung zustehenden
Rechte wären die Okkupanten an das Völkerrecht gebunden und
hätten sich in dessen Grenzen zu bewegen. Dies wäre eine
klassische
"occupatio
bellica".
Nur
Maßnahmen
aus
Sicherheitsgründen oder um - völkerrechtlich - zulässige Ziele zu
verfolgen, wären ohne Bruch des Völkerrechts möglich.
c. Heftiger Protest aus der Civil Affairs Division. Dieses
Ergebnis lief allen bisherigen Planungen zuwider. Protest aus
anderen Abteilungen konnte nicht ausbleiben, war vielmehr nur
eine Frage der Zeit. Schon am 6. Februar reagierte Colonel
William Chanler in der Civil Affairs Division im Pentagon. Mit
Bestürzung kommentierte er in einem Memorandum das ihm
zugeleitete Schreiben des Außenministeriums an Murphy:
"In so far as our legal position in the
event
that
the
instrument
(der
bedingungslosen Kapitulation, d. Verf.) is
not signed is concerned, you will note that
all they are saying is that we will be in
the position of a military occupant in time
of war - that is to say, subject to all of
the conventions ..."173
Das aber war für Chanler völlig undenkbar. Eine Selbstbeschränkung
bei
Planung
und
späterer
Durchführung
der
besatzungspolitischen Maßnahmen konnte und wollte er nicht
akzeptieren. Das Völkerrecht hatte vielmehr zu weichen, mit oder
ohne
Unterzeichneter
Kapitulation.
Aufgabe
der
mit
völkerrechtlichen Fragen befaßten Planer sollte es nun sein, eine
"saubere" Begründung für dieses gewagte Unterfangen zu liefern.
Chanler wurde für die folgenden sechs Monate zum Motor, aber auch
mit seinen eigenen völkerrechtlichen Vorstellungen zum Dreh und
Angelpunkt dieser "Begründungs-Suche" in der CAD und auch darüber
hinaus.
173
282
W.C. Chanler, "Memorandum for Colonel Cutter", 06.02.1945; RG 107
ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat
V.6. Völkerrechtlicher Disput innerhalb der Civil Affairs
Division
Nachdem die ersten Überlegungen zu dem "Wie" der Beseitigung des
Völkerrechts (das "Ob" stand eigentlich nie ernsthaft zur
Debatte) bereits im Februar (Memorandum Chanlers)174 und Juni 1944
(Memorandum Jessups)175 zu Papier gebracht worden waren, hatte es
bis Ende 1944 dabei sein Bewenden gehabt. Erst im Januar 1945
wurde die Frage in der CAD erneut aktuell. Grundlage des
neuerlichen Gedankenaustausches bildeten immer noch die beiden
Denkschriften von 1944. Das britische Memorandum vom 16. Dezember
1944 hatte bis dahin die CAD noch nicht erreicht.
a. Memorandum von Mark D. Howe vom 8. Januar 1945. Kritik an der
Annahme Chanlers in seinem Februar-Memorandum, "bedingungslose
Kapitulation" bedeute die Zerstörung des deutschen Staates "as a
legal unity", äußerte am 8. Januar 1945 Mark D. Howe,
Oberstleutnant in der CAD176. Seine Untersuchung der Thesen
Chanlers geschah im Hinblick auf die möglichen politischen Vorund Nachteile, die die Zerstörung des deutschen Staates haben
würde. Zu rechtstechnischen Fragen, wie insbesondere der, ob
"bedingungslose
Kapitulation"
wirklich
die
von
Chanler
angenommene Rechtsfolge nach sich ziehen würde, äußerte er sich
nicht. Schon allein aus politischen Gründen riet er Chanler von
dessen These ab:
" By terminating the war, by giving us
authority to destroy the German State, and
annex all of her territories your theory
creates problems which are, in my mind, so
serious that they outweigh the advantages
which
the
theory
unquestionably
possesses."177
174
175
176
177
Vgl. 2. Teil, V.l.
Vgl. 2. Teil, V.2.
M.D. Howe, "Memorandum for the Deputy Director, Civil Affairs
Division", "Subject: Consequences of Unconditional Surrender",
08.01.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat
Howe-Memorandum, 8.1.1945, Abs. Nr. 5; ebd.
283
Der große Vorteil der Theorie sei zweifellos, daß die Alliierten
dadurch unbegrenzte Befugnis über Deutschland ("unlimited
authority over Germany") erhielten, und sich ihre Rechte auch auf
die Annektierung, Teilung und die vollständige Unterwerfung des
(deutschen) Volkes ("complete subjugation of the people")
erstrecke. Dann werde aber eine Erklärung notwendig, in der die
Alliierten deutlich zu machen hätten, in welchem Ausmaß sie ihre
Befugnisse ausüben wollten. Howe nahm an, die vollständige
Annektierung Deutschlands sei "out of the question" und eine
vollständige Teilung sei nicht erwünscht. Eine Erklärung über das
Fortbestehen des Staates sei dann unentbehrlich, ebenso wie dazu,
ob die Alliierten gemeinsam oder auch nur einer von ihnen
Souveränität beanspruchten über das ganze oder einen Teil des
besetzten
Gebietes.
Solche
Fragen
könnten
nicht
lange
unentschieden bleiben, zumal wenn das Durcheinander einer
dreigeteilten
Kontrolle
noch
überlagert
werde
von
den
Unklarheiten des Völkerrechts. Zur Anwendbarkeit des Haager
Abkommens meinte Howe, es erscheine ihm ...
"... that if we publicly announce, as I
believe we must, that we are not annexing
German territory, that we do not claim
sovereignty, and that we still recognize
the existence of the German State a strong
argument can be made that the general
standards of the convention are as binding
upon us as they would be if the war
continued
into
the
post-surrender
period."178
Nach Howes Ansicht bedeutete "bedingungslose Kapitulation" das
Anheben eines im wesentlichen militärischen Problems auf die
Regierungsebene, wo dieses Problem aber nicht hingehöre. Denn
erst dadurch entständen die großen Schwierigkeiten für die
Militärregierung in Deutschland. Howe sprach sich deshalb für
eine rein militärische Kapitulation aus.
Bedingungslose Kapitulation sei dann die Anerkennung von seiten
des deutschen Oberkommandos der Wehrmacht gegenüber
178
284
Howe-Memorandum, 8.1.1945, Abs. Nr. 4; ebd.
der höchsten militärischen Autorität der Vereinten Nationen, daß
die deutschen Streitkräfte entscheidend geschlagen ("conclusively
defeated") seien.
"If we destroy the resistance of German
armed forces by the capitulation of those
forces we are in a position to assert as
much authority over the German government,
the German State, and the German people as
we may choose to exercise ... An effective
victory over the armed forces of Germany,
acknowledged by them to be complete and
final, will in fact give the commanders of
our forces all the power which they need to
conduct a forceful military government of
Germany."179
Dies mochte von einem reinen machtpolitischen Standpunkt aus
durchaus zutreffend sein. Welche machtpolitischen Möglichkeiten
konnte ein Volk, dessen Armeen gerade kapituliert hatten, den
siegreichen Mächten gegenüber schon haben? Völkerrechtsverstöße
durch die Alliierten wurden von Howe somit bewußt in Kauf
genommen. Entscheidend war nicht, daß man das Völkerrecht laufend
verletzen würde, sondern zu verhindern, daß irgendwer durch seine
Auslegung des Völkerrechts die alliierten Bemühungen behindere:
"Through that government they (die Alliierten, d. Verf.) will be able to achieve
the essential political objectives of the
United Nations, if we do not permit a
narrow interpretation of International Law
to hamper them."180
b. Memorandum von William Chanler vom 13. Januar 1945. Am 13.
Januar 1945 nahm auch William Chanler seine Überlegungen vom
Februar 1944 wieder auf, um sie fortzuentwickeln. In seinem
Memorandum fragte er nach den rechtlichen Konsequenzen, die eine
"bedingungslose Kapitulation" habe181. Dabei unterschied Chanler
zunächst drei Möglichkeiten der Beendigung der Feindseligkeiten:
179
180
181
Howe-Memorandum, 8.1.1945, Abs. Nr. 6, 7; ebd.
Howe-Memorandum, 8.1.1945, Abs. Nr. 7; ebd.
Col. W. Chanler, Memorandum, "Subject: Legal Consequences of
Unconditional Surrender", 13.01.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany
Surrender or Defeat
285
- Eine rein tatsächliche Einstellung der Feindseligkeiten auf
beiden Seiten ohne Waffenstillstands- oder Friedensvertrag. In
diesem Fall sei der Krieg erst dann beendet, wenn später die
normalen Beziehungen zwischen den früheren Kriegführenden
wiederaufgenommen würden.
Das herkömmliche Verfahren eines Waffenstillstandes, aufgrund
dessen die Feindseligkeiten eingestellt würden.
- Das
völlige
Kriegführenden
Besiegen
durch
oder
den
Erobern
anderen,
("conquest")
gefolgt
von
des
einen
Maßnahmen
hinsichtlich des zukünftigen Schicksals der eroberten Nation, wie
sie der Eroberer festlege.182
Unter welche dieser Kategorien war aber nun eine "bedingungslose
Kapitulation" einzuordnen? Chanler, wie vor ihm auch schon Philip
Jessup, tendierte dahin, sie als gleichbedeutend zu Eroberung
("conquest") anzusehen: "That ist to say, one party continues to
fight until the other gives up and throws itself upon the mercy
of the conqueror." Anschließend habe der Eroberer mehrere
Handlungsalternativen:
Die erste sei, mit der besiegten Nation ("vanquished na- tion")
einen Waffenstillstand abzuschließen. Unter den dann gegebenen
Umständen könnte der Sieger alle Bedingungen diktieren, deren
Annahme er sich wünsche. Die Beziehungen zwischen Sieger und
Besiegtem seien dann vertraglicher Art und basierten auf den
Bestimmungen des aufgezwungenen Waffenstillstands. Ein solches
Verfahren entsprach in etwa dem, was die Briten sich vorstellten.
Die Amerikaner hatten sich solchen Planungen aber von Anfang an
widersetzt. Die Gründe waren zum einen die Sorge vor dem, wie
Chanler
es
ausdrückte,
"unumgänglichen Gezänk"
("inevitable
bickering") über die Auslegung eines solchen Vertrages und das
Ausmaß der dadurch verliehenen Machtbefugnisse. Die in Italien
gemachten Erfahrungen wirkten abschreckend. Aber auch die
Vorgänge nach dem Ende des Ersten Weltkrieges
182 Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 1; ebd.
286
waren in amerikanischen Köpfen noch immer präsent. Chanlers
zweiter Einwand gegen einen Waffenstillstand war außerdem, daß
dadurch
aus
einer
"bedingungslosen
Kapitulation"
ein
"Waffenstillstand unter Bedingungen" ("conditional armistice")
werde. Angenommen, den Deutschen werde erlaubt, das Dokument vor
der Unterzeichnung zu lesen, dann seien die Deutschen später in
der Lage, jede der enthaltenen Bestimmungen in einer Weise
auszulegen, die ihnen am vorteilhaftesten sei und zu erklären,
daß,
hätten
sie
von
der
ihnen
nun
aufgezwungenen
unterschiedlichen Auslegung gewußt, sie das Dokument niemals
unterzeichnet hätten. Ein solches Verfahren versetze sie dann in
die gleiche Situation wie 1918,
"they could claim that whatever action was
taken was in violation of the terms of
surrender. This is particularly true in the
event of partition. The present instrument
is designedly evasive on this point ..."183
Die zweite Handlungsalternative sah Chanler darin, die deutsche
Regierung zur Unterzeichnung der "bedingungslosen Kapitulation",
unter Anerkennung der vollständigen und endgültigen Niederlage,
zu zwingen. Ein solches Vorgehen, wie es die EAC-Urkunde vorsah,
statte die Alliierten mit allen Machtbefugnissen über Deutschland
aus. Fraglich waren jedoch die daraus für den deutschen Staat
resultierenden rechtlichen Folgen. Schon Jessup hatte in seinem
Juni- Memorandum von 1944 auf die Möglichkeit verwiesen, daß man
in einer solchen Vorgehensweise durchaus die Zerstörung des
deutschen Staates als Rechtssubjekt sehen könnte184.
Chanler teilte diese Ansicht, machte aber in seinem Memorandum
vom 13. Januar politische Bedenken gegen dieses Ergebnis geltend.
Während
üblicherweise
mit
der
bloßen
Einstellung
der
Feindseligkeiten der Kriegszustand selbst noch nicht endet, mußte
die Zerschlagung des deutschen Staates aber zwangsläufig auch das
Ende des Kriegszustandes
183
184
Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 3; ebd.
Vgl. oben 2. Teil, V.2.
287
bedeuten. Die sich daraus ergebenden Folgen erschienen Chanler
als zu schwerwiegend, als daß man sie als "Preis" für die
Nichtmehr-Existenz des deutschen Staates hätte hinnehmen können.
"This would involve serious consequences:
the termination of the state of war might
require the repatriation of prisoners,
would affect our position in regard to
neutrals,
and,
under
American
constitutional law, might, at least in so
far as the European theater is concerned,
terminate the President's war powers."185
Aufgrund der möglichen nachteiligen Folgen mußte für Chanler auch
dieses "Modell" einer "bedingungslosen Kapitulation", das zu
diesem Zeitpunkt aber noch voll und ganz der alliierten
Beschlußlage in Form der EAC-Urkunde vom 25. Juli 1944 entsprach,
aus den weiteren Planungen ausschei- den.
Als dritte und letzte Gestaltungsmöglichkeit der "bedingungslosen
Kapitulation" blieb für Chanler die wenige Tage zuvor von Mark D.
Howe vorgeschlagene rein
militärische Kapitulation aller
deutschen Luft-, See- und Landstreitkräfte übrig. Anders als Howe
machte sich Chanler nun auch Gedanken über die rechtlichen
Konsequenzen einer bedingungslosen militärischen Kapitulation:
"Its legal effect would be no different than if the Allies fought
until every member of the German armed forces was either killed
or captured." Dies würde bedeuten: Eroberung ("conquest"). Auf
dieser Grundlage der "Conquest" hätten die Eroberer dann
verschiedene
Möglichkeiten
der
Gestaltung
ihrer
Besatzungsherrschaft im besetzten Deutschland: zum einen, am
weitreichendsten, die Herbeiführung einer "Debellatio" durch
Annektierung oder Teilung Deutschlands und damit zwangsläufig
verbundener Vernichtung des deutschen Staates, zum anderen aber
auch kleinere Schritte zu unternehmen,
wie der Abschluß eines
Waffenstillstandsvertrages mit einer deutschen Regierung,
185 Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 5; ebd.
288
oder die völlige Besetzung Deutschlands ohne irgendeine formale
Vereinbarung, beschränkt auf die Rechte, die einem Okkupanten auf
besetztem feindlichen Gebiet in Kriegszeiten zustehen.
Dieser letzte Heg erschien Chanler in seinem Memorandum als der
empfehlenswerteste, erlaubte er doch, bis zu einer endgültigen
Entscheidung der Siegermächte über die Behandlung Deutschlands
alles in der Schwebe zu halten. Nur ein Umstand bereitete Chanler
noch Kopfzerbrechen: Bei einer solchen Entwicklung befinde man
sich aber voraussichtlich, so Chanler, bis zum Abschluß eines
Friedensvertrages oder eines anderen formal endgültigen Frieden
noch im Kriegszustand, die Alliierten seien dann auch weiterhin,
für die Zeit nach einer solchen militärischen Kapitulation, in
ihrer Behandlung Deutschlands und der Deutschen durch die Haager
und Genfer Konventionen eingeschränkt186.
Es galt nun für Chanler, eine Argumentation zu finden, die die
amerikanische Planung aus diesem Dilemma herausbringen würde. Vor
derselben Hürde befand sich zur selben Zeit auch das
amerikanische Außenministerium, das eine Antwort für Botschafter
Murphy zu formulieren hatte, dem es jedoch nicht gelang, die
Notwendigkeit
der Beachtung der Haager Landkriegsordnung
argumentativ zu entkräften, wie das Antwortschreiben an Murphy
zeigte187.
Als ungleich einfallsreicher erwies sich da schon William Chanler
in
der
Abteilung
für
Zivilangelegenheiten
(CAD)
des
Kriegsministeriums. In seinem Memorandum vom 13. Januar
1945 führte er aus:
"So far as the provisions of the Hague
Convention restrict the power of an
occupant in time of war to change the form
of government, or the laws of the occupied
country are concerned, it would seem that
these provisions could be disregarded on
the ground that the
186 Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 5 f.; ebd.
187 Vgl. 2. Teil, V.5.b.
289
Germans having engaged in an unlawful war
in violation of its treaty obligations,
both under the Kellogg Pact and under the
various
nonaggression
Pacts
with
Czechoslovakia, Poland, Russia, etc., had
forfeited
its
position
as
lawful
belligerent and therefore was not entitled
to the benefits of protection
under
the
Hague
188
Convention."
Darüber hinaus bot er auch noch einen zweiten Begründungsversuch
an, den er selbst als "sound legal argument" bezeichnete: Nach
"Conquest", aber vor der eigentlichen "Subjugation", seien die
Vorschriften der Haager Konvention schon allein deshalb nicht
anwendbar, da die ihr zugrundeliegende Idee im besetzten Gebiet
nicht mehr gegeben sei: Grundlage der HLKO sei der Gedanke, daß
die Besetzung, während der Krieg fortgesetzt werde, lediglich
vorübergehend und mit ungewissem Ausgang sei. Die meisten HLKOVorschriften seien entworfen worden, um zu verhindern, daß ein
solcher vorübergehender Besetzer Maßnahmen ergreife, die das Land
auf Dauer beeinträchtigten. Sei aber erst einmal "Conquest"
eingetreten, fänden diese Gesichtspunkte keine Anwendbarkeit
mehr. Anhand dieser Überlegungen kam Chanler zu dem Ergebnis, die
Alliierten könnten ohne weiteres weitreichende Maßnahmen bei der
Behandlung Deutschlands und des deutschen Volkes ergreifen,
"without too serious concern regarding the specific provisions of
the Hague Convention."189
Etwas anders schätzte Chanler jedoch die Situation hinsichtlich
der Anwendung der Genfer Konvention auf die deutschen
Kriegsgefangenen ein. Er bezeichnete es als äußerst unklug, die
deutschen
Kriegsgefangenen
nicht
nach
der
Kriegsgefangenenkonvention von 1929 zu behandeln, da dies den
Japanern
als
Verbündeten
Deutschlands
als
Vorwand
für
Repressalien gegen amerikanische Kriegsgefangene dienen könnte.
Weiterhin, so Chanler, sei es auch im eigenen Interesse der
Briten und Amerikaner, die Genfer Konvention zu
188
189
290
Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 6; ebd.
Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 6 ff.; ebd.
befolgen, für den Fall, daß in zukünftigen Kriegen auch die
eigenen Soldaten vom Gegner als Kriegsgefangene genommen würden.
Andererseits, das wußte auch Chanler, mußte es bei einer solchen
Haltung
natürlich
zu
rechtlichen
Schwierigkeiten
kommen,
insbesondere im Zusammenhang mit dem Vorschlag, deutsche Soldaten
und Offiziere als Arbeits-Bataillone zu verwenden,
"without giving them the benefit of the
Geneva Convention. So far as privates and
noncommissioned officers are concerned, the
issue
arises
primarily
from
the
requirements of the Geneva Convention
190
regarding their food and pay."
So weit davon deutsche Offiziere betroffen wären, dürften sie
keinesfalls zu Arbeitsleistungen herangezogen werden. Dies sollte
jedoch nicht gelten für SS-Offiziere und Mitglieder der Junker'
military caste", bei denen Chanler sich dafür aussprach, sie als
"Anstifter eines illegalen Krieges" ("instigators of an unlawful
war") anzuklagen und sie zu Leistungen in Arbeits-Bataillonen zu
verurteilen, "either as punishment or in pursuance of a general
program to 'demilitarize' Germany". Chanler war der Meinung, eine
Entmilitarisierung Deutschlands sei so lange unmöglich, wie
entweder die SS-Offiziere oder die "professional German Junkers",
von denen er aber nicht sagte, wen er darunter verstand, sich
weiter in Freiheit befänden. Von dieser Handhabung versprach er
sich
die
Möglichkeit,
sie
aus
der
KriegsgefangenenKlassifizierung herauszunehmen (" ... to take them out of the
classification of 'prisoners of war'").
Soweit die Mannschaften betroffen wären, hielt es Chanler für die
"beste Lösung", die Kriegsgefangenen aus ihrem völkerrechtlich
abgesicherten Status zu "entlassen" ("... to discharge them as
prisoners of war ..."), um aus diesen dann Arbeits-Bataillone zu
bilden, mit denen man die von
190 Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 8; ebd.
291
deutschen Truppen zerstörten Gegenden wieder aufbauen wollte191.
Der
Gedanke,
daß
der
Kriegsgefangenen-Status
eine
völkerrechtliche Stellung darstellt, die nicht zur Disposition
des Gewahrsamsstaates steht, scheint Chanler
192
nicht gekommen zu sein192.
Chanlers Memorandum vom 13. Januar 1945 war, obwohl sich der
Krieg bereits mit großen Schritten seinem Ende näherte, einer der
ersten Versuche eines Angehörigen einer der Planungsbehörden der
amerikanischen Regierung, konkret: des Kriegsministeriums, die
völkerrechtliche Situation im zu besetzenden Deutschland unter
Ausnutzung der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation bei
Abwägung
unterschiedlicher
Gestaltungsmöglichkeiten
rechtskonstruktiv zu erfassen. Dabei geriet er allerdings in eine
Zwickmühle: Die Anwendung des EAC-Ermächtigungsdokumentes vom 25.
Juli 1944 bedeutete nach seiner Einschätzung die Zerschlagung des
deutschen Staates, der Gebrauch einer rein militärischen
Kapitulation hätte die weitere Bindung an die HLKO und Genfer
Konvention
zur
Folge
gehabt,
das
Aufzwingen
eines
Waffenstillstandsvertrages
hätte
aus
der
bedingungslosen
Kapitulation
einen
Waffenstillstand
mit
bestimmtem,
auslegungsfähigem Inhalt gemacht. Keines dieser drei Ergebnisse
paßte ins politische Konzept der amerikanischen Planungsgruppen.
Jede dieser Folgen wollte man umgehen und dennoch an das
Völkerrecht nicht gebunden sein.
a. Memorandum von Mark D. Howe vom 13. Januar 1945. Zeitgleich
mit William Chanler legte auch Mark D. Howe, fünf Tage nach
seiner ersten Denkschrift, ein neues Memorandum vor, in dem er
sich wie Chanler mit den möglichen rechtlichen Folgen einer
bedingungslosen
Kapitulation
beschäftigte193.
Das
EACKapitulations-Dokument spielte auch bei Howes Überlegungen, wie
schon bei Chanler, keine zentrale Rolle. Vielmehr stand die Frage
im Vordergrund, welche
191
192
193
292
Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 8 f.; ebd.
Vgl. dazu aber die eindeutigen Aussagen des Judge Advocate
General, oben, 2. Teil, IV.3.c.-d.
Mark D. Howe, Memorandum, "Subject: Legal Consequences of
Unconditional Surrender", 13.01.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany
Surrender or Defeat
staats- und völkerrechtlichen Konsequenzen die bedingungslose
Kapitulation möglicherweise auslösen werde, wobei er unter
bedingungsloser Kapitulation, ähnlich wie Jessup und Chanler, die
vollständige militärische Niederwerfung des Gegners und die
Besetzung dessen Territoriums verstand, ohne daß es auf die
Unterzeichnung
irgendeines
entsprechenden
Dokumentes
von
militärischer oder politischer deutscher Seite angekommen wäre.
Auch Howe sah sich vor die Frage gestellt, ob diese Situation
völkerrechtlich lediglich als "Conquest" oder aber schon als
"Subjugation" zu erfassen sei. "Subjugation" und "Debellatio"
waren für ihn dabei identische Begriffe, die denselben
rechtlichen Zustand, nämlich die Zerstörung des deutschen Staates
bedeuteten. Die Antwort lag für Howe vor allem im politischen
Wollen der Alliierten begründet, und in deren Bereitschaft, ihre
rechtsgestaltenden Möglichkeiten wahrzunehmen:
"... it must be remembered that at all
times the victors are the masters of the
situation. Though they may initially prefer
to say that the result of unconditional
surrender is mere conquest, the conqueror
in occupation has the power and right to
turn the conquest into subjugation at any
time when that course seems desirable."194
Howe machte sich in seinem Memorandum erneut dafür stark, eine
militärische Kapitulation einer auf Regierungsebene vorzuziehen.
Er versprach sich davon, etwaige rechtliche Unklarheiten auf ein
Minimum zu beschränken. Wie Chanler sah auch Howe die Gefahr, daß
eine Kapitulationserklärung der deutschen Regierung rechtlich als
"Subjugation"
aufgefaßt
werden
müsste,
mit
allen
damit
verbundenen Konsequenzen. Eine militärische Kapitulation würde
demgegenüber lediglich zu "Conquest" führen und den Alliierten
die Entscheidung Vorbehalten, durch entsprechende Proklamationen
eine "Subjugation" herbeizuführen195. Auch bei der Abwägung der
mit "Conquest" oder "Subjugation" verbundenen politi-
194
195
Howe-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 5; ebd.
Howe-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 9; ebd.
293
sehen Vor- und Nachteile gelangte Howe zu einer Bevorzugung einer
zunächst rein militärischen Niederwerfung des deutschen Gegners.
Selbst den "Vorteil", im Fall einer "Subjugation" nicht an die
HLKO und an die Genfer Konvention gebunden zu sein, glaubte er
aufgrund
der
vielen
weitreichenden
Konsequenzen
einer
"Subjugation", die auch Chanler bereits aufgefallen waren,
vernachlässigen zu können. Die aus amerikanischer Sicht sich als
"Nachteil" darstellende Bindung an das Völkerrecht bei einer
bloßen "Conquest" versuchte auch Howe unter Hinweis auf den
Briand-Kellogg-Pakt zu umgehen:
"It seems scarcely possible, however, that
the Allied authorities will feel that a
nation which by waging a war of aggression
violated the Kellogg-Pact and became an
unlawful belligerent is entitled to be
protected against all departures from the
provisions of the Hague Rules."196
Wo die Rechtsfolge einer Nichtbindung an die HLKO und andere
Völkerrechtssätze in diesem Pakt ausgesprochen worden wäre, wußte
allerdings auch Howe nicht zu sagen. Für ihn war allein wichtig,
daß dieses vermeintliche Argument es erlaubte, die Ziele der
Alliierten rücksichts- und schrankenlos durchzuführen. Die
schwierigen Fragen könnten auf keinen Fall gelöst werden, indem
man einfach auf das geschriebene Recht verweise. Was das bedeuten
würde, machte er an illustrativen Beispielen deutlich:
"The problem of whether Germans should be
compelled to clear the minefields laid by
them in France, the question of whether
forced labor in Russia is to be required of
Germans - these are matters which must in
any case be decided without substantial
reliance upon the Hague Rules."197
Dies konnte nur eines bedeuten: Rechtlosigkeit der deutschen
Soldaten und Zivilisten, zwischen denen Howe offensichtlich nicht
unterschied, und ihre völkerrechtswidrige
196
197
294
Howe-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 11; ebd.
Howe-Memorandum, 13.1.1945, ebd.
Verwendung (unter anderen wegen Verstoß gegen Artikel 32 GK,
gefährliche
Arbeiten)
im
Minenräumdienst
und
in
Zwangsarbeitseinheiten. Eine strikte Befolgung der HLKO war für
Howe "most impolitic and inadvisable" und stoße nach seiner
Überzeugung bei Russen und Franzosen auf wenig Verständnis198.
V.
7. Erörterung der völkerrechtlichen Problematik mit anderen
Ministerien
Bei der Abwägung zwischen einer "Conquest" und einer "Subjugation" stützte auch eine realpolitische Einschätzung der am
Ende der Feindseligkeiten möglicherweise vorzufindenden Lage die
Ansicht, es werde sich dabei lediglich um "Con- quest" handeln.
Die amerikanischen Planer, ähnlich denen in der EAC, gingen seit
der Jahreswende 1944/45 und fortschreitender Kriegsentwicklung
mit schon absehbarem Ende zunehmend von der Annahme aus, daß dann
womöglich eine deutsche Regierung gar nicht mehr vorhanden sei,
folglich auch die Machtbefugnisse, die eigentlich durch die
entsprechende schriftliche Erklärung von der deutschen Regierung
auf die Alliierten übertragen werden sollten (um dadurch
vielleicht sogar eine "Subjugation" herbeizuführen), diesen dann
nicht zur Verfügung stehen würden199.
a. Memorandum von William Malkin vom 18. Januar 1945. Die erste
ausführliche Auseinandersetzung mit den bei einer solchen
Konstellation auftauchenden Fragen stammt vom Rechtsberater des
britischen Foreign Office, Herbert William Malkin. In seinem
Memorandum vom 18. Januar 1945200
198
199
Howe-Memorandum, 13.1.1945, ebd.
Vgl. den Entwurf eines Memorandums von Col. W. M. Chanler, "Subject:
Legal Consequences of Unconditional Surrender", 15.01.1945; RG 107
ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat, in dem Chanler erneut das
Problem anschnitt, daß dann das Völkerrecht in Form der HLKO und der
Genfer Konvention weiterhin anwendbar wäre. Anders als in seinem
zwei Tage vorher erstellten Memorandum machte er sich diesmal für
keine spezifische "Lösung" stark, auch nicht für die über den
Briand-Kellogg-Pakt.
200
H.W. Malkin, "Memorandum on the Position if there is no
'Instrument of Surrender'", 18.01.1945; RG 107 ASW 387.4
295
setzte sich Malkin gezielt mit der These seines Landsmannes
Andrew Clark vom 16. Dezember 1944201 auseinander, daß die
einseitige Erklärung seitens der Alliierten, man übernehme die
"supreme authority" mit allen Befugnissen der deutschen
Regierung, des Oberkommandos der Wehrmacht und aller anderen
staatlichen oder örtlichen Einrichtungen, die Zerstörung des
deutschen Staates und die (ungewollte) Übernahme der Souveränität
durch die Alliierten bedeute. Wenn man nur die Wahl habe, so
Malkin, zwischen Übernahme der Souveränität über Deutschland
einerseits oder aber der Bindung an die Rechte, die einem
Besetzer unter dem Kriegsvölkerrecht zuständen, andererseits,
dann sei die Lage "plainly a very serious one". Denn Souveränität
über Deutschland sei nur dadurch zu erreichen, indem man
Deutschland annektiere. Das aber bedeute zwangsläufig, daß
Deutschland nicht nur aufhöre als unabhängiger Staat zu
existieren, sondern daß auf dem ganzen zu Deutschland zählenden
Territorium nirgendwo mehr ein unabhängiger Staat bestehe,
abgesehen von Österreich, das man als eigenständigen Staat
wiederherzustellen gedachte. Malkin stellte dazu fest:
"Such a position certainly would not
correspondend with the intentions and
desires of the Allies. It has never, so far
as I knew, been suggested that one result
of our victory is to be the disappearance
of German independence; partitition is no
doubt a possibility, but this would be a
partitition
into
several
independent
sovereign states."202
Malkins Ansatz für einen eigenen Lösungsversuch bestand darin,
das "Entweder - Oder", das zwischen "Conquest" und
201
202
296
Germany - Surrender or Defeat; RG 260/OMGUS AGTS/89/4,
POLAD/728/32; RL Ch. Fahy Papers, Box Nr. 65; Ein Überblick über
die völkerrechtliche Planung der Briten findet sich in F.S.V.
Donnison, Civil Affairs and Military Government: N.W. Europe
1944-46, S. 130 ff. Demnach war das Malkin-Memorandum vom 18.
Januar 1945 die Grundlage für die Einschätzung der
völkerrechtlichen Lage durch die britische Regierung. Eine
Diskussion ähnlich der in Washington scheint es in London nicht
gegeben zu haben.
Vgl. oben 2. Teil, V.4.
Malkin-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 2; ebd.
"Debellatio" ("Subjugation") besteht und das jeweils ganz
konkrete Rechtsfolgen nach sich zieht, nicht anzuerkennen. Er
suchte einen Mittelweg ("halfway house"), der es den Alliierten
erlauben sollte, die Vorteile von "Conquest" (keine Zerstörung
Deutschlands als selbständiger Staat) und "Debellatio" (keine
Bindung an die völkerrechtlichen Besatzungsnormen) zu genießen
und gleichzeitig den Nachteilen von "Conquest" (Bindung an das
Völkerrecht) und "Debellatio" (Zerstörung des deutschen Staates)
aus dem Weg zu gehen; eine "Rosinentheorie" war zu entwerfen, ein
besatzungsrechtliches Novum zu schaffen.
Während Clark davon ausgegangen war, daß die Alliierten die
Souveränität in Deutschland nicht nur ausübten, sondern auch
deren Inhaber seien, unterschied Malkin grundsätzlich zwischen
Souveränitäts-Inhaberschaft
und
SouveränitätsAusübung
hinsichtlich einzelner oder sogar aller mit der Souveränität
verbundener
Rechte.
Im
Regelfall
würden
solche
Rechte
selbstverständlich vom Inhaber der Souveränität ausgeübt. Es gebe
aber auch bestimmte Fälle, in denen die Souveränität über ein
Gebiet bei einem Staat liege, während die aus dieser Souveränität
resultierenden Rechte von einem anderen Staat ausgeübt würden203.
Auch sei eine solche Konstellation ähnlich dem üblichen Fall
einer "occupatio bellica", bei der der Staat, dem das besetzte
Gebiet gehöre, an der Ausübung dieser Souveränität gehindert sei,
während nach Artikel 43 HLKO "the authority of legitimate power
has actually passed into the hands of the occupant". Zur Ausübung
dieser Autorität sei aber eine Übernahme der Souveränität nicht
notwendig204.
Wenn
schon
die
Souveränität,
wie
auch
die
Ausübung
der
Souveränitätsrechte Uber Deutschland, durch einen einseitigen Akt
der Annektierung von den Alliierten erworben werden
203
204
Als Beispiele eines solchen Auseinanderfallens der SouveränitätsInhaberschaft und -Ausübung führte Malkin die
britische Verwaltung auf Zypern von 1878 bis 1914 an und den
Status von Hong Kong, Malkin-Memorandum, Abs. Nr. 3; ebd.
Malkin-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 5; ebd.
297
könnte, was auch Clark zugestanden hatte, dann, so meinte Malkin,
könne er keinen logischen Grund sehen, "why the latter without
the former could not be acquired unilaterally; the greater must
surely include the less"205.
Dieser auf den ersten Blick so verblüffend einfache und scheinbar
einleuchtende Gedanke, das "argumentum a maiore ad minus", daß
die Alliierten, wenn sie schon das ganze Deutschland annektieren
dürften, erst recht berechtigt seien, geringfügigere Eingriffe
vorzunehmen, also unter anderem auch die Souveränität oder
einzelne Souveränitätsrechte ohne Rücksicht auf das Völkerrecht
ausüben zu können, ging jedoch an der Tatsache vorbei, daß
zwischen Souveränitätsübernahme durch Annexion eines Gebietes und
Souveränitätsübernahme
bzw.
bloße
Ausübung
von
Souveränitätsrechten ohne Gebietsanschluß kein Verhältnis des
"Mehr-oder-Weniger" besteht, sondern zwischen einer durch die
Annektierung herbeigeführten "Subjugation" und einer "occupatio
bellica" das Verhältnis des "Entweder- Oder" herrscht. Grundlage
der
"Rosinentheorie"
Malkins
war
somit
eine
Verkennung
rechtlicher Tatsachen. Diese Theorie erschien den Planern nicht
nur im britischen Außenministerium, sondern auch in den
amerikanischen
Stäben
und
Abteilungen
aufgrund
ihrer
vordergründigen Plausibilität und der mit ihr verbundenen
politischen
Zweckerreichung
jedoch
als
vermeintlich
so
überzeugend, daß ihr in den Köpfen dieser Leute, wie auch in den
von diesen verfaßten Memoranden, noch ein langes Leben sicher
war.
Malkin scheint von seiner Argumentation jedoch selbst nicht
besonders angetan gewesen zu sein. Er sah es nämlich als
notwendig an, noch eine weitere These in den Raum zu stellen. Die
Fähigkeit des Völkerrechts, sich unter veränderten Umständen zu
wandeln und weiterzuentwickeln, wurde von Malkin noch zusätzlich
ins Feld geführt. Auch im Fall Deutschlands, so glaubte er
vorausschauend sagen zu können, werde sich eine Lage ergeben, mit
der das Völkerrecht erstmalig zu tun habe:
205 Malkin-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 7; ebd.
298
"A large first-class power has been
completely defeated, and its territory
overrun.
Its government has
dissappeared, and there is no prospect of
one
being
established
for
a
very
considerable period. If the country is not
to sink into anarchy and chaos the
victorious
Allies
must
assume
its
government, because nobody else is in a
206
position to do so."
Es sei deshalb im allgemeinen Interesse, und nicht zuletzt auch
in dem des deutschen Volkes, wenn die Alliierten die Verwaltung
des Landes übernähmen. Und indem sie das täten, "they must
exercise practically the whole of the sovereign rights of the
German Government"207. Malkin kam vor diesem Hintergrund zu dem
Ergebnis:
"I consider, therefore, that the Allies
would be justified in assuming the exercise
of all the powers of the German Government
which are necessary for the task before
them, and that if they did so it would in
due course be recognized that there had
been a development of international law to
meet a new situation."208
Das, was Malkin dabei unter "Entwicklung im Völkerrecht" in
Anbetracht einer angeblich neuen, vorher niemals dagewesenen
Okkupationslage verstand, war bei Licht betrachtet jedoch nichts
anderes als die Situation, die immer dann existiert, wenn ein
Kriegführender auf das Gebiet des anderen eindringt und diesem
dadurch die Möglichkeit nimmt, in diesem Gebiet seine Souveränitätsrechte auszuüben. Gerade dies war und ist der typische Fall,
in dem die HLKO zur Anwendung gelangt und insbesondere dem
Besatzer ausreichende Befugnisse erteilt, um für Ruhe und Ordnung
in diesem Territorium zu sorgen, indem er geeignete Maßnahmen
gegen eine mögliche Anarchie und gegen Chaos ergreift. Der
einzige Unterschied zwischen einer solchen "occupatio bellica"
und der von Malkin
206
207
208
Malkin-Memorandum, 13.1.1945, ebd.
Malkin-Memorandum, 13.1.1945, ebd.
Malkin-Memorandum, 13.1.1945, ebd.
299
prophezeiten Lage war der, daß bei einer kriegerischen Besetzung
jederzeit die zumindest theoretische Möglichkeit besteht, daß der
eigentliche Souverän das besetzte Gebiet zurückerobert. Diese
Entwicklung war jedoch nach der vollständigen militärischen
Niederwerfung des Gegners und der Nichtmehrexistenz einer
deutschen Regierung nicht mehr zu erwarten.
Um für den Fall der einseitigen Erklärung einer Übernahme
der "supreme authority with respect to Germany" keinen
Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß dies nicht die
Zerstörung Deutschlands als Staatsgebilde zur Folge habe,
machte Malkin außerdem den Vorschlag, in diese Erklärung
einen Passus aufzunehmen, demnach die Alliierten "did not
propose to annex Germany or destroy its existence as an
independent sovereign state". Der konkrete Wortlaut sei
davon abhängig, welche Entscheidung zur möglichen Teilung
Deutschlands getroffen werde. Unter allen Umständen sei es
aber notwendig, alle Machtbefugnisse der deutschen
Regierung zu übernehmen ("... to assume all the powers of
the German Government").
209
William Chanler wendet sich an John J. McCloy. Am 3. Februar
1945 informierte Chanler erstmalig John J. McCloy über den
bisherigen
Stand
der
vorangegangenen
Überlegungen
und
Entscheidungen zur Gestaltung der völkerrechtlichen Situation in
Deutschland, eine, wie Chanler sich ausdrückte, "fundamental
question of policy"210. Er mußte dem für die Deutschland- und
Besatzungsfragen
zuständigen
Unterstaatssekretär
im
Kriegsministerium eingestehen, daß bis dahin noch keinerlei
Klärung der möglichen völkerrechtlichen Konsequenzen vorgenommen
wurde, weder in den amerikanischen Behörden und schon gar nicht
bei der EAC. Denn schon in der Frage, welche Funktion dem EACKapitulationsentwurf zukomme, hatte sich in der EAC keine
Übereinstimmung erzielen lassen. Während die Briten dieses
a.
209
210
300
Malkin-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 11, ebd.
W. Chanler, "Memorandum for Mr. McCloy: Subject: Legal Consequences
of Unconditional Surrender", 03.02.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany surrender or Defeat
Dokument als das entscheidende ansahen, durch dessen Inhalt, nach
Unterzeichnung durch die deutsche Regierung, die Rechte der
Alliierten in Deutschland nicht nur über die HLKO hinaus
spezifisch erweitert, sondern gleichzeitig auch begrenzt werden
sollten,
kam
es
für
die
Amerikaner
nur
auf
den
Kapitulationsvorgang an sich an, von dem sie sich (gedacht als
"Conquest" oder "Subjugation") die Grundlage für eine nicht
limitierte Machtfülle versprachen.
In der Einschätzung der zukünftigen Rechtslage in Deutschland
durch die USGCC, die Murphy nach Washington weitergeleitet hatte
, machte Chanler gegenüber McCloy den Einfluß der britischen
Hartnäckigkeit ("British insistence") aus, die noch immer darauf
beharrten, daß die alliierten Befugnisse nur auf einem
vertraglichen Ursprung beruhen könnten ("... upon a contractual
source of authority").
"They (die Briten, d. Verf.) appear to be
relying upon the language of the instrument
of surrender itself as constituting a
'waiver'. This gives rise to a serious
question as to whether that language is
appropiate to accomplish such a purpose. It
would seem better to adhere to the U.S.
position that our authority arises by
operation of law, from the fact of
surrender, and to omit any reliance upon a
theory of 'waiver'. This further illustrate
the necessity of obtaining a clarification
of the legal basis of the U.S. position."211
Weder die Theorie, bedingungslose Kapitulation führe zu einer
"Conquest", noch die Annahme einer dadurch herbeigeführten
"Subjugation", so teilte Chanler McCloy weiter mit, seien völlig
zufriedenstellend ("... entirely satisfactory"). Chanler mußte
jedoch zugeben, daß das traditionelle Völkerrecht zwischen diesen
beiden Situationen keinen Mittelweg kennt: "The two situations
...
211 Chanler-Memorandum, 3.2.1945, Abs. Nr. 9; ebd.
301
appear to be the only two for which there is existing legal
authority"212.
Da diese Schlußfolgerung jedoch politisch nicht akzeptierbar
schien, bot Chanler gegenüber McCloy die von William Malkin ins
Spiel gebrachte Theorie und den Briand- Kellogg-Pakt als mögliche
Lösungsversuche an. Dabei gab Chanler der "Malkin-Theorie"
absoluten Vorrang: Nach der Kapitulation, so führte Chanler aus,
müsse eine Erklärung durch die Alliierten abgegeben werden, mit
dem Inhalt, daß Deutschland ein erobertes Land sei und die
Eroberer deshalb alle Macht hätten, die Existenz als Staat zu
beenden, daß sie einen solch drastischen Schritt jedoch nicht
beabsichtigten. Eine solche Erklärung könnte dann eine Rechtslage
hervorbringen, derzufolge die Alliierten "could take all
necessary steps for the purposes indicated, without regard to
limitations of International Law or conventions". Daß dies ein
völkerrechtliches Novum darstellte, war Chanler vollkommen
bewußt:
"It is true that there is no precedent
for such a proposal ...",
aber die ganze Situation sei ohne Vorbild213, womit er seinen
Vorschlag zu untermauern suchte.
Um etwaigen Einwänden von vornherein zu begegnen, plädierte er
für Schranken, die sich die Alliierten bei ihrer Tätigkeit im
besetzten Deutschland selbst setzen sollten. Die Rechtmäßigkeit
alliierter
Maßnahmen
sei
nicht
zuerst
an
bestimmten
Präzedenzfällen zu messen, sondern daran, ob sie vernünftig
("reasonable") seien und vom Gewissen der Menschheit ("conscience
of mankind") unterstützt würden. Aber auch bei der von ihm
verfochtenen generellen Unanwendbarkeit des Haager Abkommens
stellte er eine - freiwillige - Befolgung einzelner Bestimmungen
anheim:
"It (das Haager Abkommen, d. Verf.) is
generally inapplicable, and in any
212
213
302
Chanler-Memorandum, 3.2.1945, Abs. Nr. 10 (C.);ebd.
Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd.
event, many of its provisions can be
generally complied with."214
Nur als eine Art "Hilfsbegründung", nach der "Malkin- Theorie",
wollte Chanler die Berufung auf den Briand- Kellogg-Pakt
verstehen. Er machte den Vorschlag, Deutschland wegen des
Verstoßes
gegen
diesen
Pakt
und
die
verschiedenen
Nichtangriffspakte
mit
seinen
Nachbarn
nicht
mehr
als
"rechtmäßigen Kriegführenden" ("lawful belligerent") anzusehen,
wodurch es keinen Anspruch mehr habe auf den Schutz durch
internationale Abkommen. In der Tat könne man dadurch einen
"wertvollen Präzedenzfall" ("valuable precedent") schaffen für
den künftigen Frieden in der Welt, falls die Alliierten sich auf
den Standpunkt stellten, Deutschland zu besetzen "as a punitive
measure, both to punish her for her lawless acts of aggression
and to prevent their repetition"215.
Die Vermischung politischer und völkerrechtlicher Positionen, die
in diesen Begründungsversuchen auffällt, mußte fast zwangsläufig
zur Niederlage des Völkerrechts führen. Ersetzt werden sollte
dieses Korrektiv der Machtausübung in internationalen Beziehungen
nach Chanlers Vorstellung von vagen moralischen Prinzipien und
einer lockeren, nicht rechtlichen, sondern auch lediglich
moralischen Bindung an die eine oder andere Vorschrift der HLKO,
die den politischen Zielsetzungen ohnehin nicht im Weg gestanden
hätten.
Ganz und gar problematisch wurde Chanlers Argumentation im
Hinblick auf die Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen.
Selbst wenn seine Theorie einwandfrei sei, so müsse doch alles
vermieden werden, was nach der deutschen Kapitulation von Japan
als Grund für Repressalien angeführt werden könnte. Deshalb
schlug er vor, den Kriegsgefangenen nicht per se ihren
völkerrechtlich geschützten Status abzusprechen, sondern sie
einfach nach ihrer erfolgten Repatriierung, also nach Verlust des
Kriegsgefangenen-
214
215
Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd.
Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd.
303
Status, dazu zu bestimmen, als Zwangsarbeiter tätig zu sein.
"This could probably be accomplished by
some such device as repatriating the
prisoners and thereafter directing that, as
a part of Germany's reparations, or, as a
part of the program of demilitarization,
certain members of the German armed forces,
to be selected by the Allies, will be
formed into labor batallions to reconstruct
areas devastated by the Germans ..."216
Wie sehr bei Chanler mittlerweile völkerrechtliche Grundsätze und
politische
Zielsetzungen
der
Alliierten
vermischt
und
undurchschaubar geworden waren, zeigt seine Begründung für diese
Verpflichtung zur Zwangsarbeit:
"This could be justified on the ground that
their presence in Germany would keep alive
the German militaristic philosophy which it
is our purpose to destroy."217
Wo zur Begründung solch tiefgreifender Eingriffe in die
persönliche Freiheit des einzelnen eine fundierte
völkerrechtliche Rechtfertigung notwendig gewesen wäre, zog
sich Chanler mit dem banalen Hinweis auf eines der
politischen Kriegsziele der Alliierten aus der Affäre. Beim
deutschen Offizierskorps hielt er es für möglich, daß es
komplett für schuldig befunden werde, zu einem
Aggressionskrieg angestiftet zu haben. "They could then be
218
sentenced as a body to serve in labor batallions."
Auch
bei
der
Bezahlung
und
Ernährung
der
in
den
Arbeitsbataillonen
eingesetzten
deutschen
Kriegsgefangenen219
schlug Chanler Modifikationen vor. Es erschien
216
217
218
219
304
Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd.
Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd.
Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd.
Obwohl Chanler die Kriegsgefangenen zunächst repatriieren wollte, um
dadurch den Anforderungen der Genfer Konvention bei der erst danach
erfolgenden Zwangsarbeitsverpflichtung zu entgehen, sprach er
dennoch auch hinsichtlich dieser Personen im weiteren immer noch von
"Kriegsgefangenen".
ihm zweifelhaft, ob die Länder, die deutsche Zwangsarbeiter
erhalten sollten, gewillt seien, diese in Übereinstimmung mit der
Genfer Konvention bei der Bezahlung und Ernährung zu behandeln.
Bezahlung sei aber nicht ein so großes Problem wie es auf den
ersten Blick erscheine, da man mit alliiertem Militärgeld
entlohnen und diese Beträge dann Deutschland als Teil der
verlangten Reparationen auferlegen könne. Die Vorschrift der
Genfer Konvention, wonach die Kriegsgefangenen ebenso verpflegt
werden müßten wie die Soldaten des Gewahrsamsstaates, sei
aufgrund der unvermeidbaren Lebensmittelknappheit eine sehr
ernste Frage. Chanlers knappe und aufschlußreiche Antwort
lautete:
"However,
it
would
seem
that
the
intermediate step of repatriation would
meet the problem."220
Damit konnte nur gemeint sein: Aufgrund der zwischenzeitlichen
Repatriierung
würden
die
deutschen
Soldaten
ihren
Kriegsgefangenenstatus verlieren und eine Verpflegung nach den
Anforderungen der Genfer Konvention sich erübrigen. Über einen
vielleicht auch aus moralischen Gründen zu gewährleistenden
Mindeststandard machte Chanler keine Angaben.
c. Memorandum des Finanzministeriums. Anfang Februar 1945
schaltete sich auch Finanzminister Henry Morgenthau jr. ein. In
seinem Auftrag hatte Joseph O'Connell vier Tage vorher eine
Denkschrift erstellt, die dann in sprachlich leicht veränderter,
inhaltlich aber gleichgebliebener Form John J. McCloy zugestellt
wurde221. Schon der Ansatzpunkt dieses Memorandums war, verglichen
mit
den
bis
dahin
erstellten,
ein
gänzlich
anderer.
Berührungspunkte gab es zum Teil mit dem Malkin-Memorandum. Den
Verfasser interessierte nicht das, was in den Völkerrechts-Normen
220
221
Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd.
"Memorandum from Mr. O'Connell, General Counsel of the
Treasury Department, to the Secretary of the Treasury",
30.01.1945, RG 165 CAD 014 Germany (07-10-42) (1) Sec. 11; das
endgültige Memorandum hat keine Überschrift und kein Datum, befindet
sich in RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat.
305
positiv zum Ausdruck kam, sondern vielmehr die gesetzlichen
Lücken ("... there are numerous loopholes with respect to those
areas which are covered in a general way"), die er besonders im
Völkerrecht ausmachte. Selbst bestehende Rechtssätze sollten
nicht ohne weiteres Anwendung finden, sondern erst nach einer
Überprüfung des Ursprungs dieser Norm und der Vertretbarkeit des
Ergebnisses der Normanwendung vor dem Hintergrund allgemeiner
Gerechtigkeits- und Moralitätserwägungen:
"A proper approach in applying an existing
rule entails a careful examination of its
origin to see whether it was intended to
cover the immediate situation, whether the
result makes sense in the light of presentday
realities,
and
whether
the
end
accomplished is consistent with justice and
morality. ... If the application of a rule
to a new type of problem would not meet
with
the
same
approval,
then
the
application
of
the
rule
would
be
222
improper."
An dessen Stelle sollten dann, so die Vorstellung O'Connells, die
notwendigen Entscheidungen in einer Art und Weise getroffen
werden, die in Übereinstimmung sei mit den "ethical, moral and
humane
principles
recognized
by
civilized
men".
Die
Verantwortlichkeit der Vereinten Nationen bewertete er in diesem
Zusammenhang sehr hoch, aber nicht bezüglich der Umsetzung des
Völkerrechts,
sondern
zur
Verwirklichung
der
alliierten
Kriegsziele:
"The responsibility of the United Nations
in this respect is a heavy one.
It must not be discharged with primary
emphasis on the technical construction of
obsolete rules of conduct, but, on the
contrary, it must be discharged with due
regard to achieving the goals for which
this war is being fought."223
Die Nichtanwendbarkeit des Völkerrechts im Falle Deutschlands
versuchte O'Connell mit zwei unterschiedlichen
222
223
306
Treasury-Memorandum, 30.1.1945, S. 3; ebd.
Treasury-Memorandum, 30.1.1945, S. 9; ebd.
Argumentationsmustern zu belegen. Er ging zunächst von der
Feststellung aus, daß der Sieger im Regelfall seine Ziele, für
deren Durchsetzung er den Krieg geführt hatte, dem Verlierer
unter
Druck,
militärisch
oder
politisch,
in
den
Waffenstillstands- oder Friedensvertrag diktiere, ohne daß dies
zur Unwirksamkeit des Vertrages führte. Der zweite mögliche Heg,
den die Sieger beschreiten könnten, sei die Annektierung
Deutschlands. Da eine Annexion Deutschlands und die damit
verbundene Zerschlagung als Staatsgebilde aber politisch nicht
erwünscht
war,
blieb
lediglich
der
Weg
Uber
einen
Waffenstillstands- oder Friedensvertrag. Dies setzte jedoch
voraus, daß dann überhaupt noch eine deutsche - zur Unterschrift
bereite - Regierung existierte. Das erschien den Planern aber als
zunehmend unwahrscheinlich.
Den Ausweg aus dieser prekären Lage suchte O'Connell durch die
besondere Be- und Überbetonung der Machtvollkommenheit des
Siegers zu erreichen. Die bisherige völkerrechtliche Auffassung,
daß die beiderseitigen Rechte und Pflichten von Siegern und
Besiegten aus einem Waffenstillstands- bzw. Friedensvertrag sich
gerade aus dem Vertragscharakter dieser Dokumente ergibt, und daß
die vom Sieger in solchen Fällen regelmäßig verwendeten
Zwangsmittel diesen Vertrag, anders als im innerstaatlichen
Recht, in seiner Wirksamkeit unberührt lassen, wurde von
O'Connell ins Gegenteil verkehrt: Das allein entscheidende sollte
die Machtvollkommenheit des Siegers sein, der gegenüber die
Vertragsqualität von Waffenstillstand und Friedensvertrag für
O'Connell lediglich als - nicht zu berücksichtigender Formalismus erschien. War die rechtliche Bedeutung der Anwendung
von Zwangsmitteln bisher nur darin gesehen worden, daß ihnen im
Hinblick auf die Wirksamkeit des Vertrages gerade keine Bedeutung
zukam, so erhielten sie bei O'Connell eine Art rechtserzeugende
Wirkung:
"... the historical methods of achieving
war aims are obviously not legal limits but
only manifestations of the general rule
that legitimate war objectives can be
attained through the
307
imposition upon the defeated nation
approbiate terms and punishments.”224
of
Keine Ausführungen machte O'Connell darüber, woraus sich die
"Rechtmäßigkeit" der Kriegsziele ("legitimate war objectives")
ergab, wenn nicht aus ihrer Kongruenz mit dem Völkerrecht. Das
aber wollte er durch seinen Schluß von der Faktizität alliierter
Machtausübung auf deren Normativität ausschalten. Eine andere
Rechtsordnung, an der sich die Rechtmäßigkeit von Kriegszielen
bestimmen läßt, gibt es jedoch in internationalen Beziehungen
neben
dem
Völkerrecht
nicht.
Seine
äußerst
fragwürdige
Argumentation führte O'Connell zu dem Ergebnis:
"There
is,
therefore,
nothing
in
international law that would prohibit the
use of military occupation, or any other
measures, to impose appropiate terms and
punishments on Germany in order to prevent
further aggressions against peace-loving
nations."225
O'Connells zweites Argumentationsmuster befaßte sich mit den
deutschen Vertragsverletzungen gegenüber dem Briand- Kellogg-Pakt
und dem Haager Abkommen. Auch hätten die Deutschen sich keine
Mühe
gegeben,
um
mit
einem
Grad
an
Kriegsführung
übereinzustimmen, der in der öffentlichen Meinung der ganzen Welt
Zustimmung finde.
"Accordingly, they have lost the right to
be treated as belligerents, they have
established grounds for retaliation and
they are not in a position to contest, or
even discuss, the measures which will be
taken by the United Nations."226
Das einzige, worauf die Deutschen überhaupt noch Anspruch hätten,
sei eine "menschliche Behandlung". Die Amerikaner müßten deshalb
lediglich "observe those moral principles which are the
foundation of our own civilization." Gewöhnlich sei dies eine
einfache Angelegenheit, da der
224
225
226
308
Treasury-Memorandum, 30.1.1945, S. I4;ebd.
Treasury-Memorandum, 30.1.1945, ebd.
Treasury-Memorandum, 30.1.1945, ebd.
durchschnittliche Amerikaner es gewohnt sei, Entscheidungen zu
treffen, bei denen er diese Grundsätze bedenke. Es seien aber
auch neue Situationen wahrscheinlich, bei denen nur schwer
herauszufinden sei, was die Moralität in diesem Fall fordere. Der
sichere Weg sei dann das Vertrauen in die Erklärungen der Führer
der Regierungen der Vereinten Nationen. Deren Äußerungen
verkörperten im allgemeinen die öffentliche Meinung, wie sie sich
in der Regierungsplanung und -tätigkeit herauskristallisiere. Die
Moral sollte somit die Rolle spielen, die eigentlich dem
Völkerrecht zugedacht war: nämlich Schranken aufzustellen, um
eine willkürliche Machtausübung zu verhindern.
"Since moral principles are in essence the
Standards of conduct accepted by the great
bulk of civilized peoples, it would be
impossible to find a more accurate source.
— The Problem is one of conscience not of
law."227
Im folgenden versuchte O'Connell, dieses Ergebnis zu belegen.
Weil der Briand-Kellogg-Pakt in seinem Wortlaut nicht einen
einzigen Hinweis darauf enthält, daß ein Staat, der gegen diesen
Vertrag verstößt, seine ganzen oder auch nur einen Teil seiner
Rechte verliert, befaßte sich das Memorandum diesbezüglich vor
allem mit der Wiedergabe einseitig ausgewählter Stimmen
politischer Autoritäten der USA und von Rechtstheoretikern der
neuen, universalistischen Schule.
Insbesondere
die
Rechtfertigungen des Zerstörerhandels im September 1940 und des
Leih-Pachtabkommens
ein
Jahr
später
(mit
ihren
neutralitätsgefährdenden und -verletzenden Auswirkungen) durch
Präsident Roosevelt und die Minister Hull und Stimson wurden von
O'Connell auch dafür als Beweis angeführt, wie eine Nation, die
einen Krieg im Gegensatz zu den Bestimmungen des Briand-KelloggPaktes betreibe, ihre Rechte als Kriegführende verwirke. Eine
ähnlich große Wirkung trete auch hinsichtlich der Tätigkeiten der
Vereinten Nationen während der Besetzung Deutschlands ein.
227 Treasury-Memorandum, 30.1.1945, S. 16; ebd.
309
"He need not be blind followers of ancient
precedents in our treatment of the defeated
aggressor. He are not required to give
cognizance to legalistic arguments that
this or that 'right' of Germany is being
violated. On the contrary, the United
Nations are free to exercise their joint
ingenity in the formulation of a plan that
will
insure
the
world
against
any
repetition of the Nazi outrages, and there
will be no legal obstacles to overcome in
order to execute the plan. Germany by
attempting to dominate the whole earth has
forfeited all ,legal' rights and can only
claim what will be freely accorded without
request the observance of
humane
principles
in
the
application
of
appropriate terms and punishments."228
Nichts zeigt die zunehmende Politisierung dieser eigentlich
völkerrechtlichen Diskussion deutlicher, als die Ausführungen des
amerikanischen
Finanzministeriums.
Die
möglichen
völkerrechtlichen Ergebnisse wurden von O'Connell nicht nur, was
durchaus erlaubt ist, auf ihre Übereinstimmung mit den alliierten
Kriegszielen hinterfragt, sondern diese politischen Ziele selbst
und vage moralische Begriffe sollten das kurzerhand für nicht
mehr zeitgemäß erklärte Besatzungsvölkerrecht ersetzen und damit
dem Prozeß der völkerrechtlichen Ergebnisfindung nachhaltig im
von den Alliierten gewünschten Sinn beeinflussen. Waren aber
dadurch die politischen Ziele schon zu den Leitlinien dieses
Prozesses geworden, dann konnte am Ende als scheinbar
"rechtliche" Konsequenz immer nur stehen: Die Durchführung des
Kriegszieles ist völkerrechtlich erlaubt, ja mehr noch,
vielleicht sogar erforderlich.
V.
8. Bemühungen das "State-War-Navy-Coordinating Commitees" um
eine klare völkerrechtliche Stellungnahme
Murphys Anfragen an das US-Außenministerium vom Dezember
1944
und Januar 1945 hatten in den amerikanischen Ministerien,
die sich mit der Besatzungsplanung befaßten,
228 Treasury-Memorandum, 30.1.1945, S. 23 f.; ebd.
310
zwar
einen
erregten
Meinungsaustausch
ausgelöst.
Eine
einheitliche Auffassung hatte sich währenddessen allerdings nicht
gebildet. Vielmehr war die Lage nun noch verworrener als vorher
geworden. Hatte bis Ende 1944 die EAC- Kapitulations-Urkunde vom
25. Juli 1944 als das entscheidende Dokument gegolten, das es
ermöglichen sollte, durch die Generalklausel mit der Bestimmung
der Übernahme der "supreme authority" hinsichtlich Deutschlands
alle benötigten Befugnisse durch diese Vereinbarung mit der
deutschen Regierung derivativ zu erwerben, so waren mittlerweile
eine Fülle neuer Schwierigkeiten aufgetaucht: Das Vorhandensein
einer deutschen Regierung bei Einstellung der militärischen
Feindseligkeiten erschien nun plötzlich gar nicht mehr so sicher,
die möglichen rechtlichen Folgen einer Kapitulation auf
Regierungsebene, durch Vereinbarung mit einer deutschen Regierung
oder einseitiger alliierter Erklärung, waren politisch höchst
unerwünscht, die militärische Niederwerfung allein, ohne oder
lediglich mit einer rein militärischen Kapitulation, stattete die
Alliierten nicht mit der rechtlichen Machtvollkommenheit aus, die
sie zur rechtmäßigen Durchführung ihrer Kriegsund Friedensziele
benötigten. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht weiter,
daß man sich im Außenministerium mit einer Antwort an Murphy zeit
ließ, zumal der erste Entwurf eines Antwortschreibens die heftige
Kritik Colonel Chanlers in der CAD hervorgerufen hatte229.
Am 10. Februar ließ Murphy in einem Brief an Außenminister
Stettinius noch einmal die Notwendigkeit einer baldigen und
abschließenden Klärung der aufgeworfenen Fragen anklingen:
"There is a continuously expressed doubt in
the minds of the legal staff as to the
character of the Allied occupation of
Germany ..."230
229
230
Vgl. oben, 2. Teil, V.5.C.
R. Murphy an Secr. of State, "Subject: German Treason and
Nationality Laws", London, 10.02.1945, RG 260/OMGUS
POLAD/730/56
311
Erste Antwortentwürfe für Murphy. Am 15. Februar formulierte
das SWNCC einen Antwortentwurf an Murphy. Ein gleichlautender
Entwurf datiert außerdem vom 17. Februar231. Murphy sollte
nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß er nicht die
britische, sondern allein die amerikanische Rechtsauffassung von
bedingungsloser Kapitulation in London zu vertreten habe. Nicht
der Vertragscharakter dieses Dokumentes mit einem Verzicht
("waiver") der deutschen Regierung in Form einer bilateralen
Abmachung
sei
maßgeblich,
sondern
die
bloße
Tatsache
bedingungsloser Kapitulation.
a.
"The terms of the surrender instrument are
unilateral directions to the Germans. They
are
not
bilateral
or
contractual
undertakings
under
international law, the Allies will be in
the position of 'conquerors'. They need not
rely on any 'waiver' by Germany, but on the
fact that she will be a conquered nation.
This legal position will be taken whether
the surrender instrument is signed on
behalf of a German government or whether
fighting continues until the cessation of
all organized resistance.
In either event, Allied powers arise from
the fact of conquest.'"232
Auf der Grundlage von "conquest" habe man die Möglichkeit, durch
einseitige Erklärung Deutschland zu annektieren, zu teilen oder
zu zerschlagen. Es sei deshalb die Auffassung der Vereinigten
Staaten, daß die Alliierten völkerrechtlich auch befugt seien,
durch eine entsprechende Erklärung auch weniger drastische
Schritte unmittelbar nach der Niederlage oder Kapitulation
vorzunehmen, ohne Deutschland als Staat zu zerschlagen, ohne die
deutsche Souveränität zu
231
SWNCC, Advice to U.S. Representative in E.A.C. on Legal Consequences
of Unconditional Surrender", 15.02.1945 ("Draft"), "Enclosure - Draft
Cable to be Dispatched by State Department to Mr. Murphy"; SWNCC,
"Advice to U.S. Representative in E.A.C. on Legal Consequences of
Unconditional Surrender", 17.02.1945 ("Draft"), "Enclosure - Draft
Cable to be Dispatched by State Department to Mr. Murphy", beide
Dokumente: RG 107 387.4 ASW Germany - Surrender or Defeat
232
"Enclosure", Abs. Nr. 1; ebd.
312
übernehmen und ohne den formellen Kriegszustand zu beenden.
Dieses Resultat solle durch eine Proklamation Nr. 1 erreicht
werden. Während der Besetzung Deutschlands habe der Kontrollrat
alle für die Durchführung der alliierten Vorhaben notwendigen
Rechtsbefugnisse "regardless of any limitations contained in
international conventions or other principles of international
law ...". Die Vorschriften dieser Konventionen sollten als
"hilfreiche Ratgeber" ("helpful guides") Beachtung finden, wo
immer sie den alliierten Zielen nicht widersprächen. Abschließend
sollte Murphy aufgefordert werden, sich alle Mühe zu geben, um
von den Briten, Russen und Franzosen Zustimmung für die
amerikanische Position zu erzielen233.
Sowohl das SWNCC-Papier vom 15. als auch das vom 17. Februar 1945
rekurrierten, wie es auch im Antwortentwurf deutlich wurde, auf
die "Malkintheorie"234. Daneben fand auch noch die bis dahin
einzig und allein vom amerikanischen Völkerrechtler Feilchenfeld
1942 vertretene Auffassung Berücksichtigung, die HLKO sei nur so
lange anwendbar in besetztem feindlichen Gebiet, wie sich die
beiden Armeen der Kriegführenden gegenüberständen und ein
Waffenstillstands- oder Friedensvertrag noch nicht abgeschlossen
worden sei235. Keine ausdrückliche Erwähnung fand der BriandKellogg-Pakt. Es wurde lediglich kurz angesprochen, die Deutschen
hätten den Krieg unter Verstoß gegen die feierlichsten
Vertragspflichten ("... in violation of the most solemn treaty
obligations...") initiiert und bei seiner Durchführung das
Kriegsrecht flagrant verletzt. Sie befänden sich deshalb "in no
Position to assert legal technicalities. They do not come before
the court of public opinion with clean hands."236.
Es
wurde
erwogen,
den
momentanen
Krieg
und
die
zukünftige
Besetzung Deutschlands als eine "Sanktion" anzusehen, um
233
234
235
236
"Enclosure", Abs. Nr. 6; ebd.
Jeweils Abs. Nr. 10; ebd.
Jeweils Abs. Nr. 11 f., ebd., Feilchenfeld, The Economic
International Law of Belligerent Occupation, 1942, par. 16
SWNCC-Papier vom 15.02.1945, Abs. Nr. 16; SWNCC-Papier vom
17.02.1945, Abs. Nr. 20; ebd.
313
einen
"rechtlosen
Aggressor"
("lawless
aggressor")
und
Vertragsbrecher zu bestrafen und zu kontrollieren. Um auch ganz
sicher zu gehen, daß die ins Auge gefaßten Maßnahmen
völkerrechtlich nicht zu Beanstandungen führen würden, wurde
zudem die Möglichkeit ins Auge gefaßt, in einem endgültigen
Vertrag die bereits vorgenommenen Eingriffe von Deutschland
genehmigen zu lassen ("Germany could be made to ratify all
actions taken, if that is deemed desirable")237.
Im SWNCC war man sich durchaus bewußt, wie weit man sich mit
solchen Überlegungen von der bisherigen völkerrechtlichen Praxis
entfernte. Man rechnete deshalb auch mit scharfen Protesten aus
den Reihen der Völkerrechtler. Das kam auch im Papier vom 17.
Februar zum Ausdruck:
"To take the position that the conventions
are not binding at all after total defeat
or
unconditional
surrender
would
undoubtedly give rise to strong protests
from the international law bar. For their
writings unanimously assert that the
conventions are binding until peace is
declared. From a public relations standpoint, therefore, it would seem unwise to
take such a position unless absolutely
necessary." 238
Eine öffentliche Diskussion, ob die Vereinten Nationen in
Deutschland anerkannte Grundsätze des Völkerrechts verletzten,
würde bedauerliche Konsequenzen haben ("... would have most
unfortunate consequences"), sowohl unmittelbar wie auch in der
Zukunft. Eine solche Debatte könnte "schreckliche Folgen"
("disastrous consequences") für die alliierten Kriegsgefangenen
in japanischer Hand und für die immer noch von Japan besetzten
und mit Amerika befreundeten Länder haben239.
237
238
239
314
SWNCC-Papier vom
17.02.1945, Abs.
SWNCC-Papier vom
SWNCC-Papier vom
15.02.1945, Abs. Nr. 16; SWNCC-Papier vom
Nr. 20; ebd,
17.02.1945, Abs. Nr. 14; ebd.
17.02.1945, Abs. Nr. 14; ebd.
Um diesen Schwierigkeiten und Gefahren aus dem Weg zu gehen, war
sich das SWNCC am 17. Februar einig, daß die extreme Ansicht, das
Völkerrecht habe überhaupt keine Bindungskraft mehr für die
Alliierten, vermieden werden müsse. Eine solche weitreichende
Position wurde als gar nicht notwendig erachtet. Für die
Durchführung der alliierten Langzeitpolitik gegenüber Deutschland
sei es vielmehr ausreichend, das Völkerrecht nur insoweit als für
die Alliierten nicht rechtlich bindend anzusehen, wie es der
politischen
Zielsetzungen
widerspreche.
Die
langfristigen
politischen Ziele "can be done without violating more than a part
of the conventions"240.
Die geeignete Verfahrensweise bestand für das SWNCC darin, zum
Zeitpunkt einer Kapitulation oder der rein faktischen endgültigen
Niederlage bekannt zu geben, Deutschland sei ein erobertes Land,
in dem die Alliierten berechtigt seien und die Macht dazu hätten,
es nach ihrem Willen zu behandeln. Es sei ihre Absicht, sofort
mit Schritten langfristiger Natur zu beginnen, die sie für die
Durchführung
ihrer
erklärten
Kriegsziele
für
notwendig
erachteten:
die
Vernichtung
von
Nazismus
und
deutschem
Militarismus mit dem Ziel, daß Deutschland nie wieder zu einer
Bedrohung des Weltfriedens werde, die Wiedergutmachung des von
Deutschland
verursachten
Schadens
und
die
erfolgreiche
Weiterführung des Krieges gegen Japan241.
Von einer solchen allgemeinen Formulierung ohne konkret faßbaren
Inhalt erhoffte sich das SWNCC eine Ruhigstellung etwaiger
kritischer Stimmen im In- und Ausland. Wer mochte die
Notwendigkeit, diese Ziele zu verfolgen, schon ernsthaft
anzweifeln, ohne sich nicht dem Verdacht der Komplizenschaft mit
dem nationalsozialistischen Deutschland auszusetzen? Der Zwang
des politischen Konsenses mußte stärker wirken als die
individuelle Überzeugung von der völkerrechtlichen Fragwürdigkeit
einzelner (konkreter)
240
241
SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 15; ebd.
SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 15; ebd.
315
Maßnahmen
der
Besatzungsmächte.
Daß
beispielsweise
eine
Schadensbegleichung von deutscher Seite zu erfolgen hatte, war
außerhalb jeden Zweifels. Völkerrechtlich brisant wurde diese
generelle Forderung erst in dem Moment, in dem die Maßnahmen zu
entscheiden waren, die zur Verwirklichung dieses Zieles dienen
sollten.
Gehörten
dazu
neben
Reparationsund
Restitutionsleistungen in Form von Sachwerten und Geld etwa auch
Zwangsarbeit deutscher Soldaten und Zivilisten in ehemals
besetzten Gebieten, vielleicht sogar im Minenräumdienst? Waren
solche Tätigkeiten noch völkerrechtlich gedeckt, von allgemeinen
Humanitätserwägungen ganz zu schweigen, obwohl sie doch mit dem
proklamierten
Kriegsziel
der
Schadensbegleichung
politisch
durchaus hätten begründet werden können? Bis zu dieser
Fragestellung
sollten
etwaige
Kritiker
alliierter
Besatzungsmaßnahmen nach der Vorstellung des SWNCC offensichtlich
gar nicht erst vorstoßen. Die angebliche Selbstbeschränkung der
alliierten Machthaber bei der Außerkraftsetzung des Völkerrechts
auf in der Weltöffentlichkeit allgemein anerkannte Kriegsziele
sollte völkerrechtlichen Einwänden von vornherein die politische
Konsensfähigkeit nehmen. Allein die öffentliche Meinung war von
Bedeutung. Solange sie nichts einzuwenden hatte, konnte man
kritische völkerrechtliche Äußerungen unbeachtet lassen. Diese
Einschätzung wird besonders deutlich in einer Passage des SWNCCPapiers vom 17. Februar 1945:
"From a public-relations standpoint this
proposal would not seem difficult to
support. To the charges that international
law was being violated the answer would be
that the Allies were simply carrying out
the purposes and aims declared at the Yalta
Conference. The legalistic argument that
this could not be done under international
law would not find much public favor.
Certainly
the
public
would
not
be
interested in discussions as to whether or
not the technical 'state of war' or the
legal existence of the German State had
been terminated. To a specific charge of
violation of the Hague Conventions, the
answer could be made that they were
being observed in so far as applicable in
view of the Yalta Program."242
Soweit dennoch bestimmte Verstöße angeführt würden, hätten diese
jedoch sicherlich kein allzu großes Gewicht. Hinsichtlich der
Kriegsgefangenen würden die Bestimmungen der Genfer Konvention
"of course be strictly observed"243. Bei der Nutzung deutschen
"Personals" in Arbeits- Bataillonen für Wiederaufbau- und
Wiedergutmachungszwecke ("... without paying or feeding them in
accordance with the Geneva Standards") könnten sie zunächst
repatriiert werden. Danach würde eine Nachfrage nach Arbeitern
bestimmter Altersklassen gemacht werden, um das geforderte
Menschenmaterial zu erhalten: "The Geneva Convention would not
apply to such personnel"244.
Auch für den Fall, Vorwürfen begegnen zu müssen, die eine
Verletzung des Haager Abkommens behaupteten, entwickelte das
SWNCC eine Strategie: Sollten die Vorwürfe Maßnahmen der
Entnazifizierung und der Entmilitarisierung Deutschlands zum
Gegenstand haben, diese verstießen gegen das Gebot, die Gesetze
des besetzten Landes zu beachten, seien diese Vorwürfe nicht
besonders schwerwiegend, da es sich dabei um die wiederholt
erklärten Kriegsziele handele, für die die Alliierten kämpften.
Für privates Eigentum könnte man mit alliierter Militärmark
("Allied Military Marks") bezahlen. Ausgenommen von der Bezahlung
seien Konfiskationen und Zerstörung von Nazi-Eigentum oder von
Industrieanlagen, die für eine militärische Nutzung geeignet
seien. Der Einwand, Privateigentum werde entgegen der HLKO
requiriert für andere Zwecke als solche der
242
243
SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 19; ebd.
SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 19; diese
offensichtliche Selbstverständlichkeit, deutsche
Kriegsgefangene nach der Genfer Konvention zu behandeln, überrascht
angesichts der zu diesem Zeitpunkt schon weit fortgeschrittenen
Planung, einem Großteil der kapitulierenden deutschen Soldaten
diesen Schutz gerade nicht zukommen zu lassen, vgl. oben 2. Teil,
IV.3.. Vermutlich wurde der Begriff "Kriegsgefangener" im SWNCCPapier vom 17.02.1945 in einem engen Sinn verstanden. "Disarmed
Enemy Forces" (DEF) sollten die Privilegien der Genfer Konvention
ohnehin nicht zustehen.
244 SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 19; ebd.
317
Besatzungstruppen, habe ebenfalls keine Bedeutung, sofern das
Eigentum
für
Reparationszwecke
beschlagnahmt
werde.
Beschlagnahmen für den Gebrauch im Krieg gegen Japan würden
wahrscheinlich die einzige direkte Verletzung der HLKO sein, die
zu beantworten schwer fallen werde. Einen solchen Weg zu
rechtfertigen hätte auch Auswirkungen auf die Beurteilung
ähnlicher Handlungen der deutschen Besatzungsmächte in Polen und
Frankreich. Da sich auch das Protokoll der Konferenz von Jalta
über diesen Punkt ausschweige, müsse ein solches Vorgehen
sorgfältig überdacht werden245.
Alles in allem aber rechnete die SWNCC mit keinen größeren
Schwierigkeiten in der Handhabung der öffentlichen Meinung:
"With the conceptions above noted there
would in general be no difficulty in
complying with the accepted rules of the
Hague Convention. There being obviously no
violation of any laws of humanity or the
dictates of the public conscience it would
seem that any legalistic debate on these
minor infractions would be so technical and
unrealistic that it could have no harmful
effect from a public relations standpoint.
Nochmalige Überarbeitung der Entwürfe. Am 20. Februar 1945
wurde der Antwortentwurf des Kabels an Botschafter Robert Murphy
in London noch einmal überarbeitet. In der Substanz wurde der
Entwurf vom 15./17. Februar aufrechterhalten. Neu hineingenommen
wurde aber ein Absatz, der die Unrechtmäßigkeit des deutschen
Aggressionskrieges betonte und daraus rechtliche Konsequenzen
ableitete247.
b.
Darin heißt es, die Besetzung Deutschlands nach dessen totaler
Niederlage oder Kapitulation werde als ein notwendiger und neuer
Typus internationaler Einrichtungen
245
246
247
318
SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 19; ebd.
SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 19; ebd.
"Draft Cable to be Dispatched by State Department to Mr.
Murphy", 20.02.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or
Defeat
("... a necessary and novel type of international mechanism...")
angesehen, um der beispiellosen Situation zu begegnen, die die
"Nazifizierung" Deutschlands ("... Nazification of Germany..."),
der ruchlose, barbarische Charakter ihrer Führer, der von
Deutschland
unrechtmäßig
geführte
Angriffskrieg
und
"the
imperative world need for fundamentally reforming Germany"248
hervorgerufen habe. Die geplante Besatzung könne in freier
Umschreibung als eine Form internationaler Zwangsverwaltung
("receivership") oder Verwahrung ("custodianship") betrachtet
werden, mit bestimmten umgestaltenden und strafenden Aspekten,
neu erdacht ("freshly invented"), um es den "siegreichen Opfern
der unrechtmäßigen Aggression" ("victorious victims of unlawful
aggression") möglich zu machen, eine dauernde Heilung des
vollständig unterlegenen Aggressors herbeizuführen ("to effect a
permanent cure of the totally defeated aggressor"). Die
Schlußfolgerung war:
"The limitations contained in international
conventions
or
other
principles
of
international law governing a temporary or
precarious belligerent occupation during
the continuance of hostilities are not
considered to be in any degree applicable
to the execution of any phases of or steps
in the exemtion of this final program of
dealing with Germany or to operate to
prevent the execution of such a program."249
Einen Absatz später wird dies noch einmal mit Nachdruck betont:
"It
is
emphasized
that
the
Hague
Conventions
are
expressly
considered
inapplicable to an occupation following
unconditional
surrender
or
complete
defeat."250
Als diese Position auch in einem drei Tage später angefertigten
Entwurf vertreten wurde, meldete sich noch
248
249
250
Antwortentwurf
Antwortentwurf
Antwortentwurf
vom 20.02.1945,
vom 20.02.1945,
vom 20.02.1945,
Abs. Nr. 4
Abs. Nr. ;
4
Abs. Nr. 5
;
;
ebd
ebd
ebd
319
einmal William Chanler von der Civil Affairs Division zu Wort251.
Das Beharren auf dem Standpunkt, daß nach bedingungsloser
Kapitulation oder vollständiger Niederlage die Abkommen unter
allen Umständen gänzlich unanwendbar seien, bezeichnete Chanler
als rechtlich falsch ("unsound legally") und politisch unklug
("unwise politically"). "Conquest" allein, und nichts anderes
bedeute bedingungslose Kapitulation oder vollständige Niederlage
ohne weiteres Tätigwerden, gebe dem Eroberer keine größeren
Rechte als die eines militärischen Besatzers; er sei den
Konventionen unterworfen. Dies sei ganz einhellige Ansicht. Die
einzig wirkliche Kontroverse zwischen den amerikanischen Planern
und den Völkerrechtlern sei vielmehr nur die Frage, ob die
Alliierten darüber hinausgehende Rechte durch Deklaration
einseitig erzeugen könnten, ohne gleichzeitig die Souveränität zu
übernehmen. Der Inhalt dieser Deklaration sei ganz einfach der,
daß die Alliierten beabsichtigten, die in der Jalta-Erklärung
genannten Vorhaben auszuführen252.
Daß Chanler die im Entwurf vertretene Auffassung für politisch
unklug hielt, hatte vor allem taktische Gründe. Dieser juristisch
nicht haltbare Standpunkt, davon war Chanler überzeugt, werde die
Alliierten von Anfang an in einer öffentlichen Diskussion in die
Defensive stellen. Er hielt es deshalb für klüger, gar keine
eindeutige Aussage zur völkerrechtlichen Lage zu machen253:
"It is far better to assert affirmatively
that we are carrying out the purposes of
the Yalta Converence, leaving the objectors
the burden of going forward and claiming
that we are violating such and such
specific provision of the conventions. To
this, we have a sound answer: Surely the
objectors do not assert that there is
251
252
253
320
Col. W.C. Chanler, CAD, "Memorandum: Subject: Unconditional Surrender
of Germany - Comments on Colonel Cutter's Proposed Redraft of Cable",
23.02.1945, "Enclosure: Draft of Cable Proposed Dispatched by State
Department to Mr. Murphy"; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or
Defeat
Col. W.C. Chanler, Memorandum vom 23.02.1945, Abs. Nr. 3; ebd.
Col. W.C. Chanler, Memorandum vom 23.02.1945, Abs. Nr. 4; ebd.
anything illegal about the destruction of
Nazism or the pacification of Germany. This
puts the objectors in the position
of
raising legal
technicalities in an attempt to show that
we cannot carry on our announced war aims
unless we take sovereignty, etc. The
objectors, in such an argument, would have
to admit that we could do what we are
doing, if we 'took sovereignty', and, if
not, how we justified our acts. The public
would not take much interest in such a
debate."254
Chanler empfahl deshalb, bei dem im ursprünglichen Entwurf
vertretenen Standpunkt zu bleiben, daß die Alliierten sich als an
die Abkommen gebunden betrachteten, außer dort, wo sie im
Widerspruch ständen zu den erklärten Kriegszielen255.
In den Tagen danach wurden die von Chanler gewünschten Änderungen
durchgeführt.
Sowohl
eine
vom
2.
März
1945
stammende
Überarbeitung des ersten Teils des SWNCC-Papiers als auch ein
Antwortentwurf an Murphy vom 8. März 1945 berücksichtigten die
Vorschläge William Chanlers256. In beiden Dokumenten war nun nur
noch die Rede davon, die völkerrechtlichen Vorschriften,
insbesondere die HLKO, seien insoweit nicht anwendbar bei der
alliierten Besetzung Deutschlands, wie sie den alliierten
Kriegszielen widersprächen. Eine allumfassende Negation des
Völkerrechts in Deutschland enthielten diese beiden Schriftstücke
nun nicht mehr257.
254
255
256
257
Col. W.C. Chanler, Memorandum vom 23.02.1945, Abs. Nr. 4; ebd.
Col. W.C. Chanler, Memorandum vom 23.02.1945, Abs. Nr. 5; ebd.
SWNCC, "Advice to U.S. Representative in E.A.C. on Legal
Consequences of Unconditional Surrender", 02.03.1945 (Draft); "Draft
of Cable Proposed Dispatched by State Department to Mr. Murphy",
08.03.1945; beide Dokumente in RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender
or Defeat
Im Kabel-Entwurf vom 08.03.1945 war nun unter Absatz Nr. 4 zu lesen:
"During this occupation of Germany, the Control Council will have
and may exercise absolutely all powers necessary to carry out the
above purposes. ... no agreed steps in the execution of this final
program will be prevented by the irrelevant limitations contained in
international conventions or other principles of international law
governing a temporary or precarious belligerent occupation during
the continuance of hostilities."
321
Auch Chanlers Rechtsauffassung, daß über "Conquest" hinaus die
Alliierten durch einseitige Erklärung sich die benötigten Rechte
und Machtbefugnisse selbst verschaffen könnten, "Conquest" allein
aber noch keine Mehrung der alliierten Rechte zur Folge habe, kam
nun wieder zum Ausdruck258.
Aus den vorliegenden amerikanischen Akten geht nicht hervor, ob
das State Department auf der Grundlage dieses offensichtlich
letzten Entwurfs ein Antwort-Kabel an Botschafter Robert Murphy
in London geschickt hat. Da aber mittlerweile alle mit der
Deutschlandplanung befaßten Stellen in Außen-, Kriegs- und
Finanzministerium ihre diesbezüglichen Stellungnahmen abgegeben
hatten, und auch in der SWNCC ein Konsens hergestellt worden war,
sind keine Gründe ersichtlich, warum man im amerikanischen
Außenministerium die Antwort noch länger hätte hinauszögern
sollen, zumal seit Murphys erster Anfrage annähernd zweieinhalb
Monate verstrichen waren. Außerdem drangen die alliierten Truppen
nun schon immer tiefer in deutsches Staatsgebiet ein und es war
absehbar, daß die militärische Niederringung Deutschlands
unmittelbar bevorstand. Ein ausgereiftes und durchdachtes
völkerrechtliches Konzept auf inneramerikanischer wie auf
interalliierter politischer (EAC) und militärischer Ebene (SHAEF)
war dringend erforderlich, um ein völkerrechtliches Chaos zu
vermeiden.
V.
9. Korrespondenz Chanlers mit Philip Jessup und anderen
Völkerrechtsexperten
a. Wiederaufnahme des Gedankenaustauschs mit Philip Jessup. Mit
dem Antwortkabel an Botschafter Murphy war jedoch selbst in
Washington noch nicht das letzte Wort über die von den
Vereinigten Staaten vertretene Rechtsposition gefallen. Im Laufe
des März 1945 schalteten sich weitere
258
322
SWNCC-Papier vom 02.03.1945, Absatz Nr. 8: "Under this view the
rights and powers of the conquerors would arise by operation of law
from the fact of military defeat or surrender (and the unilateral
action there - after taken) ..."; ebd.
Diskutanten ein. Der erste war ein "alter" Bekannter in der CAD,
hatte er doch wenige Monate vorher auf Chanlers Bitte hin die
erste völkerrechtlich fundierte Darstellung der bedingungslosen
Kapitulation besorgt: Philip C. Jessup, Professor für Völkerrecht
an der Columbia Universität in New York259. Nachdem Chanler ihn
erneut angeschrieben hatte, antwortete ihm Jessup am 02. März
1945. Er setzte sich dabei im wesentlichen mit Chanlers
völkerrechtlichen Konstruktionsversuchen auseinander, deren Kern
die Frage bildete:
"Why
can't
we
do
by
'unilateral
declaration' what we can do by preliminary
treaty or armistice?"
(Chanler)260
Wenngleich Jessup Chanler gleich zu Beginn seines Schreibens
versicherte, er versuche einen Weg zu finden, der das rechtlich
zulasse, was in Chanlers Absicht stehe, waren seine weiteren
Ausführungen doch dem traditionellen Völkerrecht verhaftet und
mit den neuartigen völkerrechtlichen Konstruktionen Chanlers
nicht vereinbar. Um ihr Ziel, die mindestens teilweise
Nichtbindung an das Völkerrecht, soweit dieses mit den verfolgten
Kriegszielen nicht übereinstimmte, zu verwirklichen, stünden den
Alliierten nur zwei Wege offen, teilte der anerkannte
Völkerrechtler dem zweiten Mann in der CAD mit: entweder Abschluß
eines entsprechenden Vertrages oder "Debellatio". Hinsichtlich
der ersten Möglichkeit habe der Sieger alle Freiheiten, von dem
besiegten
Feind
die
Unterschrift
unter
jede
Art
von
Waffenstillstand oder (Friedens-)Vertrag zu erzwingen261:
"In other words, if you impose a peace
treaty
on
a
defeated
enemy,
in
contemplation of international law, that is
a valid treaty and a sound legal basis for
the exercise of any rights which the other
party has
259
260
261
Zu Jessups Memorandum vom Juni 1944 vgl. oben 2. Teil, V.2.
Vgl. P.C. Jessup an Col. W.C. Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 1;
RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat
Jessup an Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 2, ebd.
323
agreed, by signing the treaty, to conver
upon you."
Der Grund, der hinter dieser "clearly established rule" stehe,
sei der, daß der Besiegte sich mit diesen Bestimmungen
einverstanden erklärt habe, ganz gleich wie lästig sie ihm seien,
anstatt
einen
hoffnungslosen
Kampf
weiter
fortzuführen.
Nachdrücklich wies Jessup noch einmal darauf hin, der Eroberer
könne in der Vereinbarung mit dem Eroberten alle Bestimmungen und
Bedingungen aufnehmen, die er wünsche, egal ob es sich dabei um
einen Waffenstillstands- oder um einen (Friedens-)Vertrag
handele263.
Als Chanler diese Auffassung vom Vertragscharakter eines solchen
Diktats wenige Tage später als eine "Fiktion" bezeichnete,
antwortete ihm Jessup völlig zu recht:
"You are right _____ in saying that the
consent to an imposed treaty is a fiction,
but
fictions
are
unfortunately
legal
realities."264
Die
hinter
einem
solchen
(fiktiven)
Vorgang
stehende
völkerrechtliche Regel könne mit dem Inhalt festgehalten werden,
daß, wenn ein Staat in einem Krieg geschlagen worden sei und nun
gezwungen werde, einen Vertrag zu unterzeichnen, er später nicht
mehr mit dem Argument Gehör finde, der Vertrag sei unwirksam
wegen eines Mangels einer übereinstimmenden Grundlage ("... that
state will not subsequently be heard to say that the treaty is
void because of lack of a consensual basis".) Es dürfte sich um
dieselbe Form von Rechtsregeln handeln wie beim "Estoppel"Prinzip, bei dem jemand mit seinem Vorbringen der Wahrheit nicht
gehört werde, weil sein vorhergehendes Verhalten ihn nun der
Strafe unterwerfe, an seiner falschen Aussage
262
263
264
324
Jessup an Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 2; ebd., dort machte Jessup
den Vorbehalt, daß er das Wort "Unterzeichnen" in diesem Zusammenhang
in einer freien Form verwende, und er nicht über das Problem einer
"Ratifikation" spreche.
Jessup an Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 2, ebd.
P.C. Jessup an Col. W.C. Chanler, 19.03.1945, S. 1; RG 107 ASW 387.4
Germany - Surrender or Defeat
festgehalten zu werden, die er gemacht und auf die ein anderer
vertraut habe. Im Fall des besiegten Feindes sei es jedoch nicht
dessen Arglist ("fraud"), Täuschung ("deceit") oder allgemeine
Schlechtigkeit ("general evil"), die ihn daran hindere, den
Mangel des Einvernehmens geltend zu machen, sondern die Tatsache
der Niederlage. Jessup stellte nüchtern fest:
"That is a cruel reality since of course
the defeated power may be the innocent
aggressee. But international law and
practice have developed jungle- wise to
that extent at least."265
Jessup fuhr weiter fort, daß, folgte man diesen Gedankengängen,
man argumentieren könne, daß der Besiegte dann gleichfalls nicht
mit der Geltendmachung seiner Rechte aus den Haager Abkommen oder
aus dem Völkergewohnheitsrecht angehört werden dürfe. Aus diesem
Grund könne er sich auch Subjugation und Annexion als Rechtsakten
mit eindeutigen und klaren Rechtsfolgen nicht widersetzen.
Das
Völkerrecht
habe
dem
Sieger
aber
auch
bestimmte
Einschränkungen auferlegt, so daß der besiegte Staat in einigen
Fällen doch angehört werde mit der Aussage, das Verhalten des
Siegers stehe im Gegensatz zum Völkerrecht. Die Folgen von
"Conquest" seien als ein Resultat der Praxis recht klar
definiert. Es gebe einen entschiedenen Trend dagegen, "Conquest"
als die Grundlage von Rechten anzusehen. Dies gelte nicht nur für
den Angriffseroberer ("aggressive conqueror"), sondern unter
allen Umständen266.
Bereits in seinem Brief vom 02. März 1945 hatte Jessup die
alleinige Wahlmöglichkeit der Alliierten zwischen einem Vertrag
einerseits oder der Herbeiführung einer "Debellatio" andererseits
als Grundlage für die gewünschten umfassenden Rechte eindeutig
klargestellt. "Subjugation" bzw. "Debellatio" begründeten eine
besondere Rechtsgrundlage um Dinge tun zu können,
265
266
Jessup an Chanler, 19.03.1945, S. 1, ebd.
Jessup an Chanler, 19.03.1945, S. 1,2; ebd.
325
"which can not lawfully be done without the
authority which flows from subjugation or
debellatio. Obviously, to take advantage of
the rights which come from subjugation or
debellatio you must fit yourself into the
position to which those two legal concepts
have reference."267
Dies war eine eindeutige Stellungnahme mit Hinweis auf den
untrennbaren
Zusammenhang
zwischen
einem
bestimmten
kriegsvölkerrechtlichen Zustand ("Debellatio") und den nur aus
diesem Zustand sich ergebenden weitreichenden Befugnissen. Jessup
hielt Chanler deutlich vor Augen, daß die auch von diesem
vertretene "Malkintheorie" nicht mit dem Völkerrecht in Einklang
stand:
"If you do not create a subjugatio or a
debellatio, you can not have the rights
which flow from them or one of them."268
So lange das Kriegsrecht in Kraft sei, sei der Besatzer eines
feindlichen Gebietes an das Recht der kriegerischen Besetzung
gebunden. Das Kriegsrecht sei ab dem Zeitpunkt des Kriegsbeginns
anwendbar, und es verliere seine Wirksamkeit erst mit der
Beendigung des Krieges. Seine besonderen Vorschriften und
Spezifizierungen dürften aber in ihrer Anwendbarkeit modifiziert
werden durch eine Vereinbarung ("agreement") oder durch das
Aufgehen in eine "Subjugation" oder "Debellatio". In den beiden
letzten Fällen sei die Schaffung einer neuen Rechtsquelle ("...
the creation of the new source of rights ...") zeitgleich mit dem
Ende
des
Krieges.
Ohne
Vereinbarung
und
ohne
"Subjugation"/"Debellatio" seien aber insbesondere die Haager
Abkommen rechtlich voll bindend269.
Allenfalls der Begriff der "bedingungslosen Kapitulation", da in
den Kriegen der Neuzeit nicht mehr häufig verwendet und deshalb
völkerrechtlich nicht ausgereift und nicht mit
267
268
269
326
Jessup an Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 6, ebd.
Jessup an Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 6, ebd.
Jessup an Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 7, ebd.
eindeutigen Rechtsfolgen versehen (darauf hatte Jessup auch schon
in seinem ersten Memorandum 1944 verwiesen), könnte einen
möglichen Ausweg versprechen. Warum, so fragte Jessup, solle man
unter bedingungsloser Kapitulation nicht eine Übergabe der
Berechtigung sehen, die vom Sieger gewünschte Regierung
einzusetzen, eine Übergabe anderer Rechte, insbesondere des
Rechts, sich auf die Haager und Genfer Konventionen zu berufen,
bis hin zu der Möglichkeit, daß der besiegte Staat durch
"bedingungslose Kapitulation" den Sieger von allen seinen
üblichen völkerrechtlichen Pflichten entbinde270?
Jessup's Anwort auf diese selbstgestellte Frage lautete:
"We find that this is true in the sense
that it leaves the victor free to proceed
to subjugation which is the complete
elimination of the rights of the defeated
party. Short of that, the victor, lying on
the unconditional surrender, may assert
that he is released from his other
obligations under international law."271
Diese auf den ersten Blick an Malkins und Chanlers Theorie
erinnernde Argumentation, war von dieser jedoch von Grund auf
verschieden. Denn während Chanler die eindeutigen Rechtsfolgen
von "Conquest" und "Debellatio" durch eine einseitige Erklärung
der Alliierten umgehen wollte, beruhte Jessups Einschätzung der
"bedingungslosen
Kapitulation"
auf
dem
Vertragsgedanken;
zumindest war aber eine Erklärung der deutschen Regierung
notwendig, die als einzige über die in Frage stehenden Rechte
hätte verfügen (also auch verzichten) können. Einer nicht weiter
spezifizierten Kapitulationserklärung der deutschen Regierung
hätte man dann entsprechende Rechtsfolgen zusprechen können. Im
Grunde handelte es sich bei diesem Vorschlag Jessups um nichts
anderes, als was auch bereits die EAC- Kapitulationsurkunde
erreichen sollte, nämlich durch die Übertragung der "supreme
authority" eine umfassende
270
271
Jessup an Chanler, 19.03.1945, S. 2,3; ebd.
Jessup an Chanler, 19.03.1945, S. 3; ebd.
327
Ermächtigungsgrundlage zu erhalten, in deren Rahmen man sich dann
an den jeweils benötigten Rechten selbst bedienen konnte. Dieser
von
Jessup
abgesteckte
völkerrechtliche
Handlungsund
Gestaltungsspielraum der Alliierten bei deren Vorgehen in
Deutschland deckte sich im wesentlichen mit den bereits 1944
gemachten Ausführungen zu diesem Thema.
b. Memorandum Ralph Carsons vom März 1945. Anders als Jessup,
aber mit deutlicher Anlehnung an Chanlers Ideen, wollte auch
Ralph
Carson,
Mitarbeiter
von
Norman
Davis
in
dessen
Rechtsanwaltskanzlei in New York, in einer Denkschrift Mitte März
1945 als Rechtsquelle zukünftiger alliierter Befugnisse im
besetzten Deutschland allein den Machtfaktor ansehen. Auf der
Grundlage von "Conquest", einseitig proklamiert durch die
Alliierten, zusammen mit der Geltendmachung wirkungsvoller
Machtvollkommenheit ("... the assertion of effective authority
...") durch diese könne, so behauptete Carson, der selbe
politische Zustand ("political status") hervorgehen wie von einem
Vertrag, der von Deutschland unter dem Druck der fortgesetzten
Feindseligkeiten
unterzeichnet
werde.
Das
Merkmal
der
"Übereinstimmung" ("consensuallty") in einem solchen Vertrag sei
rein fiktiv "and the really operative element is the coercion"272.
Carsons Verständnis von "Conquest" unterschied sich deutlich von
dem, das die anderen Fachleute bisher geäußert hatten. Während
diese übereinstimmten, "conquest" allein,
d.
h. die bloße militärische Niederwerfung des Gegners, ziehe
keine eigenen Rechtsfolgen nach sich, war Carson der Ansicht,
"Conquest" sei "the oldest basis of legal right", gehe aber dabei
unter den angenommenen Umständen keinesfalls soweit, den
deutschen Staat auszulöschen, die deutsche Staatsangehörigkeit
aufzuheben, das deutsche Recht durch amerikanisches, englisches
oder russisches Recht zu ersetzen oder die Staatsschulden
Deutschlands auf die drei
272
328
R. Carson, "Draft Opinion on Assumed Facts", Absatz Nr. 1,
15.03.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat
alliierten Mächte abzuwälzen. Die rechtliche Wirkung der als
sicher angenommenen Tatsachen sei die Einsetzung einer neuen
Regierung,
des
alliierten
Kontrollrats,
der
souveräne
Machtbefugnisse ausübe ("... exercising sovereign powers")273.
c. Memorandum von Colonel Hayden N. Smith vom März 1945. Colonel
Hayden N. Smith legte am 15. März 1945 ein Memorandum vor mit dem
Titel "Facts to be Assumed", in dem er das bis dahin im
Kriegsministerium gewonnene Diskussionsergebnis festhielt. Die
dort genannten sieben Punkte zeigen bereits, daß die bis dahin
immer noch alliierter Beschlußlage entsprechende EAC-Kapitulationsurkunde keinen Stellenwert in der amerikanischen Planung
mehr hatte. Der dann in den Monaten Mai und Juni 1945 von den
Alliierten tatsächlich beschrittene Weg einer rein militärischen
Kapitulation
mit
einer
anschließenden
einseitigen
Ermächtigungserklärung der Siegermächte, kommt bereits deutlich
zum Ausdruck. Der Inhalt der Berliner Deklaration vom 05. Juni
1945 wird in einigen Passagen schon vorweggenommen.
Grundlage
alliierter
Machtbefugnisse
sollte
die
militärische
Kapitulation sein:
"The
German
armed
forces
have
been
completely defeated on land, at sea and in
the air and Germany is powerless to
continue organized resistance... ."274
Davon ausgehend sollte alles weitere durch einseitige Erklärungen
erfolgen. Eine formale Anerkennung dieser oben genannten
Tatsachen durch "any German authority qualified to speak for
Germany" wurde nicht mehr eingeplant. Das Vorhandensein dieser
Tatsachen müsse durch einseitige Proklamation festgestellt
werden275.
273
274
275
R. Carson, 15.03.1945, Abs. Nr. 2; ebd.
Col. H.N. Smith, "Memorandum: Facts to be Assumed",
15.03.1945, Abs. Nr. 1; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or
Defeat.
Col. H.N. Smith, Memorandum vom 15.03.1945; Abs. Nr. 2; ebd.
329
Dasselbe galt auch für die Übernahme der "supreme
authority", worunter die "vollkommene Macht" ("plenary
power") in Deutschland verstanden wurde276, und die Absicht
der Alliierten, Deutschland als Staat zu erhalten,
insbesondere nicht zu annektieren und nicht durch einen
277
neuen oder eine Gruppe von Staaten zu ersetzen . Die Übernahme
der "supreme authority" in Deutschland müsse international
anerkannt werden durch die Akkreditierung der Missionen anderer
Vereinter Nationen bei der Kontroll- Kommission in Deutschland
oder durch andere geeignete Wege278.
Auf welche der bis dahin diskutierten Theorien die einseitige
Übernahme von "supreme authority" sich bezog, wurde nicht weiter
ausgeführt, hatte sich doch ein klares - rechtstechnisches Ergebnis bis dahin auch noch gar nicht herauskristallisiert. In
Absatz Nr. 7 des Smith-Memorandums vom 15. März wird allerdings
deutlich, auf welche Theorie man die geplante Nicht-Anwendbarkeit
des Völkerrechts, oder von Teilen desselben, keinesfalls zu
stellen beabsichtigte: auf eine Repressalien-Theorie:
"Purpose on the part of the Allied powers
not be denounce the Hague or Geneva
Conventions or disregard them on any theory
of reprisals."
Schon Jessup hatte in seinem Brief an Chanler am 02. März 1945
darauf hingewiesen, daß eine Repressalien-Theorie in diesem
Zusammenhang die Dinge nur noch schlimmer mache, weil damit eine
Kette von Repressalien in Gang gesetzt würde. Er hatte diese
Theorie deshalb als nicht befriedigend abgelehnt280.
276 Col.
ebd.
H.N. Smith, Memorandum
277 Col. H.N.
ebd.
278 Col. H.N.
ebd.
279 Col. H.N.
ebd.
280 Jessup an
330
vom
15.03.1945;
Abs. Nr. 3;
Smith, Memorandum
vom
15.03.1945;
Smith, Memorandum
vom
15.03.1945;
Abs. Nr. 3,4
;
Abs. Nr. 6;
Smith, Memorandum
vom
15.03.1945;
Abs. Nr. 7;
Chanler, 02.03.1945, Abs
. Nr. 7, ebd.
Auch Chanler selbst war dieser Überzeugung, wies jedoch zur
Klarstellung bezüglich der dazu gemachten Ausführung im SmithMemorandum darauf hin, damit sei gemeint, die Alliierten
beabsichtigen nicht zu behaupten, sie seien an die Haager und
Genfer Konventionen auch in den Fällen nicht gebunden, in denen
diese anwendbar seien, und sie hätten keinerlei Absicht, diese
Konventionen im Wege von Repressalien zu mißachten. Dieser Satz
dürfe aber auch nicht so verstanden werden, als hätten die
Alliierten vor, die Konventionen auch in solchen Situationen
anzuwenden, in denen diese nicht anwendbar seien281.
Als grundlegende Theorie für die amerikanischen Absichten hatte
sich im Kriegsministerium mittlerweile die "Malkintheorie"
durchgesetzt, wenngleich auch andere Theorien noch immer
Erwähnung fanden (z.B. der Hinweis auf den Briand-Kellogg-Pakt).
Der offensichtlich logische "Schluß vom Größeren auf das
Kleinere" erschien als der rechtstechnisch sauberste Weg zur
Zweckerreichung. Hayden N. Smith führte dazu aus:
"Since, however, the factual situation
creates the right to carry out war aims,
and since that factual situation permits of
no method other than unilateral action for
the achievement of those aims, then it must
follow that the factual situation creates a
right to achieve by unilateral action not
only the extreme war aim of extinction, but
also the less drastic ones entertained by
the United Nations."282
Schwieriger erschien da schon das Problem der Anwendbarkeit der
Genfer Konvention auf die deutschen Kriegsgefangenen. Zwar hätte
man auch hier mit ähnlichen rechtlichen und fragwürdigen
Konstruktionen wie bei der (teilweisen) Verneinung der HLKO
argumentieren können. Die Schwierigkeiten ergaben sich deshalb
eher aus der Frage, ob
281
282
W. Chanler, Memorandum, o.D., Abs. Nr. 1; RG 107 ASW 387.4
Germany - Surrender or Defeat'
Col. H.N. Smith, Memorandum, Abs. III. i.; 13.03.1945; RG 107 ASW
387.4 Germany - Surrender or Defeat
331
die Nichtanwendbarkeit der Genfer Konvention
überhaupt sinnvoll und vernünftig wäre.
in
der
Praxis
Aber auch die zusätzlichen rechtlichen Begründungsversuche, die
beispielsweise Colonel Hayden N. Smith in einem Memorandum vom
13. März 1945 machte, sind recht aussagefähig. Ausgehend von
seiner Grundthese, die Alliierten seien völlig frei, gegenüber
dem deutschen Volk alle Verpflichtungen, Beschränkungen oder
andere Forderungen zu verhängen, die sie zur Durchführung ihrer
Kriegsziele für geeignet hielten, meinte Smith weiter, daß auch
die Soldaten ja nur ein Teil ihres Volkes und als solche somit
auch den Maßnahmen der Alliierten unterworfen seien. Lediglich,
wenn die Kriegsgefangenen in ihrem Status betroffen seien, gelte
dies nicht. Aber auch für letzteren Fall hatte Hayden N. Smith
bereits eine Lösungsmöglichkeit parat: Der Gebrauch deutscher
Kriegsgefangener als Zwangsarbeiter zu Reparationszwecken oder um
den Alliierten im weiteren Krieg gegen Japan zu helfen, wäre nach
Smiths Meinung mit folgender Argumentation zu begründen gewesen:
Da jedes der beiden Ziele rechtmäßig unter Zwang von einer
deutschen Regierung verlangt werden könnte, sollten die Sieger
auch darin frei sein, diese Ziele durch eigenes Tätigwerden zu
erreichen. Denn die Kriegsgefangenen als solche stellten nicht
die einzige verfügbare Quelle für diesen Zweck dar, sondern
sollten lediglich Verwendung finden als ein Teil und auf der
gleichen Grundlage wie die Masse der verfügbaren Arbeitskräfte.
Sie sollten von einer solchen Verwendung aber auch nicht
ausgeschlossen werden, weil dies im Gegensatz stehen würde zur
Politik der Auslöschung des Militarismus283.
283 Col. H.N. Smith, Memorandum, 13.03.1945; Abs.III.K.; ebd.
332
VI. Die Änderung der Kapitulations-Urkunde in der Zeit von der
Krim-Konferenz bis zur Berliner Viermächteerklärung vom 5. Juni
1945 VI. 1. Modifizierung der Kapitulations-Urkunde auf der
Konferenz von Jalta
Eine inhaltliche Änderung erfuhr der EAC- Kapitulationsentwurf in
der vom 04. bis zum 11. Februar in Jalta abgehaltenen
Dreimächtekonferenz284.
Der
Gedanke
einer
Zerstückelung
Deutschlands,
der
schon
auf
den
vorangegangenen
Kriegskonferenzen, insbesondere in Teheran, aber auch in der
amerikanischen Administration immer wieder Anklang gefunden
hatte, wurde auf der Krimkonferenz wieder aufgenommen285. Stalin
war es, der den Vorschlag unterbreitete, in die KapitulationsUrkunde einen Hinweis auf die Zerstückelungsabsichten der
Alliierten aufzunehmen. Einen konkreten Teilungsplan hatte
allerdings
keiner
der
Konferenzteilnehmer
vorliegen.
Sie
entschieden sich deshalb, eine weitere Kommission in London
einzusetzen ("Dismemberment-Committee") , die in diesem Feld
tätig werden sollte.
Stalin versprach sich von der Aufnahme der ZerstückelungsAbsichten in die Urkunde, daß dadurch garantiert werde, daß eine
deutsche Regierung in jedem Fall eine solche Maßnahme zu
akzeptieren habe286. Churchill meldete, obwohl wie Roosevelt
diesen Teilungsplänen aufgeschlossen
gegenüberstehend, jedoch grundsätzliche Bedenken gegen die
Aufnahme dieses Planes in die Urkunde an. Er ging davon aus, daß
eine "bedingungslose Kapitulation" ohnehin sämtliche Rechte auf
die Alliierten übertrage, und es gebe keine Notwendigkeit, mit
irgendeiner Gruppe in Deutschland sprechen oder verhandeln zu
müssen287. Weiter betonte
284
285
286
287
Vgl. dazu auch schon oben 1. Teil, IV.9.
Zu den vorangegangenen Aufteilungsplänen vgl. Ph.E. Mosely,
Die Friedenspläne der Alliierten und die Aufteilung
Deutschlands, in: EA 1950, S. 3032 ff.
J. Foschepoth, Britische Deutschlandpolitik zwischen Jalta und
Potsdam, in: VfZG 1982, S. 675 ff.
J. Foschepoth, VfZG 1982, S. 677
Churchill, die Alliierten behielten sich unter diesen Bedingungen
alle Rechte vor, über das Leben, das Eigentum und die künftige
Tätigkeit der Deutschen zu entscheiden. Allein die Absprachen der
Alliierten untereinander seien wichtig. Die Kapitulationsurkunde
sollte nach Churchills Ansicht nicht von Hitler oder Himmler
gezeichnet werden. Würden diese wider Erwarten eine Kapitulation
anbieten, sei diese abzulehnen und der Krieg weiterzuführen.
Sollte eine andere Gruppe von Deutschen ihren Kapitulationswillen
kundtun, würden die Alliierten sofort untereinander beraten, ob
sie mit dieser Gruppe verhandeln könnten. Falls dies der Fall
sei, würden die unabänderlichen Kapitulationsbedingungen sofort
vorgelegt werden. Andernfalls würde man den Krieg fortsetzen, das
ganze Land
besetzen und eine Militärregierung einrichten'’.
288
Roosevelt teilte Stalins Meinung. Er hielt es gleichfalls für
angebracht, dem deutschen Volk zum Zeitpunkt der Kapitulation
bekanntzugeben, was es zu erwarten habe. Da Churchill aber einen
negativen psychologischen Effekt auf die Deutschen befürchtete,
versuchten ihn Roosevelt und Stalin mit dem Hinweis zu
beschwichtigen,
die
Kapitulations-Urkunde
müsse
ja
nicht
veröffentlicht werden289.
Stettinius, Molotow und Eden einigten sich daraufhin, Artikel 12
lediglich
durch
die
Einfügung
des
Wortes
"Aufteilung"
("dismemberment") zu ergänzen290, so daß der entsprechende
Abschnitt nun lautete:
"Das Vereinigte Königreich, die Vereinigten
Staaten von Amerika und die Union
der
Sozialistischen
Sowjetrepubliken
werden
die
oberste
Autorität gegenüber Deutschland innehaben.
In Ausübung dieser Autorität werden sie
solche
Schritte
einschließlich
der
völligen
Entwaffnung,
Entmilitarisierung
und
Aufgliederung
("dismemberment")
2SS FRUS Malta und Jalta, (dt.), S. 574 f.
289 FRUS Malta und Jalta, (dt.), S. 577
290 FRUS Malta und Jalta, (dt.), S. 613 ff.
334
Deutschlands unternehmen, die sie für den
künftigen Frieden und die Sicherheit für
erforderlich halten" 291
Das "Dismemberment-Committee", das die Frage der Aufteilung näher
erörtern sollte, bestand aus den gleichen Repräsentanten, die
auch in der EAC saßen. Lediglich Frankreich war, wie auch in
Jalta, nicht vertreten. Es hielt insgesamt nur zwei Sitzungen ab
und verschwand schnell in der politischen Versenkung. Die
alliierten Vorstellungen vom Ob und Wie einer möglichen
Aufteilung des deutschen Staatsgebietes gingen bereits zu sehr
auseinander292.
Daß Frankreich diesem Ausschuß für Teilungsfragen nicht
angehörte, war auf die entsprechende Vereinbarung der in Jalta
versammelten Außenminister zurückzuführen. Während der britische
Außenminister Eden sich für die Teilnahme der Franzosen
aussprach, hielten Stettinius und Molotow sich eher bedeckt293.
Molotow machte den Vorschlag, die Frage der französischen
Beteiligung nicht in Jalta zu klären, sondern später den Ausschuß
selbst darüber entscheiden zu lassen. Eden und Stettinius
stimmten zu294.
291
Vgl. die dt. Übersetzung in G. Zieger, Berliner Erklärungen und
Potsdamer Abkommen - Auswirkungen auf den Fortbestand Deutschlands,
in: B. Meissner/T. Veiter (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen und die
Deutschlandfrage, 2. Teil: Berliner Deklaration und Sonderfragen, S.
7 ff,, 9; G. Zieger stellt dazu ebd., S. 10, treffend fest: "Aus
dieser Formulierung wurde deutlich, daß zwischen den drei Mächten der
Kulminationspunkt in der Gemeinsamkeit ihrer Ansicht von der
Notwendigkeit einer Aufgliederung des deutschen Staates bereits zu
diesem Zeitpunkt überschritten war. ... Dahinter verbargen sich die
divergierenden Auffassungen vor allem innerhalb der amerikanischen
und der britischen Administration über die Behandlung Deutschlands."
Eine leicht abweichende Übersetzung bei J. Foschepoth, VfZG 1982, S.
677 f., der statt von "oberster Autorität" von "höchster öffentlicher
Gewalt" spricht, und statt von "Aufgliederung" von "Aufteilung",
wobei der letzte Unterschied sachlich nicht von Bedeutung sein
dürfte.
292
Zum Schicksal des "Dismemberment Committee" vgl. Ph. Mosely,
EA 1950, S. 3038 ff.; G. Zieger, Berliner Erklärungen und Potsdamer
Abkommen, ebd., S. 12 ff.; J. Foschepoth, VfZG 1982, S. 690 f.
293
294
FRUS Malta und Jalta, (dt.), S. 654 f.
FRUS Malta und Jalta, (dt.), S. 655; Ph. Mosely, EA 1950, S. 3037
335
Das Hinauszögern einer Entscheidung zu dieser Frage und ihre
Delegierung an einen weisungsgebundenen Ausschuß war jedoch Anlaß
für größere Verwirrung. Denn Frankreich erhielt dadurch zunächst
weder Kenntnis von dem in Jalta beschlossenen Zusatz im
Kapitulations-Dokument noch von der neuen Kommission. Dies
bedeutete, daß gleichzeitig zwei - in der Teilungsfrage
voneinander abweichende - Fassungen der Kapitulations-Urkunde
Vorlagen. Eine vom 25. Juli 1944, bezüglich der der französische
EAC-Vertreter, Botschafter Massigli, im Januar 1944 den Antrag
gestellt hatte, in den Kreis der Unterzeichner aufgenommen zu
werden295, und eine zweite, die Jalta-Fassung, die nur den drei
Mächten bekannt war. Wollte man, daß Frankreich dem Zusatz von
Jalta zustimmte, dann mußte man es darüber in Kenntnis setzen und
zwangsläufig auch als gleichwertiges Mitglied in die neu
geschaffene Kommission aufnehmen. Zu einer solchen Mitteilung
fühlten sich die Mitglieder des "Dismemberment- Committee" jedoch
nicht so ohne weiteres befugt, zumal die Regierungschefs es in
Jalta unterlassen hatten, sie zu einer solchen Erklärung zu
ermächtigen296. Man mußte außerdem damit rechnen, die Russen
würden einer entsprechenden Aufklärung Frankreichs wegen der
"grundsätzlichen
Anti-Haltung
der
Sowjets
gegenüber
den
Franzosen" nicht zustimmen297.
VI.
2. Frankreich wird einbezogen
Auf der Sitzung des Teilungs-Ausschusses am 11. April 1945 stand
das Frankreich-Problem auf der Tagesordnung298. Während Eden und
Winant sogleich Übereinstimmung über die
295
296
297
298
336
Vgl. J. Foschepoth, VfZG 1982, S. 691 f.
Ph. Mosely, EA 1950, S. 3039
Vgl. J. Foschepoth, VfZG 1982, S. 692
Ob die Initiative zur nunmehrigen Aufnahme und Informierung
Frankreichs von den Vereinigten Staaten oder von Großbritannien
ausging, ist nicht eindeutig zu klären, vgl. einerseits Ph.
Mosely, EA 1950, S. 3040, der angibt, der Anstoß dazu sei über das
US-Außenministerium und Winant erfolgt, dagegen J. Foschepoth,
VfZG 1982, S. 692 f., der nachweist, daß Winant noch am 07.03.1945
für den weiteren Ausschluß Frankreichs aus dem "DismembermentCommittee" plädiert hatte; vgl. auch FRUS 1945 III, S. 216, 219.
Hinzuziehung Frankreichs, die Unterrichtung über den JaltaPassus der Aufteilung und die Aufforderung an Frankreich, diesem
neuen Dokument zuzustimmen, erzielten, mußte Gusew erst bei
seiner Regierung Rücksprache nehmen. Eine Stellungnahme aus
Moskau wurde jedoch nie vorgelegt, was sich auch letztendlich
erübrigte, weil das "Dismemberment- Committee" keine weitere
Sitzung mehr abhielt299.
Die Franzosen bekamen dennoch Wind von der ganzen Angelegenheit
und waren verständlicherweise verstimmt, weil sie sich von ihren
alliierten Partnern hintergangen fühlten. Der amerikanische
Botschafter in Paris setzte unautorisiert die französische
Regierung über die Vorgänge in Jalta und danach in Kenntnis. Eden
sah sich nun gezwungen, den französischen Botschafter in London
und EAC- Repräsentanten seines Landes, Massigli, auch offiziell
zu unterrichten. US-Botschafter Winant war dabei anwesend. Seinem
politischen Berater in der EAC, Philip Mosely, oblag es danach,
wie er selbst bekundete, die Wogen bei den Franzosen wieder etwas
zu glätten, indem er auf das (jedoch erst wenige Tage vorher)
gezeigte Engagement der Amerikaner zur Einbeziehung Frankreichs
verwies und davor warnte, daß nun einsetzende französische
Proteste und Zeitungsmeldungen die Zustimmung der Sowjetunion nur
gefährden könnten300.
Wenn die Franzosen nun auch vollständig über das neue Komitee und
die Neufassung des Kapitulations-Textes informiert waren, so war
doch immer noch völlig offen, ob das ursprüngliche oder das
revidierte Dokument zur Anwendung kommen sollte. Zwar wurde in
der EAC am 1. Mai 1945 die erste Fassung unterzeichnet (mit den
notwendigen, Frankreich betreffenden Änderungen) , doch waren
immer noch Zweifel an ihrer möglichen Verwendung vorhanden, wenn
auch der Gedanke einer Zerstückelung Deutschlands als gezielte
politische Maßnahme, der zur veränderten Fassung geführt
299
300
Ph. Mosely, EA 1950, S. 3040; J. Foschepoth, VfZG 1982, S. 692
Ph. Mosely, EA 1950, S. 3040; J. Foschepoth VfZG 1982, S. 693; FRUS
1945 III,S. 222
337
hatte, durchaus nicht mehr der allgemeinen Meinung der Alliierten
entsprach301.
V.
3. Britische Änderungsvorschläge
anderen EAC-Delegationen
und die Reaktion der
a.
Britische
Änderungsvorschläge.
Während
sich
die
amerikanischen Völkerrechtsexperten, allen voran Colonel William
Chanler und Professor Philip C. Jessup, noch darüber stritten, ob
die Alliierten mit einer von ihnen erlassenen einseitigen
Erklärung der "bedingungslosen Kapitulation" genau so viele
Rechte an sich ziehen könnten wie durch eine Übertragung dieser
Rechte in dem dafür vorgesehenen, von der EAC ausgearbeiteten
Dokument, ging man in der EAC bereits an die praktische
Ausführung dieses Vorhabens. Wie schon so oft in den
vorangegangenen Monaten, wurde auch diesmal die britische
Delegation als erste tätig. Ihr Leiter, William Strang,
unterbreitete den EAC- Mitgliedern am 30. März 1945 einen in
seinem Haus entstandenen Entwurf einer alliierten Erklärung für
den Fall, daß keine zentrale deutsche Autorität, zivil oder
militärisch, zur Unterzeichnung des Textes mehr vorhanden sein
sollte302.
Strangs Vorlage orientierte sich jedoch nicht an dem JaltaBeschluß zur Kapitulation, sondern an dem ursprünglichen, war
doch Frankreich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht über den
Zusatz von Jalta informiert. Der Hinweis auf die Teilungsabsicht
der Alliierten fehlte somit. Ansonsten hielt sich der britische
Entwurf weitgehend an den originären Text, jedoch mit ein paar
formalen, aber auch inhaltlichen Verschiebungen. Die erste
Änderung betraf die Text-Überschrift und die Präambel. Hatte die
bisherige Überschrift schlicht "Unconditional Surrender of
Germany" geheißen303, so fehlte nun jeder Hinweis auf eine
"bedingungslose Kapitulation", und es war nur noch die Rede von
"Declaration ... regarding the defeat of Germany and
301
302
303
338
Ph. Mosely, EA 1950, S. 3040; FRUS 1945 III, S. 258 f.
FRUS 1945 III, S. 208 ff.
FRUS 1944 I, S. 256
V
the assumption of supreme authority with respect to Germany.
.."304.
Damit wurde nunmehr schon in der Überschrift deutlich, daß es
sich bei dieser gemeinsamen alliierten Erklärung um ein
Generalermächtigungs-Instrument handeln sollte. Um den hohen
Stellenwert dieser "supreme authority" auszudrücken, sollte der
sonst in Artikel 12 versteckte Ermächtigungspassus in die
Präambel aufgenommen werden. Um den Umfang der "supreme
authority" zu bestimmen, der sich ursprünglich aus der Person der
Unterzeichner ergeben hätte, die alle ihnen zustehenden
Befugnisse zu übertragen gehabt hätten, legte die britische
Delegation nun diesbezüglich eine Spezifizierung vor. In der
Ermächtigungsklausel sollte fortan stehen, die Regierungen des
Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika, der
Sowjetunion und der provisorischen Regierung der französichen
Republik würden...
"... hereby assume supreme authority with
respect to Germany, including all the
powers possessed by the German Government,
the High Command and any state, municipal,
or local government or authority. The
assumption, for the purposes stated above,
of the said authority and powers does not
effect the annexation of Germany."305
Durch den letzten Satz wurde den völkerrechtlichen Diskussionen,
und vor allem dem Vorschlag William Malkins, Rechnung getragen,
in denen teilweise vermutet worden war, die Übernahme der
"supreme authority" könnte zur "Debellatio" und damit zum
Untergang des deutschen Staates führen, verbunden mit einer Fülle
noch nicht vorhersehbarer Rechtsfolgen auch für die Alliierten
selbst. Daß dieses Ergebnis von den Alliierten nicht beabsichtigt
wurde, stellten sie durch die Aussage über die Nichtannektierung
Deutschlands hinreichend klar. Dies wurde auch durch den
nachfolgenden Präambel-Absatz gestützt, der feststellte,
304
305
FRUS 1945 III, S. 210
FRUS 1945 III, S. 210
339
die vier Alliierten würden später die Grenzen Deutschlands oder
eines Teils davon bestimmen, ebenso wie den (Rechts-)- Status
Deutschlands oder jedes Gebietes, das momentan ein Teil
Deutschlands sei306.
Die Intention, die die Briten mit diesen Formulierungen
verfolgten, lag auf der Hand: Durch die Erklärung sollte eine
völkerrechtliche Lage beschrieben werden, die in Anbetracht der
vollständigen
Niederlage
der
deutschen
Streitkräfte
als
"Conquest" bezeichnet werden kann. Den möglichen weiteren Schritt
zu einer "Debellatio" wollten sie sich ausdrücklich offenhalten.
Um aber auch in der Situation der "Conquest" nicht mehr an das
Völkerrecht, voran die HLKO, gebunden zu sein, hielten sie eine
spezifizierte einseitige Übernahme der "supreme authority" für
notwendig - auf welchem juristischen Weg das gesehenen könnte,
wurde in der Erklärung jedoch nicht gesagt. Vielmehr gab man sich
den Anschein, daß es schon seine Richtigkeit habe, wenngleich,
wie wir bereits gesehen haben, die Diskussionen darüber zumindest
in den amerikanischen Planungsstäben nicht abrissen.
William Strang führte in der dem britischen Entwurf beigegebenen
Denkschrift dazu lediglich aus:
"By the Declaration the Allies assume all
necessary authority and powers in respect
of Germany without effecting the annexation
of,
or
the
formal
acquisition
of
sovereignty over,
Germany."307
Noch nicht im britischen Entwurf enthalten war eine Vorschrift im
Hinblick auf die Übergabe von Kriegsverbrechern. Die Briten
hatten ganz zu Beginn der EAC-Verhandlungen die Aufnahme einer
diesbezüglichen Bestimmung in den Kapitulations-Text vorgesehen
gehabt, ihn dann aber wegen des Widerspruches der Sowjets und
Amerikaner fallengelassen. Die beiden Opponenten hatten
306
307
340
FRUS 1945 III, S. 210
FRUS 1945 III, S. 209
seinerzeit befürchtet, die deutschen Unterzeichner könnten sich
womöglich selbst als Kriegsverbrecher erweisen, so daß es weniger
wahrscheinlich erscheine, deutsche Unterschriften zu erhalten. Da
dieser Einwand bei einer einseitigen Erklärung der Alliierten,
wie sie nun besprochen wurde, keine Grundlage mehr hatte, machten
die Briten sich in der begleitenden Denkschrift erneut für die
Hineinnahme einer Kriegsverbrecher-Bestimmung stark308.
b. Reaktion der Sowjetunion und der USA. Die Reaktionen der
Amerikaner und Sowjets auf die britischen Anregungen fielen
unterschiedlich aus. Während das Weglassen des Begriffes
"bedingungslose Kapitulation" und die anderen Modifizierungen
Gusew störten, und er bereits annahm, dies sei der Beweis für
einen grundlegenden politischen Wandel, war Winant anderer
Ansicht. Er versicherte Gusew, er glaube nicht daran, daß die
Briten die Absicht hätten, ihre Politik zu ändern. Auch die
Amerikaner stünden zu den getroffenen Vereinbarungen, die
"bedingungslose
Kapitulation"
eingeschlossen309.
Eine
entsprechende
Klarstellung
nahm
auch
das
amerikanische
Außenministerium gegenüber dem sowjetischen Botschafter in
Washington, Gromyko, vor, der das Beharren der Amerikaner auf den
bisher gefaßten Beschlüssen befriedigt konstatierte310.
Selbst Roosevelt sah die Notwendigkeit einer Deklaration anstelle
der zu unterzeichnenden "bedingungslosen Kapitulation" nicht ein.
Er ließ sein Außenministerium wissen:
"I do not wish any document or proposal
changing
the
unconditional
surrender
terms."311
Winant war in der Beziehung jedoch ganz anderer Meinung. Da der
übliche Weg über das amerikanische Außenministerium fruchtlos
geblieben war, wandte er sich am 14. April 1945
308
309
310
311
FRUS
FRUS
FRUS
FRUS
1945
1945
1945
1945
III,
III,
III,
III,
S.
S.
S.
S.
209
216 f.
217 ff.
219
341
telefonisch direkt an den Chef des Stabes der US-Army, General
Marshall. Es gelang Winant, Marshall von der Notwendigkeit einer
unter den vier Alliierten in der EAC abgestimmten Proklamation
auf der Grundlage des EAC-Textes vom Juli 1944 zu überzeugen312.
General Marshall und Kriegsminister Stimson sahen ein, daß
möglicherweise eine Situation entstehen konnte, in der eine
deutsche Regierung oder ein deutsches Oberkommando nicht mehr
vorhanden waren. Um nähere Absprachen zu treffen, suchten sie den
Kontakt zum Außenministerium313.
In einem Schreiben an Winant am 18. April 1945, das
offensichtlich mit dem Kriegsministerium abgesprochen war,
widersetzte sich Außenminister Stettinius jedoch den Bestrebungen
nach Umwandlung des Kapitulations-Textes in eine Proklamation. Da
viele Bereiche des ursprünglichen Kapitulations-Dokumentes schon
durch Verordnungen der Militärregierung (SHAEF) geregelt werden
würden, könnte die Ausfertigung der ganzen "bedingungslosen
Kapitulation" in eine Proklamation Verwirrung verursachen. Der
Text erschien Stettinius viel zu lang, als daß er als Erklärung
wirkungsvoll
werden
könnte.
Kriegsund
Außenministerium
bevorzugten eher den Erlaß einer kurzen Deklaration von
allgemeinem Charakter. Sie sollte enthalten:
1. Die Feststellung der vollständigen Niederlage und die
Verhängung der Forderungen der "bedingungslosen Kapitulation".
2. Die Übernahme der "supreme authority" durch die vier
alliierten Mächte.
3. Die Einrichtung des Kontrollrats und die Beschreibung der
zonalen Verantwortlichkeit.
4. Eine Anweisung an die Deutschen, alliierten Befehlen Folge zu
leisten, verbunden mit der Androhung harter Bestrafung bei
Nichtbefolgung.
312
313
342
FRUS 1945 III, S. 223 ff.
FRUS 1945 III, S. 223
5.
Ankündigung, daß weiterer Widerstand gegen die Streitkräfte
der
Vereinten
Nationen
als
unrechtmäßig
angesehen
und
dementsprechend geahndet werde.314
Die in der Kapitulations-Urkunde vorgesehenen politischen
Maßnahmen und Verfahrensweisen sollten danach in Kraft gesetzt
werden durch die kommandierenden Generäle der Streitkräfte der
vier Mächte in Form entsprechender Anordnungen. Dies, so
versicherte
Stettinius,
bedeute
nach
Ansicht
des
Außenministeriums
keine
Abweichung
von
der
Politik
der
"bedingungslosen
Kapitulation".
Stettinius
verstand
diese
Vorschläge jedoch nur als Anregung, nicht als für Winant bindend.
Sollte es mit diesen Vorschlägen in der EAC Schwierigkeiten
geben, was aufgrund der kategorischen Verweigerungshaltung der
Sowjetunion schon abzusehen war, stand es Winant frei, auf der
Basis der bisherigen Deklarations-Entwürfe mit seinen EACKollegen zu verhandeln315.
c. Ein weiterer britischer Vorschlag zur Erweiterung der
Kapitulations-Urkunde. Zusätzliche Konfusion in einem Augenblick,
in dem aus alliierter Sicht eindeutiges Handeln erforderlich
gewesen wäre, löste William Strang am 1. Mai
1945 aus, als er Philip Mosely über eine beabsichtigte wichtige
Erweiterung des Kapitulations-Textes informierte, die Strang der
EAC demnächst unterbreiten wollte. Anstelle des Satzes in der
Präambel, die Repräsentanten der Oberkommandos der vier
Alliierten handelten im Auftrag ("by authority") ihrer jeweiligen
Regierungen und im Interesse der Vereinten Nationen316, schlug
Strang die Formulierung vor:
"...
acting
by
authority
of
their
respective governments and others of the
United
Nations
which
have
actively
participated in the defeat of Germany and
in the interest of all the United
Nations."317
314
315
316
317
FRUS
FRUS
FRUS
FRUS
1945
1945
1945
1945
III,
III,
III,
III,
S.
S.
S.
S.
230
230 f.
210
254 f.
343
Strang hatte eine direkte Anweisung seiner Regierung erhalten,
auf diesen Passus zu drängen. Hintergrund war ein starker
kanadischer Druck. Andernfalls, so ließ Strang Philip Mosely
wissen, beabsichtigten die Kanadier eine Protesterklärung
abzugeben, da sie der Auffassung seien, die gegenwärtige Fassung
erkenne den Beitrag der anderen Vereinten Nationen nur
unzureichend an318.
Der britische Zusatz mußte unzweifelhaft zu einer weiteren
Verzögerung der endgültigen Beschlußfassung führen, weil zuvor
eine Vielzahl auch außereuropäischer Staaten zu konsultieren
gewesen wären. Ein Unterzeichnungsrecht sollte diesen Staaten
allerdings nicht eingeräumt werden. Für Strang war nur wichtig,
daß mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung in Ländern wie
Kanada die jeweiligen Regierungen nachher sagen könnten, sie
seien zu Rate gezogen worden über die Kapitulations-Bestimmungen
und hätten sie gebilligt319.
In der Abendsitzung der EAC am 1. Mai 1945 wurden dann die
Weichen für die in den kommenden Tagen zu fällenden
Entscheidungen gestellt. Alle Delegationen waren sich einig, daß
ein Proklamations-Entwurf vorzubereiten sei. Diese Proklamation
sollte jedoch nur Verwendung finden, falls tatsächlich keine zur
Unterschrift fähige "central power of authority" in Deutschland
mehr vorhanden sei320. Über die anderen britischen Änderungs- und
Ergänzungsbestrebungen
wurde
zwar
diskutiert,
eine
Übereinstimmung fanden die vier Delegationen allerdings nicht321.
318
319
320
321
344
FRUS
FRUS
FRUS
Vgl.
1945
1945
1945
FRUS
III, S. 255
III, S. 256
III, S. 257
1945 III, S. 256 f.
VI.4. Die Entscheidung zur Verwendung einer rein
militärischen Kapitulations-Urkunde
Konfusion in den amerikanischen Planungsstäben. In den ersten
Maitagen wurde der baldige militärische Kollaps der deutschen
Streitkräfte
immer
offensichtlicher.
Welche
Fassung
des
Kapitulations-Textes sollte man der deutschen militärischen,
vielleicht auch der zivilen Führung vorlegen? Die Fassung vom
Juli 1944, die Jalta-Fassung, mit oder ohne die britischen
Änderungs- und Zusatzklauseln? Oder sollte man gar auf die
politisch-militärische
Kapitulation
zugunsten
einer
rein
militärischen ganz verzichten? Die Unsicherheiten waren größer
als in jeder der vorhergegangenen Planungsphasen. Philip Moselys
Besuche bei der sowjetischen EAC-Delegation blieben ohne faßbares
Ergebnis322.
a.
Sein Chef, John G. Winant, suchte indessen Kontakt zu SHAEF und
dem Außenministerium in Washington, um zumindest eine interne
amerikanische Klärung herbeizuführen. In seinem Gespräch am 4.
Mai mit Generalleutnant Walter Bedell Smith (SHAEF), dem
Stabschef General Eisenhowers, erfuhr Winant, daß bei SHAEF der
ursprüngliche Kapitulations-Text vom Juli 1944 zwar bekannt war,
es sich dabei aber nicht um einen von den JCS übermittelten
authentischen Text handelte und SHAEF auch noch nicht von den
vier
Regierungen
bevollmächtigt
war,
diese
Urkunde
zur
Unterzeichnung vorzulegen323.
In einem Telefonat mit H. Freeman Matthews, dem Direktor des
"Office of European Affairs" im Außenministerium, mußte Winant zu
seiner Enttäuschung feststellen, daß die Verbindungen der
Ministerien sowie der einzelnen Abteilungen untereinander
anscheinend in dieser Frage mehr als untauglich gewesen waren.
Winant forderte Matthews dazu auf, für eine unverzügliche
Übersendung eines Originals des Kapitulations-Textes über die CCS
an SHAEF zu sorgen324.
322
323
324
Ph. Mosely, EA 1950, S. 3040
Ph. Mosely, EA 1950, S. 3041
FRUS 1945 III, S. 267
345
Hinsichtlich der geplanten Proklamation bekundete Winant leichte
Zweifel, ob denn eine einseitige Erklärung als Rechtsquelle für
die Alliierten ebenso geeignet sei wie eine von deutscher Seite
Unterzeichnete Kapitulations- Urkunde :
"We are now working on the proclamation,
which might be used as a substitute for the
Surrender Instrument. I believe it should
be understood that the Surrender Instrument
gives us a firmer legal base than the
proclamation."325
Am Ende des Gesprächs kündigte Winant an, sobald die Frage der
"bedingungslosen
Kapitulation"
oder
einer
Proklamation
der
Alliierten aufkomme, werde er Philip Mosely zu SHAEF schicken, um
dieses
mit
seinen
Kenntnissen
der
russischen
Sprache
zu
unterstützen. Matthews erklärte sich damit einverstanden326.
a. Entwurf
und
Gebrauch
eines
militärischen
Kapitulations-
Am 5. Mai schaltete sich auf britischer Seite der
Premierminister in die Kapitulations-Planungen ein. Er ließ
William Strang, der gerade an einer EAC-Sitzung teilnahm, aus dem
Gremium herausrufen und beorderte ihn zu sich"'. Strang erfuhr
von Churchill, daß SHAEF in mehreren Telefongesprächen mit ihm
interveniert und angeregt hatte, einen ganz neuen KapitulationsText zu verwenden. SHAEF wollte sich auf eine rein militärische
Kapitulation der deutschen Streitkräfte beschränken, weil es
befürchtete, das EAC-Dokument könnte die Deutschen aufgrund der
dort enthaltenen detaillierten Artikel von einer Unterzeichnung
abhalten.
Gleichzeitig
hoffte
SHAEF,
durch
eine
knappe
militärische
Kapitulation
und
unmittelbar
folgender
Feuereinstellung auf beiden Seiten Leben retten zu können328.
Hergestellt hatte die militärische Urkunde am 4. Mai ein in der
G-3-Abteilung von SHAEF beschäftigter
Textes.
325
326
327
328
346
FRUS 1945 III,
FRUS 1945 III,
FRUS 1945 III,
Ph. Mosely, EA
S. 268
S. 271
S. 276; Ph. Mosely, EA 1950, S. 3041
1950, S. 3041
britischer Oberst, John Counsell, im Zivilberuf Schauspieler und
Theatermanager, der sich die Bestimmungen der Kapitulation der
deutschen Streitkräfte in Italien wenige Tage zuvor zum Vorbild
genommen hatte329.
Eine Entscheidung für eine militärische Kapitulation zu diesem
Zeitpunkt ließ für die nähere Zukunft noch alle Möglichkeiten
offen, von der Regierung Dönitz, sofern die Alliierten sie als
solche anerkannt hätten, ein auch politisches KapitulationsDokument unterschreiben zu lassen. Außerdem war in der EAC ja die
neue Fassung einer Kapitulations-Deklaration der Alliierten in
Arbeit, die dann eventuell als Ersatz für die politische
Kapitulation der deutschen Regierung durch die Sieger erlassen
werden konnte. Für den letzten Fall war die völkerrechtliche
Lage, wie die Diskussion in den amerikanischen Ministerien zeigt,
jedoch völlig unklar.
Als heftiger Kritiker der militärischen Kapitulation tat sich
später vor allem Philip Mosely hervor, der wenige Jahre später
feststellte:
"Diese
militärischen
Faktoren
waren
wichtig. Sie ließen jedoch zwei bedeutende
politische Erwägungen außer acht.
Die Alliierten würden dadurch, daß sie dem
deutschen Oberkommando gestatteten, eine
rein militärische Übergabeurkunde im Felde
zu
unterzeichnen,
die
Gelegenheit
verspielen,
sich
die
deutsche
Anerkennung
der
bedingungslosen politischen Übergabe zu
sichern. Diese Unterlassung hätte die
oberste Autorität in Frage gestellt, die
die Alliierten laut gemeinsamem Beschluß
über Deutschland ausüben wollten. Zum
Beispiel wären bei einer rein militärischen
Übergabe die Bestimmungen der Genfer und
Haager Konventionen auf unbestimmte Zeit in
Kraft geblieben, das würde die Alliierten
gesetzlich
zwingen,
die
Gesetze
und
Einrichtungen des
329
E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany, 19441946, S. 257
347
f
Naziregimes beizubehalten und würde sie
daran
hindern,
die
politischen
Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen und
zu
bestrafen,
und
hätte
ihnen
im
allgemeinen das
Recht genommen, eine
vollständige Kontrolle über Deutschland
auszuüben. Eine rein militärische Übergabe
war
durchaus
angemessen
für
die
Kapitulation getrennter Armeen, — aber als
Dokument der endgültigen bedingungslosen
Kapitulation
seitens
der
deutschen
Regierung und des Oberkommandos war sie
völlig unzureichend.
Noch eine weitere Gefahr lag in der Annahme
des
Vorschlages
des
Obersten
Hauptquartiers. Die EAC Übergabeurkunde
stellte gleichzeitig ein Übereinkommen der
vier alliierten Regierungen untereinander
dar. Ihre Bestimmungen sollten für die
Alliierten
in
ihren
Verhandlungen
untereinander sowie auch für die Deutschen
bindend
sein.
Es
war
riskant,
die
Zusammenarbeit der Alliierten nach dem
Kriege damit einzuleiten, daß man eines der
Grunddokumente
des
alliierten
Übereinkommens verwarf und an die Stelle
des von den vier Regierungen genehmigten
Dokuments ein neues setzte, von dessen
Vorhandensein und Inhalt einige von ihnen
nicht einmal wußten."330
Den bei SHAEF erstellten Entwurf segneten am 6. Mai in London
Premierminister Churchill und Botschafter John G. Winant ab331.
Winant stellte in diesen Gesprächen sicher, daß die militärische
Urkunde einen späteren Gebrauch des EAC-Kapitulations-Dokuments
oder einer entsprechenden alliierten Erklärung nicht ausschloß.
Das Maß an Übereinstimmung, das die vier Alliierten in diesen
Papieren erreicht hatten, sollte in vollem Umfang bewahrt
werden332. Vorher war es Winant gelungen, in den SHAEF-Entwurf
noch einen zusätzlichen Artikel aufzunehmen. Dieser Artikel 4
sollte nach Philip Moselys Bekundung eine "allgemeine
330
331
Ph. Mosely, EA 1950, S. 3041 f.
FRUS 1945 III, S. 280
332
FRUS 1945 III, S. 284
348
Ermächtigungsklausel"333
bestimmte:
für
die
Alliierten
sein.
Artikel
4
"Diese
Urkunde
militärischer
Übergabe
präjudiziert nicht ihre Ersetzung durch ein
allgemeines
Kapitulations
instrument, das von den Vereinten Nationen
oder in ihrem Namen Deutschland und den
deutschen Streitkräften in ihrer Gesamtheit
auferlegt wird."334
Winant teilte die neue Entwicklung am 6. Mai telegrafisch dem
amerikanischen Außenminister Stettinius mit335. Er ging davon aus,
daß SHAEF für seinen Entwurf das Einverständnis der CCS und des
US-Kriegsministeriums erhalten hätte336.
Einen Tag danach, am 7. Mai, unterzeichnete Generaloberst Jodel
im
SHAEF-Hauptquartier
in
Reims
den
"Act
of
Military
Surrender"337. Weil die Sowjets aber mit der Entwicklung der
letzten Tage nicht einverstanden waren und vorher auch nur
unzureichend in die Besprechungen einbezogen worden waren,
bestand Moskau darauf, daß eine zweite Unterzeichnung stattfinden
müßte. So kam es dann am 8. Mai 1945 kurz vor Mitternacht im
sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst
durch
Admiral
Friedeburg,
Generalfeldmarschall Keitel und Generaloberst Stumpff zu einer
erneuten militärischen Kapitulation seitens der deutschen
Wehrmacht338.
c. Verärgerung in Washington. In Washington herrschte derweil
heilloses
Durcheinander.
Weder
das
Außen-,
noch
das
Kriegsministerium hatten genauere Kenntnis von der SHAEF- Urkunde
und wurden von der militärischen Kapitulation
333
334
335
336
337
338
Ph. Mosely, EA 1950, S. 3042
Text bei R. v. Laun, Anhang: Kapitulation, in: Bonner
Kommentar, Bd. 9, S. 13 f.
FRUS 1945 III, S. 280
Ph. Mosely, EA 1950, S. 3042
E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany, 19441946, S. 257
E.F. Ziemke, ebd., S. 258; Text: Amtsblatt des Kontrollrats in
Deutschland, 1945, Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 6; R. v.Laun, Anhang:
Kapitulation, in: Bonner Kommentar, Bd. 9, S. 12 ff. (dt.)
349
vollkommen überrascht. Winant wurde vom Außenministerium am 9.
Mai um dringende Aufklärung der Angelegenheit ersucht339. In
Washington
reagierte
der
Unterstaatssekretär
im
Kriegsministerium, John J. McCloy, mit am heftigsten. Ihm war der
Verzicht
auf
das
EAC-Dokument
äußerst
peinlich
("much
embarrassed") und er war darüber auch entsprechend verärgert
("much annoyed"). Er bezeichnete es als unglaublich, daß ein
Dokument, das die formale Zustimmung der vier Regierungen und der
JCS hatte, einfach vergessen oder ignoriert worden war.
Eisenhower versuchte sich gegenüber McCloy durch den Hinweis aus
der Affäre zu ziehen, daß anstatt der G-5 Abteilung (Civil
Affairs Division) von SHAEF die G-3 (Operations Division) und die
G-l Abteilung (Personnel Division) mit der Angelegenheit befaßt
gewesen
seien.
Bevor
SHAEF
weitere
unbedachte
Schritte
unternehmen konnte, untersagte McCloy Eisenhower, irgendwelche
anderen Dokumente unterzeichnen zu lassen oder Erklärungen
abzugeben. Er wollte nun erst einmal sorgfältig prüfen, ob es
noch Sinn haben würde, eine deutsche Unterschrift unter das EACDokument zu erzwingen oder ob die vorgeschlagene Deklaration,
erlassen durch die vier Regierungen, ausreichend sei für das
geplante Vorhaben und die Einsetzung des Kontrollapparates340. Zu
einer umfassenden Untersuchung der politischen Zweckmäßigkeit und
der völkerrechtlichen Zulässigkeit der beiden Alternativen blieb
jedoch keine Zeit mehr.
d. Verhaftung der Regierung Dönitz. Im Grunde hatten sich sowohl
die Amerikaner als auch die anderen Alliierten schon damit
abgefunden, daß es zu einer deutschen Unterschrift unter das EACDokument gar nicht mehr kommen sollte. Die "Regierung Dönitz"
wurde zwar eine Zeitlang geduldet, weil man sich von einer
zentralen deutschen Stelle eine bessere Lösung drängender
Versorgungsprobleme der deutschen Bevölkerung versprach. Obwohl
es gute Gründe dafür gibt, die Regierung Dönitz als eine
rechtmäßige deutsche
339
340
350
FRUS 1945 III, S. 282; Ph. Mosely, EA 1950, S. 3042
FRUS 1945 III, S. 289 f.
Reichsregierung anzusehen341, wurde sie von den Alliierten nie als
solche anerkannt. Nachdem die Amerikaner und Briten mit der
Sowjetunion Rücksprache genommen hatten, wurde Dönitz mit seinen
Mitarbeitern am 23. Mai 1945 von einer britischen Einheit unter
entwürdigenden Umständen verhaftet342. Dadurch nahmen sie sich
selbst die Möglichkeit, das EAC-Dokument noch von einer deutschen
Regierung unterschreiben zu lassen, um dadurch eine hinreichende
Rechtsgrundlage für die über die HLKO hinausgehenden Maßnahmen zu
erhalten. Sie schufen sich somit selbst eine Sachlage, die sie
seit Dezember 1944 erwartet hatten. Die Verhaftung der
geschäftsführenden Reichsregierung in Flensburg, mit deren
Existenz niemand mehr gerechnet hatte, stellte somit, wie der
britische Joint Planning Staff feststellte, eine Situation her,
die man vorausgesetzt hatte343.
VI.
5. Die Berliner Viermächteerklärung vom 5. Juni 1945
Bereits am 10. Mai 1945 ließ Gusew seine Kollegen in der EAC
wissen, seine Regierung bevorzuge statt der Kapitulations-Urkunde
die Verwendung einer alliierten Deklaration344. Zu den möglichen
völkerrechtlichen Konsequenzen einer solchen Deklaration teilte
Botschafter Winant dem US-Außenminister Stettinius mit:
"We (die EAC-Delegationen, d.Verf.) believe
the declaration to be equally binding on
the four occupying powers and to be a solid
basis for the imposition of the will on the
four powers of Germany." 345
Um weitere Verzögerungen in der Beschlußfassung zu vermeiden,
stimmten alle vier EAC-Delegationen für eine
341
342
343
344
345
Vgl. dazu D. Nolte, Das Problem der Rechtmäßigkeit der Nachfolge
Hitlers durch die "Regierung Dönitz", JuS 1989, S.
440 ff.
Vgl. M.G. Steinert, Die alliierte Entscheidung zur Verhaftung der
Regierung Dönitz, in: MGM 2/1986, S. 85 ff.
M.G. Steinert, ebd., S. 95
FRUS 1945 III, S. 284
FRUS 1945 III, S. 284
351
Eliminierung des Wortes "Aufteilung" aus der in eine Deklaration
ungeschriebenen EAC-Kapitulations-Urkunde. Für den Fall, daß man
später
doch
noch
eine
Zerstückelung
Deutschlands
für
wünschenswert
erachten
würde,
verständigten
sich
die
Delegationen,
daß
die
Präambel
der
Deklaration
die
Voraussetzungen schaffe für die vier Regierungen, in einer
späteren Entscheidung den zukünftigen Status Deutschlands, oder
zumindest von Teilen, festzulegen346.
Die EAC empfahl den vier betroffenen Regierungen am 12. Mai, den
ohne wesentliche Veränderungen zur Deklaration umgebauten Text
der Kapitulations-Urkunde vom Juli 1944, unter Erweiterung der
Präambel, wie es Strang am 30. März vorgeschlagen hatte,
anzunehmen und zur Veröffentlichung freizugeben347. Der neue
amerikanische Präsident, Harry Truman, billigte den Entwurf am
14. Mai, und das Kriegsministerium instruierte Eisenhower, den
Erlaß der Deklaration durch die vier alliierten Kommandeure in
Deutschland
zu
veranlassen348.
Die
anderen
Regierungen
übermittelten ihre formale Zustimmung innerhalb einer Woche349.
Am 29. Mai schlug John G. Winant in der EAC vor, die
Oberbefehlshaber sollten sich am 1. Juni in Berlin treffen, die
Deklaration unterzeichnen, den Kontrollrat bilden und die
Protokolle
hinsichtlich
der
Zoneneinteilung
und
des
Kontrollapparates in Kraft setzen350. Die Rücksprache der
sowjetischen Delegation mit Moskau zeigte ein überraschend
schnelles Ergebnis. Bereits am 4. Juni teilte Gusew seinen
Kollegen mit, daß die sowjetische Regierung mit einem Treffen der
vier alliierten Oberbefehlshaber in Berlin am darauffolgenden Tag
einverstanden sei und die Deklaration dort unterzeichnet und
erlassen werden solle351. Nachdem am
346
347
348
349
350
351
352
FRUS 1945 III, S. 284
FRUS 1945 III, S. 289
FRUS 1945 III, S. 293 f.; E.F. Ziemke, The U.S. Army in the
Occupation of Germany, 1944-1946, S. 264
E.F. Ziemke, ebd.
FRUS 1945 III, S. 314 f.
FRUS 1945 III, S. 323
5.
Juni
noch
schnell
eine
letzte
marginale
Meinungsverschiedenheit zwischen den Russen einerseits und den drei
anderen Alliierten andererseits aus dem Weg geräumt worden war,
Unterzeichneten die vier Oberbefehlshaber die "Declaration
Regarding the Defeat of Germany and the Assumption of Supreme
Authority with Respect to Germany"352. Außerdem erließen sie noch
drei weitere "Feststellungen" ("statements"), die sich mit dem
Kontrollverfahren, mit den Besatzungszonen und mit etwaigen
Beratungen mit anderen Staaten der Vereinten Nationen befaßten353.
VII. Die völkerrechtliche Dabatte in Washington im Mai und Juni
1945
Die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 warf eine Reihe von
Fragen auf, die sich insbesondere in den völkerrechtlichen
Disputen seit Januar 1945 in der CAD bereits angekündigt hatten.
Die politische Absicht, die die Alliierten mit dieser Deklaration
verbanden, war eindeutig: Sie sollte ihnen eine rechtliche
Machtfülle verleihen, wie sie vorher noch nie ein Besatzer auf
feindlichem Gebiet gehabt hatte. Die entscheidende Frage aber war
die völkerrechtliche, die Frage nämlich, ob das Völkerrecht
überhaupt das notwendige Instrumentarium bereitstellte, das die
Alliierten zur Verwirklichung ihrer Ziele beanspruchten. Die
vorangegangenen Debatten hatten bereits aufgezeigt, daß es sich
hierbei um ein nicht einfach zu lösendes komplexes Problem
handelte. Nur eines stand unzweifelhaft fest: Präzedenzfälle, auf
die man sich von alliierter Seite hätte berufen können,
existierten nicht.
352
353
Amtliche Übersetzung des alliierten
Deutschland in: W. Cornides/H. Volle
Deutschland, S. 74 ff.
Amtliche Übersetzung des alliierten
Deutschland in: W. Cornides/H. Volle
Deutschland, S. 77
Büros des Kontrollrates in
(Hg.), Um den Frieden mit
Büros des Kontrollrats in
(Hg.), Um den Frieden mit
353
VII.1. Ralph Carsons Memorandum vom 19. Mai 1945
Als erster setzte sich am 19. Mai 1945 Ralph M. Carson, der
Mitarbeiter von Norman Davis in dessen New Yorker Anwaltskanzlei,
mit der neuen Situation auseinander. (Die von ihm vorgebrachten
Argumente hatte er zuvor mit Davis
abgesprochen.)
354
Carson griff zunächst die bisherhigen Konstruktionsversuche auf,
um ihnen eine klare Absage zu erteilen. Den Hinweis, die Dinge
hätten sich seit 1907 in höchstem Grade geändert, besonders
aufgrund der von Deutschland betriebenen Art der Kriegführung,
und damit die Berufung auf den Grundsatz von "rebus sic
stantibus" zur Begründung einer Nichtanwendbarkeit der HLKO, ließ
er nicht gelten. Nach Carsons Ansicht hatten seine bisherigen
Anwendungsfälle diesen Grundsatz in Mißkredit gebracht. Außerdem
fügte Carson hinzu:
"...
it
(der
Grundsatz
"rebus
sic
stantibus", d. Verf.) would not seem in any
version to justify disregard by this
Government of the Hague Conventions."355
Aber auch die Bezugnahme von Professor Jessup auf das römischrechtliche "deditio" und die Möglichkeit einer "Debellatio"
wurden von Carson verworfen. Jedes der beiden Konzepte sehe eine
Unterwerfung des Besiegten unter die Gnade des Siegers vor. Der
Besiegte könne rechtmäßig vereinbart haben, auf die Wohltaten der
Haager Konventionen zu verzichten und müsse in seiner
herabgesetzten Stellung mit allem einverstanden sein. Carson
meinte dazu:
"Such reasoning, while perhaps verbally
exact, is not supported by either the
writings of any publicist or any
354
355
354
R.M. Carson an Col. W.C. Chanler, CAD, Schreiben vom 19.5.1945; RG
107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat; RL Charles Fahy
Papers, Box Nr. 65
R.M. Carson an Col. W.C. Chanler, Schreiben v. 19.05.1945; ebd.
historical example, and therefore I should
think it would be considered by lawyers
generally to be inadequate to excuse what
would otherwise appear a frank repudiation
of the Hague Convention."356
Zu Chanlers Konstruktionsbemühungen, aus dem Faktum des
Machtbesitzes auch die Befugnis zur über das Völkerrecht
hinausgehenden Rechtsetzung und Verneinung des Völkerrechts zu
folgern, äußerte Carson sich nicht. Offensichtlich waren diese
ihm damals noch gar nicht bekannt. Carson selbst glaubte, das
angestrebte Ziel, die Außer-Kraft-Setzung des völkerrechtlichen
Besatzungsrechts, nur durch die Einsetzung der alliierten
Kontroll-Kommission als deutsche Regierung rechtfertigen zu
können. Es handele sich dann um eine Regierung, die souveräne
Macht hinsichtlich Deutschlands ausübe357.
Colonel William Chanler fühlte sich durch Ralph Carson in der von
ihm vertretenen "Malkintheorie", die er selbst nun "QuasiDebellatio-Theorie" nannte, bestätigt, obgleich Carson die von
Jessup mit "deditio" und von Chanler mit "Quasi-Debellatio"
verbundenen Rechtsfolgen eindeutig abgelehnt hatte. In Chanlers
Logik paßte dennoch alles zusammen. Ausgehend von seiner und
Malkins These, daß das "Größere" (die Zerschlagung des deutschen
Staates)
das
(vermeintlich)
"Kleinere"
(planmäßige
Völkerrechtsverstöße) einschließen müsse, folgerte Chanler:
"I can see no reason why, if a conqueror
may, by unilateral action, without the
consent of the conquered, either annex,
partition, or establish a new government,
he cannot also establish a control council
with the right and power to exercise all
sovereign rights over Germany, without
acquiring sovereignty and also without
356
R.M. Carson an Col. W.C. Chanler, Schreiben v. 19.05.1945; ebd.
357
R.M. Carson an Col. W.C. Chanler, Schreiben v. 19.05.1945; ebd.
355
necessarily terminating the state of
war."358
Die Übernahme der Regierung in Deutschland sollte nach Carsons
Ansicht zu einem Übergang der Souveränität auf den Kontrollrat
und zur Beendigung des Kriegszustandes führen. Während Chanler
noch bereit war, sich mit der "Regierungsthese" anzufreunden,
waren die beiden damit verbundenen Folgeerscheinungen für ihn
jedoch
inakzeptabel.
Dies
teilte
Chanler
auch
seinem
Vorgesetzten, Unterstaatssekretär McCloy, mit359.
VII.2. William Chanlers Memorandum vom 6. Juni 1945
Vor dem Hintergrund der Berliner Deklaration vom 5. Juni 1945
erstellte Colonel William C. Chanler bereits einen Tag später ein
27 Seiten umfassendes Rechtsgutachten, in dem er sein Verständnis
von der nun eingetretenen völkerrechtlichen Lage noch einmal
ausführlich darlegte360. Auffallend ist, daß Chanler die
Deklaration zwar zum Anlaß seines Gutachtens machte, er auf den
konkreten völkerrechtlichen Gehalt, insbesondere in der Präambel,
aber nicht weiter einging.
Chanler
stellte
in
seinem
Gutachten
mehrere
Theorien
gleichberechtigt nebeneinander. Für ihn hatten sich bei der
bisherigen
Diskussion
drei
argumentative
Schwerpunkte
herausgestellt:
1. Der
vollständige
Zusammenbruch
Deutschlands
und
die
alliierten Absichten stellten eine beispiellose Situation dar, in
der die Haager Konvention nicht anwendbar sei. Zur Begründung
führte Chanler aus, das Völkerrecht sei
358
359
360
356
Col. W.C. Chanler an R.C. Carson, Schreiben vom 24.05.1945; RG 107
ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat; RL Charles Fahy Papers, Box
Nr. 65
Col. W.C. Chanler, "Memorandum for Mr. McCloy", "Subject:
Consequences of Unconditional Surrender", 25.05.1945; RL
Charles Fahy Papers, Box Nr. 65
Col. W.C. Chanler, "Memorandum of Law", "Subject: Rights and Powers
of the Control Council over Germany under International Law",
06.06.1945; RG 107 ASW 370.8 Germany - Control Council; RL Charles
Fahy Papers, Box Nr. 65
erwachsen aus den Sitten und Gebräuchen starker Völker beim
Erobern schwacher Völker zum Zweck der eigenen Expansion und
Vergrößerung. Demgemäß befaßten sich die meisten Präzedenzfälle
mit der Begrenzung, die den Rechten des erfolgreichen Aggressors
auferlegt würde. Hier aber handele es sich um den umgekehrten
Fall: Die Opfer der Aggression hätten den Aggressor erobert und
beabsichtigten nun eine Langzeit-Besetzung des ganzen Landes,
nicht aus Gründen der nationalen Vergrößerung, sondern aus der
alleinigen Zielsetzung, den Aggressor zu reformieren und den
Weltfrieden zu sichern. Zweitens sei keine deutsche Regierung
mehr vorhanden, mit der man einen Vertrag, falls erwünscht,
abschließen könne.
Entscheidend
war
für
Chanler
aber
wohl
ein
weiterer
Gesichtspunkt: Bei näherer Beleuchtung des Ursprungs und des
Zwecks der Haager Regeln kam er zu dem Ergebnis, daß weder diese
noch irgendwelche anderen Völkerrechtssätze in der gegenwärtigen
Lage zur Anwendung kommen könnten. Denn Zielsetzung der Artikel
42-56 der HLKO, so führte Chanler unter Berufung auf Feilchenfeld
(The Economic Law of Belligerent Occupation, 1942) aus, sei es,
den vorübergehenden Besetzer davon abzuhalten, irgendwelche
dauernden Veränderungen in der politischen und wirtschaftlichen
Struktur des besetzten Gebietes vorzunehmen, oder das Leben der
Bevölkerung nicht weiter zu stören, als es die Notendigkeiten der
Kriegführung verlangten. Die Lage in Deutschland sei nun jedoch
weder "vorübergehend" noch "provisorisch". Die Alliierten hätten
die Macht, die Besetzung aufrechtzuerhalten und Deutschland zu
kontrollieren bis sie völlig befriedigt seien und ihre Ziele
verwirklicht hätten. Eine solche Situation aber hätten die
Autoren der Haager Konventionen nicht in ihre Überlegungen
einbezogen. Es handele sich deshalb in Deutschland (in Anlehnung
an Feilchenfeld, a.a.O.) um eine "quasi-permanente" Okkupation,
die zwischen der endgültigen
357
Beendigung des "fighting war" und dem Abschluß des "final peace"
liege361.
2. Chanlers zweite Argumentation beschäftigte sich mit der Frage,
inwieweit die Alliierten berechtigt gewesen seien, durch
einseitige Deklaration eine ihnen genehme völkerrechtliche Lage
in Deutschland herbeizuführen. Die "bedingungslose Kapitulation"
der deutschen Streitkräfte, die keinen Unterschied erkennen lasse
zu
einer
totalen
und
endgültigen
Niederkämpfung
oder
Gefangennahme auf dem Schlachtfeld, habe völkerrechtlich zu einer
"Conquest" geführt, bei der der Okkupant keine größeren Rechte
als die eines militärischen Besetzers gehabt habe, und somit den
Konventionen
unterworfen
gewesen
sei.
Unter
Zitierung
völkerrechtlicher Autoritäten konnte Chanler nachweisen, daß die
Alliierten bei einer solchen Sachlage befugt gewesen wären, ihren
Willen entweder in einem Waffenstillstand oder einem (Friedens)Vertrag dem Unterlegenen aufzuzwingen oder durch einseitige
Erklärung der Annexion oder der Teilung die "Subjugation" zu
vervollständigen. Auf der Grundlage dieser eindeutigen und unter
Völkerrechts-Autoren wie auch in der völkerrechtlichen Praxis
unbestrittenen Rechtslage, versuchte sich Chanler anschließend an
einer
"Weiterentwicklung"
des
Völkerrechts
zugunsten
der
alliierten Interessen.
Aus
dem
klaren
"Entweder-Oder"
zwischen
"Conquest"
und
"Debellatio" ("Subjugation") wurde bei Chanler, der seiner
bisherigen Argumentationslinie treu blieb, in Anlehnung an
William Malkin erneut ein "Mehr oder Weniger": "das Größere"
müsse "das Kleinere" logischerweise einschließen. Wenn die
Alliierten aber durch einseitige Erklärung den deutschen Staat
zerstören könnten, dann müßten sie auch das Recht haben, weniger
drastische Maßnahmen durch einseitige Willensäußerung rechtmäßig
zu ergreifen. In bezug auf die in Deutschland tatsächlich
geschaffene Lage bedeutete dies
361 Col. W.C. Chanler, "Memorandum of Law" vom 06.06.1945, S. 5-8,
ebd.
358
laut Chanler, daß die Alliierten berechtigt gewesen seien, nach
"Conquest" den Kontrollrat mit allen Machtbefugnissen der
deutschen Regierung zu errichten, der infolgedessen nicht durch
internationale Konventionen eingeschränkt sei. Die Rechtmäßigkeit
eines solchen Verfahrens hänge nur davon ab, daß die Regierung
die "de facto-Macht" zum Regieren habe und von den anderen
Staaten als Regierung anerkannt werde. Daraufhin werde sie die
"de-jure-Regierung" des Landes, und alle ihre Maßnahmen seien
legal. Alle völkerrechtlichen Schranken zwischen der neuen
Regierung und dem eroberten Land würden dadurch beseitigt, weil
zwischen einer Regierung und dem Volk keine völkerrechtlichen
Fragen aufträten.
Die politischen Bedenken gegen diese Sichtweise, die Carson ins
Gespräch gebracht hatte, überwogen jedoch bei Chanler: Als
deutsche Regierung könne der Kontrollrat sich nicht, wie
beabsichtigt, der Verantwortlichkeit für die wirtschaftlichen
Bedingungen in Deutschland während der Kontrollphase entziehen.
Außerdem sei der Vorschlag unrealistisch. Es liege nicht in der
Absicht der Alliierten, Deutschland im Interesse des deutschen
Volkes zu regieren, sondern im Interesse der alliierten Mächte
und der Vereinten Nationen. Außerdem verstoße es gegen alle
Konzepte von "Selbstregierung", wenn man darauf beharre, daß es
sich um eine "deutsche Regierung" handele, obgleich es in
Wirklichkeit nichts anderes sei als eine "Militärregierung"
zugunsten der Besatzungsmächte, wenn auch ohne völkerrechtliche
Begrenzung. Weil er es für äußerst schwierig hielt, in der
Öffentlichkeit die ganzen Zusammenhänge zu erläutern, empfahl
Chanler, über den Wortlaut der Berliner Deklaration und die
Einrichtung
des
Kontrollrates
hinaus
keine
weiteren,
klarstellenden Erklärungen abzugeben. Zwar könne die alliierte
Vorgehensweise in Deutschland auf der Grundlage der "RegierungsTheorie" gerechtfertigt werden ("... in the limited sense of a
temporary 'governing body'..."). Dennoch erscheine es ihm
vorzugswürdig, sich die weitere Ansicht zu eigen zu machen, daß
die Alliierten als Eroberer die
359
unbestrittene Macht ("undoubted power") hätten, durch einseitiges
Tätigwerden Deutschland nicht nur durch Annexion vollständig zu
unterwerfen ("... not only to completely subjugate Germany by
annexation ..."), sondern auch die kleineren und dazwischen
liegenden Schritte der Errichtung ihrer eigenen Regierung
vornehmen könnten und auch die Macht hätten, ein vorübergehendes
"Protektorat"
("protectorate")
oder
eine
"Regentschaft"
("regency") zu bilden. Chanler folgerte:
"Accordingly, it would seem that the Allies
are fully justified in the proposed course
of setting up a Control Council for such
period of time and having such of the
rights and powers of a German Government as
they may deem appropriate for their own
security and the future peace of the world
without either annexing or concluding peace
with Germany."362
3. Als dritte Theorie kam in Chanlers Rechtsgutachten wieder ein
Gedanke zur Geltung, den Finanzminister Morgenthau bereits Monate
zuvor in die Debatte eingebracht hatte, der aber bisher über ein
Schattendasein in den Diskussionen nicht hinausgekommen war: ein
Heranziehen des Briand-Kellogg-Paktes. Deutschland, als ein
gesetzloser
Aggressor,
habe
kein
Anrecht
auf
den
völkerrechtlichen Schutz, den nur ein rechtmäßig Kriegführender
habe. Deshalb hätten die "siegreichen Angegriffenen" ("victorious
aggressees") vollkommene und unbeschränkte Macht, alle Schritte
zu unternehmen, die notwendig seien, um ihre eigene Sicherheit
und den zukünftigen Weltfrieden zu bewahren und um für das von
Deutschland begangene Unrecht Reparationen einzutreiben. Für
Chanler war dies "the simplest and most effective theory". Zwar
war er sich durchaus bewußt, daß die völkerrechtliche Bedeutung
dieses Vertrages völlig ungeklärt, zumindest aber heftig
umstritten war; einen absoluten Vorteil sah er jedoch darin, daß
die "Weltmeinung" eine derartige Sichtweise unterstützen werde.
Die Ansicht der meisten Völkerrechtler
362 Col. W.C. Chanler, "Memorandum of Law" vom 06.06.1945, S. 1317
360
zu dieser Zeit, daß der Pakt mangels Benennung eines Mittels zu
seiner
Durchsetzung
und
wegen
des
Fehlens
spezifischer
Sanktionen, die gegen einen Verletzer des Paktes ergriffen werden
könnten, keine andere Wirkung habe, als daß dadurch der
beeinträchtigte Kontrahend autorisiert sei, seinerseits den Pakt
zu kündigen und dem Aggressor entgegenzutreten, wollte Chanler
nicht
gelten
lassen.
Nur
die
Geltendmachung
eines
Selbstverteidigungs-Falles könne für den Verteidiger den Krieg zu
einem rechtmäßigen machen. Zum angeblichen Beweis verwies Chanler
auf die amerikanische Praxis der Nichtneutralität zu Beginn des
Zweiten Weltkrieges und die Planungen der Alliierten, an denen
auch Chanler selbst teilgenommen hatte, den Angriffskrieg als
Verbrechen anzusehen und die Verantwortlichen vor Gericht zu
stellen. Diese Theorie, so Chanler, sei unzweifelhaft die beste
Begründung für die Nichtberücksichtigung des Völkerrechts, sofern
man nur die Theorie an sich akzeptiere363.
VII.3. Carsons Erwiderung auf Chanlers Memorandum
Daß die Berufung auf den Briand-Kellogg-Pakt jedoch selbst für
den Fall der grundsätzlichen Anerkennung der damit angeblich
verbundenen weitreichenden Rechtsfolgen nicht so eindeutig
ausfallen konnte, wie Chanler vorgab, wurde ihm Mitte Juni 1945
von Ralph Carson deutlich gemacht. Während Chanler als typischer
Vertreter des amerikanischen Denkens in den nicht miteinander zu
vereinbarenden eindeutigen Kategorien von Gut und Böse urteilte,
d.h. im Völkerrecht, daß immer nur eine Seite der Aggressor,
nämlich Nazi- Deutschland, und immer nur andere, die Vereinten
Nationen, das Opfer sein konnten, vermochte Carson durchaus auch
die vorgegebenen Denkstrukturen zu überwinden.
Carson legte sich die Frage vor, ob denn wirklich der ganze
Weltkrieg, wenn man ihn erst einmal in seine einzelnen
Bestandteile zerlegte und diese einer isolierten
363 Col. W.C. Chanler, "Memorandum of Law" vom 06.06.1945, S. 1823
361
Betrachtung unterzog, als eine einzige Aggression Deutschlands
gegen die einzelnen Staaten der Vereinten Nationen gesehen werden
müsse
oder
ob
nicht
auch
Deutschland
das
Recht
der
Selbstverteidigung einwenden könne. Carson meinte dazu:
".., the theory overlooks the express
reservation in the Kellogg-Briand Pact of
the right of self-defense, a reservation so
broad as to deprive the theory of value in
most circumstances.
While Germany did attack Poland and Russia,
the war was formally one of self-defense as
regards England and France since they
declared war first.
Whether the attack by Germany on Poland
could properly be deemed an attack on
England and France is a political question
not susceptible, in our opinion, of an
affirmative answer in law.
While Germany declared war on the United
States, it might plausibly be argued that
this declaration was itself an act of selfdefense by reason of our overt aid to the
enemies of Germany through the Land-Lease
legislation of 1941, which was a clear
departure from the duties of neutrality as
theretofore defined. This departure was
justified at the time by the argument that
the law of neutrality had been changed by
the Pact of Paris, but this again was at
the time only a contention based on policy
and could not reasonably deprive Germany of
the right to make the opposite contention
and assert the right of self-defense."364
Doch selbst wenn diese Schwierigkeiten überwunden werden könnten,
folge daraus noch lange nicht, daß Deutschland durch Verstoß
gegen den Pariser Vertrag sich selbst des Schutzes durch das
Völkerrecht
beraubt
habe.
Um
ein
solches
Ergebnis
zu
rechtfertigen, sei ein längerer Gebrauch mit einer solchen
Rechtsfolge, eine solide vertragliche Grundlage oder eine
Anhäufung entsprechender Staatenpraxis
364
362
R.M. Carson, "Draft of June 13, 1945”, "Legal Consequences of
Unconditional Surrender by Germany", S. 23 f.; RL Charles Fahy
Papers, Box Nr. 65
notwendig. Nichts von alledem sei jedoch gegenwärtig vorhanden.
Carson verwies zutreffend auf das Nichtvorhandensein von
Rechtsfolgen
im
Briand-Kellogg-Pakt,
insbesondere
die
Problematik, welche Rechtsfolgen den träfen, der diesen Pakt
verletze. Der Pariser Vertrag sei bloß eine Absichtserklärung
gewesen,
"and it would be going very far to say that
violation of this declaration by one of the
adherents carried a sanction so drastic as
to deprive it of the benefit of rules
resting upon the consensus of civilized
States."365
Auch unterschieden die Haager Vorschriften nicht zwischen
"gerechten" und "ungerechten" Kriegen, wie sie der Interpretation
des Briand-Kellogg-Paktes zugrunde liege, was Carson durch die
Zitierung von Teilen der Präambel des Haager Abkommens von 1907
auch belegen konnte366
VI.
4. Völkerrechtliche Bewertung der Berliner Deklaration
Es gelang den amerikanischen Planungsstäben bis in den Sommer
1945 hinein nicht, eine auch nur annähernd plausible und
rechtlich überzeugende Grundlage für die Außerachtlassung des
Völkerrechts, insbesondere der HLKO und der Genfer Konvention, in
Deutschland zu finden. Sicher war nur, daß man nicht bereit war,
sich an die Forderungen des Völkerrechts zu halten. Die
anfänglich gehegte Befürchtung, die HLKO - insbesondere Artikel
43 - verbiete jeglichen Eingriff in die nationalsozialistischen
Staatsstrukturen und Gesetze, war im Laufe des Jahres 1944
weitestgehend
in
den
Hintergrund
getreten.
Andere
besatzungspolitische Bereiche drängten zunehmend nach vorne, und
auch bei ihnen wollten die US-Planungsbehörden - wie die
britischen - rechtlich ungebunden sein und uneingeschränkt
schalten
und
walten
können,
ohne
auf
völkerrechtliche
Restriktionen Rücksicht nehmen zu müssen.
365
366
R.M. Carson, "Draft of June 13, 1945", S. 24 f., ebd.
R.M. Carson, "Draft of June 13, 1945", S. 25, ebd.
363
Die von den amerikanischen Planern ins Auge gefaßten Maßnahmen
betrafen nun nicht mehr nur den Nationalsozialismus, sondern
zielten auch auf die Beseitigung humanitärer Normen, wie sich in
dem Versuch der Rechtlosstellung der deutschen Kriegsgefangenen
ganz eindeutig zeigt. Wo das Völkerrecht den geplanten Maßnahmen
der Besatzungsmächte entgegenstand, sollte es weichen, ohne daß
es jedoch gelang, dies auch rechtlich überzeugend begründen zu
können. Den Gestaltungsspielraum, den das Völkerrecht in dieser
Beziehung den Alliierten bot, wollten diese, vor allem die
Amerikaner, nicht nutzen. Die zur Ausschaltung der Normen der
"occupatio bellica" wie auch der Genfer Konvention allein
möglichen
beiden
Wege
eine
Verzichtsbzw.
Übertragungserklärung hinsichtlich bestimmter Befugnisse und
Rechte durch die deutsche Regierung ("politische Kapitulation")
oder eine Zerschlagung des deutschen Staates ("Debellatio") wollten die Amerikaner und Briten nicht gehen, weil ihnen die
damit
verbundenen
Nachteile
Auslegungsfähigkeit
einer
Verzichtserklärung bzw. eines Vertrages mit der deutschen
Regierung einerseits, Erlöschen des rechtlichen Kriegszustandes
andererseits - als zu gravierend erschienen. Eine andere
Gestaltungsmöglichkeit der Rechtslage in Deutschland, das hatte
Philip Jessup immer wieder mit Nachdruck betont, gab es für die
Alliierten aber nicht. Insbesondere existiert zwischen der am
7./8. Mai 1945 eingetretenen rechtlichen Lage einer "Conquest"
und einer "Debellatio" keine Zwischenlösung, kein "Mehr-oderWeniger", sondern ein "Entweder-Oder". Dies hängt damit zusammen,
daß "Conquest" und "Debellatio" eindeutige Rechtsfolgen nach sich
ziehen und im Interesse der Rechtssicherheit klare rechtliche
Verhältnisse schaffen. Auch darauf hatte Philip Jessup regelmäßig
hingewiesen. Der Rechtszustand einer "Conquest", verbunden mit
den teilweisen Rechtsfolgen einer "Debellatio" gibt es im
Völkerrecht nicht367.
367
364
Vgl. dazu auch D. Blumenwitz, Die
Grundlagen eines Friedensvertrages mit
Deutschland, S. 83
Daß selbst William Chanler von seinen Lösungsmodellen nicht
sonderlich überzeugt war, sieht man in seinem Vorschlag, unter
allen Umständen und so lange wie möglich eine rechtliche
Begründung für die Nichtbeachtung des Völkerrechts in Deutschland
gegenüber der Öffentlichkeit zu vermeiden, um dadurch den
möglichen Kritikern keinen Ansatzpunkt für die Geltendmachung der
Rechtswidrigkeit bestimmter Maßnahmen zu liefern. Es wurde
offensichtlich, daß die Übernahme der "supreme authority"
hinsichtlich Deutschlands durch die einseitige Erklärung der vier
Siegermächte vom 5. Juni 1945 an der Rechtslage der "Conquest"
und
der
damit
zwangsläufig
verbundenen
und
notwendigen
Beachtung
der
völkerrechtlichen
Besatzungsnormen der HLKO nichts geändert hatte. Die Berliner
Deklaration konnte die politische Kapitulation Deutschlands, wie
sie noch der EAC-Entwurf vom 25. Juli 1944 vorgesehen hatte,
nicht ersetzen. Ihre Bedeutung ist deshalb vor allem darin zu
sehen, daß sie die gemeinsame Verantwortung der vier Siegermächte
für Deutschland völkerrechtlich fixierte368. Als Rechtsakt hatte
sie verbindlichen Charakter nur für die beteiligten Siegermächte,
betraf also lediglich ihr "Innenverhältnis", während sie für das
Verhältnis der vier Mächte zu Deutschland keine den rechtlichen
Zustand der "occupatio bellica" ändernde Wirkung entfaltete369
368
369
Vgl. B. Meissner, Die Vereinbarungen der Europäischen Beratenden
Kommission über Deutschland von 1944/45, in: F. Klein/B.
Meissner (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen und die
Deutschlandfrage, 1. Teil: Geschichte und rechtliche
Grundfragen, S. 43 ff., insb. S. 48 f.
Vgl. D. Blumenwitz, Inhalt und völkerrechtliche Grenzen der "Rechte
und Verantwortlichkeiten" der Vier Mächte, in: B. Meissner/G. Zieger
(Hrsg.), Staatliche Kontinuität unter besonderer Berücksichtigung der
Rechtslage Deutschlands, S. 47 ff.
365
3. TEIL: DEUTSCHLANDS RECHTSLAGE IM POLITISCHEN STREIT DES
IN- DKP AUSLANDES I.
Zwischen Recht und Rechtlosigkeit:
Völkerrechtliches Vakuum in Deutschland oder zumindest "rule of
law"? Überlegungen deutscher Emigranten 1944/45
Die Gestaltung der Rechtslage in Deutschland nach Beendigung der
Feindseligkeiten war ein Thema, das neben der amerikanischen
Planungsadministration in besonderem Maße natürlich deutsche
Emigranten bewegte, die glaubten oder hofften, mit ihren
Schriften auf die Entscheidungsfindung Einfluß nehmen zu können.
Dabei taten sich zwei in den dreißiger Jahren in die USA
gegangene deutsche Juristen besonders hervor, die trotz aller
Unterschiedlichkeit ihres sonstigen Lebensweges Gemeinsamkeiten
vor allem durch ihre jüdische Herkunft und die dadurch erlittenen
Berufsausübungsverbote
und
sonstige
gesellschaftliche
Repressalien hatten. Der eine, Hans Kelsen, war schon damals eine
der bedeutendsten Juristenpersönlichkeiten der Welt. Der andere,
Ernst Fraenkel, war im Dritten Reich noch fünf Jahre als Anwalt
in Berlin tätig gewesen, wohin er Anfang der fünfziger Jahre an
die Hochschule für Politik zurückkehrte, um wenig später
Ordinarius für "Vergleichende Herrschafts- lehre" an der
Philosophischen Fakultät dieser Universität zu werden. Beide
verfaßten Mitte 1944 ihre jeweiligen Arbeiten über juristische
Möglichkeiten und praktische Notwendigkeiten, die mit der
Besetzung Deutschlands einhergingen.
1.1. Hans Kelsen und seine These vom Kondominium
Hans Kelsen hatte sich durch seine rechtsphilosophischen und
rechtstheoretischen Untersuchungen schon früh einen Namen
gemacht. Er unternahm mit seiner "Reinen Rechtslehre" den
Versuch, die Rechtswissenschaft, vor allem die Staatsrechtslehre,
von methodenfremden Elementen freizumachen. Er setzte Staat und
Rechtsordnung gleich: Der Staat war für ihn nicht Gegenstand der
Rechtsordnung, sondern die
Rechtsordnung selbst - "ein ideelles System gültiger Normen"1.
a. Deutschnationale
Äußerungen
in
den
zwanziger
Jahren.
Interessant sind auch Kelsens politische und juristische
Stellungnahmen in den zwanziger Jahren für den Anschluß
Österreichs an Deutschland, ein zum damaligen Zeitpunkt heftig
und fast überall mit Zustimmung diskutiertes Problem. Kelsen
wandte sich gegen die von ihm als Fehler angesehenen Bemühungen,
den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich als eine
Wirtschaftsfrage
hinzustellen.
Kelsen
meinte
in
einem
Zeitungsbeitrag 1926:
"Der Anschluß Österreichs an das Deutsche
Reich ist aber keine wirtschaftliche, es
ist eine moralische Frage. Es ist ein
sittlich unerträglicher Zustand, daß 6 1/2
Millionen Menschen zu einem Gemeinwesen
zusammengezwungen werden, das jedes inneren
Sinnes, jeder politischen Idee entbehrt.
Weder historische noch nationale, noch
religiöse, noch kulturelle Gründe sind es,
die das heutige Österreich rechtfertigen
können, das nichts anderes ist als ein
willkürlicher
Fetzen
Landes,
übriggeblieben,
nachdem
die
Sieger
ihre
territorialen Bedürfnisse an dem Leib des
alten
Österreich
ohne
die
geringste
Rücksicht auf dessen eigene Natur befriedigt haben. Nicht so sehr wirtschaftlich, sondern politisch ist das
heutige Österreich nicht lebensfähig, denn
es gibt niemanden mehr, der es noch als
eine innere Notwendigkeit empfinden würde,
Österreicher zu sein."2
Kelsen versprach sich von einem Anschluß eine außerordentliche
Kräftigung
von
Zentrum
und
Sozialdemokraten3.
1927
veröffentlichte Kelsen dann einen Aufsatz, in dem er die
Anschlußfrage rechtstechnisch untersuchte, sich im letzten
1
2
3
Vgl. nur H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2.
Aufl. (1923), S. XXI
H. Kelsen, Zur Anschlußfrage, in: Republikanische Hochschul
Zeitung 1926, Heft 1/2, S. 2
H. Kelsen, ebd.
367
Absatz einer euphorischen deutschnationalen Gefühlswallung aber
nicht entziehen konnte:
"Es ist freilich nur Zukunftsmusik, die wir
gemacht haben. Aber ich weiß mich eins mit
allen
Deutschen,
an
die
sich
diese
Ausführungen richten, in der Hoffnung, daß
der Grundakkord dieser Musik, der heute nur
als ein leiser Klang aus unbekannten Fernen
zu
uns
herübertönt,
daß
dieser
Zusammenklang der Stimmen aller deutscher
Stämme einst gewaltig durch die Welt
brausen wird, zur Ehre und zum Ruhm einer
Völkergemeinschaft, die auch dem deutschen
Volke sein Recht, weil seinen Staat
gewährt." 4
Nach seiner Lehrtätigkeit in Wien bekleidete Kelsen von 1930 bis
zu seiner Absetzung durch die Nationalsozialisten 1933 einen
Lehrstuhl in Köln. Von 1933 bis 1940 war er in Genf und Prag
tätig, ab 1940 in den Vereinigten Staaten5. 1944 und 1945 machte
sich Washington seine Kenntnisse zunutze und zog ihn als
wissenschaftlichen Berater der Vorbereitungen für die Verwaltung
der von den Alliierten aus deutscher Besetzung noch zu
befreienden Gebiete (1944) hinzu sowie als wissenschaftlichen
Berater der "War Crimes Commission", der er im Frühjahr und
Sommer 1945 insgesamt drei Monate zur Verfügung stand 6.
b. Entwicklung der Kondominium-These 1944. Keinen Einblick hatte
Kelsen jedoch in die völkerrechtliche Besatzungsplanung der
Amerikaner. Deshalb meldete er sich 1944 durch einen Aufsatz zu
dieser Frage im "American Journal of International Law"7 selbst
zu Wort, da ihn diese Problematik offensichtlich brennend
interessierte. Die beiden klassischen Möglichkeiten der Besetzung
fremden feindlichen Territoriums - die occupatio bellica und die
occupatio paci4
5 6 7
368
H. Kelsen, Die staatsrechtliche Durchführung des Anschlusses
Österreichs an das Deutsche Reich - Sonderabdruck aus der
Zeitschrift für öffentl. Recht 1927, S. 24
Vgl. R.A. Metall, Hans Kelsen, Leben und Werk, S. 57 ff.
Vgl. R.A. Metall, ebd.
H. Kelsen, The International Legal Status of Germany to be
established immediately upon termination of the war, in: AJIL
38 (1944) , S. 689 ff.
fica -, erklärte Kelsen, seien bei der Okkupation Deutschlands
aus
politischen
Erwägungen
heraus
nicht
opportun.
Die
"kriegerische Besetzung" (occupatio bellica) erlaube weder die
fundamentale Reform der politischen Struktur Deutschlands, noch
die vollständige Veränderung des politischen Systems oder die
Umerziehung des deutschen Volkes. Besatzungsmaßnahmen im Rahmen
der Verwaltung des besetzten Gebietes seien nur insoweit
gerechtfertigt, als sie für die Aufrechterhaltung und Sicherheit
der Streitkräfte und zur Verwirklichung des Kriegszwecks, den
Sieg über den Feind, notwendig seien. Auch habe der Okkupant kein
Recht zur Aufteilung des Landes oder zur Abtrennung von Teilen,
was insbesondere Bedeutung habe für die Wiederherstellung des
selbständigen Staates Österreich®.
Als
rechtlich
durchaus
möglich
bezeichnete
Kelsen
eine
"friedliche Besetzung" (occupatio pacifica). Grundlage der
Besetzung müsse dann allerdings ein internationaler Vertrag,
insbesondere ein mit Deutschland abgeschlossener Friedensvertrag
oder Waffenstillstand sein. Durch einen solchen Vertrag könnten
die siegreichen Mächte alle Rechte erwerben, die sie benötigten.
Keinesfalls dürfe dieser Vertrag jedoch mit der NaziRegierung
abgeschlossen werden, sondern nur mit einer neuen deutschen
Regierung, die nach der Liquidierung des Nationalsozialismus in
Deutschland unter wirksamer Kontrolle durch die Besatzungsmächte
eingesetzt werde. Doch auch von einem Vertragsschluß mit dieser
Regierung riet Kelsen ab, weil, wie er meinte, eine solche
Regierung unter der ständigen Morddrohung durch Partisanen
nationalsozialistischer Untergrundbewegungen agiere. Wenn man
irgendwelche Lehren aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges
ziehen könne, dann die, daß eine neue, demokratische Regierung in
Deutschland nicht mit der politischen Verantwortung für einen
Friedensvertrag belastet werden dürfe, der das Resultat der
deutschen Niederlage und wahrscheinlich sehr viel unerbittlicher
sei, als der Versailler Vertrag. Kelsen folgerte, ein
Friedensvertrag sei überhaupt nicht möglich. Der Zweite
8 H. Kelsen, ebd., S. 689
369
Weltkrieg könne und dürfe nicht beendet werden durch einen
Friedensvertrag, abgeschlossen mit einem Feind, der bedingungslos
kapituliert habe. Ebenso könne das nach dem Krieg einzuführende
politische System nicht auf der Grundlage eines solchen
Friedensvertrages entstehen 9.
Kelsen stand somit vor dem gleichen Dilemma, das - wie wir oben
bereits gesehen haben - auch die amerikanischen Planungsstäbe zu
dieser Zeit beschäftigte und das so einfach nicht zu umgehen war.
In dieser prekären Situation beschritt auch Kelsen einen neuen
Weg. Er aktivierte den Begriff des "Kondominiums", von dem er
glaubte, er sei die politisch zweckmäßigste und eine juristisch
einwandfreie Lösung. Den rechtlichen Status eines Kondominiums
sah er in der Tatsache charakterisiert, daß das betroffene
Territorium in den gemeinsamen Besitz von zwei oder mehr Staaten
gestellt sei, die ihre eigene Souveränität gemeinschaftlich über
das Gebiet und die dortige Bevölkerung ausübten. Die Einrichtung
eines Kondominiums sei aber nur möglich, wenn zuvor eine
"Debellatio" stattgefunden habe, also die Militärmacht des
Feindes komplett zerstört und irgendwelche noch möglichen
Widerstände seitens des besiegten Staates beseitigt seien, so daß
die Ungewißheit der Kriegszeit nicht mehr bestehe und die
Unterwerfung ("Conquest") des Gebietes unabänderlich eingetreten
sei. Nach der Kondominium-Periode, wenn die Souveränität
Deutschlands wiederhergestellt werde, sei Deutschland rechtlich
als ein neuer Staat anzusehen10.
Diese Gedankengänge Kelsens standen jedoch, was Kelsen nicht
wissen konnte, im Widerspruch zu den amerikanischen Plänen, nach
denen der deutsche Staat keineswegs vernichtet werden und der
rechtliche Kriegszustand mit Deutschland fortdauern sollte. Das
mag auch die Ursache gewesen sein für die Nichtberücksichtigung
des Kelsen'schen Aufsatzes in der eigentlichen Diskutierphase von
Januar bis Juni 1945 im US-Kriegsministerium und den anderen
damit befaßten Pia-
9
H
.
K
e
l
s
e
n
,
e
b
d
.
,
S
.
6
9
1
f
nungsgruppen. Kelsens Einfluß auf die inneradministrative
Diskussion in Washington war völlig belanglos, ganz im Gegensatz
zur Aufnahme und Auseinandersetzung mit seinen Thesen in der
fachspezifischen Literatur - insbesondere in Deutschland - in den
ersten Jahren nach 1945.
c. Rechtliche Folgerungen aus den politischen Fakten. Nachdem
durch die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht,
durch die Absetzung der Regierung Dönitz und die Berliner
Deklaration im Mai und Juni 1945 politische Fakten geschaffen
worden waren, ging Kelsen daran, sie in seinem Sinne zu
interpretieren. In einer weiteren Veröffentlichung im "American
Journal of International Law" meinte er, die politische
Entwicklung sei eine Bestätigung seiner Thesen vom Kondominium11.
Die bedingungslose Kapitulation, unterzeichnet durch die
Repräsentanten der letzten deutschen Regierung, könne als
Übertragung der deutschen Souveränität auf die siegreichen Mächte
ausgelegt werden, meinte Kelsen, in Verkennung der Tatsache, daß
die Unterzeichner ausdrücklich nur im Namen des Oberkommandos der
Wehrmacht aufgetreten waren. Aber selbst, wenn man die
bedingungslose Kapitulation nicht in dieser Weise interpretieren
wollte, so Kelsen weiter, müsse doch angenommen werden, daß die
Sieger durch die Arrestierung von Großadmiral Dönitz und seinem
Stab die Regierung beseitigt hätten. Kelsen folgerte:
"The existence of an independent government
is an essential element of a state in the
eyes of international law.
By abolishing the last Government of
Germany the victorious powers have destroyed the existence of Germany as a
sovereign state. ... Germany having ceased
to exist as a state, the status of war has
been terminated, because such a status can
exist only between belligerent states.
Since Germany's surrender, at least since
the abolition of the Dönitz Government, the
Hague Regulations are not applicable, and
the legal status of the territory occupied
11
H. Kelsen, The Legal Status of Germany According to
the Declaration of Berlin, AJIL 39 (1945), S. 518 ff.
371
by the victorious powers cannot be that of
belligerent occupation."12
Danach hätten die vier Mächte durch die Berliner Erklärung vom 5.
Juni 1945 und die dort verankerte Übernahme der "supreme
authority" tatsächlich ihre eigene gemeinsame Souveränität über
Deutschland ausgebreitet und dadurch auf deutschem Boden ein
Kondominium errichtet. Daß der Begriff "Souveränität" keine
Verwendung finde, sei nicht von Wichtigkeit, da "supreme
authority" nichts anderes besage, als unbegrenzte Machtbefugnis
über das unterworfene Gebiet und seine Bevölkerung13.
Wie sehr Kelsen an der Rechtslage Deutschlands ein eigenes
persönliches Interesse bekundete, zeigt sein weiteres Engagement.
Aufbauend auf seiner Kondominialthese riet er in einem Artikel in
der "American Political Science Review"14 wie schon zuvor von
einem Friedensvertrag der Alliierten mit Deutschland ab. Ein
derartiger Vertrag sei politisch nicht erwünscht. Die Sieger
sollten nicht den nach dem Ersten Weltkrieg begangenen Fehler
wiederholen, die Regierung eines demokratischen Deutschlands mit
der politischen Verantwortung für eine Friedensregelung zu
belasten, deren Härte durch die Schuld einer vorangegangenen
autokratischen oder totalitären Regierung notwendig geworden
sei15. Die politisch angemessene rechtliche Form für die Regelung
der deutschen Frage sei ein einseitiger Akt der Besatzungsmächte,
durch den der neue deutsche Staat
12
13
H. Kelsen, ebd., S. 519
H. Kelsen, ebd., S. 512 ff.; Entgegen der bis dahin unumstrittenen
Auffassung, daß eine "Debellatio" bzw. eine "Subjugatio" als die
Existenz des Staates vernichtender rechtlicher Zustand immer eine
Annexion des Staatsgebietes voraussetzte, meinte Kelsen, eine solche
Auffassung sei unhaltbar. Wenn es überhaupt einen Unterschied gebe
zwischen einer formalen Annexion und der Unterstellung dieses
Gebietes unter die gemeinsame Souveränität der Eroberer ohne dauernde
Annexionsabsicht, sei dieser mehr politischer als juristischer Natur,
ebd..
14
H. Kelsen, Is a peace treaty with Germany legally possible and
politically desirable?, American Political Science Review
1947, S. 1188 ff.; dt: Ein Friedensvertrag oder ein neues
Deutschland, Berliner Hefte für geistiges Leben, 3. Band,
1948, S. 193 ff.
H. Kelsen, Am. Pol. Sc. Rev. 1947, S. 1190
15
372
ins Leben gerufen werde. Dieser Schöpfungsakt sei ein souveräner
Akt der Besatzungsmächte, basierend auf einem unter ihnen zu
schließenden Vertrag. Ein Vertrag, durch den ein neuer Staat
geschaffen werde, sei eine der wenigen Ausnahmen von der Regel,
daß ein Vertrag Verpflichtungen nur den vertragschließenden
Staaten auferlege. Mithin könne der Vertrag, durch den der neue
deutsche Staat geschaffen werde, alle die Verpflichtungen
enthalten, die die siegreichen Staaten dem neuen deutschen Staat
aufzuerlegen wünschten.
Abschließend machte Kelsen sogar noch Vorschläge zum Inhalt
dieses Gründungsvertrages: Artikel 1 solle das Gebiet des neuen
Staates festlegen, Artikel 2 bestimmen, daß der neue deutsche
Staat immer die Struktur eines Bundesstaates und eine
demokratische Verfassung haben solle, Artikel 3 vorsehen, daß der
neue Staat den in einem Anhang zur Gründungsakte bestimmten
internationalen Verpflichtungen unterliege, und Artikel 4
vorschreiben, daß eine Verletzung dieser Verpflichtungen den
neuen Staat kollektiv nach internationalem Recht und die
Mitglieder seiner Regierung individuell gemäß in einem weiteren
Anhang niedergelegter Grundsätze verantwortlich mache. Dieser
Anhang
sollte
Bestimmungen
über
die
Errichtung
eines
internationalen
Gerichtshofes
und
Rechtsnormen
für
die
individuelle straf- und zivilrechtliche Verantwortlichkeit bei
Verletzung der festgelegten internationalen Verpflichtungen
enthalten. Artikel 5 solle bestimmen, daß die Artikel 1 bis 4 der
Gründungsakte einschließlich der Anhänge einen integrierenden
Bestandteil der Verfassung bildeten und nur mit Zustimmung der
Mächte geändert werden könnten, von denen der neue Staat
geschaffen worden sei. Artikel 6 solle bestimmen, daß die
Verfassung des neuen Staates von einer konstituierenden
Versammlung errichtet werde, die nach ebenfalls von den
Siegermächten festgelegten Regeln zu wählen sei. Artikel 7 solle
vorsehen, daß, sobald die Verfassung ordnungsgemäß in Kraft
getreten und eine nationale Regierung in Übereinstimmung mit der
Verfassung gebildet worden sei, der Kontrollrat dieser Regierung
die
373
volle Souveränität über ihr Gebiet übertragen und daß dieser Akt
die Anerkennung des neuen Staates und seiner Regierung seitens
der
Gründungsstaaten
enthalten
solle.
Ein
Schlußartikel
schließlich solle den Kontrollrat mit der Durchführung der
Gründungsakte beauftragen16.
1.2. Ernst Fraenkel fordert die Grundsätze des "rule of law" für
die amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland
Auf eine andere Art als Kelsen näherte sich Ernst Fraenkel dem
Problem der Nachkriegsbesetzung Deutschlands. Im Auftrag der
Carnegie Endowment erstellte er bis zum Sommer
1944 die Schrift "Military Occupation and the Rule of Law", die
sich
im
Gegensatz
zu
Kelsens
Aufsätzen
weniger
mit
rechtstechnischen Fragen der Ausschaltung des Völkerrechts
befaßte, sondern das Augenmerk mehr auf besatzungsimmanente
praktische und psychologische Probleme lenkte, die er - wie der
Titel bereits offenlegt - mit dem - eigentlich nur innerstaatlich
Verwendung findenden - Begriff des "rule of law" ("Rechtsstaat")
in den Griff bekommen wollte17.
Während Kelsen einen methodisch mehr oder weniger sauberen Weg
suchte, die amerikanischen Interessen und Wünsche durch die
Außerkraftsetzung des Völkerrechts zu befriedigen, wodurch er der
tatsächlichen Möglichkeit einer Besat- zungswillkürherrschaft
Vorschub leistete, weil er sich keinerlei Gedanken um den Ersatz
des Völkerrechts durch ein neues Korrektiv für willkürliche
Machtausübung machte, widmete Fraenkel der rechtstechnischen
Frage nach der Anwendbarkeit des Völkerrechts nur vergleichsweise
wenig Raum, um vor allem der Frage nach dem Korrektiv erhöhte
Aufmerksamkeit
zu
schenken.
Ausgangspunkt
von
Fraenkels
Überlegungen war die Rheinlandbesetzung in den ersten Jahren nach
dem Ersten Weltkrieg. In Beziehung zu der nach dem Zweiten
Weltkrieg anzutreffenden völkerrechtlichen Lage in Deutschland
meinte Fraenkel kurz, den Besatzer von seinen Pflichten durch den
Hinweis auf den ordre public-
16
17
374
H. Kelsen, ebd., S. 1190 ff.
E. Fraenkel, Military Occupation and the Rule of Law. Occupation
Government in the Rhineland, 1918-1923
Gedanken entbinden zu können, ebenso wie durch den von ihm
behaupteten veränderten Kriegsbegriff, wonach Krieg nicht nur
eine
militärische
Angelegenheit
sei,
sondern
auch
eine
ökonomische und soziale, und letztere könnten (im Hinblick auf
Art. 43 HLKO) ebenso gute Gründe für die Verwerfung der
bestehenden Gesetze abgeben wie die militärische Notwendigkeit.
Es sei zwar zutreffend, daß die Möglichkeit gegeben sei, daß die
Besatzer die Totalität des modernen Krieges als eine generelle
Erlaubnis zur Rechtlosigkeit behandelten. Aber es sei wesentlich,
daß die Anwendung der traditionellen Ideen des Völkerrechts im
Hinblick auf gegenwärtige und nicht auf in der Vergangenheit
liegende Bedingungen geschehe18. Ohne die von ihm behaupteten
veränderten Umstände jedoch im einzelnen nachzuweisen, meinte
Fraenkel nur lakonisch:
"It would be a tragic mistake if conformance with the letter of international
law should entail a violation of its spirit
and intentions."19
Fraenkel achtete aber darauf, daß, wenn das Völkerrecht schon
nicht angewendet werden sollte, der Okkupant nicht seine eigenen
Interessen rücksichtslos und willkürlich einsetzen dürfe. Wenn
der Besatzer berechtigt sei, immer dann zu handeln, wenn seine
Interessen eine Einmischung verlangten, werde seine Macht zu
einer
absoluten.
Seine
Herrschaft
werde
zu
der
eines
Polizeistaates aus einer Zeit bevor der Despotismus durch das
Naturrecht
erleuchtet
worden
sei.
Eine
Besatzung
unter
Kriegsrecht sei einer Besatzung vorzuziehen, die nur durch die
Interessen
der
Besatzungsmacht
bestimmt
sei.
Wenn
eine
Interpretation im Sinne dieser InteressenTheorie in der
Rheinlandbesetzung die Oberhand gewonnen hätte, wäre das
Besatzungsregime in eine Despotismusherrschaft durch Gewalt
umgewandelt worden20.
18
19
20
E. Fraenkel,
E. Fraenkel,
E. Fraenkel,
ebd. ,
,
S.
ebd.
,
,
S.
ebd.
,
.
S.
188 f.
189
197 ff
375
Die Lösung des Problems sah Fraenkel in einer Konzeption des
"rule of law", wobei er es aber nicht als ausreichend ansah, die
"Vorherrschaft
des
Gesetzes"
("supremacy
of
law")
zu
proklamieren. Hinzukommen müsse eine strukturelle Koordinierung
von Besatzungsrecht und dem Recht des besetzten Gebietes. Die
Erfahrungen der Rheinlandbesetzung standen ihm dabei als
Negativbeispiel
vor
Augen.
Wenn
die
Autoren
des
Rheinlandabkommens dieses nicht im Geist angelsächsischen
Mißtrauens gegen die Exekutive errichtet, sondern mehr Mühe
darauf verwandt hätten, eine strukturelle Koordinierung des
Besatzungsrechts
mit
dem
deutschen
Rechtsstaatsystem
zu
erreichen, hätten sie ihre Aufgabe erfüllen können, die in einer
effizienten Besatzungsregierung, kontrolliert durch das Gesetz
und in einer reibungslosen Kooperation mit deutschen Behörden
bestanden hätte21.
Daß eine Übertragung des Rechtsstaatsgrundsatzes von seinem
bisherigen rein innerstaatlichen Anwendungsbereich auf das
Verhältnis von Besatzer und Besetzten nicht einfach sein würde,
war Fraenkel klar. In einem modernen Verfassungsstaat sei die
Macht der Regierung bestimmten Begrenzungen unterworfen, entweder
durch ein System von Kontrollen und Gleichgewichten, durch die
Erfordernisse des Naturrechts, wie es in besonderen "bills of
rights" enthalten sei, oder durch Verfassungsbestimmungen.
Konnten vergleichbare Restriktionen auch einer Militärregierung
auferlegt werden? Eine Besatzungsregierung, so führte Fraenkel
aus, sei grundsätzlich unterschiedlich von der Regierung in einem
Verfassungsstaat. In letzterem seien die Machthaber die
Repräsentanten derer, die dieser Macht unterworfen seien, und die
Stabilität des ganzen Systems verlange gegenseitiges Vertrauen.
Ein Besatzungsregime aber sei die Herrschaft einer fremden
Regierung, die nicht gerade den Anspruch erhebe, den Willen der
beherrschten Bevölkerung zu repräsentieren. Keine ethnischen
Bande, keine geteilten
21
376
E. Fraenkel, ebd., S. 176; für Fraenkel war das Rheinland der frühen
20er Jahre der Mikrokosmos der meisten Kräfte, die dann in den 30er
Jahren zum Ausbruch kamen. Die Rheinlandbesetzung war für ihn eine
"prelude to the second World War", ebd. S. 3.
Traditionen und kein freiwilliger Akt politischen Zutrauens
vereinige die Herrscher und ihre Unterworfenen. Tatsächlich
mißtraue jeder dem anderen. Unter diesen Bedingungen seien
Machtbeschränkungen, die sich von der Teilhabe des Volkes an der
Regierung ableiteten, außerhalb jeder Fragestellung. Wenn die
Regierenden mehr die Überwacher als die Repräsentanten des Volkes
seien, sei es unvermeidbar, daß der Konflikt zwischen der Macht
der Regierenden und den Rechten der Regierten früher oder später
in Verletzung der Rechte der Regierten enden werde, sofern diese
Rechte nicht besonders garantiert seien. Zu diesen zu
garantierenden Rechten zählte Fraenkel vor allem die bürgerlichen
Freiheiten,
deren Schutz auch in einer
Besatzungsvereinbarung (wie im Rheinlandabkommen geschehen) nicht
den Unwägbarkeiten eines guten Willens überlassen werden dürfe22.
Zu den Anforderungen des Rechtsstaatsgrundsatzes gehörte für
Fraenkel
außerdem
die
rechtliche
Überprüfung
von
Besatzungsmaßnahmen. Er zweifelte jedoch daran, ob die Gerichte
des besetzten Landes die richtigen Stellen seien, um die
Tätigkeiten des Okkupanten zu überprüfen. Zu diesem Zweck hätte
er selbst lieber ein unabhängiges internationales Organ gesehen23.
Für Fraenkel war der Rechtsstaatsgedanke das tragende Prinzip der
Besatzungsherrschaft der Amerikaner in Deutschland, das nach der
Kapitulation verwirklicht werden müsse. Er führte dazu unter
anderem aus:
"It is scarcely necessary to emphasize that
,rule of law' ... means that the bearers of
public power respect definite rules of
jurisdiction
and
procedure
in
their
governmental and administrative activities
- that they
recognize
those formal
principles that are indispensable for the
protection of the individual from arbitrary
interference with his personal integrity."24
22
23
24
E. Fraenkel, ebd., S. 204 f.
E. Fraenkel, ebd., S. 223 f.
E. Fraenkel, ebd., S. IX f.
377
Daß Fraenkel mit seinen Überlegungen und Forderungen so gut wie
kein Gehör fand, ist in Anbetracht der schon Mitte 1944 klaren
amerikanischen Intention, keinerlei rechtliche Restriktionen weder völkerrechtlicher noch allgemein rechtsstaatlicher Art zuzulassen, nicht verwunderlich25.
Dennoch wurde Fraenkel eine Stellung in einer amerikanischen
Kriegsbehörde angeboten, wo er zusammen mit einer Amerikanerin
den ersten Entwurf für die Wiederherstellung des deutschen
Gerichtswesens ausarbeitete. Als man dann nach dem Zusammenbruch
des Dritten Reiches erneut an ihn herantrat, um ihm eine Stellung
bei
den
amerikanischen
Besatzungsbehörden
in
Deutschland
anzutragen, lehnte er jedoch ab. Die Besatzungspraxis der
Alliierten, ließ er Washington wissen, entspreche nicht den
Prinzipien, die er in "Military Occupation and the Rule of Law"
aufgestellt habe26.
25
Die Herausgeber seiner Schrift meinten denn auch, sich von Fraenkels
Aussagen distanzieren zu müssen: "It is hardly necessary to state
that neither of the sponsoring institutions identifies itself with
the views expressed in this book.", E. Fraenkel, ebd., S. V
26
G. Doeker/W. Steffani, Klassenjustiz und Pluralismus, Fest- schr. f.
E. Fraenkel zum 75. Geburtstag, S. 11. Im Rückblick auf die beiden
ersten Jahre der amerikanischen Besetzung in Deutschland befaßte
sich Carl J. Friedrich in mehreren Schriften mit dem Prinzip des
"rule of law" und die dadurch aufgeworfenen Probleme in Zeiten einer
Militärregierung. Insbesondere zu Beginn der amerikanischen
Besatzung sei es zu zahlreichen Willkürakten gekommen, die dann mit
der Begründung militärischer Notwendigkeit gerechtfertigt worden
seien. Die militärischen Diensthandbücher beinhalteten als Ziele der
Militärregierung nicht die Einführung der Selbstverwaltung oder der
Demokratie. Sie beinhalteten jedoch die Einführung von Recht und
Ordnung. Der Zweck dieses Systems einer Notfall- Regierung ("system
of emergency government") sei wesentlich auf dieses Ziel gerichtet,
sobald für die militärischen Bedürfnisse gesorgt sei. In dem Umfang,
in dem die Einsetzung einer mit dem Recht in Einklang stehenden
Regierung den Boden vorbereite für die Errichtung einer
konstitutionellen Regierung und Demokratie, sei die Militärregierung
verpflichtet, dem Ziel der Demokratisierung zu dienen. In der
Kampfphase sei die primäre Aufgabe aber noch immer, den taktischen
Truppen zu helfen. Zu einem eigenen Besatzungsziel wurde "rule of
law" jedoch erst durch die JCS 1067 ablösende Direktive vom
15.07.1947, in der es hieß: "As a basic objective of the occupation
is the reestablishment of the rule of law in Germany, you will
require all agencies under your control to refrain from arbitrary
and oppressive measures." Vgl. C.F. Friedrich, Military Government
and Democratization:
378
II. Dia völkerrechtliche Stellung Deutschlands 1945 und in
den Jahren danach in der politischen Auseinandersetzung
Die Alliierten hatten durch das Auferlegen der bedingungslosen
Kapitulation, die Absetzung der Regierung Dönitz und die
einseitige Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 Rechtstatsachen
geschaffen, deren völkerrechtliche Erfassung und Wertung in der
Folgezeit eine Vielzahl an Literatur entstehen ließ. Aufgrund der
enormen
praktischen
Relevanz
der
völkerrechtlichen
Lage
Deutschlands und den gerade in dieser Zeit des gesellschaftlichen
Umbruchs hervortretenden
und oftmals weit differierenden
politischen und ideologischen Auffassungen, war eine Vermengung
juristischer und politischer Argumentationsinhalte die logische
Folge. Die
A Central Issue of American Foreign Policy, in: ders. (Hrsg.),
American Experiences in Military Government in World War II,
S. 3 ff., insb. S. 11 ff.. Für Friedrich war die Militärregierung
keine totalitäre Diktatur, sondern eine konstitutionelle Diktatur.
Der konstitutionelle Diktator in Person des Militärgouverneurs sei
tatsächlich bevollmächtigt von einer konstitutionellen Regierung,
die er nicht kontrolliere. Die Ausübung seiner Macht sei
ausdrücklich definiert, und seitdem er einer Abberufung ausgesetzt
sei, könne man sagen, daß seine Amtszeit einer klaren Zeitbegrenzung
unterworfen sei, vgl. C.F. Friedrich, Military Government and
Dictatorship, in: The Annals of the American Academy, 267, S. 1 ff.,
7. Friedrich übersah dabei allerdings, daß die Verfassungsmäßigkeit
der beauftragten Regierung keineswegs automatisch die
Verfassungsmäßigkeit des Militärgouverneurs indiziert, da z.B. die
amerikanische Verfassung als innerstaatliches Recht zur
Reglementierung der Militärregierungspolitik in besetzten
feindlichen Gebieten keine Handhabe bietet, insbesondere auch nicht
das Rechtsverhältnis von Besatzer und Besetzten regelt und letztere
keine amerikanische Stelle zur eigenen Rechtswahrung anrufen
konnten. Die entsendende Regierung und der ausführende
Militärgouverneur bewegen sich bei der Festlegung und Verfolgung
ihrer Besatzungspolitik vielmehr im außerverfassungsrechtlichen,
inneramerikanisch nicht rechtlich überprüfbaren politischen Raum.
Der Militärgouverneur wird vielmehr erst dadurch zu einem
"konstitutionellen Diktator", indem er die das Rechtsverhältnis von
Besatzern und Besetzten regelnden speziellen völkerrechtlichen
Vorschriften seinem Handeln zugrunde legt, insbesondere die HLKO als
"Magna Charta des Besatzungsrechts". Zu C.F. Friedrichs
rückblickender Beurteilung der Besatzungspolitik in Deutschland vgl.
auch:
C.
F. Friedrich, The Legacies of the Occupation of Germany, in:
Public Policy, Vol. XVII, 1968, S. 1 ff., zum Problem der
Demokratisierung und dem Rechtsstaatserfordernis, ebd., S. 11 f.
.
379
daraus
sich
ergebenden
unterschiedlichen
völkerrechtlichen
Deutungen waren "zum größten Teil reine Zwecktheorien"27, und zwar
umso mehr, je weiter sie sich von den Vorstellungen und Begriffen
des
traditionellen
Völkerrechts
entfernten.
Eine
pseudojuristische Begriffssophistik hielt zusehends Einzug, mit
neuen
"Pseudorechtsinstituten"28
sollte
die
Haager
Landkriegsordnung für obsolet erklärt werden.
Den hinter dieser Entwicklung stehenden Sinn und Zweck hat Rolf
Stödter treffend beschrieben:
"Man will die Rechtsfolgen vermeiden, die
sich
vermeintlicherweise
unter
Zugrundelegung
der
bisher
anerkannten
völkerrechtlichen Begriffe, vor allem bei
Anwendung der die occupatio bellica nun
einmal regelnden Haager Landkriegsordnung
ergeben
müßten.
Da
man
die
Haager
Landkriegsordnung
zur
Lösung
des
Deutschland-Problems für ungeeignet hält,
möchte man sie als unanwendbar erklären."29
Eine babylonische Sprach- und Begriffsverwirrung, geprägt von
politisch-ideologischen Wünschen und Interessen statt von
juristischer Begriffs- und Deduktionsklarheit, ließ die ohnehin
schon schwierige Bestimmung der Rechtslage Deutschlands beinahe
aussichtlos
erscheinen.
Pseudojuristische Neologismen, auf die im folgenden noch
eingegangen werden wird, vernebelten den klaren Blick auf die
Rechtslage.
Welche Gefahren die Vermischung völkerrechtlicher Terminologie
mit
der
gesellschaftspolitischen
und
gesellschaftswissenschaftlichen Begriffsbildung mit sich bringt, und was die
Überlagerung
des
Völkerrechts
durch
Vorstellungsbilder
allgemeinpolitischer Art für die Völkerrechtstheorie bedeutet,
hat Friedrich Berber in bezug auf die nach dem
27
28
W. Cornides, Die Weltmächte und Deutschland, S. 109
D. Blumenwitz, Der Besiegte in einem "gerechten Krieg", in: v.
Siemens-Stiftung (Hrsg.), Die deutsche Neurose, S. 103 ff.,
29
R. Stödter, Deutschlands Rechtslage, S. 146
380
111
Zweiten Weltkrieg kursierende
Inflation
an
deutschlandrechtlichen Denkmodellen herausgearbeitet:
"Alle diese Unterscheidungen beruhen auf
soziologisch-politischen
Merkmalen;
sie
sollen
dazu
dienen,
verschiedene
Rechtslagen zu schaffen oder zu erklären
oder das Abgehen von den bestehenden
Rechtsregeln in der Praxis der Sieger zu
rechtfertigen. Es ist nicht zu leugnen, daß
der - temporäre oder endgültige - Sieger
häufig der Versuchung unterlegen ist, seine
augenblickliche
Machtposition
zur
Umgestaltung des vom völkerrechtlichen
Besatzungsrecht
vorgesehenen
Rechtsstatus zu mißbrauchen. Man kann
natürlich
solche
Mißbräuche
kategorisieren; diese Kategorien gehören
dann aber nicht in die Lehre des Rechts der
kriegerischen Besetzung, sondern in die
Lehre von den Völkerrechtsdelikten. Die
Völkerrechtstheorie verfehlt ihre Aufgabe,
wenn sie Macht- mißbrauch durch neue
Kategorien rechtfertigt, statt ihn dahin zu
verweisen, wohin er gehört, nämlich in das
Kapitel der Völkerrechtsverletzung."30
Die Politisierung des völkerrechtlichen Besatzungsrechts zog eine
weitere Konsequenz zwangsläufig nach sich, die - abhängig vom
jeweiligen politischen Standort - begrüßt wurde oder abzulehnen
war: Die mangelnde Verrechtlichung der deutschen Politik,
konkreter: das Fehlen der Berufung auf völkerrechtliche
Grundsätze und Normen und deren Geltendmachung für die Behandlung
Deutschlands durch die noch existierenden oder bereits wieder
entstandenen
deutschen
Behörden
und
Persönlichkeiten
des
politischen Lebens gegenüber den Besatzungsmächten mit dem Ziel,
auf eine völkerrechtskonforme Besatzungspolitik zu dringen. Die
durchaus bei vielen trotz der Begriffsverwirrung vorhandene
Einsicht in die völkerrechtlichen Zusammenhänge und das Erkennen
bestehender Rechtspositionen wurde in der Regel nicht in
politischen Handlungsspielraum umgesetzt.
30
F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd. (Kriegsrecht), S.
126 f.
381
II. 1. Das Deutsche Reich zwischen "Debellatio" und
Fortexistenz
Die grundlegende Frage, die sich nach dem Zusammenbruch des
Dritten Reiches stellte, war die nach der Fortexistenz des
Staates Deutsches Reich. War der Staat als Subjekt des
Völkerrechts untergegangen, dann wären alle darauf aufbauenden
Fragen gegenstandslos geworden: Ohne einen die eigene Bevölkerung
schützenden und international vertretenden Staat hätte der Träger
der völkerrechtlichen Rechte und Pflichten gefehlt, eine
Anwendung völkerrechtlicher Vorschriften auf das Verhältnis von
Okkupanten und Okkupierten in Deutschland hätte nicht länger zur
Diskussion gestanden. Ob der deutsche Staat untergegangen war,
hing davon ab, inwieweit die Voraussetzungen der Rechtsfigur der
"Debellatio"31 erfüllt waren. Was eine "Debellatio" des deutschen
Staates und die Nichtannektierung deutscher Gebiete durch die
Siegerinächte, wie sie letzteres in der Berliner Deklaration
festgelegt hatten, für die Bevölkerung in den besetzten Gebieten
bedeutet hätte, hat nachdrücklich Rudolf v. Laun klargemacht:
"Vollkommen recht-, wehr- und schutzlos
wird demnach eine Bevölkerung ..., wenn die
Staatsgewalt, der sie bis dahin zugehörte,
vollständig zertrümmert ist und nicht mehr
existiert,
der
Fall
der
sogenannten
Debellatio,
und
wenn
außerdem
das
Wohngebiet dieser Bevölkerung vom siegenden
Staat nicht annektiert wird. Im Fall der
Annexion ist der annektierende Staat nach
der Auffassung des liberalen Zeitalters
verpflichtet,
der
annektierten
Bevölkerung die allgemeinen Menschenrechte
zu gewähren, die ... in jedem zivilisierten
Staat vorausgesetzt wurden. Wäre aber
damals (1945, d.
Verf.) in einem Fall von Debellatio keine
Annexion vollzogen worden, so wäre dadurch
die Bevölkerung des
31
382
Zu der Entwicklung und
Gehalt dieses Begriffs
Debellatio, Diss. jur.
"Debellatio" habe 1945
182.
dem unterschiedlich beurteilten rechtlichen
vgl. W. v. Treskow, Der Begriff der
Bonn 1965, der zu dem Ergebnis kommt, eine
in Deutschland nicht stattgefunden, ebd., S.
eroberten
Gebietes
in
einen
Zustand
vollständiger
Rechtlosigkeit
gegenüber
jedem
beliebigen
Eingriff
von
jeder
beliebigen Seite versetzt worden, soweit
32
.und solange es dem Sieger beliebt."
a. Vertreter
der "Debellatio"-These. Daß die Alliierten den
deutschen Staat gar nicht zerschlagen wollten und um das deutlich
zu machen, die Nichtannektierungs-Bestimmung in die Berliner
Erklärung aufgenommen hatten, konnte man in Deutschland zwar
vermuten, eindeutige Belege fehlten allerdings. Außerdem war kein
geringerer als der immer noch in hohem Ansehen stehende Hans
Kelsen ja schon frühzeitig vorgeprescht und hatte den deutschen
Staat für untergegangen erklärt33. Da seine diesbezüglichen
Schriften zunächst in Deutschland nicht bekannt oder nicht
zugänglich waren, spielten sie in dem Zeitraum von Kriegsende bis
Herbst 1946 in der rechtswissenschaftlichen Diskussion in
Deutschland keine Rolle. Das änderte sich erst durch ein im
Oktober/November 1946 durch Wilhelm Cornides im EuropaArchiv
veröffentlichtes Inhaltsreferat der Aufsätze Kelsens34. Ersten
Niederschlag fanden seine Überlegungen in einer Artikelserie des
in
Berlin
erscheinenden
und
amerikanisch
lizensierten
"Tagesspiegel" in den ersten drei Monaten des Jahres 1947. Die
Artikel stellten fest, Deutschland habe jeden Staatscharakter und
damit auch den eines kriegführenden oder friedenschließenden
Staates verloren. Darin sei, so meinten die Apologeten der
Diskontinuitätsthese, aber kein Nachteil, sondern vielmehr ein
Vorteil zu sehen - insbesondere hinsichtlich einer abschließenden
Friedensregelung. Es sei geradezu absurd, wollte man eine
Bundesregierung bilden, damit jemand da sei, der einen förmlichen
Vertrag unterzeichnen oder sogar die Unterzeichnung ablehnen
könne. Der Kelsen'schen
32
33
34
K. v. Laun, Die Haager Landkriegsordnung, S. 40
Vgl. oben 2. Teil, I.i.
W. Cornides, Die völkerrechtliche Stellung Deutschlands nach der
bedingungslosen Kapitulation, in: EA 1946, S. 209 ff.; vgl. auch B.
Diestelkamp, Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte, in: ZNR 7 (1985),
S. 181 ff., der betont, daß die Diskussion in der ersten Phase der
Besatzungspolitik vor allem staatsrechtliche Züge trug und erst im
Herbst 1947 vermehrt auch mit völkerrechtlichen Argumenten geführt
wurde.
383
Kondominialtheorie
wurde
Erfaßbarkeit der deutschen
Mitteln rundweg geleugnet35.
ausdrücklich
zugestimmt,
die
Situation mit völkerrechtlichen
In der wissenschaftlichen Literatur wurden nur ganz vereinzelt
Stimmen laut, die das Deutsche Reich als nicht mehr bestehend
ansahen. Hervorzuheben ist vor allem ein Aufsatz von Wolfgang
Abendroth, damals Professor in Leipzig, später Professor für
politische Wissenschaften in Marburg, der sich 1947 in der in der
SBZ erscheinenden Fachzeitschrift "Die Neue Justiz" mit den
aufgeworfenen Fragen befaßte36. Abendroth übernahm Kelsens
Kondominialthese, meinte jedoch - in Abweichung von Kelsen -,
zwischen der staatsrechtlichen und der völkerrechtlichen Existenz
des Deutschen Reiches unterscheiden zu können; erstere sah er als
noch vorhanden, letztere als nicht mehr vorhanden an. Interessant
ist, daß Abendroth - wie auch v. Kempski37, trotz der voneinander
abweichenden sonstigen Argumentationslinien - in einem Punkt
einen Gedanken aus der anglo-amerikanischen Planungsphase
aufnahm: Wie schon William Malkin in seinem Memorandum vom 18.
Januar 194538
35
Die eindeutige politische Tendenz dieser Artikel, die sich mit der
passiven Objektrolle der Deutschen nicht nur abfanden, sondern sie
sogar forderten, um somit durch ein juristisch verbrämtes
Deckmäntelchen ihrer politischen Forderung nach Fremd statt
Selbstbestimmung Nachdruck zu verleihen, läßt sich auch aus den
folgenden Auszügen ersehen: "Das alte 'Deutsche Reich' muß nicht nur
als Wort, sondern auch als Sinn und Gesinnung verschwinden. Die
Möglichkeit bietet sich dadurch, daß im Mai 1945 nicht nur Armee und
Regierung, nicht nur die Staatsgewalt, sondern auch der Staat als
solcher, der nach dem Willen der letzten Machthaber nur noch durch
Armee und Regierung (beide der NS-Partei gleichgesetzt) verkörpert
war, bedingungslos kapituliert hat." Und an anderer Stelle hieß es:
"Aber ist denn der in der Geschichte ganz beispiellose Zustand seit
der Kapitulation überhaupt an irgendeiner Stelle mit dem Völkerrecht
zu fassen? Er ist es nicht, er kann es nicht sein, und je lauter und
klarer man das sagt, desto besser." Zu den Tagesspiegel-Artikeln
vgl. in einer Zusammenfassung: E.
Menzel, Zur völkerrechtlichen Lage Deutschlands, in: EA 1947, S.
1009 ff., insb. S. 1011.
36
W. Abendroth, Die Haftung des Reiches, Preußens, der Mark
Brandenburg und der Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts
für Verbindlichkeiten, die vor der Kapitulation vom 8. Mai
entstanden sind, in: Die Neue Justiz 1947, S. 73 ff.
J. v. Kempski, Deutschland als Völkerrechtsproblem, in: Merkur
1947, S. 188 ff.
Vgl. oben 2. Teil, V.7.a.
37
38
384
zogen sie zur Beweisführung das "argumentum a maiore ad minus"
heran, wonach es zwischen Annexion und militärischer Besetzung
noch eine dritte Gestaltungsmöglichkeit gebe, die in Deutschland
Anwendung gefunden habe. Wenn die Siegermächte aufgrund einer
"Debellatio" schon die Möglichkeit gehabt hätten, durch Annexion
das deutsche Staatswesen zu zerstören, dann müßten sie auch
berechtigt sein, ein minder schweres Mittel zur Erreichung ihrer
Ziele anzuwenden. Während Malkin mit diesem "Schluß vom Größeren
zum Kleineren" jedoch die Fortexistenz des Staates Deutsches
Reich unangetastet lassen wollte, meinten Abendroth und v.
Kempski damit eine Staatszerschlagung begründen zu können39.
39
In einer späteren Veröffentlichung hat Abendroth nicht mehr
unbedingt auf seiner Diskontinuitäts-These beharrt, sondern trotz
noch immer bestehender Zweifel auch die Kontinuitäts- Lehre in einer
Alternativlösung gebührend gewürdigt, vgl. W. Abendroth, Die
gegenwärtige völkerrechtliche Bedeutung des Potsdamer Abkommens vom
2. August 1945, in: EA 1952, S. 4943 ff.. Im Gegensatz zur ganz
herrschenden staats- und völkerrechtlichen Forschung finden sich
heute die Vertreter der Diskontinuitätslehre unter den deutschen
Historikern. In völliger Verkennung juristischer Argumentation und
Methode hat namentlich R. Hansen, Das Ende des Dritten Reiches. Die
deutsche Kapitulation 1945, S. 210 ff.', sein Unvermögen zur
Einsicht in grundlegende juristische Unterscheidungen (wie die
zwischen Handlungs- und Rechtsfähigkeit eines Staates) deutlich
gemacht. Er meint - in irriger Überschätzung der seiner eigenen
Fachrichtung eigenen Wissenschaftsmethode -, von einer "bereits
kasuistisch anmutende(n) Differenzierung der herrschenden deutschen
Staats- und Völkerrechtslehre zwischen der Rechtsfähigkeit und der
Handlungsfähigkeit eines Staates" sprechen zu können, und er will
die Zerschlagung des Deutschen Reiches mit Hilfe einer "historischpolitischen Interpretation" der Geschehnisse beweisen. Dieser
Interpretation durch Geschichtswissenschaft und politische
Wissenschaft sei die kasuistische Unterscheidung fremd; in beiden
Wissenschaften gelte die politische Handlungsfähigkeit als Kriterium
für die Existenz eines Staates. Erlösche sie, dann gelte auch die
Existenz des betreffenden Staates als erloschen. R. Hansen weiter:
"Ein weiterer erheblicher Unterschied zwischen der juristischen und
der historischpolitischen Interpretation besteht darin, daß die
Staats- und Völkerrechtslehre anhand traditioneller Rechtskategorien
urteilt, während die Geschichtswissenschaft und die politische
Wissenschaft empirisch verfahren und sich solcher Kategorien
bedienen, die dem historischen Geschehen adäquat sind. Dieser
Unterschied zwischen beiden Methoden wird besonders deutlich bei der
Beurteilung der deutschen Kapitulation 1945. Weil das herkömmliche
Völkerrecht nur den Begriff der militärischen, nicht aber der
staatlich-politischen Kapitulation kennt, wird die deutsche
Kapitulation 1945 von den Juristen lediglich als
385
Die staatliche Fortexistenz des Deutschen Reiches. Für die
weit überwiegende Zahl der Rechtstheoretiker aber bestand nie ein
Zweifel daran, daß das Deutsche Reich als Staat den Zusammenbruch
des politischen Systems des Nationalsozialismus und die
militärische Niederlage überlebt
b.
militärischer Vorgang interpretiert. Sie wird also mit Kategorien
beurteilt, die dem tatsächlichen Geschehen nicht mehr adäquat sind.
... Die historisch-politische Interpretation kommt notwendigerweise
zu dem Ergebnis, daß die deutsche Kapitulation 1945 zugleich das
Ende des Deutschen Reiches bedeutet," ebd., S.221 f.. Als
scheinbarer Beleg für diese Auffassung wird ein Wort General de
Gaulles zitiert, in dem dieser den deutschen Staat als untergegangen
bezeichnet, ebd., S. 222. Von juristischer Seite sind diese Versuche
Hansens, das gewünschte Ergebnis durch methodenfremde Untersuchungen
"beweisen" zu wollen, nachdrücklich zurückgewiesen worden. B.
Diestelkamp, Rechts- und verfassungsgeschichtliche Probleme zur
Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, JuS 1980, S. 401 ff.,
bezeichnet sie als "ärgerliche Mißverständnisse juristischer
Denkweise" und führt weiter zutreffend aus: "Der Staat, seine
Existenz als Völkerrechtssubjekt oder sein Untergang werden durch
rechtliche Kriterien bestimmt, die auch ein Historiker nicht
negieren darf, will er eine seinem Gegenstand adäquate Beschreibung
liefern. Gerade die Theorie vom Fortbestand des Reiches ist ein
Musterbeispiel für die historische Wirkung rechtlicher Kategorien."
Die mangelnde Einsichtsfähigkeit, ja Gehörlosigkeit, der deutschen
Geschichtswissenschaft auf diesem Gebiet ist erschreckend. Die These
vom Untergang des Deutschen Reiches scheint sich auf diese wissenschaftlicher Methode Hohn sprechende - Art und Weise immer
mehr zu verfestigen, vgl. nur W. Jacobmeyer, Die Niederlage 1945,
in: Westdeutschlands Weg zur Bundesrepublik: 1945-1949, S. 11 ff.,
15; dieser Eindruck wird noch bestärkt durch unreflektierte und
oberflächliche Wendungen, wie die, daß "die staatliche Existenz
Deutschlands zunächst einmal erlosch", H. Graml, Die Alliierten in
Deutschland, in: Westdeutschlands Weg zur Bundesrepublik, S. 25,
oder, daß "am 8. Mai 1945 ... das Deutsche Reich bedingungslos
(kapitulierte)", J. Foschepoth, Zur deutschen Reaktion auf
Niederlage und Besatzung, in: Westdeutschland 1945 - 1955, S. 153.
Wenn man solche Wendungen benutzt, dann muß man sich im klaren
darüber sein, daß die Briten und Amerikaner, die die Entwicklung bis
zur Berliner Viermächteerklärung und deren Inhalt maßgeblich
bestimmten (anders als der gern zitierte General de Gaulle), alles
unternahmen, um eine Zerschlagung des deutschen Staates zu
vermeiden. Dies wurde oben (im 2. Teil) bereits ausführlich gezeigt.
Es sind jedoch ernsthafte Zweifel erlaubt, ob dies vielleicht einen
ansatzweisen Vorgang des Nachdenkens, von Umdenken soll gar nicht
gesprochen werden, bei dem einen oder anderen sich mit dieser
Materie befassenden Historiker auslösen wird. Es steht zu vermuten,
daß man eher den anglo- amerikanischen Planern ein mangelndes
Verständnis für die "historisch-politische Interpretation" vorwerfen
wird.
386
hatte. Der deutsche Staat war weiterhin rechtsfähig; was ihm
fehlte war - in Ermangelung einer effektiven Regierung lediglich
die
Handlungsfähigkeit40.
Auch
das
Bundesverfassungsgericht hat sich diese Kontinuitätsauffassung zu eigen
gemacht41. Hauptargument dieser "communis opinio" war die
Feststellung,
daß
Staatsgewalt
als
eines
der
staatskonstituierenden Merkmale der sog. Drei-Elemente- Lehre
nicht - wie Kelsen meinte - mit Staatsregierung identisch ist.
Auf unterhalb der Regierungsebene befindlichen Stufen blieb die
Staatsgewalt vielmehr auch während und nach den Ereignissen im
Frühjahr und Sommer
1945 aktuell. Auf den generellen Befehl der Alliierten hin
hatten die Beamten bis auf weiteres auf ihren Posten zu bleiben;
neu eingesetzte Beamte wurden - wenngleich sie den Befehlen und
Anordnungen der Besatzungsmacht unterworfen waren - als deutsche
Amtsträger in Ausübung deutscher Staatsgewalt, nicht als
alliierte Beamte ernannt. Die überwiegende Masse der bisherigen
deutschen Gesetze galten kraft ihrer einstigen Setzung als
deutsche innerstaatliche Normen weiter und wurden von den
Alliierten nicht etwa rezipiert, in Besatzungsrecht transformiert
oder in das Recht der einzelnen Länder umgewandelt. Die später
auf dem Gebiet des ehemaligen Preußen durch die Besatzungsmächte
neu geschaffenen Länder erschienen nicht als selbständige
Staaten, sondern von Anfang an als Glieder eines noch bestehenden
Deutschland. Auf diesen Ebenen ging die deutsche Staatsgewalt nie
unter und damit auch nicht der deutsche Staat42.
40
41
42
Vgl. nur H.-J. Bücking, Der Rechtsstatus des Deutschen
Reiches, S. 51 f. mit Nachw. (Anm. 126)
BVerfGE 36, S. 1 ff., insb. S. 15 f.
v. d. Heydte, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, in:
Veröffentlichungen der deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 13, S. 6
ff., S. 13 f.; treffend auch die diesbezügl. Feststellung von
Herrfahrdt, ebd., S. 79 f.: "Wir müssen uns frei machen von der
Vorstellung des Absolutismus ..., daß die Staatsordnung wesentlich
von der Spitze her zu verstehen sei. Nach 1945 lief der größte Teil
unseres öffentlichen Lebens weiter, obwohl die Spitze fehlte. ...
Die alte Verwaltungstradition hat den Weimarer Staat und den
Nationalsozialismus überdauert."
387
II. 2. Versuche von Konrad Adenauer, die politische
Argumentation gegenüber den Besatzungsmächten zu verrechtlichen
a.
Konrad Adenauer und der Zonenbeirat. Welche Möglichkeiten
gab es nun, die rechtliche Erkenntnis von der Fortexistenz
Deutschlands für politische Bestrebungen zur Eindämmung von
Eingriffen der Besatzungsmacht zu instrumentalisieren? Den ersten
Vorstoß in diese Richtung unternahm Konrad Adenauer. Ende Juni
1946 ließ er seine Parteifreunde in der CDU wissen, er werde im
Zonenbeirat einen Antrag stellen, die völkerrechtliche Lage
Deutschlands durch die Einholung eines Gutachtens möglichst
nichtdeutscher Völkerrechtler klären zu lassen, "damit wir
gegenüber denjenigen Kreisen der Alliierten, die rechtlich
denken, darauf hinweisen können, damit wir auch gegenüber unseren
Nachfahren darauf hinweisen können, daß wir nicht einfach wie
stumme Hunde alles über uns ergehen lassen, sondern daß
namentlich
wir,
die
wir
während
der
ganzen
nationalsozialistischen Zeit Widerstand geleistet haben, haben
wollen, daß der Boden des Rechts auch für uns gilt."43.
Adenauers Absicht war klar: Er wollte erreichen, daß eine
unabhängige Expertenkommission feststellte, Deutschland habe die
Stellung eines kriegerisch besetzten Feindstaates und die
alliierten
Besatzer
hätten
sich
an
die
bestehenden
völkerrechtlichen Restriktionen zu halten. In einer vertraulichen
Notiz hielt Gerhard Schröder Mitte Juli 1946 fest:
"Daraus (Deutschland habe den Status einer
besetzten Macht) folgert Dr.
Adenauer, daß die Besatzungsmacht heute
eine Menge Dinge tue, die nach der Haager
Landkriegsordnung
keineswegs
zu
ihrer
Zuständigkeit gehörten. ... Dr.
Adenauer beabsichtigte, das Auge der
internationalen Öffentlichkeit auf diese
Frage
des
völkerrechtlichen
Status
Deutschlands zu lenken. Er ist der Meinung,
daß - wenn irgendetwas für die
-P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 456
englische oder amerikanische Öffentlichkeit
bestimmend sei - es der Respekt für Recht
und Völkerrecht sei.
Von hier aus ergebe sich die Möglichkeit
einer
Belebung
der
außenpolitischen
Aktivität Deutschlands."44
Adenauers Antrag fand nicht die Zustimmung der britischen
Kontrollkommission. Sie lehnte sein Ansinnen ab, fügte jedoch
gleichzeitig hinzu, daß "von britischer Seite festgestellt wird,
daß der völkerrechtliche Status Deutschlands bis zu einer
endgültigen Regelung im Friedensvertrag derjenige einer besetzten
Macht ist", um schon wenige Tage später klarstellend anzumerken,
daß
dies
"nicht
als
juristische
Begriffsbestimmung
der
gegenwärtigen völkerrechtlichen Stellung Deutschlands gedacht
war". Eine solche Definition werde gegenwärtig von der Legal
Division der Kontrollkommission vorbereitet45. in einer abschließenden Antwort vom 16. September 1946 verwies die
Kontrollkommission auf die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945,
das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 und auf die Verordnung
Nr. 4 des Oberbefehlshabers des Britischen Kontrollgebietes vom
14. Juli 1945, denen zufolge die "oberste Regierungsgewalt" von
den Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten
Staaten, der UdSSR und der provisorischen Regierung der
französischen Republik übernommen worden sei, ging jedoch auf die
sich aus diesen Tatsachen ergebenden rechtlichen Konsequenzen mit
keinem Wort ein - und schloß mit dem barschen Hinweis: "Diese
Ausführungen sind als endgültig anzusehen. Über dieses Thema ist
ein weiterer Schriftwechsel oder eine sonstige Erörterung nicht
zulässig."46. Trotz dieser Abfuhr durch die Briten scheint
Adenauer mit dem Ergebnis seines Experiments nicht unzufrieden
gewesen zu sein. Die unverbindliche - Erklärung der Briten, der
momentane Status Deutschlands sei der eines besetzten Landes,
genügte ihm nach eigenem Bekunden insofern, "als wir dadurch in
den Stand gesetzt wurden, klar auf die Pflichten der
44
45
46
Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 19451949, Bd. 1, S. 809 Anm. 3
Akten zur Vorgeschichte, ebd., S. 808 f., Anm. 3
Akten zur Vorgeschichte, ebd., S. 808 ff.
389
Besatzungsmacht
gegenüber
der
besetzten
Bevölkerung
hinzuweisen."47
Adenauers Initiative im Zonenbeirat ist wesentlich auf den
Einfluß eines seiner Berater, des Legationsrates Eugen Budde,
zurückzuführen48. Budde trat nachdrücklich dafür ein, "das
Völkerrecht als politische Plattform Deutschlands" in Anwendung
zu bringen. Er sah darin die geeignete Möglichkeit, neben anderen
Sachbereichen auch die deutsche Außenpolitik wieder aufnehmen zu
können. Er rügte, "daß man in Deutschland fast zwei Jahre lang
kaum versucht und verstanden hat, mit den friedlichen Mitteln des
Völkerrechts die ersten schmalen Pfade durch das wuchernde
Gestrüpp
der
drückenden
Gegenwartssorgen
hin
zum
völkerrechtlichen Ausgleich und Frieden mit den anderen Mächten
zu bahnen."49. Zwar sei aus der kriegerischen Besetzung zwei Jahre
nach Ende der Feindseligkeiten inzwischen praktisch, wenn auch
noch nicht rechtlich, eine friedliche Besetzung geworden. Daraus
folge aber nur, daß die für Kriegszeiten geschaffenen Normen der
HLKO hinsichtlich der Rechte der eingesessenen Bevölkerung
allermindestens noch Fortgeltung hätten. Nach Beendigung der
militärischen Feindseligkeiten könne nämlich der Umfang der
besatzungsmäßigen Rechte und Pflichten für Okkupant und
Bevölkerung des besetzten Gebietes höchstenfalls zugunsten der
Bevölkerung, nicht aber zugunsten des Besetzers geändert werden,
weil
nach
der
totalen
Beendigung
aller
militärischen
Feinseligkeiten die meisten militärischen Rücksichten entfielen50.
Buddes Drängen war es wohl, das Adenauer zu dem Versuch einer
politischen Instrumentalisierung des Völkerrechts veranlaßte.
Eine Budde ähnliche Argumentation trug auch ein weiterer
einflußreicher Diplomat vor, der ehemalige Botschafter in Moskau,
Rudolph Nadolny51. Hinsichtlich der HLKO führte er
47
48
49
50
51
390
K. Adenauer, Erinnerungen, S. 67
Vgl. H.-P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 794
E.C.F. Budde, Gibt es noch eine deutsche Außenpolitik?, S. 75
E.C.F. Budde, ebd., S. 61
Zur Person R. Nadolnys vgl. G. Wollstein, Rudolf Nadolny Außenminister ohne Verwendung, in: VfZG 1980, S. 47 ff., zu R.
aus, daß, wenn ihre Bestimmungen sogar in Zeiten des
Kriegszustandes Geltung hätten, sie um so mehr nach seiner
Beendigung und nach ausdrücklicher offizieller Verkündung eines
Okkupationszustandes Platz greifen müßten52. Daneben versuchte er
auch das Potsdamer Protokoll und - vor allem - die AtlantikCharta - der er zwar keine rechtliche, aber eine "moralische
Bindung" zumaß - für Zwecke der Deutschlandpolitik und im
Hinblick auf einen zukünftigen Friedensvertrag zu verwenden53.
Auseinandersetzung mit der britischen Besatzungsmacht. Ob und
wie Adenauer in der Folgezeit den Besatzungsmächten, vor allem in
"seiner" Zone den Briten gegenüber, seine Überzeugung von der
völkerrechtlichen Gebundenheit der Besatzungsmächte zum Ausdruck
brachte, ist nicht bekannt. Tatsächlich scheint sich jedoch bis
zum November 1947 nicht allzuviel bewegt zu haben. Erst durch
einen Artikel des Justizministers Gustav Heinemann in der Zeitung
"Die Welt" am 15. November 1947 erhielt diese Frage auch in der
breiten deutschen Öffentlichkeit neue Nahrung54. Anlaß war eine im
Juni 1947 von der Militärregierung angekündigte Zerstörung eines
Teils der Essener Kruppwerke. Unter den abzubauenden Werksanlagen
befanden
sich
neben
Rüstungsbetrieben
auch
Werke
der
Friedensproduktion. Daraufhin forderte die Stadt Essen Heinemann war damals auch Oberbürgermeister der Stadt - die
Erhaltung dieses Teils der Kruppwerke und übergab dem britischen
Militärgouverneur zur rechtlichen Untermauerung ihrer Forderung
drei völkerrechtliche Gutachten, in denen übereinstimmend
festgestellt wurde, daß die Befugnisse der Militärregierung zu
Eingriffen in privates Eigentum ihre Grenzen in den zumindest
sinngemäß anzuwendenden Regeln der HLKO fänden. Die im Auftrag
des britischen Militärb.
52
53
54
Nadolnys politischer Tätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg, ebd.,
S. 66 ff..
R. Nadolny, Völkerrecht und deutscher Friede, S. 45
Vgl. nur R. Nadolny, ebd., S. 7 ff., 34 ff., 59 ff.;
zusammenfassend G. Wollstein, VfZG 1980, S. 67 f..
G. Heinemann, Die entscheidende Rechtsfrage, in: "Die Welt" v.
15.11.1947
391
gouverneurs, General Robertson, erteilte Antwort vom 23. Oktober
1947 war klar und deutlich:
"Diese Bestimmungen (der HLKO, d. Verf.)
sind
jedoch
auf
die
augenblickliche
Besetzung
nicht
anwendbar.
Für
die
augenblickliche Besetzung Deutschlands gibt
es keinen genauen Präzedenzfall, und eine
solche Situation wurde von den Verfassern
der Haager Konvention niemals ins Auge
gefaßt. Es gibt keine deutsche Regierung:
die oberste Gewalt in Deutschland wird von
den vier Oberbefehlshabern ausgeübt, von
denen jeder für seine eigene Besatzungszone
zuständig ist, und die gemeinsame Entscheidungen treffen in Angelegenheiten, die
Deutschland als Ganzes angehen. Auf Grund
der ihnen verliehenen obersten Gewalt gibt
es keine Begrenzung ihrer Vollmachten, mit
Ausnahme derjenigen, die sie sich selbst
setzen."55
Insbesondere der letzte Satz war ein Schlag ins Gesicht all
jener, die aus der Konkursmasse des Dritten Reiches eine den
Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Beschränkung absoluter
Machtpositionen verpflichtete Gesellschaft auf deutschem Boden
aufbauen wollten. Wie aber war das möglich, wenn die
Besatzungsmacht im selben Moment für sich Rechte reklamierte, die
eine umfassende Machtausübung darstellten, ohne sich auch nur im
geringsten um existierende Rechtssätze zu scheren? Heinemann
reagierte entsprechend verärgert und warf der britischen
Regierung vor, eine "unbeschränkte diktatorische Gewalt Uber das
deutsche Volk" für sich zu beanspruchen. Das könne weder
politisch noch rechtlich anerkannt werden. Heinemann gestand zu,
daß durch das Fehlen einer deutschen Regierung eine Situation
eingetreten
sei,
für
die
es
keinen
völkerrechtlichen
Präzedenzfall gebe. Deutschland sei im völkerrechtlichen Sinn
aber immer noch ein Staat, wenn auch kein souveräner, wodurch
verschiedene Teile der HLKO wenigstens sinngemäß anwendbar seien.
Heinemann weiter:
55
392
Zitiert nach G. Heinemann, ebd.
"Die entscheidende Rechtsfrage ist die, ob
eine Zwangsregierung nur an diejenigen
Grenzen gebunden ist, die sie sich selbst
setzt. Vom Standpunkt des Rechts bleibt der
Einwand bestehen, daß
die
Befugnisseeiner
Zwangsregierung ihre Begrenzung in sich
tragen müssen, wenn anders nicht ein neuer
Abschnitt
der
Rechtlosigkeit
in
der
Geschichte des Völkerlebens eröffnet und
das Völkerrecht sich angesichts neuer
Situationen als lebensunkräftig erweisen
soll."56
Auch eine Zwangsregierung, so meinte Heinemann, werde aus der
Natur ihres Auftrages vor den Existenzrechten des besiegten
Volkes haltmachen müssen. Ob dies in einzelnen konkreten
Lebensbereichen der Fall sei, wollte er nicht vertiefen. Die
Antwort auf die entscheidende Frage nach dem Recht des deutschen
Volkes hoffte er "im Geiste einer echten Fortentwicklung des
Völkerrechts" zu finden57, also in der Anwendung spezifischer
Vorschriften der HLKO auch auf die als singulär erfaßte Situation
in Deutschland.
Rückendeckung und Unterstützung erhielt Heinemann schon zehn Tage
später
von
Konrad
Adenauer.
Vor
dem
Hintergrund
des
Antwortschreibens Robertsons setzte er sich in einer Sitzung des
Zonenbeirats der britischen Zone für ein Besatzungsstatut ein, um
die Rechte und Pflichten von Besatzern und Besetzten endlich
deutlich klarzustellen und zuzuweisen. Ebenso wie zuvor Heinemann
meinte auch Adenauer, es entspreche allgemeiner Rechtsauffassung,
daß immer dann, wenn in einer Abmachung rechtlichen Charakters
ein bestimmter Fall nicht vorgesehen sei, dieser nach den Regeln
der Analogie zu behandeln sei58. Das konnte nur bedeuten: die
Regeln der occupatio bellica als äußerste Schranke dessen, was
der Besatzer auf fremdem Boden tun darf; eine Absage an jede Art
der Rechtlosigkeit der Bevölkerung des besetzten Gebietes.
Nachdrücklich betonte Adenauer:
56
57
58
G. Heinemann, ebd.
G. Heinemann, ebd.
Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 19451949, Bd. 3, S. 870 f.
393
"In diesem Briefe (von General Robertson,
d. Verf.) ... findet sich der Satz, ... der
nach unserer Auffassung niemals wieder
wiederholt werden darf. Es findet sich der
Satz, daß das Recht der Alliierten seine
Grenzen nur am eigenen Willen finde. Das
ist für uns untragbar ..., das sind Worte,
wie wir sie niemals wieder zu hören
geglaubt haben. Es ist nicht gesagt:
'Grenzen der Menschlichkeit' oder etwas
derartiges, sondern 'am eigenen Willen'.
Ich möchte glauben, daß der Verfasser
dieses Satzes sich nicht klar darüber
gewesen ist, was er da niedergeschrieben
hat. Denn das ist ein Absolutismus, wie er
in
den
schlimmsten
Zeiten
des
absolutistischen
Regimes
niemals
59
ausgesprochen ist."
Von britischer Seite wurde der "Absolutismus"-Anspruch jedoch
auch weiterhin aufrechtherhalten. Auf Heinemanns "Welt"-Artikel
reagierte der Abteilungsleiter der politischen Division der
britischen
Kontrollkommission,
Duncan
Wilson,
in
einem
Antwortartikel60. Wilson verfuhr zweigleisig: Zum einen versuchte
er, eine völkerrechtliche Nichtbindung juristisch zu belegen, zum
zweiten
die
britische
Vorgehensweise
moralisierend
zu
rechtfertigen. Zur Erreichung des ersten Ziels berief sich Wilson
auf eine Autorität des Völkerrechts, das Werk von Oppenheim/
Lauterpacht, in dem die Auffassung vertreten wurde, daß nach der
militärischen Kapitulation und der Deklaration vom 5. Juni 1945
die Ausübung aller souveräner Rechte und Vollmachten des
deutschen Staates innerhalb und außerhalb Deutschlands mit allen
Auswirkungen
auf
das
internationale
Recht
bis
zur
Wiederherstellung der deutschen Souveränität bei den vier
gemeinsam oder einzeln handelnden Mächten liege, woraus der Brite
schloß, der Kontrollrat und die Oberbefehlshaber der vier Zonen
seien de jure und de facto die deutsche Regierung. Wilson war
ganz offensichtlich Uber die völkerrechtlichen Planungen der
Briten und der Amerikaner aus den Jahren 1944/1945 nicht in
Kenntnis
59
60
394
Akten zur Vorgeschichte, ebd., S. 871
D. Wilson, Haager Konvention für Deutschland? Britische Entgegnung an Minister Heinemann, in: "Die Welt" v. 22.11.1947
gesetzt worden. Die Übernahme der deutschen Regierung hatte
eigentlich nie ernsthaft zur Diskussion gestanden, da man nicht
Inhaber der deutschen Souveränität, sondern lediglich Ausübender
der Souveränitätsrechte werden wollte.
Die rechtliche Frage war Wilson jedoch auch gar nicht so wichtig.
Entscheidend für ihn war der zweite, der moralische Aspekt der
Besatzungsausübung ("Wir wollen uns jetzt einer Betrachtung von
einem breiteren moralischen Standpunkt her zuwenden, der
zweifellos wichtiger ist."). Unter Zitierung von Winston
Churchill, der schon vor Kriegsende erklärt hatte, daß die
Alliierten den Deutschen gegenüber keine streng rechtlichen
Verpflichtungen hätten, und daß sie nur an das gebunden seien,
was ihr Gewissen ihnen vorschreibe, meinte Duncan, die Situation
habe sich seit dieser Äußerung des damaligen britischen Premierministers nicht wesentlich verändert. Auch hätten die Briten bei
der Verwaltung ihrer Zone und Deutschlands "keines der
Grundgesetze der Menschenrechte überschritten ..., die die
Artikel der Haager Konvention inspirierten." Zum Beweis führte er
die britischen Lebensmittelimporte an, verwies aber auch darauf,
daß Deutschland die während des Krieges anderen Länder zugefügten
Schäden wiedergutmachten müsse. Das sei die "moralische Grundlage
der Demontage- politik". Moralische Maßstäbe und Rücksichtnahme
auf die Deutschland-Meinung der Weltöffentlichkeit waren für
Duncan und damit befand er sich in guter Gesellschaft wichtiger
als die Beachtung von Rechtsgrundsätzen:
"Dr. Heinemann sollte sich jedoch darüber
klar
sein,
daß
die
Grundsätze
des
Menschenrechts sich nicht immer unmittelbar
zugunsten der Deutschen auswirken . ...
Letzten Endes ist dabei die öffentliche
Meinung der Welt ausschlaggebend. Wenn die
öffentliche Meinung außerhalb Deutschlands
sich auch gewiß nicht für eine Politik
vorsätzlicher Härte einsetzt, fordert sie
doch unweigerlich Sicherheit gegen eine
Wiederholung des deutschen Angriffs und
kann nicht anerkennen, daß Deutschland den
ersten Anspruch auf die
395
materielle und finanzielle Hilfe für den
Wiederaufbau hat."61
Recht und Moral griffen auch in diesen Äußerungen ineinander
über. Eine gesicherte Rechte verleihende Stellung wurde den
Deutschen damit abgesprochen, Moral und Gewissen sollten
definiert werden von der Weltöffentlichkeit, die ohne Zweifel
noch ganz im Zeichen der Kriegspropaganda und - das sollte man
auch
berücksichtigen
der
Zeitungsmeldungen
über
die
nationalsozialistischen
Gewaltverbrechen
stand.
Die
Kriegsgeschehnisse wirkten hinüber in die Nachkriegszeit,
völkerrechtliche
Grundregeln
des
Verhältnisses
von
Besatzungsmacht und Bevölkerung waren nicht mehr an juristischen
Kategorien auszurichten, sondern an kaum näher bestimmbaren,
geschweige denn einklagbaren moralischen Anschauungen62.
II. 3. Die "Interventions"-These
politischer Zweckmäßigkeit
als
rechtlicher
Ausdruck
a. Georg August Zinns "Interventions"-These. In der amerikanischen Besatzungszone war es vor allem der hessische
Justizminister und spätere Ministerpräsident Georg August Zinn,
der die völkerrechtliche Lage Deutschlands zu erfassen suchte.
Kelsens These vom Untergang des deutschen Staates lehnte er ab.
Sie beruhte für Zinn auf einer Verwechslung von Subjekt und Organ
der Souveränität Deutschlands durch Kelsen, der die Staatsgewalt
im
Sinne
der
Drei-Elemente-Lehre
mit
der
Souveränität
identifiziere und behaupte, daß Träger der Souveränität nicht das
Volk sein könne, sondern nur ein Staat, während im
61
62
396
D. Wilson, ebd.
Daß sich die Deutschen auch nicht auf "Moralgesetze" berufen dürften,
hatte 1945 kurz vor dem Ende der Feindseligkeiten bereits Clement
Attle im Unterhaus gesagt: "Sie (die Deutschen, d. Verf.) haben die
alten Schranken eingerissen, und deshalb sage ich, daß sie sich nicht
auf das alte Europa berufen können. Falls sie sich fügen, falls sie
wiedergutmachen müssen, haben sie kein Recht, die Grundlage der
Moralgesetze zu beschwören, die sie selbst nicht beachtet haben, oder
auf Mitleid und Gnade zu rechnen, die sie niemals anderen zuteil
werden ließen." Zitiert nach A.M. de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und
die Vertreibung der Deutschen, S. 38.
"Interntionalen Staatsrecht" anerkannt sei, daß Subjekt der
Souveränität von Rechts wegen einzig das Volk sei, auch wenn eine
Usurpation wie in Deutschland 1933 bis 1945 es vorübergehend an
der Ausübung seiner Souveränität hindern konnte. Aus dem Fehlen
einer
Souveränität
im
Sinne
einer
internationalen
Handlungsfähigkeit und Handlungsfreiheit für Deutschland könne
daher weder auf ein Fehlen der Staatsgewalt noch auf seine
Nichtexistenz als Staat geschlossen werden63. Daraus ergab sich
für Zinn jedoch noch nicht zwingend, daß die völkerrechtlichen
Vorschriften der HLKO auch auf Deutschland Anwendung finden
mußten. Seine rechtstechnische Konstruktion ging dahin, den
politischen Absichten der Alliierten einen besonderen Stellenwert
zukommen zu lassen, denn, so meinte Zinn, "um diese
Binsenweisheit einmal auszusprechen," die Alliierten hätten "den
Krieg nicht aus militärischen, sondern aus politischen Gründen
geführt."64.
Wie aber sollte sich die Absicht politischer Intervention in
einem fremden Staat, die dem Völkerrecht bislang nicht nur fremd
war, sondern die es sogar ausdrücklich ablehnte65, auf die
völkerrechtliche Lage auswirken? Zinn unterschied zwischen zwei
grundverschiedenen
Kriegsarten:
"Nationenkriege"
und
"Revolutionskriege". "Nationenkriege" würden im allgemeinen um
Grenzen geführt, jedoch nicht notwendigerweise um Gebietsgrenzen.
Sie dienten der Vormachtstellung einer Nation gegenüber einer
anderen, wofür in der Regel die durch Annexion bewirkten
Gebietsänderungen das Mittel bildeten, während die Staatskerne in
Form der nationalen Rechtsordnungen unberührt und grundsätzlich
unberührbar blieben. Deshalb verpflichte auch Art. 43 HLKO im
Falle
einer
occupatio
bellica
die
Besatzungsmacht,
die
Landesgesetze zu wahren. "Revolutionskriege", zu denen Zinn auch
und gerade den
63
64
65
G.A. Zinn, Das staaatsrechtliche Problem Deutschland, SJZ 1947,
S. 4 ff., 10
G.A. Zinn, ebd., S. 6
Vgl. H. Haedrich, Intervention, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch
des Völkerrechts, Bd. 2, S. 144 ff.; Th. Oppermann, Intervention, in:
Encyclopedia of Public International Law,
Bd. 3, S. 233 ff.
397
Zweiten Weltkrieg zählte, hätten die Ausdehnung, den "Sieg einer
Rechtsordnung" zum Inhalt66. Diesen dem modernen Völkerrecht
bislang unbekannten Begriff erklärte Zinn folgendermaßen:
"(Revolutionskriege) sind ihrem Wesen nach
bedingungslos und universal und richten
sich eben gegen jenen Staatskern, den der
Nationenkrieg
unangetastet
läßt.
Die
Erscheinungen eines Revolutionskrieges kann
man
darum
mit
Begriffen
des
Nationenkrieges, wie es die Debellatio, die
occupatio bellica und die Annektion sind,
nicht fassen."67
An die Stelle der occupatio bellica des Nationenkrieges, so Zinn
weiter, trete in einem Revolutionskrieg notwendigerweise der
Zustand von "unconditional surrender", an die Stelle der Annexion
die Intervention. "Unconditional Surrender" sei nun der
Rechtszustand, dem die Aufgabe zufalle, die Intervention
durchzuführen, begründe jedoch keinen Zustand der Rechtlosigkeit,
sondern diene vielmehr selbst der "Rechtsbegründung", "wie es ja
juristisch nichts anderes als die Einführung der Sklaverei wäre,
wollte man einem ganzen Volk oder auch nur einer Gruppe von
Menschen die Menschenrechte absprechen."68. Zinn bezeichnete es
als irrig, wenn angenommen werde, Deutschland bilde infolge von
"unconditional surrender" (bei Zinn ein zusammenfassender
Oberbegriff für die militärische Kapitulation und die Berliner
Viermächteerklärung) einen rechtsfreien Raum, in dem die
Besatzungsmächte nur den Beschränkungen unterlägen, die sie sich
selbst setzten. Art. 13 der Berliner Deklaration verleihe den
Alliierten auch nicht die unbedingte Befugnis, ohne Rücksicht auf
die unveräußerlichen Grundrechte, insbesondere den Grundsatz der
Volkssouveränität, der Freiheit der Person, der Meinung und des
Eigentums, Anordnungen zu treffen. Die Rechtswirkung von
"unconditional surrender" erschöpfe sich vielmehr militärisch in
der endgültigen Unzulässigkeit
A. Zinn, Unconditional Surrender, JW 1947/48, S. 9 ff., 11
A. Zinn, ebd.
A. Zinn, ebd., S. 11 f.
eines bewaffneten Widerstandes und politisch in der Anerkennung
der Rechtsordnung, deren Ausbreitung die Intervention zu dienen
bestimmt sei. Daraus folgerte Zinn, daß auch weiterhin die
Besatzungsmächte verpflichtet seien, für die ausreichende
Ernährung der Bevölkerung im besetzten Gebiet Sorge zu tragen.
Für die Hungersnot in Deutschland Hitler allein verantwortlich zu
machen, sei weder sinnvoll noch richtig. Es handele sich dabei um
kein Schuld sondern um ein Rechtsproblem ("Nahrungsnot ist
Rechtsnot")69.
Zinn verfolgte seine Theorie von der "politischen Intervention"
somit ausschließlich mit dem Ziel, den Alliierten die Beseitigung
nationalsozialistischer Rechtsnormen sowie des gesamten NSStaatsaufbaus rechtlich zu ermöglichen. Ansonsten sollte es bei
den bestehenden völkerrechtlichen Regeln bleiben:
"Wohl befreit unconditional surrender von
der Beachtung der Landesgesetze, die mit
den Zielen der Intervention nicht vereinbar
sind; im übrigen jedoch bleiben die Regeln
des Völkerrechts, insbesondere der Genfer
Konvention und der Haager Landkriegsordnung
maßgebend."70
Zinns Vorstellung von einer völkerrechtlichen Zulässigkeit einer
"politischen Intervention" mit den oben beschriebenen rechtlichen
Folgen stieß auf offene Ohren vor allem bei in der praktischen
Politik
stehenden
deutschen
Persönlichkeiten,
die
der
Sozialdemokratie
angehörten
oder
ihr
nahestanden.
Zinns
neuartiger Besatzungstypus schien sie aus einer schwierigen Lage
zu befreien. Er erlaubte ihnen einerseits, für Deutschland den
Besatzungsmächten gegenüber den ganz überwiegenden Teil des
völkerrechtlichen Okkupationsrechts zu reklamieren, und kam
andererseits
den
eigenen
Interessen
und
denen
der
Besatzungsmächte entgegen, weil er einen rechtmäßigen Weg
aufzeigte, auf dem das ganze nationalsozialistische System
eliminiert werden konnte. Die Zinn'sche Interventions-These
diente deshalb primär
69
70
G.A. Zinn, ebd., S. 12 f.
G.A. Zinn, ebd., S. 12
399
praktischen Erwägungen für den Verkehr und die Verhandlungen
deutscher Politiker mit den Vertretern der Besatzungsmächte71.
b. Karl Geiler und die "Interventions''-Theorie. Als einer der
ersten nahm der hessische Ministerpräsident Karl Geiler Zinns
Gedanken zur Intervention auf. Selbst wenn es sich bei der
Besetzung Deutschlands um einen geschichtlich und völkerrechtlich
neuartigen Vorgang handele, so Geiler, könne das noch nicht
bedeuten, daß dieser Vorgang außerhalb jeder rechtlichen
Normierung stehe. Leider fehle es an klaren Rechtsgrundlagen für
die Besetzung, was zu einer weitgehenden reinen Faktizität des
vorliegenden Zustands geführt habe, "eine Faktizität, die uns
Deutsche
bedenklich
rechtlos
macht."72.
Der
wirkliche
völkerrechtliche Zustand Deutschlands sei der einer occupatio
bellica, verbunden mit einer völkerrechtlichen Intervention
seitens der vier großen Siegermächte. Dabei befänden sich die
Deutschen gewissermaßen zwischen Krieg und Frieden. Die
bedingungslose Kapitulation habe zwar die Feindseligkeiten
beendet, aber mangels eines Friedens- oder Vorfriedensvertrages
sei der volle Friedenszustand noch nicht erreicht, die occupatio
bellica noch nicht in eine occupatio pacifica übergegan-
71
Daß es zur Ausmerzung des Nationalsozialismus unbedingt der
Entwicklung neuer Theorien - insbesondere einer InterventionsTheorie - bedurfte, ist nicht unbedingt überzeugend. Es erscheint dem
Verfasser durchaus möglich, daß auch auf der Grundlage der HLKO eine
Entnazifizierung und Entmilitarisierung in Deutschland hätte
durchgeführt werden können. Dies hat zutreffend auch F.A. Mann
festgestellt, demzufolge "im besonderen Fall Deutschlands eine
Kriegsbesatzungsmacht Rechte haben (würde), die vor dem Entstehen des
faschistischen Staates undenkbar waren, die aber noch unter
Buchstaben und Geist anerkannten Rechtes gebracht werden könnten. Man
kann z.B. sehr wohl annehmen, daß die Haager Regeln die Aufhebung der
Nazigesetzgebung gestatten, weil eine besetzende Macht eine solche
Gesetzgebung keinesfalls zu respektieren in der Lage ist (Art. 43).
Man kann auch behaupten, daß zahlreiche Maßnahmen zur
Entmilitarisierung, zur Änderung der politischen Ordnung in
Deutschland und zur Kontrolle der Wirtschaftskräfte eines so stark
zentralisierten totalitären Staates zur Sicherung der
Besatzungsmächte und zur Verwirklichung ihres Sieges nötig sind."
F.A. Mann, Deutschlands heutiger Status, SJZ 1947, S. 465 ff., 470
72
K. Geiler, Personalismus, Sozialismus, Völkerfrieden, S. 139
400
gen73. Soweit die Siegermächte eine über die HLKO hinausgehende
Rechtsstellung
gegenüber
Deutschland
in
Anspruch
nahmen,
erblickte er in diesem Verhalten eine politische Intervention.
Geiler war sich dabei der Problematik dieses Begriffs durchaus
bewußt. Sie gelte, meinte er, im allgemeinen völkerrechtlich
nicht als Rechtsinstitut, sondern als unbefugte Einwirkung auf
die Regierung eines (fremden) Staates. Dennoch gebe es aber
Fälle, in denen ein solches Intervenieren völkerrechtlich
zulässig sei: Wenn sich die Dinge in einem Staat so gestalteten,
daß das Dasein des Staates als solches in Frage gestellt werde,
wenn insbesondere an Stelle eines gesicherten Rechtszustandes
eine Willkürherrschaft oder ein Chaos trete, dann könne sich eine
Einmischung in die Verhältnisse dieses Staates als eine erlaubte
Intervention darstellen. Angesichts der Verhältnisse, wie sie in
Deutschland im Mai 1945 bestanden hätten, lasse sich jedenfalls
der Gedanke einer solchen Intervention in Verbindung mit der
gleichzeitigen
völligen
Besetzung
Deutschlands
durchaus
vertreten. Als Interventionszwecke hätten dann die in der
Berliner Deklaration und in dem Potsdamer Protokoll aufgeführten
Zwecke zu gelten, also insbesondere die Schaffung einer
rechtsstaatlichen Ordnung in Deutschland auf demokratischer
Grundlage74. Es bestehe aber für die Zukunft die Notwendigkeit,
den Interventionsgedanken durch den Kontrollgedanken abzulösen.
73
74
K. Geiler, Die gegenwärtige völkerrechtliche Lage Deutschlands,
S. 12
K. Geiler, ebd., S. 18 f.; Geiler war der Ansicht, die These von
einer politischen Intervention sei "die für uns günstigste Erklärung
des derzeitigen Zustands", wobei er den politischen Zweckmäßigkeiten
offensichtlich Vorrang einräumte vor der juristischen Plausibilität,
und meinte weiter, es sei an der "Annahme einer politischen
Intervention fest(zu)halten, namentlich weil ja die Zwecke dieser
Intervention in den maßgebenden Erklärungen ausdrücklich festgelegt
sind. Sie hängt also nicht so etwa in der Luft, sondern sie verfolgt
ganz konkret die Herstellung einer Ordnung auf demokratischer
Grundlage. Das ist ja dasselbe, was wir auch wollen, und ich glaube,
wir sollten an dieser Deduktion festhalten: Kriegerische Besetzung,
wobei man zwar über die Grundsätze der Haager Konvention hinausgeht,
wobei aber das Darüberhinausge- hen begrenzt ist durch den Akt dieser
politischen Intervention mit ihren genau präzisierten Zwecken."; vgl.
E. Mugdan, Zur völkerrechtlichen Lage Deutschlands, S. 38 f.
401
Der Idealfall einer Besatzung sowohl für den Besetzten wie für
den Besetzer sei eine "occupatio in being", eine Besatzung, die
ohne aktives Eingreifen und allein durch ihre Anwesenheit das
bewirke, was sie letztlich bewirken solle. Dabei unterschied
Geiler zwei Kategorien von Besatzungszwecken: In Betracht komme
einmal der gewöhnliche Zweck einer jeden Besatzung, sich selbst
zu erhalten und zu sichern. Hinzu träten aber dann die
außerordentlichen Zwecke, die die jeweilige Besatzung ihrerseits
besonders fördern wolle, und wie sie in den maßgebenden
Erklärungen
der
Alliierten
enthalten
seien.
Diese
außerordentlichen Besatzungszwecke bedürften einer besonderen
Überprüfung, ob sie nicht schon durchgeführt seien, so daß dann
eine Überwachung und Kontrolle durch die Siegermächte ausreichend
sei. Insbesondere reiche der Kontrollgedanke aus bei der Frage
der Umgestaltung des politischen Lebens in Deutschland, da dieser
Besatzungszweck nur durch das deutsche Volk selbst und aus
eigenem freien Willen heraus erfolgen könne. Von besonderer
Wichtigkeit sei noch die Gewährleistung der individuellen
Menschenrechte und der allgemeinen Volksrechte auch für das
deutsche Volk. An erster Stelle stehe dabei das Recht auf
persönliche Freiheit, und zwar nicht nur auf körperliche, sondern
vor allen Dingen auf geistige Freiheit. Auch die Vereinten
Nationen hätten sich ja die Kodifizierung der Menschenrechte zum
Ziel gesetzt, und in Haag habe man sich für eine Kodifizierung
der Menschenrechte für Europa ausgesprochen. Deshalb sollten
"diese Menschenrechte wahrlich auch für uns Deutsche gelten,
zumal wir uns nicht mehr im Krieg befinden und waffenlos sind."75.
Ein weiterer Sozialdemokrat, der sich für die Nutzbarmachung des
Interventionsgedankens in diesem Zusammenhang aussprach, war
Adolf Arndt. Er glaubte, neben dem Völkerrecht sei ein neues
Rechtsgebiet entstanden, das er als "Internationales Staatsrecht"
bezeichnete. Beide Rechtsgebiete unterschieden sich dadurch, daß
das "Internationale
75 K. Geiler, Personalismus, Sozialismus, Völkerfrieden,
S. 145 ff.
Staatsrecht" nicht nur - wie das Völkerrecht außenpolitische
Bindungen auferlege, sondern auch innenpolitische. Statt des
Grundsatzes der Nichteinmischung gelte das Interventionsprinzip76.
c. Carlo Schmid wendet sich gegen die "Interventions"- Theorie.
Die Tauglichkeit des Interventionsprinzips als Regulativ anstelle
des bisher geltenden völkerrechtlichen Besatzungsrechts wurde auf
der politischen Ebene von einem weiteren Sozialdemokraten jedoch
heftig in Frage gestellt. Carlo (Karl) Schmid, nicht nur ein
ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet des Völkerrechts, sondern
auch eine der maßgeblichen politischen Persönlichkeiten in den
ersten Nachkriegsjahren, wies regelmäßig auf den Unterschied
zwischen der Intervention als politisches Besatzungsziel und der
davon völlig zu trennenden Frage nach der völkerrechtlichen
Legalität dieses Vorgehens hin. Auch für ihn hatte die Besetzung
Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg den Charakter einer
Intervention. Das Völkerrecht erlaube eine solche Intervention
aber nur unter der Voraussetzung einer vorherigen Vereinbarung
zwischen dem Intervenierenden und dem betroffenen Staat. Bestehe
eine solche Vereinbarung nicht, dann handele der Intervenient
aufgrund seiner Macht in Verfolgung von Interessen und nicht
aufgrund
eines
Rechts
zu
deren
Verwirklichung.
Die
interventionistischen Handlungen der Besatzungsmächte seien so
lange nicht vom Völkerrecht gedeckt, bis sie nicht etwa in einem
Friedensvertrag
von
einer
verfassungsmäßigen
deutschen
Staatsgewalt anerkannt worden seien77. Schmid charakterisierte in
einer Diskussion in einer Replik auf die vorangegangenen
Ausführungen Geilers den Interventionsgedanken folgendermaßen:
"Intervention - ist für sich allein keine
Legitimation. Intervention ist ein bloßes
Wort, eine Bezeichnung bestimmter Vorgänge,
aber keine Rechtsinstitution. Intervention
bedeutet lediglich, daß in einem Land
76
77
A. Arndt, Internationales Staatsrecht, SJZ 1947, S. 217 ff.;
vgl. auch ders., Just Peace, SJZ 1948, S. 1 ff., insb. S. 4
K. Schmid, Wirtschafts-Zeitung v. 07.11.1947
403
etwas vor sich geht, dessen Urheber ein
ausländischer Staat ist. Ob aber rechtens
ist, was da vor sich geht, ist damit nicht
gesagt."78
Damit trat Schmid den Bestrebungen entgegen, die von der
Faktizität der Geschehnisse - unsachgemäß - auf ihre Legalität
schließen wollten. Wie weit dabei die Verquickung politischer und
juristischer
Gesichtspunkte
ging,
zeigt
augenfällig
eine
Bemerkung von Dolf Sternberger auf derselben Tagung, als er den
Begriff der Intervention zu verteidigen suchte:
"Die
politische
Notwendigkeit
dieses
Krieges muß die Basis für die juristische
Begriffsbildung sein,"
meinte Sternberger, der glaubte, diese Vermischung von politischer Notwendigkeit oder Wünschbarkeit und juristischer
Machbarkeit der Dynamik des Völkerrechts als einem sich immer
weiter entwickelnden Rechtsgebiet zugute schreiben zu können,
indem er weiter ausführte, daß
"(die juristische Begriffsbildung) sich nun
eben immer wieder und zu allen Zeiten in
der dialektischen Zwickmühle befindet,
einerseits
die
gewaltigen
empirischen
Tatsachen
begreifen
zu
müssen
und
andererseits, ihnen normativ den Weg und
79
die Bahn vorschreiben zu müssen."
Demgegenüber wies Schmid darauf hin, es sei wohl richtig, daß
durch einen "communis consensus" auch ein Recht ge
78
Vgl., E. Mugdan, Zur völkerrechtlichen Lage Deutschlands, S. 33,
wo C. Schmid auch von einer "Ersatzvornahme zu eigenen Zwecken"
der Besatzungsmächte spricht, der lediglich "faktische Legalität"
zukomme; in Deutschland bestehe damit - einer Quadratur des
Zirkels gleich - ein "faktischer Rechtszustand", jedoch kein
"gesetzmäßiger Sachzustand". Im Parlamentarischen Rat meinte C.
Schmid zu demselben Thema im September 1948, die
interventionistischen Maßnahmen der Besatzungsmächte seien als
"vorläufig legal" anzusehen "aus dem einem Grunde, daß das
deutsche Volk diesen Maßnahmen allgemein Gehorsam leistet", vgl.
Pari. Rat, Stenografische Protokolle, 08.09.1948, S. 10; dort
auch, S. 9 f., C. Schmid zur Fortexistenz Deutschlands als Staat.
79
E. Mugdan, ebd., S. 49
i
schaffen werden könnte, das gewisse Staaten gegenüber anderen
Staaten diskriminiere; das Völkerrecht setze nicht von vornherein
voraus, daß alle Staaten vor ihm gleiches Recht haben sollten.
Man könne sehr wohl davon sprechen, daß ein großer Teil der
Staaten dieser Welt der Meinung sei, es sei rechtens, daß sich
die alliierten Besatzungsmächte in Deutschland so gerierten, wie
sie es täten. Das vermöge aber solange kein neues Völkerrecht zu
schaffen, solange einer der Beteiligten dieser Meinung nicht sei
oder dieser Meinung keinen Ausdruck verleihen könne. Und das sei
zum mindesten beim Hauptbeteiligten Deutschland der Fall. Von
einem "communis consensus" als einer Grundlage der Legitimität(!)
dieses Verhaltens könne man deshalb nicht reden80. Von der HLKO,
die in Art. 43 genau das Gegenteil vorsehe, brauche er erst gar
nicht zu sprechen.
Wie rechtlich unbrauchbar die Heranziehung des Prinzips von der
politischen Intervention in der damaligen Zeit war und auch heute
noch ist, zeigt sich schon allein darin, daß auch unter den
Vertretern dieses Gedankens keine Übereinstimmung über den
genauen Inhalt und die Grenzen der Intervention bestand. Zinn
wollte damit nur die Nichtbindung der Okkupanten an das
nationalsozialistische
innerstaatliche
Recht
Deutschlands
begründen.
Andere
glaubten,
alle
irgendwie
politisch
ausgerichteten Maßnahmen der Besatzungsmächte auf diese Weise
rechtfertigen zu können. Dabei war es auch einem Befürworter der
politischen Intervention wie Adolf Arndt einsichtig, daß der
vorangegangene Krieg nicht allein als eine Intervention um der
Menschrechte willen anzusehen war, sondern auch der Faktor
politischer Machtgewinnung eine zentrale Rolle gespielt hatte.
Arndt meinte denn auch, eine nüchterne Betrachtung der Lage müsse
"das Janushaupt dieses Krieges" erkennen, der nicht allein um
Recht, sondern nicht minder
80
E. Mugdan, ebd., S. 32; beachtenswert ist dabei insbesondere, daß
C. Schmid den besatzungspolitischen Maßnahmen, soweit sie vom
Begriff der Intervention gedeckt zu sein schienen, nicht nur ihre
völkerrechtliche Legalität absprach, sondern auch ihre Legitimität,
also ihre Rechtfertigung durch über das positive Recht
hinausgehende höhere Werte und Grundsätze.
405
um Macht geführt worden sei81. Rolf Stödter hat schon 1948 die
Hintergründe der politischen Intervention und ihre nicht
Völkerrechtsgemäße Verwendung treffend ausgeleuchtet und auch die
historisch-politischen Zusammenhänge erkannt:
"Man versucht damit (mit dem Begriff von
der politischen Intervention, d.
Verf.) - und entspricht insoweit einer
international verbreiteten Neigung - die
Doktrin der Nichteinmischung abzuschaffen
und das Postulat der Intervention an ihre
Stelle zu setzen.
Der Frieden hat unteilbar zu sein; so
gelangt man zu einer Unteilbarkeit auch des
Krieges. Der Krieg soll auf diese Weise
durch
die
Intervention
ersetzt
und
abgeschafft werden, die als das wahre
Mittel
zur
Aufrechterhaltung
eines
unteilbaren Friedens dargestellt wird. Das
Interventionsprinzip
hat
bereits
zur
Begründung des ersten Weltkrieges gedient;
es hat eine wichtige Rolle in der
Vorgeschichte des zweiten gespielt. Es hat
von jeher eine imperialistische Note gehabt
und kaum als Friedensbringer gewirkt.
Ein Interventionskrieg aber ist Krieg
im völkerrechtlichen Sinne. Auf den Zweck
des Krieges kommt es für seine begriffliche
Bestimmung im Rahmen des Völkerrechts nicht
an.
Gerechte
und
ungerechte
Kriege,
Interventionskriege wie alle anderen Kriege
unterliegen
in
gleichem
Maße
den
völkerrechtlichen Bestimmungen, die für die
Beurteilung des Verhältnisses der Staaten
und ihrer Angehöriger im Kriegsfall gelten.
Führt daher ein sogenannter Interventionskrieg zu einer Besetzung, so sind für diese
die völkerrechtlichen Vorschriften des
Okkupationsrechts nicht anders als in
sonstigen Kriegen anzuwenden.
... Die Feststellung, daß der Krieg der
Alliierten
gegen
Deutschland
ein
Interventionskrieg sei, kann daher nicht zu
einer
Ausschaltung
des
Kriegsrechts,
insbesondere zu einer Außerkraftsetzung
wesentlicher
Vorschriften
des
Völkerrechts
der
kriegerischen
Besetzung
führen.
Sonst
könnte jeder Kriegführende unter Berufung
auf berechtigte, vielleicht
81 A. Arndt, SJZ 1948, S. 4
406
sogar auf unberechtigte Interventionszwecke
seinen
kriegerischen
Aktionen
einen
besonderen Charakter verleihen und sich
damit von der Beobachtung des geltenden
Kriegsrechts freizeichnen."82
Dem letzten Satz kommt ein besonders hoher Stellenwert zu, da er
das Argumentationsproblem der Vertreter der Interventionsthese
nachhaltig zum Ausdruck bringt. Denn ihre Argumente beruhen unausgesprochen - auf der Prämisse, daß die in Deutschland
einzuführende Demokratie das politisch einzig erstrebenswerte
neue
Gesellschaftssystem
sei.
Aufgrund
der
allgemeinen
Anerkennung dieser Prämisse gerade in einem Deutschland, das auf
demokratische Staatsstrukturen und persönliche Freiheiten in den
vorangegangenen Jahren des Dritten Reiches hatte verzichten
müssen,
schien
es
einzuleuchten,
daß
der
politischen
Wünschbarkeit einer politischen Umgestaltung in Deutschland auch
die juristische Machbarkeit folgen müsse. Der Begriff "politische
Intervention" hat jedoch keinen spezifischen Demokratiebezug,
sondern ist gesellschaftspolitisch und ideologisch indifferent.
Die rechtliche Zulässigkeit einer "politischen Intervention",
unter gleichzeitiger Zurückdrängung des Interventionsverbotes als
eines anerkannten völkerrechtlichen Grundsatzes, hätte deshalb
notwendigerweise auch die Einführung kommunistischer Staats- und
Gesellschaftsstrukturen in Osteuropa und der SBZ rechtfertigen
müssen
eine
Folgerung,
die
von
den
Vertetern
der
Interventionsthese
jedoch
nie
gezogen
wurde.
Die
Interventionsthese entsprach somit in den drei westlichen Zonen
vor allem der politischen Zweckmäßigkeit, weil sie den
gleichgerichteten Interessen von Besetzern und Besetzten bei der
Frage
der
politischen
Eingriffe
mit
dem
Ziel
einer
Demokratisierung scheinbar ein juristisches Fundament gab. An
juristischer Qualität mangelte es der These - neben den schon
oben genannten Gründen - vor allem deshalb, weil ihr diese
Demokratiebezogenheit
im
Einzelfall
als
abstrakter
Rechtsgrundsatz fehlte. Ein völkerrechtliches Prinzip, nach dem
Interventionen in fremde nicht-demokratische Staaten
R. Stödter, Deutschlands Rechtslage, S. 135 f.
407
zulässig wären, wenn sie dem Ziel dienten, dort eine Demokratie
einzuführen, gibt es nicht und gab es auch in und nach dem
Zweiten Weltkrieg nicht. Eine Loslösung des Begriffs "politische
Intervention"
vom
Begriff
der
Demokratisierung
mit
der
zwangsläufigen Folge, daß auch die Intervention zum Zweck der
Installierung totalitärer Gesellschaftsordnungen gerechtfertigt
gewesen wäre, wurde von den Vertretern der Interventionsthese
jedoch nie beabsichtigt. Die völkerrechtliche Zulässigkeit einer
politischen Intervention mit dem Zweck der Einführung der
Demokratie in einem fremden Staat mochte in der konkreten
deutschen Situation nach 1945 politisch einleuchten; als
völkerrechtliches
Prinzip
hätte
es
jedoch
weder
völkerverständigende noch friedenstiftende Wirkungen erzielen
können, sondern den Keim neuer Kriege solange in sich getragen,
wie es auf der Welt nichtdemokratische Staaten gibt.
II. 4. Rudolf v. Launs Bestrebungen zur Klärung der Rechtslage
Deutschlands
a. R.
v.Launs
wissenschaftliche
Auseinandersetzung
mit
dem
Besonderes
Engagement
in
der
Diskussion zur Rechtslage Deutschlands entwickelte der Hamburger
Völkerrechtslehrer Rudolf v. Laun83. Er beschränkte sich nicht
darauf, die Diskussion in geschlossenen akademischen Zirkeln
aufzunehmen und zu forcieren, sondern trug die Problematik ganz
bewußt und zielgerichtet auch in die Öffentlichkeit. Für diesen
Zweck stand ihm die Hamburger Wochenzeitschrift "Die Zeit" zur
Seite, die ihm regelmäßig Publikationsraum zur Verfügung stellte,
so daß er vor allem den oben bereits erwähnten Angriffen des
amerikanisch lizensierten "Tagesspiegel" entgegentreten konnte84.
Die Angriffe richteten sich zum einen gegen Launs rechtliche
Auffassungen, gingen zum
Rechtsproblem
83
84
408
Deutschland.
Zu v. Launs diesbezüglichen Bemühungen vgl. D. v. Schenck, Rudolf
v. Laun und die Rechtslage Deutschlands nach 1945, in: Festschr. f.
R.v. Laun zu seinem 90. Geburtstag, S. 157 ff.,
S. 438 ff.; F. Münch, Die völkerrechtliche Grundlage des
Status Deutschlands, ebd., S. 143 ff.
Vgl. oben, 3. Teil, Il.1.a.
anderen aber auch weit darüber hinaus bis hin zu persönlichen
Verunglimpfungen85.
Schon in seinem ersten "Zeit"-Artikel am 19. Dezember 1946 unter
dem Titel "Gegenwärtiges Völkerrecht" stellte er fest, daß es in
Deutschland unter dem Besatzungsregime zweierlei Recht gebe: das
bisherige Völkerrecht, das aber von den Alliierten nicht
angewandt werde, und ein davon zu unterscheidendes "positives
Recht", ein "Sonderrecht für Deutschland". Letzteres hatte jedoch
nach Launs Ansicht mit dem eigentlichen Begriff des "Rechts"
nichts zu tun, da es nur auf der reinen Faktizität beruhte, also
ein Produkt der Machtausübung der Alliierten war86. Für Laun stand
immer fest, daß dieses auf reiner Tatsächlichkeit aufgebaute
"Sonderrecht" nicht zur Ausschaltung des allgemeinen Völkerrechts
führen
konnte,
sondern
daß
das
allgemeine
Völkerrecht
weiterbestand,
es
aufgrund
der
Machtstellung
der
Besatzungstruppen mit entgegengesetzter Willensrichtung zur Zeit
in Deutschland aber nicht durchsetzbar war.
In einem späteren Zeitungsartikel in der "Zeit" widerlegte er die
Kondominium-These Kelsens und meinte, Deutschland könne auch
jetzt noch Rechte geltend machen, selbst gegenüber den
siegreichen Mächten. Allerdings legten diese die Begriffe der
bedingungslosen Kapitulation und der Rechte des Siegers so
ungeheuer weit aus, daß von diesen Rechten praktisch nichts
übrigzubleiben scheine. Mindestens auf drei Sätze, die der
Rechtsüberzeugung aller zivilisierter Völker entsprächen, könnten
sich auch die Deutschen berufen: gewisse Menschenrechte auch
gegenüber dem Sieger; niemand könne Richter in eigener Sache
sein, auch nicht eine siegreiche Regierung; und jedes
Rechtssubjekt habe Anspruch auf rechtliches Gehör und eine
einheitliche
85
86
Im "Tagesspiegel" vom 21.01.1947 meinte der Autor, Erik Reger, in
bezug auf Laun und den hessischen Justizminister Zinn sagen zu
können: "... überall wird in den Kategorien von 1920 gedacht und,
traurig zu sagen, einem Teil der heutigen SPD wäre schon wieder die
Bewilligung eines Panzerkreuzers zuzutrauen." Vgl. G. Wacke, ebd., S.
441
R. v. Laun, Gegenwärtiges Völkerrecht, in: "Die Zeit" vom
19.12.1946, abgedr.: ders., Reden und Aufsätze zum Völkerrecht u.
Staatsrecht, S. 9 ff.
409
diplomatische Vertretung zur Geltendmachung dieses Anspruchs87.
Das alliierte Argument, durch die Entfernung der Regierung Dönitz
sei in Deutschland ein Zustand eingetreten, der von der HLKO
nicht mehr erfaßt werde, konterte Laun treffend mit dem Hinweis,
daß das in der HLKO kodifizierte allgemeine Völkerrecht nicht
etwa das abstrakte Rechtssubjekt Staat oder die kriegführenden
Regierungen schützen wolle, sondern jeden kämpfenden Soldaten,
jeden Verwundeten, jeden Kriegsgefangenen und jeden Bewohner
eines besetzten Gebietes, also im wesentlichen die Menschenrechte
des einzelnen. Auf diese Menschenrechte könne auch ein
kapitulierendes Armeekommando oder eine kapitulierende Regierung
nicht verzichten. Der wesentliche Inhalt der HLKO, soweit diese
das Individuum schütze, sei somit zwingendes allgemeines
Völkerrecht und könne durch partikulares Recht nicht beseitigt
werden. Laun verwies außerdem auf das sog. Estoppel-Prinzip,
wonach niemand sich auf ein Hindernis für die Erfüllung seiner
Rechtspflichten berufen könne, wenn er dieses Hindernis selbst
freiwillig geschaffen habe. Wenn daher die vier Mächte
Deutschland die Rechtssubjektivität genommen hätten, so könnten
sie sich nicht auf dieses von ihnen freiwillig herbeigeführte
Faktum berufen. Das gelte ebenso für die Argumentation, daß die
HLKO den jetzigen Sonderfall nicht habe voraussehen und regeln
können, weil sie selbst durch Abweichung vom allgemeinen
Völkerrecht diesen Sonderfall geschaffen hätten88.
Anläßlich des Osterfestes 1947 meinte v. Laun in einem weiteren
Artikel in seiner ihm eigenen sprachlichen Wortgewalt:
"Dem deutschen Volk wird Übermenschliches
zugemutet. Der Deutsche hat keine Rechte
gegen das ihn regierende Ausland, nicht
einmal auf
87
88
410
R. v. Laun, Hat Deutschland Rechte?, in: "Die Zeit" v.
13.03.1947, abgedr.: ders., Reden und Aufsätze ..., S. 16 ff.,
insb. S. 19
R. v. Laun, Staats- und Völkerrecht in Deutschland, MDR 1947, S.
246 ff., insb. S. 247 f. = ders., Reden und Aufsätze ...,
S. 44 ff., insb. S. 50 ff.
das letzte Stück Brot oder das elendeste
Quartier, alles ist für ihn nur Gnade oder
Ungnade des Siegers. ... Was seit 1945
geschieht, kann das deutsche Volk, nein,
sogar die ganze Menschheit zu nichts
anderem erziehen als zu der Überzeugung,
daß das Höchste und Erstrebenswerteste auf
dieser Welt militärische
Stärke, ein
militärischer Sieg und eine bedingungslose
Kapitulation des Gegners ist. Über Deutschland aber, das einen solchen Sieg nicht
erhoffen kann, steht die Überschrift am
Eingang zu Dantes Hölle: Lasset alle
Hoffnung, ihr, die ihr eintretet."89
b. Die erste Tagung der deutschen Völkerrechtslehrer 194 7. Rudolf
v. Laun ließ es bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung
jedoch nicht bewenden. Auf Initiative v. Launs trafen sich in der
Zeit vom 16. bis 18. April 1947 etwa zwanzig deutsche
Hochschullehrer aus allen Besatzungszonen in Hamburg zur ersten
Tagung der deutschen Völkerrechtslehrer nach dem Krieg. Eröffnet
wurde die Tagung durch ein Referat v. Launs, der eine
Bestandsaufnahme der rechtlichen Situation Deutschlands vornahm90.
Schon gleich zu Beginn machte er dem Auditorium klar, in welchem
Sinn er sein Referat selbst auffaßte:
"Wir können uns weder mit physischer Macht
wehren, noch können wir als Vertreter der
Wissenschaft politische Kritik üben. Aber
die Kritik von den Prämissen des Rechtes
und der Idee des Rechtes aus kann uns
niemand verwehren, und ich glaube, unsere
Aufgabe ist es, eine solche immanente
juristische,
streng
wissenschaftliche
Kritik,
die
Anspruch
auf
Allgemeingültigkeit hat, im Gegensatz zu
Wünschen
und
Vorschlägen,
die
nicht
allgemein
überzeugend
sind,
hier
zu
91
versuchen."
Diese Absicht zur Kritik an besatzungspolitischen Maßnahmen der
Alliierten durch die Berufung auf die allgemein
89
90
91
R. v. Laun, Ostern 1947, in: Osternummer der "Hamburger Freien
Presse" vom 05.04.1947, abgedr.: ders., Reden und Aufsätze
..., S. 24
R. v. Laun, Der gegenwärtige Rechtszustand Deutschlands,
Jahrb. f. intern, u. ausl. öff. Recht 1948, S. 9 ff.
R. v. Laun, ebd., S. 9
411
anerkannten Grundsätze des Völkerrechts bestand nicht nur bei v.
Laun, sondern auch bei vielen seiner Kollegen. Dahinter stand der
"Versuch, das Recht als die Stärke der Schwachen auszuspielen."92.
Die deutschen Völkerrechtler erkannten die Möglichkeit, ihre
wissenschaftlichen Erkenntnisse effektiv als politisches Mittel
zur
Eindämmung
des
unbegrenzten
Machtanspruches
der
Besatzungsmächte in Einsatz zu bringen. Wenn etwas Eindruck
machen würde in den Heimatländern der Besatzungstruppen, von der
Sowjetunion vielleicht einmal abgesehen, dann konnte es nur die
Argumentation in rechtlichen Kategorien sein, wie ja auch
Adenauer treffend feststellte. Dies setzte jedoch voraus, daß man
sich im Kreise der deutschen Fachleute trotz aller sonstiger
terminologischer Unterschiede auf bestimmte, von den meisten
getragene Grundaussagen einigte. Zu diesem Zweck formulierte v.
Laun am Ende seines Referats einige "Leitsätze", die er zur
Diskussion stellen wollte, und die dann von den in Hamburg
versammelten
Völkerrechtlern
als
allgemeine
Entschließung
angenommen wurden93. Die Kernsätze der Entschließung lauteten:
"1. Das Deutsche Reich ist auch nach der
bedingungslosen Kapitulation der deutschen
Wehrmacht und der Besetzung ein Staat mit
eigenen
Staatsangehörigen
und
ein
Rechtssubjekt im Sinne des Völkerrechts
geblieben.
2. Es ist als ein solches Rechtssubjekt
Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft, an
deren Normen gebunden und zur Mitarbeit
fähig und berufen.
3. Die allgemeinen Grundsätze des in der
Haager
Landkriegsordnung
geregelten
Besatzungsrechts gelten für das ganze
Gebiet der Völkerrechtsgemeinschaft, daher
auch für Deutschland, und können durch
partikularen Rechtswillen einzel-
92
B. Diestelkamp, Rechts- und verfassungsgeschichtl. Probleme zur
Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, JuS 1980, S. 483
93
R. v. Laun, ebd., S. 20; eine Zusammenfassung der Tagungen
1947 und 1948 in: Die Tagungen der deutschen
Völkerrechtslehrer in Hamburg 1947 und 1948, ebd., S. 239 ff.
412
ner Staaten
werden."94
nicht
außer
Kraft
gesetzt
In
den
folgenden
Artikeln
wurden
einige
Probleme
der
Völkerrechtsanwendung auf Deutschland gesondert angesprochen: Die
allgemeinen Menschenrechte bildeten eine selbstverständliche
Voraussetzung und daher auch einen Bestandteil des zu achtenden
allgemeinen Völkerrechts (Art. 4); das zu diesen Menschenrechten
gehörende Recht auf persönliche Freiheit umfasse auch das Recht,
in der Heimat zu leben und nicht gewaltsam aus ihr vertrieben zu
werden (Art. 5), so daß Massenausweisungen der einheimischen
Bevölkerung aus besetztem feindlichen Gebiet völkerrechtswidrig
seien (Art. 6 und 7) . Der letzte Artikel (8) stellte die
Völkerrechtswidrigkeit des weiteren Festhaltens der deutschen
Kriegsgefangenen fest95.
c. Das Scheitern der Verrechtlichung der Politik gegenüber den
Besatzungsmächten.
Der
breite
Konsens
deutscher
Völkerrechtslehrer, der sich in der Zustimmung zu diesen
Leitsätzen zeigte, wäre eigentlich die ideale Basis für eine
Verrechtlichung der Politik gegenüber den Besatzungsmächten
gewesen. Die entsprechenden Vorstöße blieben jedoch, wenn sie
überhaupt einmal unternommen wurden, in den Anfängen stecken,
oder man gab sich auf deutscher Seite mit Teilerfolgen zufrieden,
wie Adenauers Reaktion auf die britische Zurückweisung seines
Begehrens nach einem Gutachten unabhängiger ausländischer Völkerrechtler gezeigt hat. Der politische Spielraum, den der
völkerrechtliche
Kritikansatz
bot,
wurde
von
der
sich
entwickelnden deutschen Politik nur unzureichend aufgegriffen und
ausgefüllt.
Die Gründe für diesen Nichtgebrauch rechtlicher Argumente mögen
unterschiedlicher
Natur
gewesen
sein.
Zwei
waren
aber
wohl
besonders markant: Schon auf der zweiten Hamburger Tagung der
deutschen Völkerrechtslehrer (1948) konnte der
94
95
Entschließung der deutschen Völkerrechtslehrer auf der ersten
Hamburger Tagung vom 16.-17. April 1947, ebd., S. 6
Entschließungen ..., ebd.
413
auf der ein Jahr zuvor abgehaltenen Tagung gefundene Grundkonsens
zur Anwendung des Völkerrechts nicht mehr aufrecht erhalten
werden. Der hier offen auftretende Versuch verschiedener
Tagungsteilnehmer,
durch
die
Kreierung
völlig
neuartiger
Besatzungstypen die alliierten Besatzungsmaßnahmen mindestens
teilweise zu rechtfertigen, verwirrte die völkerrechtliche Lage
zusehends, ohne einen Beitrag zur Klärung der aufgeworfenen
Fragen effektiv leisten zu können. Neologismen wie "occupatio sui
generis"
(Prof.
Kaufmann),
"Interventionsbesetzung"
als
"Revolution von außen", als "Debellatio zur Verfassungsänderung",
bei der die Alliierten als "Gebrechlichkeitspfleger" gemeinsam
handelten (Prof. Steiniger), waren nicht dazu angetan, Licht ins
Dunkel zu bringen, sondern vernebelten eher den Blick für das
Wesentliche96. Ohne eine Einigung über die Frage, was denn nun
"Recht" in Deutschland sei, war an eine Verrechtlichung der
Politik aber nicht zu denken, so daß die Argumentation in
rechtlichen Kategorien durch die Zerredung und Vernebelung der
noch auf der ersten Tagung (1947) so eindeutig ausgefallenen
Stellungnahme im Laufe der Jahre immer schwieriger wurde. Der
zweite Grund für den Nichtgebrauch der juristischen Argumentation
war wohl eine zahlreichen Politikern eigene Abneigung gegen diese
Art der politischen Auseinandersetzung. Bezeichnend ist ein Wort
von Theodor Heuß, der im September 1948 im Parlamentarischen Rat
auf die selbstgestellte Frage, wie das Wandern der Deutschen "im
Tal der Ohnmacht" beendet werden könne, spöttisch meinte, "bei
den ganz Gescheiten ein sehr wirkungsloses Buchstabieren der
Landkriegsordnung und solcher Geschichten" feststellen zu
können97.
Kritisch zu dieser Äußerung von Heuß hat Fritz Münch - in
Würdigung der Nachkriegsverdienste Rudolf v. Launs angemerkt, es
sei "auch in Zeiten des Umsturzes und der seelischen Verwirrung
gut, sich von den noch so verständlichen Reaktionen und Zweifeln
frei zu machen und den Blick auf die dauerhaften Elemente einer
Ordnung zu
96
97
414
Zur Diskussion auf der zweiten Hamburger Tagung vgl.: Die Tagungen
der deutschen Völkerrechtslehrer ..., ebd., S. 243 ff.
Parl. Rat, Sten. Protokolle, 09.09.1948, S. 40 f.
heften."98. Das hätte in den ersten Jahren nach 1945 bedeutet:
Besinnung auf die völkerrechtlichen Grundsätze der "occupatio
bellica" und ihre politische Instrumentalisierung, um die
deutsche Objektrolle schichtweise abbauen zu können. Der dabei
gegebene politische Spielraum wurde jedoch nicht annähernd
genutzt.
III. Dia Einschätzung der völkerrechtlichen Lage
Deutschlands durch die
Vereinigten
Staaten
in
der
Nachkriegszeit
und
des
des Deutschen
Reiches
III.1. Die Fortexistenz
Kriegszustands mit Deutschland
Äußerungen
der
US-Militärregierung.
Auf
Seiten
der
amerikanischen Besatzungsorgane war es zu keiner Zeit eine Frage,
daß Deutschland als Staat weder durch die militärische
Kapitulation noch durch die Beseitigung der Regierung Dönitz oder
die Berliner Viermächteerklärung untergegangen war. Wenn führende
Angehörige von OMGUS sich vor deutschen Fachleuten zur
völkerrechtlichen Lage Deutschlands äußerten, zeigten sie sich
zwar regelmäßig von Hans Kelsens Thesen beeindruckt, wollten sie
jedoch nie als offizielle Meinung ihrer Dienststelle verstanden
wissen. Die Neigung zu Kelsen rührte zumeist daher, daß ihnen das
Ergebnis seiner Untersuchungen, die Nichtgeltung des Völkerrechts
in Deutschland, sehr willkommen war.
a.
Der amerikanische Zonenbefehlshaber, General Clay, erklärte
ausdrücklich, daß Deutschland als Staat noch fortbestehe. Als
Bayern in einem Entwurf der Landesverfassung hinsichtlich der
Staatsangehörigkeit vorsah, jeder bayerische Staatsangehörige
erwerbe beim Beitritt Bayerns zu einem demokratischen deutschen
Bundesstaat zugleich die deutsche Staatsangehörigkeit, konnte man
daraus schließen, daß eine deutsche Staatsangehörigkeit vorher
noch nicht bestehe. Durch das Einschreiten der amerikanischen
98
F. Münch, Die völkerrechtl. Grundlage des Status Deutschlands, in:
Festschr. f. R. v. Laun zu seinem 90. Geburtstag, S. 143
415
Militärregierung wurde der Verfassungsausschuß zur Streichung
dieses Artikels veranlaßt. Als General Clay die bayerische
Verfassung später genehmigte, teilte er unter anderem mit, die
Militärregierung erteile in keiner Weise ihre Zustimmung zu einem
Separatismus Bayerns oder eines anderen deutschen Staates".
des Kriegszustands und die Kriegsbeendigung. Die
amerikanische Regierung hat, ganz im Einklang mit den
völkerrechtlichen Planungen, mehrmals unmißverständlich zum
Ausdruck gebracht, daß nach ihrer Auffassung der völkerrechtliche
Kriegszustand über den deutschen Zusammenbruch von 1945 hinaus
fortbestand. Eine Proklamation Präsident Trumans vom 31. Dezember
1946,
durch
die
die
"Einstellung
der
Feindseligkeiten"
("cessation of hostilities") festgestellt wurde, um dadurch
zahlreiche amerikanische Kriegsbestimmungen aufzuheben, ist ein
Beleg dafür. Truman verkündete:
b. Fortdauer
"Although a state of war still exists, it
is at this time possible to declare, and I
find it to be in the public interest to
declare,
that
hostilities
have
terminated."100
Auch die amerikanische Rechtsprechung nahm ganz einhellig die
Fortdauer des Kriegszustandes nach 1945 an101. Erst eine Joint
Resolution des Kongresses vom 19. Oktober 1951, die der Präsident
fünf
Tage
später
verkündete,
beendete
nach
offizieller
amerikanischer Auffassung den völkerrechtlichen Kriegszustand mit
Deutschland102.
99
100
101
102
416
Vgl. E. Menzel, Zur völkerrechtlichen Lage Deutschlands, in:
EA 1947, S. 1009 ff., 1015
H. Mosler/K. Doehring, Die Beendigung des Kriegszustands mit
Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, S. 20 f.
H. Mosler/K. Doehring, ebd., S. 21 ff.
H. Mosler/K. Doehring. ebd., S. 29 ff. Teilweise wird in der
Rechtslehre angenommen, die Joint Resolution habe lediglich
innerstaatlich konstitutive Wirkung gehabt, völkerrechtlich sei ihr
nur deklaratorische Wirkung beizumessen, da der völkerrechtliche
Kriegszustand bereits zu einem früheren Zeitpunkt durch die Aufnahme
friedlicher Beziehungen zu den westlichen Staaten beendet worden
sei, vgl. D. Blumenwitz, Der Begriff der Kriegsgefangenschaft, in:
GYIL, Bd. 25 (1982), S. 528 ff., 533 m.w. Nachw.
III.2. Der rechtliche Status der Besetzung Deutschlands
Während somit über die Fortexistenz Deutschlands als Staat
Einvernehmen herrschte, fehlte es auch bei OMGUS über Jahre
hinweg an einer einheitlichen Auffassung zur Anwendbarkeit des
Völkerrechts. Zwar kannte man die Memoranden von Philipp Jessup
und Colonel Chanler aus der Planungsphase und zog nun auch die
Aufsätze Kelsens heran, doch konnte die Legal Division sich für
keine der Theorien entscheiden und sie als verbindliche OMGUSAuffassung betrachten103.
Dennoch gehörte der Rechtsstatus der Besetzung Deutschlands nach
Beendigung der Feindseligkeiten in der Legal Division zu den am
häufigsten diskutierten Themen. Schon recht frühzeitig kamen zwei
oder drei Angehörige der OMGUS- Rechtsabteilung zu dem Schluß,
die Eroberung ("Conquest") Deutschlands unterscheide sich doch
sehr von der Situation, die die Haager Konvention im Auge habe,
und daß ihre Bestimmungen deshalb nicht streng anwendbar
("strictly applicable") seien, wenngleich sie auch anerkannten,
daß die Haager Konvention natürlich in vielerlei Hinsicht Regeln
des Völkerrechts enthalte, und daß einige davon auch im Fall der
Eroberung
Deutschlands
anwendbar
seien,
einige
andere
Vorschriften für einen Eroberer aber keine Bindung entfalteten.
Im August 1946, also mehr als ein Jahr nach Ende der
Feindseligkeiten, war noch immer keine verbindliche OMGUSRechtsansicht zustande gekommen, und Mitglieder der OMGUSRechtsabteilung debattierten das Problem in einer offenen
Diskussionsrunde. Als im September
1946 diese Frage im Zusammenhang mit der Entfernung von
deutschen öffentlichen Archiven und Dokumenten offiziell an die
Legal Division herangetragen wurde, konnte sie sich
103
Vgl. R. Murphy an Secr, of State, "Subject: The Allied Control
Authority for Germany: An Analysis of its Organization and
Procedures", 06.01.1946, der, S. 5-12, die Thesen Jessups, Chanlers
und Kelsens referiert, ohne sich jedoch einer anzuschließen, RG
260/OMGUS POLAD/752/2
417
einer Antwort nicht mehr länger entziehen104. Die
unmittelbare Anfrage in Washington nach entsprechenden
Instruktionen wurde von dort erst Ende Dezember 1946 beschieden.
IKRK und die Rechtslage Deutschlands. Bereits am 06.
September 1946 erhielt der amerikanische Außenminister James F.
Byrnes einen Brief des Präsidenten des Internationalen Komitees
vom Roten Kreuz (IKRK), Max Huber, in dem dieser sich zum
Fürsprecher einer uneingeschränkten Anwendung des Völkerrechts
auf Deutschland machte. Er plädierte darin besonders für den
weiteren völkerrechtlichen Schutz deutscher Kriegsgefangener
durch die Genfer Konvention. Seine Ausführungen bezogen sich
jedoch ausdrücklich auch auf die weitere Geltung der HLKO in
Deutschland. In Hubers Brief hieß es diesbezüglich:
a. Das
"Die
bedingungslose
Kapitulation
der
deutschen und japanischen Streitkräfte, die
aus der Tatsache resultiert, daß die
Streitkräfte
ihre
Waffen
niedergelegt
haben, ohne sich auf die, Bestimmungen
verlassen zu können, wie sie üblicherweise
in
einem
Waffenstillstandsvertrag
niedergelegt werden, bedeutet nicht ipso
facto den Verzicht auf die Rechte, die in
der Haager Landkriegsordnung und in der
Genfer Konvention vorgesehen sind. ... Das
IKRK
kann
dieser
Situation
nicht
gleichgültig gegenüberstehen: es erachtet
es für seine Pflicht, die Aufmerksamkeit
der Regierungen auf die Gefahren zu lenken,
die
sich
künftig
aus
einem
solchen
Präzedenzfall, der durch eine kriegführende
Macht hervorgerufen werden könnte, ergeben
könnten. Es liegt zweifellos im Interesse
aller Staaten, schon im Frieden, mehr noch
im Krieg, die Gewißheit zu haben, daß
diejenigen ihrer Staatsbürger, die in die
Hand des Feindes fallen könnten, stets die
Vorteile
der
Konventionen
genießen
würden."105
104
105
418
Col. J.M. Raymond, Director Leg. Div., Memo., "Subject:
Historical Notes of Colonel John M. Raymond", S. 2,
29.03.1949; RG 260/OMGUS 17/214-2/18
IKRK-Report I, S. 565; dt. Übersetzung nach K.W. Böhme, Die deutschen
Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand - Europa, S.
Huber pochte in Washington unmißverständlich auf die Einhaltung
des Völkerrechts und zeigte deutlich auf, welche Gefahren die
Alliierten durch ihre Auffassung, Deutschland, seine Bevölkerung
und seine Kriegsgefangenen jeglichen völkerrechtlichen Schutzes
berauben zu können, heraufbeschworen: Da sich nun in Zukunft
möglicherweise auch andere Staaten, dem alliierten Vorbild in
Deutschland folgend, von ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen
zu lösen beabsichtigen könnten, könnte sich kein Staat mehr auf
den Schutz des Völkerrechts für seine Bürger verlassen, was eine
Niederlage nicht nur für die internationale Rechtssicherheit
bedeuten mußte, sondern für das Völkerrecht selbst und auch die
internationalen Beziehungen, deren Vertrauen auf das Völkerrecht
heftig erschüttert worden wäre. Da die Anfrage von OMGUS nach
einer verbindlichen Stellungnahme Washingtons zur Rechtslage in
Deutschland mit dem Schreiben des IKRK- Präsidenten zeitlich
zusammenfiel, ist nicht auszuschließen, daß Hubers klare Worte in
Washington eine gewisse Nachdenklichkeit in dieser Frage
auslösten, was möglicherweise auch seinen kleinen Niederschlag in
der Antwort an OMGUS fand.
b.
Gutachten
des
Kriegsministeriums
vom
10.
Dezember
1946.
Grundlage der Antwort an OMGUS war ein Gutachten, das die
Völkerrechtsabteilung des Kriegsministeriums am 10. Dezember 1946
erstattete106. Als erster Grund für die Nichtanwendbarkeit der
HLKO in Deutschland nach dem Ende der Feindseligkeiten wurde das
bei Feilchenfeld (The International Economic Law of Belligerent
Occupation) genannte Argument angeführt, die HLKO sei nur solange
anwendbar, wie die gegenseitigen Feindseligkeiten andauerten. Die
HLKO-Bestimmungen deuteten an, daß sie darauf
106
71; zum historischen Zusammenhang dieses Schreibens vgl. unten 2.
Teil, IV..
Text "Gutachten der Völkerrechtsabteilung des
Heeresministeriums der Vereinigten Staaten zur Anwendbarkeit der
Haager Landkriegsordnung und Genfer Konvention auf das besetzte
Deutschland", Jahrb. f. Intern. Recht 1956, S. 300 ff.
419
abzielten, die sich aus dem Krieg für die zivile Bevölkerung
ergebenden Härten zu mildern, und die Auswirkungen der
militärischen
Besatzung,
die
zur
Durchführung
der
Feindseligkeiten
gehörten,
zu
begrenzen,
um
übermäßige
Behinderung der Rechte und Privilegien des Souveräns des
besetzten Territoriums und dessen Einwohner zu vermeiden. Die
HLKO reflektiere den Einfluß der Rechtsentwicklungen des
liberalen 19. Jahrhunderts. Sie beabsichtige, die traditionellen
Befugnisse
eines
kriegerischen
Okkupanten
bis
zu
einer
endgültigen Entscheidung des Konflikts zu begrenzen. Wenn aber
diese Entscheidung gefallen sei, sei der Sieger nicht länger in
seinem Recht begrenzt, weder durch das Haager Abkommen noch durch
irgendeine andere Vorschrift des Völkerrechts, solche Bedingungen
zu erzwingen, wie sie zur Befriedigung seiner Kriegsziele
erforderlich seien. Dies alles jedoch unter der Voraussetzung,
daß er kein Aggressor unter Verstoß gegen den Briand-Kellogg-Pakt
sei.
Ergänzt wurde diese Auffassung durch die Feststellung, daß ja vor
der
Beendigung
eines
Krieges
der
Sieger
in
einer
Waffenstillstands-Vereinbarung vom Verlierer die Übertragung
solcher Rechte und Vorteile verlangen könne, die er sich wünsche.
Ein Waffenstillstand sei deshalb eine Vereinbarung, die den
Willen des Siegers ausdrücke. Die Haager Bestimmungen hätten
nicht die Bedeutung, die Verfügungen, die der Sieger seinem
Gegner auferlegen könne, zu limitieren. Sie seien demnach
Gegenstand einer Änderung durch einen Vertrag, wobei die
Tatsache, daß die Vereinbarung durch Gewalt erlangt wurde,
unerheblich sei107. Daraus zogen die Autoren des Rechtsgutachtens
den Schluß:
"It would, therefore, appear to follow that
the Hague Regulations were intended to
apply, and reasonably can only be applied
to occupations which are incident to the
conduct of hosti- lities and which have the
legal charac- ter of precariousness."108
107
108
420
"Gutachten ... ", ebd., S. 302 f.
"Gutachten ... ", ebd., S. 303
Hans Kelsens Kondominialthese fand in den Gutachten teilweise
Verwendung. Die Annahme, Deutschland sei als Staat infolge einer
"Debellatio" untergegangen, wurde im Kriegsministerium nicht
geteilt. Es sei gar nicht notwendig, meinten die Autoren, so weit
wie Kelsen zu gehen, um zu demonstrieren, daß die Alliierten
berechtigt gewesen seien, Deutschland als die rechtmäßige
deutsche Regierung zu regieren. Seit dem 5. Juni 1945 habe keine
deutsche Behörde mehr existiert, die fähig gewesen sei, oberste
Regierungsgewalt in Deutschland auszuüben, und es scheine, daß
die Vertreter der Alliierten notwendigerweise mit den Rechten
einer deutschen Regierung ausgestattet sein müßten. Die
Feststellung
der
weit
überwiegenden
Mehrheit
der
Völkerrechtsautoren, der Erwerb der Souveränität durch "Conquest"
oder "Subjugation" sei untrennbar verbunden mit der Annexion des
eroberten Landes, wurde unter Verweisung auf Kelsens These vom
Kondominium verworfen. Wenngleich historisch gesehen die Annexion
die übliche Methode gewesen sei, um das Recht zur Ausübung der
obersten Macht durchzusetzen, so sei sie doch nicht der einzige
Weg, auf dem dieses Recht erlangt werden könne. Die korrekte
Absicht sei die, daß der Sieger, wenn er die Macht habe und allen
Widerstand und alle Organe des besiegten Staates ausgeschaltet
habe, sich selbst zum Obersten über das Territorium seines
Feindes machen könne durch jedes eindeutige Verfahren, das seine
Absicht zum Erwerb dieses Rechtes deutlich ausdrücke. Die von
Kelsen als Kondominium angeführten Beispiele zeigten, daß zwei
oder mehr Staaten gemeinsam die "supreme authority" über ein
Gebiet ausüben könnten, ohne es zu annektieren, also ohne einen
dauerhaften Erwerb zu beabsichtigen109. Im Fall Deutschlands habe
sich die Absicht der Alliierten, die Rechte und Verpflichtungen
(!) , die die Ausübung der "supreme authority" über Deutschland
enthalte,
zu
übernehmen,
eindeutig
in
der
Berliner
Viermächteerklärung vom 5. Juni 1945 gezeigt. Daneben wurde
zusätzlich erwogen, die "supreme authority" könne auch durch die
Kapitulations-
109 "Gutachten ... ", ebd., S. 304 f.
421
Erklärung von der obersten Gewalt der Regierung des Dritten
Reiches abgeleitet werden. Letztendlich wollten die Gutachter
sich jedoch auf keine der von ihnen erörterten Theorien
festlegen, da das Endresultat jeder Theorie ohnehin gleich sei110.
Sie stellten deshalb fest:
"We intend to bring about permanent reforms
in Germany, and the acceptance of any legal
position which would invite a postoccupation attack on the measures we have
taken by characterizing them as the acts of
a temporary occupant would be inconsistent
with our mission."111
Die Besatzungsbehörden seien demnach durch die HLKO nicht in
ihrem Tun begrenzt. Das bedeute jedoch nicht, daß sie keinerlei
rechtlichen
Beschränkungen
unterworfen
seien.
Als
ein
Beauftragter seiner jeweiligen Regierung sei jeder Repräsentant
der Besatzungsmächte solchen Bestimmungen seiner nationalen
Gesetze unterworfen, die die Autorität eines Kommandierenden
Generals im Feld einschränkten. Zusätzlich sei er gebunden an die
Prinzipien
und
Absichtserklärungen,
die
die
betreffenden
Regierungen bei verschiedenen Anlässen veröffentlicht hätten.
Dazu gehörten die Erklärungen von Jalta und Potsdam, denen obwohl nur unterzeichnet von den "Großen Drei" - aufgrund der
Einwilligung fast aller Vereinter Nationen die Wirkung von
rechtsgültigen Verträgen, wenn nicht sogar von Gesetzen, zukomme.
Weiterhin habe das Internationale Militärtribunal Grundsätze des
internationalen Verhaltens aufgestellt, die eine Beeinträchtigung
der absoluten Rechte eines Souveräns konstituiert hätten. Es sei
nun anerkannt, daß ein Souverän keine Handlungen begehen dürfe,
die Verbrechen gegen den Frieden oder Verbrechen gegen die
Menschlichkeit seien112.
Das Ergebnis des Gutachtens wurde - leicht modifiziert - Ende
Dezember 1946 an OMGUS weitergeleitet. Es bildete die Richtlinie
der OMGUS-Rechtsabteilung für die Beantwortung
110
111
112
422
"Gutachten ... ", ebd., S. 306
"Gutachten ... ", ebd.
"Gutachten ... ", ebd., S. 306 f.
der bereits aufgetauchten Frage nach dem völkerrechtlichen Status
Deutschlands. Diese Richtlinie besagte:
- Der
Alliierte
Kontrollrat
und
der
US-Zonenkommandeur
im
besetzten Deutschland besäßen eine rechtliche Autorität ("legal
authority"), die durch die Bestimmungen der HLKO nicht beschränkt
sei.
- Generelle Regeln, die in den Haager Bestimmungen zum Ausdruck
kämen, sollten als leitende Prinzipien angesehen werden, wenn
nicht spezifische amerikanische Besatzungsziele ein Abweichen
davon verlangten.
Die
Anerkennung
der
Tatsache
der
Beendigung
der
Feindseligkeiten berühre nicht den juristischen Begriff von der
Fortdauer des Kriegszustandes, wie beispielsweise die Bestimmung
zur inländischen Gesetzgebung für Kriegszeiten113 .
Die Anweisung an OMGUS, die vom Außen- und vom Kriegsministerium
genehmigt worden war, schloß mit der dringenden Empfehlung, wegen
der damit verbundenen delikaten politischen Tragweite nur dann
Meinungen zu dieser Frage herauszugeben, wenn es als absolut
notwendig angesehen werde. In schwierigen Fällen sollte unter
vollständiger Angabe der Fakten der Vorgang in Washington
vorgebracht werden114.
vom 17. März 1947. Auf der Grundlage der
Antwort aus Washington arbeitete die OMGUS-Rechtsabteilung eine
"Legal Opinion" aus, die am 17. März 1947 fertiggestellt wurde
und unter dem Titel "Right of Occupying Power to Remove
Indigenous Archives, Records and Documents" in die "Selected
Oplnions" der Rechtsabteilung
c. OMGUS-Gutachten
113
114
AGWAR an OMGUS, Dez. 1946 (genaues Datum nicht ersichtlich); RG
260/OMGUS 45-46/88/1 und RG 260/OMGUS 17/251-2/5; zum Vergleich
die teilweise wortidentischen Schlußfolgerungen im "Gutachten
...", ebd., S. 307 f.
AGWAR an OMGUS, ebd.
423
mit der Nr. VII/115 Aufnahme fand115. Nach Art. 56 HLKO ist das
Eigentum der Gemeinden und das Eigentum von Anstalten, die dem
Gottesdienst, der Wohltätigkeit, dem Unterricht, der Kunst und
der Wissenschaft gewidmet sind, auch wenn sie dem Staat gehören,
als Privateigentum zu behandeln. Außerdem untersagt dieser
Artikel
jede
Beschlagnahme,
absichtliche
Zerstörung
oder
Beschädigung derartiger Anlagen, geschichtlicher Denkmäler oder
von Werken der Kunst und Wissenschaft und ordnet die Ahndung
entsprechender Delikte an. Nach Art. 46 HLKO soll das
Privateigentum der Bürger geachtet und darf nicht entzogen
werden. Für die Frage nach der völkerrechtlichen Rechtmäßigkeit
oder Unrechtmäßigkeit der Beschlagnahme und Entfernung deutscher
Dokumente, insbesondere Archivalien und in Archiven und
Bibliotheken befindlicher literarischer Werke, wie sie von der
OMGUS-Rechtsabteilung zu entscheiden war, kam es darum zentral
darauf an, inwieweit die Artikel
56 und 46 der HLKO auf die Situation in Deutschland angewendet
werden konnten. Dabei war natürlich die rechtliche Vorgabe aus
Washington entsprechend zu berücksichtigen.
In dem Rechtsgutachten der Legal Division war zu lesen: Die
gegenwärtige Situation Deutschlands sei keine Besetzung, während
der noch Feindseligkeiten ausgetauscht würden. Die Periode der
Feindseligkeiten habe mit der militärischen Kapitulation vom 7.
und 8. Mai 1945 aufgehört. Für die Vereinigten Staaten sei die
Zeit kriegerischer Auseinandersetzungen durch die Erklärung des
Präsidenten vom 30. Dezember 1946 auch gesetzlich beendet worden.
Die Einstellung der Feindseligkeiten sei nicht auf der Grundlage
einer Waffenstillstandsvereinbarung erfolgt, sondern durch die
vollständige Niederlage der deutschen Armeen, verbunden mit ihrer
absoluten und bedingungslosen
115
Col. J.M. Raymond, Ass. Director, Leg.Div., an Restitution
Branch, Economics Division, "Subject: Right of Occupying Power to
Remove Indigenous Archives, Records and Documents",
17.03.1947, Selected Opinions VII/115; RG 260/OMGUS 3/285/4;
Auszüge aus dem OMGUS-Gutachten bei U. Meister, Stimmen des Auslandes
zur Rechtslage Deutschlands, ZaöRVR. 1950/51, S. 173 ff., insb. S.
175 f., 180 f.
i
Kapitulation, wie es auch in der Erklärung vom 5. Juni 1945 zum
Ausdruck kam. Das Gutachten führte weiter aus, daß die Berliner
Viermächteerklärung die weitere Feststellung enthalte, die
Übernahme der vollen Regierungsgewalt in Deutschland habe nicht
die Wirkung einer Annexion Deutschlands, und es sei klar, daß es
keine momentane Absicht gebe seitens der siegreichen Mächte, die
politische Souveränität über Deutschland (auf Dauer) zu behalten.
Deutschland sei besiegt und unterworfen worden, doch habe man es
weder annektiert noch ausgelöscht. Die Situation in Deutschland
sei vergleichbar in gewisser Hinsicht mit der Situation in Kuba
unter amerikanischer Besetzung nach dem Krieg mit Spanien. In
beiden Fällen hätten die Besatzungsmächte die oberste und
uneingeschränkte Autorität über das besetzte Land ausgeübt, und
in beiden Fällen sei auch die Absicht der Nichtannexion erklärt
worden116.
OMGUS stellte sich deshalb auf den Rechtsstandpunkt, daß
Abschnitt III der HLKO auf die gegenwärtige Besetzung
Deutschlands nicht anwendbar sei, doch enthielten viele ihrer
Vorschriften allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze, die auch im
Verhältnis von siegreichen und geschlagenen Nationen Anwendung
finden müßten:
"But many of the provisions of Section
III are merely expressive of principles
bearing upon the relationships between
victor and vanguished nations which have
more general applicability, deriving their
authority from the unwritten laws and
customs of war and relations between
civilized international communities. Thus,
in considering these very regulations, the
International Military Tribunal held that
by 1939 these rules laid down in the
Convention were recognized by all civilized
nations, and were regarded as being
declaratory of the laws and customs of war
... And the source of the regulations was
stated by the signatories to Convention IV
in these words: 'The inhabitants and the
belligerents remain under the protection
and the rule of the principles of the law
of nations, as they result from
116 Selected Opinions VII/115, ebd., Abs. Nr. 16,17
425
the usages established among civilized
peoples, from the laws of humanity, and
from
the
dictates
of
the
public
conscience'."117
Wortwörtlich sollte Abschnitt III der HLKO ("Militärische Gewalt
auf besetztem feindlichen Gebiet") nach der Beendigung der
militärischen Auseinandersetzungen keine Anwendung in Deutschland
finden. Die dahinter stehenden allgemeinen Rechtsgrundsätze
jedoch sollten als rechtlich, nicht nur moralisch verpflichtend
gelten für das Verhältnis von Besatzern und Besetzten, weil
insofern die HLKO-Normen keine konstitutive, sondern eine
lediglich deklaratorische Bedeutung hatten, die positivrechtliche
Fixierung von Grundsätzen, denen als Gewohnheitsrecht ohnehin
schon völkerrechtliche Qualität zukam.
Welche
HLKO-Vorschriften
konnten
bei
einer
derartigen
Konstellation,
betrachtete
man
die
dahinter
stehende
Rechtsmaxime, als nicht mehr in Geltung befindlich anzusehen
sein? Waren nicht alle diesbezüglichen Regelungen, zumindest in
den Art. 42-56 der HLKO, nur die deklaratorische Anerkennung
dessen, was bereits vorher von allen zivilisierten Nationen als
Völkergewohnheitsrecht betrachtet worden war, unabhängig von der
Frage, ob die Feindseligkeiten noch andauerten oder nicht? Die
Antwort der OMGUS-Rechtsabteilung in der konkret aufgeworfenen
Rechtsfrage zeigt eine klare und völkerrechtsbewahrende Tendenz.
Dort heißt es:
"We think that Articles 46 and 47, and
particulary Article 56, of the Regulations
annexed to Convention IV are expressive of
general principles of international law
which would make a removal of archives from
Germany by one of the occupying powers a
prima facie violation of international law,
placing the burden upon the removing power
to establish by clear and convincing
reasons that an overriding puplic interest
exists in each case. ... With respect to
the other documents (die nicht zuvor aus
dem Ausland nach
117 Selected Opinions VII/115, ebd., Abs. Nr. 18
426
Deutschland gebracht worden waren, d.
Verf.) it would appear highly improbable
that any one of the occupying powers could
make an adequate showing of the public
interest. The principle of law is equally
applicable to each case, depending upon its
facts,
- the removal of archives from Germany by
any one of the occupying powers is a
violation of international law unless the
removing power establishes an overriding
public interest in such removal which is
acceptable to the public conscience."118
Diese Ausführungen waren über ihren konkreten Gegenstand hinaus
aufgrund der in ihnen enthaltenen allgemeinen und auch auf andere
Bestimmungen des III. Abschnitts der HLKO anwendbaren Gedanken
ein enormer Fortschritt gegenüber den noch gegen Ende des Krieges
in Washington beispielsweise von Oberst Chanler in der CAD
propagierten Völkerrechtsnegation für Deutschland. Nun wurde zwar
die HLKO als solche für nicht anwendbar gehalten, jedoch waren
die hinter den Vorschriften stehenden allgemeinen Rechtsgrundsätze für die Besatzer rechtlich verbindlich. Daß dies
praktisch auf die Anwendbarkeit der besatzungsrechtlichen
Bestimmungen der HLKO hinauslief, zeigte schon die im
Rechtsgutachten begründungslos vorausgesetzte Tatsache, die Art.
46, 47 und 56 seien Ausdruck allgemeiner völkerrechtlicher
Prinzipien. Der Autor des Gutachtens scheint davon ausgegangen zu
sein, daß eine Vermutung ohnehin dafür spreche, daß hinter jeder
dieser Vorschriften ein entsprechender Rechtsgrundsatz stehe,
ohne daß dieser einer näheren Begründung bedürfe. Handlungen, die
gegen diese Bestimmungen verstießen, sollten "prima facie" als
Völkerrechtsverletzungen angesehen werden, und es oblag der
Besatzungsmacht, in jedem Einzelfall klar und deutlich zu sagen,
warum ausnahmsweise ein höherstehendes "Öffentliches Interesse",
das seinerseits noch am "öffentlichen Gewissen" zu messen wäre,
die
eigentlich
völkerrechtswidrige
Maßnahme
zu
einer
völkerrechtsgemäßen mache. Nicht anwendbar wären danach allein
solche HLKO-Vorschriften gewesen, die notwendigerweise zwei sich
noch mit Waffengewalt befehdende
118 Selected Opinions VII/115, ebd., Abs. Nr. 20
427
Armeen
voraussetzen,
wie
der
II.
Abschnitt
der
HLKO
("Feindseligkeiten") in den meisten Artikeln.
Ganz in diesem Sinn hatte die Legal Division schon im Februar
1946 entschieden, daß Kunstgegenstände nicht unter den Begriff
"Kriegsbeute" oder "Kriegstrophäen" fielen. Dies wurde im
Gutachten vom 17. März 1947 noch einmal bestätigt:
" ,War booty' and ,trophies of war' are
terms applicable only to the situations
existing during hostilities. In any event,
we would conclude, consistently with this
opinion, that if works of art were to be
confiscated in Germany after surrender,
such confiscation would have to be based
upon proof by the confiscating power that a
public interest is served by the removal
which would constitute justification in the
public conscience. We think, with respect
to works of art, as with respect to
archives, that seizure without compensation
could be justified only where (when?) the
works of art had in the first instance been
acquired in or removed from another country
by force or duress."119
Vergleicht man diese Einschätzung der völkerrechtlichen Lage in
Deutschland aus dem Jahre 1947 mit den Planungen in der CAD und
mit der seinerzeit geäußerten Absicht, in Deutschland nach der
Kapitulation ein völkerrechtliches Vakuum schaffen zu wollen, so
läßt
sich
eine
bemerkenswerte
Entwicklung
ablesen.
Mit
zunehmender zeitlicher Entfernung von den Kriegsgeschehnissen,
verbunden mit der fortschreitenden Erkenntnis der tatsächlichen
politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umstände im
besetzten Feindland, wandelte sich auch die amerikanische
Völkerrechtsdoktrin gegenüber Deutschland. Entscheidend war nicht
länger die Negation des Völkrerechtsschutzes für die Bevölkerung
im besetzten Deutschland und die damit einhergehende Schaffung
eines rechtlichen Vakuums, sondern die Einsicht, daß das
Völkerrecht grundsätzlich anwendbar
119 Selected Opinions VII/115, ebd., Abs. Nr. 21
428
sei und nur in Ausnahmefällen, die dann aber dezidiert von der
Besatzungsmacht darzulegen und zu beweisen wären, den politischen
Intentionen und Zielen der Alliierten zu weichen hätte. Daß man
auf amerikanischer Seite sich bei der Begründung der Geltung des
Völkerrechts, insbesondere der HLKO, nicht auf die eigentlichen
Vorschriften bezog, sondern den jeweils dahinterstehenden
gewohnheitsrechtlichen Rechtsgedanken bemühte, ist dabei völlig
unerheblich. Die HLKO war auch während der Zeit aktiver
kriegerischer Auseinandersetzung im Zweiten Weltkrieg gar nicht
unmittelbar anwendbar, da Art. 2 des IV. Haager Abkommens vom 18.
Oktober 1907 eine sog. Allbeteiligungsklausel enthält. Die
Sowjetunion fühlte sich nach ausdrücklicher Erklärung nicht an
die Unterzeichnung der HLKO durch das zaristische Rußland
gebunden. Weil die HLKO jedoch nach ganz überragender Ansicht
lediglich
eine
Kodifikation
des
völkerrechtlichen
Gewohnheitsrechts darstellt, war ihre inhaltliche Geltung trotz
ihrer formalen Nichtanwendbarkeit nie in Frage gestellt worden120.
Während die Briten offensichtlich, wie es die Feststellung von
General Robertson zum Ausdruck brachte, auch 1947 noch an der
zwei Jahre zuvor in Übereinstimmung mit den Amerikanern
ausgehandelten Verneinung völkerrechtlicher Bindungen unbeirrt
festhielten, befanden sich die Amerikaner ihrerseits wieder auf
dem Weg zu einer völkerrechtskonformen Haltung, wenngleich sie
noch immer nicht bereit waren, einer unbedingten Anerkennung des
völkerrechtlichen Schutzes für die deutsche Bevölkerung das Wort
zu reden. Dies hätte eigentlich 1947 um so leichter fallen
müssen, da die Zerschlagung des NS-Parteiapparates, die Aufhebung
mit nationalsozialistischem Gedankengut behafteter Gesetze und
die Einführung demokratischer Staats- und Gesellschaftsstrukturen
in Deutschland bereits beendet war und insoweit mögliche
Konflikte, die während der Planungsphase immer wieder in den
Mittelpunkt der Diskussion geschoben worden waren, nicht mehr
anstanden.
120
Vgl. G.v. Schmoller/H. Maier/A. Tobler, Handbuch des Besatzungsrechts, Bd. 1, § 5, S. 6; W.K. Geck,
Allbeteiligungsklausel, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des
Völkerrechts, Bd. 1, S. 28 f.
429
Ähnlich wie die OMGUS-Rechtsabteilung, jedoch mit einem kleinen
aber weitreichenden Unterschied, beschrieb auch der Direktor der
französischen Militärregierung in Württemberg- Baden, Charles M.
Lafolette, in einer Erklärung vor dem Evangelischen Kirchenrat am
5. Februar 1949 die Rechtslage Deutschlands:
"Genau genommen handelt es sich bei der
Besetzung von Deutschland nicht um eine
Besetzung
während
eines
bewaffneten
Konflikts. Es ist eine Besetzung, welche
einer
totalen
und
bedingungslosen
Kapitulation folgte. Deshalb sind auch die
Vorschriften der Haager Konvention über die
Kriegsführung zu Lande nach dem bestehenden
Völkerrecht nicht anwendbar. Jedoch diese
Vorschriften enthalten viele Verhaltungsmaßregeln,
die
einzuhalten
die
Besatzungsmächte moralisch verpflichtet sind.
121
. . . "
Im Gegensatz zu OMGUS ging Lafolette folglich davon aus, es
bestehe zwar keine Rechtspflicht zur Beachtung des Völkerrechts,
wohl aber eine moralische Pflicht zur Beachtung völkerrechtlicher
Verhaltensregeln. Er gestand Deutschland keine Rechtsposition zu,
aufgrund derer subjektive Rechte hätten beansprucht werden
können, sondern wollte die Alliierten allenfalls moralisch
gebunden wissen. Wem gegenüber eine derartige moralische
Bindungswirkung bestehen sollte, sagte er nicht. Es ist jedoch
nicht anzunehmen, daß er den Deutschen selbst einen moralischen
Anspruch den Alliierten gegenüber einzuräumen gedachte.
von Mitarbeitern der OMGUS-Rechtsabteilung. Die
über die gesamte Dauer der Besetzung Deutschlands vorhandene
Unsicherheit über den Rechtsstatus Deutschlands belegen auch die
Äußerungen von Angehörigen der Legal Division von OMGUS. Unter
anderem äußerte sich später auch Charles Fahy zu diesem Problem.
Er war von Juni 1946 bis August 1947 Direktor dieser Abteilung
und kannte auch die
d. Äußerungen
121
430
U. Meister, Stimmen des Auslandes zur Rechtslage Deutschlands,
ZaöRVR. 1950/51, S. 181
seinerzeitige Debatte im Kriegsministerium genau. Er stellte sich
auf den Standpunkt, daß die HLKO nur so lange angewendet werden
könne, wie noch kriegerische Auseinandersetzungen stattfänden.
War das nicht mehr der Fall, dann sollte auch die HLKO nicht mehr
das Verhältnis von Besetzten und Besatzern rechtlich regeln sofern der Besatzer nicht ausnahmsweise ein Rechtsbrecher
aufgrund der Führung eines Angriffskrieges war. Fahy meinte:
"They are rules for the conduct of war in
the area of impact of armed forces upon the
territory and inhabitants of an enemy
country still contesting. They do not
govern or limit the right of the victor to
impose terms and conditions when victory
has been achieved, certainly where the
victor in the eyes of the law has not
forfeited its position by aggression in
violation
of
international
law.
The
imposition upon Germany of unconditional
surrender, accompanied by such actual
surrender and abandonment of governmental
authority, created conditions making these
provisions
of
the
Hague
Convention
inapplicable."
Wenn er damit der HLKO ihre rechtliche Bindungswirkung absprach,
so wollte er sie doch als "allgemeine Richtlinie" - ähnlich wie
Chanler es vorgeschlagen hatte - bei der Besetzung angewendet und
beachtet wissen:
"This is not to say that the regulations of
the convention are of no effect.
The acceptance of them by so large a part
of the world caused them to be used as
guides with persuasive but not obligatory
effect in appropriate circumstances . "122
Fahys Mitarbeiter in der Legal Division, der deutsche Emigrant
und Rechtsprofessor Max Rheinstein, sah die amerikanische
Einschätzung der rechtlichen Lage bedeutend kritischer als sein
Vorgesetzter. Der Gedanke, die alliierten Besatzungsmächte hätten
in Deutschland eine unbeschränkte Machtvollkommenheit, und sie
seien an überhaupt keine
122
Ch. Fahy, Legal Problems of German Occupation, Michigan Law
Review 1948, S. 11 ff., 13
431
rechtlichen Grundsätze und Schranken gebunden, widersprach
zutiefst seinem Rechtsempfinden. Der Anspruch von unbegrenzter
Regierungsmacht sei, so Rheinstein, Kennzeichen für eine
totalitäre Regierung; für eine Regierungsform also, gegen die die
westlichen Alliierten den Krieg geführt hätten. Rheinstein
weiter:
"The very idea of the absence of any
limitation upon governmental powers is
contradictory to the political and legal
foundations of democrazy, particularly as
understood in the United States, whose
political and legal system is based upon
the idea that no government is permitted to
encroach upon the 'inalienable rights' of
'life,
liberty
and
the
pursuit
of
happiness'."123
Für Rheinstein stand fest, daß eine Besatzungsmacht immer
"treuhänderische Aufgaben" ("fiduciary duties") gegenüber den
Besetzten zu erfüllen hatte. Gerade die HLKO kenne eine Reihe
treuhänderischer Aufgaben des Besatzers. Zu diesen Aufgaben
zählte er auch die amerikanischen Nahrungsmittelimporte, die
nicht einfach nur ein Akt der Generosität seien, sondern die
Erfüllung einer völkerrechtlichen Pflicht. Rheinstein sah
durchaus die großen Schwierigkeiten, die die Sieger des Zweiten
Weltkrieges hatten, wenn sie ihre Interessen mit ihren
treuhänderischen Pflichten vereinbaren wollten. Hier trafen zwei
völlig
antagonistische
Interessenpositionen
aufeinander.
Rheinstein kam vor diesem Hintergrund zu dem Schluß:
"While it must be conceded, of course, that
law cannot be conceived of in separation
from the facts and realities of life, we
must not fall into the error of maintaining
that law must always and inevitably follow
the facts.
Quite the contrary, law is, by its very
essence, a standard for human conduct by
which the facts are being created, and
which may, and often does, fall
123
432
M. Rheinstein, The Legal Status of Occupied Germany, Michigan Law
Review 1948, S. 23 ff., 28
short of the law. But the rules of law
still remain in effect."124
Das war ein deutlicher Hinweis darauf, wie die Gewichte bei sich
widersprechenden Zielen - Rechtsgehorsam einerseits, politischer
Interessenverfolgung andererseits - zu verteilen gewesen wären.
Daß dies jedoch nicht der amerikanischen Besatzungspraxis in
Deutschland entsprach, mußte Rheinstein immer wieder feststellen.
Er wurde, nachdem er seine Arbeit in der amerikanischen
Militärregierung beendet hatte, in den Vereinigten Staaten zu
einem der heftigsten Kritiker der amerikanischen Politik im
besetzten Deutschland125.
124
125
M. Rheinstein, ebd., S. 39
Vgl. unten, 4. Teil
433
4. TEIL: EINZELNE AMERIKANISCHE BESATZUNGSMAßNAHMEN UND DIE
NICHTBEACHTUNG DES VÖLKERRECHTS
Bei einer Vielzahl von Maßnahmen der Besatzungsmächte mußten
sich, das hatten bereits die diesbezüglichen Vorüberlegungen in
Washington und London gezeigt, völkerrechtliche Probleme ergeben.
Dies galt weniger für den Bereich der Beseitigung und
Zerschlagung nationalsozialistischer Staats- und Gesellschaftsstrukturen, da es sich dabei insbesondere auch um Maßnahmen
handelte,
die
der
Aufrechterhaltung
der
Sicherheit
der
Besatzungstruppen dienten, als vielmehr für solche Handlungen,
die sich - direkt oder mittelbar - gegen die Zivilbevölkerung
oder die Kriegsgefangenen richteten. Hier mußte sich zeigen,
inwieweit durch die Leugnung des Völkerrechts durch die
Alliierten - insbesondere die Amerikaner - auch die humanitären
Grundsätze dieser Rechtsordnung betroffen waren - und welche
Nachteile dies für die betroffenen Personengruppen nach sich zog.
Ein weiteres Problem stellten die Demontagen dar, soweit sie
nicht
aus
Sicherheitsgründen
erfolgten,
sondern
als
Reparationsleistung angesehen wurden. Die Absetzung der Regierung
Dönitz führte hier dazu, daß die Alliierten sich selbst die
Möglichkeit
nahmen,
eine
völkerrechtlich
verbindliche
vertragliche Grundlage für ihre Reparationsforderungen zu
erhalten.
I. Die Internierung von Zivilpersonen ("automatic arrest")
I.1. Zielrichtung und Durchführung der Zivilinternierung
Während die amerikanischen Truppen im März und April 1945 im Zuge
ihrer militärischen Offensive den Rhein überschritten und immer
tiefer ins Landesinnere vordrangen, begann die Abwehrorganisation
der US-Armee, das CIC (= Counter Intelligence Corps), mit
umfangreichen
Verhaftungen
und
Internierungen
deutscher
Zivilisten. Festgenommen wurden neben Funktionären der NSDAP und
ihrer Organisationen auch Persönlichkeiten der deutschen
Wirtschaft und Beamte aus allen Bereichen des Staatsdienstes.
a. Zweck der Zivilinternierung. Die Verhaftungen waren das
Ergebnis von Überlegungen, die in Washington bei den damit
befaßten Ministerien bereits 1944 konkrete Formen angenommen
hatten1. Ein Teil der in Deutschland durchzuführenden politischen
Säuberungen sollte durch diese Festnahmen bereits eingeleitet
werden. Dabei wollte man drei Personenkreise ganz besonders
treffen: Zum einen sollten diejenigen dingfest gemacht werden,
die in dem Verdacht standen, Kriegsverbrechen begangen zu haben.
In diesem Zusammenhang wurden auch die Personen gleich
mitverhaftet, die man als Zeugen in den geplanten Prozessen
benötigte, die sich aber nicht oder nur ungern bereit fanden,
freiwillig auszusagen. Die zweite Gruppe bestand aus Personen, in
denen die Amerikaner eine Gefahr für die Sicherheit ihrer Truppen
und
militärischen
Einrichtungen
zu
sehen
glaubten,
die
sogenannten "Sicherheitsbedroher" ("security threats"). Der
Begriff des "Sicherheitsbedrohers" war jedoch derartig weit
gefaßt, daß insbesondere in der Anfangsphase der amerikanischen
Besatzung - aufgrund einer bei den Amerikanern weit verbreiteten
Werwolf-Furcht - diese Internierungskategorie eine zum Teil recht
ausgedehnte und willkürliche Anwendung erfuhr. Die dritte und bei
weitem größte Gruppe fiel in den "automatischen Arrest"2.
Bereits die in den ersten beiden Jahren für die amerikanische
Besatzungspolitik maßgebliche Geheimdirektive JCS 1067 vom
April/Mai 1945 sie wurde erst am 17. Oktober
1945 veröffentlicht - befaßte sich in einem Abschnitt (Nr. 8) mit
den zu verhaftenden Personen, insbesondere auch mit den
Kategorien des "automatischen Arrestes"3. Diese Personenkreise
waren im wesentlichen identisch mit denen, die bereits in der
ersten Fassung von JCS 1067 vom 22.
1
2
3
Vgl. oben 1. Teil, IV.
Zu den drei Kategorien vgl. Chr. Schick, Die Internierungslager,
in: Broszat/Henke/Woller, Von Stalingrad zur Währungsreform, S. 302
f.
Dt. Text in: W. Cornides/H. Volle, Um den Frieden mit
Deutschland, S. 62 ff.
435
September 1944 genannt worden waren4. Unter der Überschrift "Als
Kriegsverbrecher verdächtige Personen und Verhaftungen im
Interesse der Sicherheit" wurde im Grundsatz festgelegt, wer zu
internieren war: Neben Adolf Hitler auch "seine Haupt-NaziKomplizen, andere Kriegsverbrecher und all diejenigen Personen,
die an der Planung oder Durchführung von Naziunternehmungen
beteiligt waren, die mit Greueltaten oder Kriegsverbrechen in
Verbindung
standen
oder
zu
solchen
führten".
Unter
Sicherheitsgesichtspunkten
sollten weiterhin alle Personen
verhaftet werden, die das Erreichen der dem Oberbefehlshaber der
US-Besatzungstruppen "gesteckten Ziele gefährden würden, wenn man
sie in Freiheit ließe."5. An welchen Kriterien ein solches
Sicherheitsrisiko zu bestimmen und zu erkennen war, wurde in JCS
1067 nicht geklärt. Es folgte lediglich eine Liste von
Personengruppen, die in Ausführung dieser Richtlinien zu
verhaften waren. Die Liste wurde noch Jahre nach dem
Außerkrafttreten von JCS 1067 nicht veröffentlicht, weil die
Amerikaner befürchteten, noch immer gesuchte Personen könnten
dadurch gewarnt werden6. Diese Liste beinhaltete im einzelnen:
Alle Amtsträger der NSDAP und ihrer Gliederungen sowie anderer
nationalsozialistischer
Organisationen
bis
hinab
zum
Ortsgruppenleiter, alle Angehörigen der politischen Polizei
einschließlich Gestapo und SD, alle Offiziere und Unteroffiziere
der Waffen-SS und alle anderen Angehörigen der anderen SSAbteilungen, alle Generalstabsoffiziere, alle Amtsträger der
Polizei mit einem höheren Rang als Leutnant sowie alle SA-Führer
mit Offiziersrang. Dazu gehörten weiter die führenden Amtsträger
aller Ministerien und andere hohe politische Amtsträger
einschließlich der Bürgermeister in den Städten und auf dem Land,
Amtsträger mit einem entsprechenden Rang und all jene Personen,
die eine ähnliche Stellung in der zivilen und militärischen
Verwaltung der während des Krieges von Deutschland besetzten
Länder innegehabt hatten. Außerdem führte die Liste alle "Nazis
und Nazi- Sympathisanten" in wichtigen und Schlüsselpositionen in
4
6
5
Vgl. oben 1. Teil, IV.7.b.
W. Cornides/H. Volle, ebd.
Vgl. W. Cornides/H. Volle, ebd.
Wirtschaftsorganisationen,
Körperschaften
und
anderen
Organisationen
auf,
an
denen
die
Regierung
ein
Hauptfinanzinteresse gehabt habe, sowie aus der Industrie, dem
Handel, der Landwirtschaft und dem Erziehungswesen, aus dem
Finanz-, Justiz- und Zeitungswesen, aus Verlagshäusern und
anderen Agenturen, die Nachrichten und Propaganda verbreitet
hätten. Dabei sei ganz allgemein ("generally") anzunehmen, daß
immer dann, wenn der Beweis des Gegenteils nicht erbracht werde
("in the absence of evidence to the contrary"), die Inhaber
solcher Positionen Nazis oder zumindest Nazi-Sympathisanten
seien7. Durch diese Beweislastumkehr wurde - entgegen den
rechtsstaatlichen Grundsätzen "in dubio pro reo" und der Bürde
des Deliktsnachweises, zumindest aber des Nachweises eines
Deliktsverdachts oder Verdachts der Sicherheitsbedrohung durch
die Anklage- bzw. Internierungsinstanz - der dem betreffenden
Personenkreis Angehörige "prima facie" als Nazi oder NaziSympathisant betrachtet und einer entsprechenden Behandlung
zugeführt, sofern ihm nicht ausnahmsweise der Beweis des
Gegenteils gelang. Angesichts chaotischer Zustände in Deutschland
unmittelbar nach Kriegsende und der ungeheuren Zahl an
Internierten war für die meisten Internierten eine entsprechende
Beweisführung so gut wie ausgeschlossen. Zur Ausführung der
Internierungsanweisung erließ SHAEF im April 1945 noch ein
"Arrest Categories Handbook", in dem einzelne Kategorien des
"automatischen Arrestes" noch einmal spezifiziert und teilweise
erweitert aufgeführt wurden8.
a. Mangelnde Berücksichtigung rechtsstaatlicher Grundsätze. Max
Rheinstein, in die Vereinigten Staaten emigrierter deutscher
Rechtsprofessor, der nach dem deutschen Zusammenbruch für
eineinhalb Jahre in der Rechtsabteilung der amerikanischen
Militärregierung in Deutschland tätig war, übte nach seiner
Rückkehr Kritik an den Verhaftungsund Internierungsmethoden, weil
sie in keiner Weise mit dem
7
8
Liste in: RG 260/OMGUS 8/193-2/9
Vgl. "Arrest Categories Handbook", RG 260/OMGUS 44-45/8/22
437
so oft in Amerika gepriesenen Begriff von "rule of law" im
Einklang standen. Rheinstein sprach von einer
"... frequent disregard of the democratic
principle of the rule of law by our Counter
Intelligence Corps (CIC), which has often
been acting in a highhanded, arbitrary
manner, quite particularly due to the
unfortunate personality traits of quite a
few of its members, many of whom seem to
have been selected solely because of their
ability to speak and understand German.
What is even more serious is the frequent
practice of CIC as well as of certain other
agencies of military government to proceed
against German individuals and to subject
them to serious detriments without even
telling them what charges there are against
them. Add to that arbitrary arrest by the
military police and the constabulary and
the application of thirddegree methods.
Understandably,
people
are
wondering
whether a denial of the possibility of
defense is democracy... .
The Legal Division of OMGUS has consistently fought against such methods, but
coordination among the various United
States agencies is not always close enough
to guarantee a complete abandonment of such
abuses."9
Die Legal Division, konstatierte Rheinstein, habe beachtenswerte
Erfolge erzielt. Er mußte aber gleichzeitig beinahe resignierend
eingestehen:
"... but the rule of
completely recognized
standard for dealings
vernment with the German
law is still not
as
the general
of military gopopulation."10
Besonders der mangelnde rechtliche Schutz der Bevölkerung und die
amerikanische Internierungspraxis war dafür ein
9
10
438
M. Rheinstein, Military Government in Germany, in: United
States/Congress: Congressional Record (80th. Cong., 1st.
sess.), Bd. 93, Washington, D.C. 1947, pt. 10, A 1359 ff.,
insb. A 1360 f.
M. Rheinstein, ebd., A 1361
Beispiel. Sie ließ in Rheinstein eine äußerst kritische
Einstellung zur amerikanischen Militärregierung in Deutschland
entstehen. Nach seiner Einschätzung liefen die Amerikaner Gefahr,
durch ihre Besatzungspraxis die Glaubwürdigkeit ihrer Kriegsziele
zu verspielen, zu denen eben auch die Verwirklichung des
Rechtsstaatsgedankens gehört hatte.
Rückblickend
auf
seine
Zeit
in
der
amerikanischen
Militär-
regierung meint Rheinstein, daß
"(a) lack of legal protection has grown up
among the German population. This is not
conducive to respect of the rule of law,
the defense of which the democratic, peaceloving countries have proclaimed as one of
their principal war aims. Nothing is more
damaging to respect for our institutions
than the charge of hypocrisy which can be
leveled against us whenever a case of
misconduct is condoned or, even more
dangerous, when our own official agencies
engage in practices that show a disregard
for the rule of law.
Military occupation is, of course, an
authoritative regime which excludes, so far
as it operates, democratic participation in
the government.
However, there is no reason why members of
the subject population should not be given
a chance to defend themselves against
individual charges resulting in repressive
measures."11
Waren die Prinzipien des "rule of law" aber erst einmal
ausgeschaltet, so war der willkürlichen Handhabung besatzungspolitischer Maßnahmen Tür und Tor geöffnet. So scheinen sich
die CIC-Agenten selbst an das "Arrest Categories Handbook" nur
selten gehalten zu haben. Denn sehr oft orientierten sie sich
allein an den Titeln der zu inhaftierenden Personen. Der Titel
"Rat"12 oder die
11
12
M. Rheinstein, The Ghost of the Morgenthau Plan, in: The
Christian Century, Bd. 64, 1947, Chicago, I11., S. 428 ff., insb.
S. 429 f.
E.N. Peterson, The American Occupation of Germany - Retreat to
Victory, S. 145
439
Bezeichnung "Stab" vor der Berufsnennung (Bsp.: Stabsarzt), ja
selbst das Wort "Kreis" war oftmals alleiniger Anlaß für das CIC,
diese
Leute
zu
verhaften13.
Irrtümer
und
Fehler
(z.B.
Namensverwechslungen) waren an der Tagesordnung, was in
Anbetracht der viel zu allgemein gehaltenen Anweisungen und einer
Verhaftungswelle von 700 Neuverhaftungen täglich über mehrere
Monate hinweg14 nicht weiter verwundern kann.
Die unhaltbaren Zustände in den Lagern und die Verhaftungsund
Vernehmungsmethoden des CIC blieben auch der amerikanischen
Militärregierung nicht verborgen. Der politische Berater General
Clays, Botschafter Robert Murphy, meldete am 16. November 1945 an
den Direktor des Office of European Affairs im Washingtoner
Außenministerium, H. Freeman Matthews:
"As you know, our military authorities have
under detention about ninety thousand
Germans who are security suspects or in
automatic arrest categories. Many Germans
are beginning to say about this, and with a
certain element of truth, that they see no
difference between our methods and Nazi
methods in the sense that any German
citizen is subject to arrest at any hour of
the day or night. He may be taken away from
his family, and this has happened to many
thousands, and the latter are not accorded
any possibility of remaining in contact
with him. These Germans, of course, are
given no opportunity to employ counsel.
Unquestionably there is justification for
the arrest of many of them. It is fair to
presume, however, that with such wholesale
arrests an inevitable percentage of error
is bound to creep into the picture and
innocent men have undoubtedly been arrested
and are now imprisoned. In fact, I am told
that there are cases of arrests made in the
early days about which the record has been
lost, our military personnel long since
changed, and no one now knows why the
individual was arrested."15
13
14
15
440
Chr. Schick, Die Internierungslager, S. 303 f.
L. Niethammer, Entnazifizierung in Bayern, S. 256
R. Murphy an H.F. Matthews, Director, Office of European
Affairs, Dep. of State, 16.11.1945; RG 84 Office of the U.S.
Die Überprüfung mehrerer tausend Internierungsfälle durch die G-2
Abteilung der 7. US-Armee führte im Januar 1946 zu dem Ergebnis,
die Ausführungen in den "arrest reports" könnten nicht in jeder
Hinsicht als korrekt bezeichnet werden. Die Mehrzahl der "arrest
reports" enthalte nur die stereotype Formulierung, der Verhaftete
erkenne das ihm Vorgeworfene an und verweigere nach der
Verhaftung eine Aussage. Spätere Überprüfungen hätten jedoch
gezeigt, daß die Verhafteten nie die Gelegenheit erhalten hätten,
irgendetwas anzuerkennen oder abzustreiten16.
b. Aufrechterhaltung der Arrest-Kategorien. Schon wenige Monate
nach Abschluß der vollständigen Besetzung Deutschlands mußten die
Amerikaner
erkennen,
daß
ihre
Furcht
vor
organisiertem
Widerstand, insbesondere seitens sogenannter Werwolf-Einheiten,
grundlos gewesen war. Eine Aufstellung vom 14. Juli 1945 über die
Zugehörigkeit der bis dahin Internierten zeigte dies deutlich.
Von den bis zum 30. Juni
1945 verhafteten 31.328 Personen waren 48 Prozent Amtsträger der
NSDAP, 26 Prozent Angehörige paramilitärischer Organisationen, 16
Prozent gehörten zum Geheimdienst, einschließlich Gestapo und
Kriminalpolizei, 5 Prozent wurden verdächtigt, Kriegsverbrechen
begangen zu haben, 3 Prozent wurden als Renegaten geführt und
lediglich von 2 Prozent nahm man an, sie gehörten zu WerwolfOrganisationen17.
Als die Amerikaner im September 1945 langsam einsahen, daß ihre
Angst vor Vergeltungsmaßnahmen deutscher Untergrundorganisationen
völlig grundlos gewesen war, und ein großer Teil der
Internierten, die man als Sicherheitsrisiko angesehen hatte, nun
eigentlich hätten entlassen werden müssen, sprach sich General
Lucius D. Clay dennoch für eine Aufrechterhaltung der
Internierungskategorien aus. Sein
6
7
Political Advisor to Germany - Berlin, Class. Gen. Corresp. of the
Political Advisor, 1944-1949 (1944-1945), Box Nr. 1, Amb. Murphy's
File Nov. 1944; RG 260/OMGUS POLAD/458/84
Hq. 7. US-Arrny an Hq. USFET, 3.1.1946, RG 260/OMGUS 8/193-2/9
Special Report Military Government in US-Zone Germany, USGCC,
14.07.1945, Nr. 1 (Brig. Gen. T.J. Betts, USGCC, Intelligence
Division); RG 107 ASW 370.8 Germany (Zone - U.S.)
441
Motiv: Er befürchtete ein Eingreifen entlassener Internierter in
den begonnenen "Demokratisierungsprozeß" und ein Stören der
geplanten Wahlen. Er empfahl, die Internierungskategorien nicht
zu ändern, die bereits Internierten weiterhin festzuhalten und
die Verhaftung in den "automatischen Arrest" fallender Deutscher
fortzusetzen18.
Ganz anders sah der amerikanische General Patton, von seinen
Landsleuten als der Kriegsheld des Zweiten Weltkriegs angesehen,
das Internierungsproblem. Auf einer Sitzung der Kommandeure mit
General Clay forderte er schon am 27. August 1945 die Entlassung
Zivilinternierter, von denen viele schon alt oder auch schwanger
seien19. Auch bei einem Besuch im Internierungslager Garmisch am
8. September
1945 konnte Patton kein Verständnis für die Arrestierung dieser
Menschenmassen
aufbringen20.
Er
stand
der
ganzen
Entnazifizierungspolitik der Amerikaner ohnehin sehr kritisch
gegenüber, was ihn nach einer unbedachten, vielleicht durch die
US-Presse aber auch besonders zugespitzt wiedergegebenen und
hochgespielten Äußerung seine Stellung kostete21, so daß er sich
nicht länger für die Zivilinternierten verwenden konnte. Am 21.
Dezember
1945 kam er bei einem Autounfall ums Leben.
Fast drei Jahre nach Beginn der amerikanischen Internierungsmaßnahmen, im März 1948, machten Vertreter der beiden
christlichen Kirchen in Deutschland - Martin Niemöller für die
Evangelische Kirche in Hessen und Nassau sowie die Bischöfe von
Mainz und Limburg - die US-Behörden darauf aufmerksam,
18
19
20
21
442
Gen. L.D. Clay, Hq. USGCC, an Gen. Conrad, Acting Director of
Intelligence, Memo., 11.09.1945; RG 260/OMGUS 44-45/8/22
Hq. USGCC, "Third Meeting of the Deputy Military Governor with Army
Commanders", 27.08.1945; Abs. Nr. 9; RG 260/OMGUS 3/153- 1/9
Vgl. K. Vogel, M-AA 509, S. 78, demzufolge Patton gesagt haben soll:
"Mad, to intern such people."
Vgl. L. Niethammer, Die amerikanische Besatzungsmacht zwischen
Verwaltungstradition und politischen Parteien in Bayern 1945, in:
VfZG 1967, S. 153 ff., insb. S. 184 f., 200 f., 205 ff.;
E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany 1944- 1946,
S. 384 ff.
"... daß die meisten Internierten nicht
deshalb in Haft sind, weil sie persönlich
unter
dem
dringenden
Verdacht
von
Handlungen
stehen,
die
nach
dem
Befreiungsgesetz
schweren
Sühnemaßnahmen unterworfen sind; sondern
sie sind lediglich deshalb, weil sie
bestimmte Ämter oder Ränge innehatten, in
sogen. 'automatischem Arrest'. Es handelt
sich hierbei nicht um Spitzenführer der
nat. soz. Organisationen, sondern um deren
breite Mittelschicht bis hinunter zum SSUnterscharführer . "22
Eingeliefert wurden die Verhafteten in speziell dafür errichtete
Internierungslager.
In
Dachau
wurde
das
dortige
Konzentrationslager für diesen Zweck wiederverwendet. Die
unterschiedlich großen Lager waren über die gesamte US-Besatzungszone verstreut. Im Januar 1946 waren es 21 Lager, von
denen 14 der 7. US-Armee unterstanden, die übrigen 7 Lager der 3.
US-Armee23. Einige der kleineren Lager wurden in der Folgezeit
geschlossen, andere (z.B. das Lager Darmstadt) neu errichtet.
Zahl der Zivilinternierten. Wieviel Zivilisten von den USTruppen in der Zeit von 1945 bis 1948 insgesamt interniert
wurden, läßt sich heute nicht mehr genau feststellen. Das liegt
vor allem daran, daß das CIC sich als Geheimdienst wenig
informationsfreundlich zeigte und deshalb auch keine Verhaftungsund
Internierungszahlen
veröffentlichte.
Das
einzig
aufschlußreiche Zahlenmaterial stammt aus den Unterlagen der
amerikanischen Militärregierung in Deutschland (OMGUS). Die
amerikanische Militärregierung hatte jedoch zunächst selbst und
unmittelbar weder etwas mit den Verhaftungen noch mit dem Betrieb
der Internierungslager zu tun. Denn das CIC gehörte zur
Generalstabsabteilung der US- Armee (G—2 USFET) für das
Nachrichtenwesen (sog. Intelli
d.
22
23
Schreiben der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der
Bischöfe von Mainz und Limburg an den Direktor der Militärregierung
in Wiesbaden, Betr.: "Politische Säuberung", 5.3.1948; RG 260/OMGUS
8/214-3/12
Hq. Theater Service Forces European Theater, Memo., "Civilian
Internment Camp List",5.1.1946; RG 260/OMGUS POLAD/813/37
443
gence Section) und war von der US-Militärregierung somit
weitestgehend unabhängig. Diesen Zustand beklagte im April
1946 selbst der Direktor der OMGUS-Rechtsabteilung, Charles
Fahy, in einem Schreiben an General Clays politischen Berater,
Botschafter Robert Murphy. Fahy beschwerte sich besonders
darüber,
daß
die
Rechtsabteilung
der
amerikanischen
Militärregierung keine Verantwortlichkeit für die Internierungen
und die in diesem Zusammenhang vom CIC angewandten Methoden habe.
Über längere Zeit hinweg habe es eine Anzahl ernsthafter Klagen
("serious complaints") über die Methoden des CIC gegeben24.
Nach einem OMGUS-Bericht sind in der ganzen US-Zone bis zum
6. Dezember 1945 117.512 Personen interniert worden25. Diese Zahl
gilt in der historischen Literatur bisher als höchster Stand der
Arrestpolitik, da 1946 über die Hälfte der Lagerinsassen
entlassen worden seien26. Die freigegebenen OMGUS-Akten sprechen
allerdings von bedeutend höheren Internierungszahlen: So teilte
im Dezember 1946 das Hauptquartier der 3. US-Armee dem
Kommandierenden General der US-Streitkräfte in Europa, General
McNarney, mit, US- Truppen und CIC hätten bis dahin über 150.000
Verhaftungen allein innerhalb der "Automatic Arrest"-Kategorien
vorgenommen27. Wieviel Personen darüber hinaus als "SicherheitsBedroher" und als "Kriegsverbrecher" interniert wurden, blieb
dabei offen. Einen Fingerzeig auf die Gesamtzahl gibt ein
Memorandum, das Charles Fahy, der verbunden mit seiner Tätigkeit
als Direktor der OMGUS- Rechtsabteilung auch als General Clays
Rechtsberater fungierte, dem Stellvertretenden Militärgouverneur
im Mai
1946 zukommen ließ. Darin teilte er General Clay mit, die
einzige Information, die er von der zuständigen Stelle der USArmee hinsichtlich der in US-Gewahrsam befindlichen
24
25
26
27
444
Ch. Fahy an R. Murphy, 29.4.1946; RG 2 6 O/OMGUS POLAD/814/35
Memo., "Arrest and Internment of influential Nazi-supporters and
high officials", o.D., RGy 260/OMGUS 15/128-3/11
Vgl. L. Niethammer, Entnazifizierung in Bayern, S. 255; Chr. Schick,
Die Internierungslager, S. 304, meint, mit "rund 100.000 Personen
erreichte die Zahl der Internierten Ende 1945 ihren Höhepunkt."
Hq. 3. US-Army an Commanding General USFET, Dec. 1946; RG
260/OMGUS 15/128-3/11
Personen erhalten habe, sei die Bezifferung der Gesamtzahl der
Internierten aller Kategorien auf 192.088 Personen. Fahy führte
diese, in ihrer Höhe von ihm scheinbar nicht erwartete Zahl
darauf zurück, daß deutsche Kriegsgefangene nach ihrer Entlassung
als
Zivilisten
erneut
interniert
worden
seien28.
Diese
Einschätzung entspricht ganz offensichtlich auch den historischen
Tatsachen. Denn schon im März 1946 hatte USFET die Entwicklung
der Interniertenzahlen folgendermaßen vorausgesagt: Aufgrund der
Entlassung deutscher Kriegsgefangener sei im März und April 1946
mit jeweils 20.000, im Mai mit 30.000 und im Juni nochmals mit
20.000 neuen Zivilinternierten zu rechnen29. Bedenkt man allein
diese Planungen für einen Zivilinterniertenzuwachs um rund 90.000
Personen innerhalb von nur vier Monaten des Jahres 1946, und
nimmt man die von Charles Fahy im Mai 1946 genannte Zahl von
192.088 hinzu, so ergibt sich, daß die Gesamtzahl der im Laufe
der Jahre von 1945 bis 1948 irgendwann einmal internierten
Zivilpersonen (Männer und Frauen) in der US-Zone Deutschlands bei
weit Uber 200.000 lag.
1.2. Die Lebensbedingungen in den Zivilinterniertenlagern
Bei einer so hohen Zahl Zivilinternierter und angesichts einer in
ganz Deutschland herrschenden Not an Nahrungsmitteln und
Bekleidungsstücken
ließen
die
Lebensbedingungen
in
den
Internierungslagern viel zu wünschen übrig, insbesondere was die
Unterbringung und die medizinisch-hygienische Versorgung der
Internierten anbetraf30.
a. Äußerung von Robert Murphy. Die größtenteils katastrophalen
Lagerbedingungen waren den amerikanischen Behörden
28
29
30
Ch. Fahy an Gen. L.D. Clay, Memo., 13.5.1946; RG 260/OMGUS 17/532/3
Hq. USFET an Commanding General 3. US-Army, "Subject: Civilian
Internment Camps", 22.3.1946; RG 260/OMGUS 11/5-3/28
Vgl. zu den Lebensbedingungen im Lager Darmstadt und die Diskussion
mit dem IKRK: Schöbener, Dokumentation einer Kontroverse: Die
Bemühungen des Internationalen Roten Kreuzes 1946/47 um den
völkerrechtlichen Schutz deutscher Zivilinternierter in der US-Zone,
in: Die Friedens-Warte, Bd.
68
(1990), S. 140 ff..
445
nicht unbekannt; oftmals mußten sie jedoch erst auf die näheren
Umstände aufmerksam gemacht werden, bevor eine Besserung eintrat.
So erging es beispielsweise dem politischen Berater der USMilitärregierung, Botschafter Robert Murphy, mit einem Camp in
der Nähe von Frankfurt. Murphy hat das später so geschildert:
"Einige Beamte von OMGUS konnten, als sie
sich den Deutschen als Herren über Leben
und Tod gegenübersahen, oft der Versuchung
nicht widerstehen, Gott zu spielen. ... Wir
fuhren
zu
einem
amerikanischen
Internierungslager in einem der Vororte, in
dem 'kleine Nazis' festgehalten wurden und
auf ihre Einstufung warteten - ehemalige
Parteimitglieder,
die
in
der
Parteiorganisation
unbedeutende
Posten
bekleidet hatten, darunter sogar Putzfrauen
von Parteidienststellen. ...
Überrascht mußte ich feststellen, daß
unsere Gefangenen fast ebenso schwach und
ausgemergelt waren wie die, die ich in den
Nazilagern gesehen hatte. Der jugendliche
Lagerkommandant erzählte uns gelassen, daß
er
die
Insassen
mit
Absicht
auf
Hungerration gesetzt hatte:
'Die Nazis sollen ihre Methoden am eigenen
Leib zu spüren bekommen.' ...
Ein anderes Mal erfuhren wir, daß ein NSKonzentrationslager,
mit
allem
zum
Erpressen von Geständnissen Notwendigen
ausgerüstet, nun unter amerikanischer Regie
weiterexistierte.
Ein
übereifriger
amerikanischer
Nachrichtenoffizier hatte erkannt, wie gut
man mit Hilfe der Nazimethoden die Nazis
selbst dazu bringen konnte, ihre Verbrechen
einzugestehen."31
Zwar wurde der uneinsichtige Lagerkommandant versetzt und auch
der Nachrichtenoffizier mußte seine Tätigkeit einstellen, doch
handelte es sich dabei um Einzelfälle, die mehr oder weniger
zufällig in die oberen Amtsstuben von OMGUS durchgedrungen waren.
Die meisten Mißstände wurden offensichtlich gar nicht publik.
a. Das Internierungslager Darmstadt im Winter 1946/47. Ein Lager,
das erst relativ spät errichtet wurde, aber schnell
Murphy, Diplomat unter Kriegern, S. 359
zu einem der größten in der ganzen US-Zone werden sollte, war das
Lager Darmstadt. Dieses Lager wurde erst am 1 6 . Februar 1946 in
Betrieb genommen, galt aber schon bald als eines der
schlechtesten in der US-Zone und beherbergte teilweise bis zu
28.000 Internierte32.
Im Oktober und November 1946 übergab die US-Armee die Mehrzahl
der von ihr bis dahin betriebenen Internierungslager in die
Verantwortung der deutschen Landesbehörden. Die Amerikaner
behielten sich jedoch die Entscheidung darüber vor, ob und welche
Internierten entlassen werden durften. Grund des Transfers war
zum einen, daß die Amerikaner die hohen Interniertenzahlen
organisatorisch nicht mehr bewältigen konnten, zum anderen, daß
das
"Gesetz
zur
Befreiung
von
Nationalsozialismus
und
Militarismus"
(sog.
Befreiungsgesetz)
die
sogenannte
Entnazifizierung zunächst einmal in deutsche Hände gelegt hatte,
und der größte Teil der Internierten nach Ansicht der Amerikaner
mit einer Bestrafung aufgrund dieses Gesetzes rechnen mußte33. Es
wurden aber nicht alle Internierten den deutschen Behörden
überstellt.
In
amerikanischer
Hand
blieben
insbesondere
diejenigen, die man eines Kriegsverbrechens verdächtigte und
diejenigen, die in den Prozessen als Zeugen auftreten sollten.
Sie wurden im Lager Dachau und im Lager 74 in Ludwigsburg
weiterhin von den Amerikanern festgehalten. In einem Teil des
Lagers Darmstadt blieben nichtdeutsche Internierte ebenfalls in
US-Gewahrsam34.
Der größte Teil des Lagers Darmstadt ging jedoch am 1. November
1946 in die Verantwortlichkeit der hessischen Landesregierung
über. Diese neu gewonnene Zuständigkeit versetzte die deutschen
Behörden nun erstmals in den Stand, die Zustände in den Lagern
überprüfen zu lassen35. Zwischen
32
33
34
35
E. Kogon, Der Kampf um die Gerechtigkeit, Frankfurter Hefte 2
(1947), S. 373 ff., insb. S. 375
Chr. Schick, Die Internierungslager, S. 309 ff.
Chr. Schick, ebd., S. 312
Ob vorher bereits Untersuchungen durch US-Behörden stattgefunden
haben, ist nicht bekannt, muß aber bezweifelt werden. Bezeichnend
für das Desinteresse der Amerikaner ist,
447
dem 16. und dem 24. Dezember 1946 wurden deshalb im Lager
Darmstadt insgesamt drei Inspektionen durch die Medizinalabteilung, Dezernat Hygiene, des hessischen Ministeriums des
Innern durchgeführt. Die von diesen Untersuchungen angefertigten
Berichte stammen von Dr. K.H. Böhler (16.12.), Dr. Krey
(19./20.12.) und Prof. Dr. von Drigalski (24.12.)36.
Das Lager bestand aus einer Gruppe von Massivgebäuden, die die
Verwaltung, Spruchkammer, Hospital und dergleichen beherbergten,
und einem hufeisenförmig gruppierten Zeltlager. Von den 11.000
Internierten im Dezember 1946 entfielen 280 auf die Verwaltung
und 2400 auf das Hospital (2000 Kranke und 400 Personal). Beide
Gruppen
waren
in
den
Massivgebäuden
untergebracht,
in
Kasernengebäuden, die den hygienischen Anforderungen entsprachen.
Das Gros der Internierten war jedoch in den Zelten einquartiert
(ca.
8.200
Personen),
in
einwandigen
amerikanischen
"Sommerzeiten" von unterschiedlicher Größe, die von jeweils 6 bis
10 bzw. von
14 bis 20 Internierten bewohnt wurden. Die Inneneinrichtung
dieser Zelte gibt der Bericht vom 19./20. Dezember 1946
folgendermaßen wieder37: "Die Zeltunterkünfte nur spärlich
beleuchtet, beheizt planmäßig mit nur einem 'Bunkerofen', hie und
da
ergänzt
durch
einen
zweiten
Behelfsofen
(BenzinfaßImprovisation feldmäßiger Art)". In Anbetracht des mit großer
Kälte hereingebrochenen Winters war die Frage einer ausreichenden
Beheizung der Zelte natürlich ein zentrales Problem. Zunächst war
pro Kopf und Monat ein viertel Meter Holz ausgegeben worden.
Davon wurden jedoch
daß selbst der US-Stadtkommandeur von Darmstadt bis zum Januar
1947 keinerlei Veranlassung sah, sich selbst durch einen Besuch des
Lagers ein Bild von den dortigen Lebensbedingungen zu machen. Vgl.
"thumb-nail-sketch" Gen. Keatings an Gen. Clay vom 6.1.1947 über
seine Beobachtungen im Lager Darmstadt, RG 260/OMGUS 17/162-1/11
36
Bericht Dr. K.H. Böhler: "Trip Report" der Inspektion vom
16.12.1946; Bericht Dr. Krey:" Das Interniertenlager Darmstadt am
19./20.12.46 in hygienischer Begutachtung" vom 21.12.1946; Prof. Dr.
von Drigalskis "Bericht über die Besichtigung des Interniertenlagers
Darmstadt am 24.12.1946"; alle Berichte: RG 260/OMGUS 8/57-1/30
37
Die folgenden Ausführungen nach dem Bericht von Dr. Krey, ebd.;
RG 260/OMGUS 8/57-1/30
448
sogleich Kontingente einbehalten, die der einzelne Internierte
für
Küche,
Krankenrevier,
Brausebad
und
andere
Gemeinschaftseinrichtungen sowie als "Sparholz" zur Verfügung
stellen mußte, so daß für die reine Zeltbeheizung nur eine
beschränkte Menge Holz verblieb, die "die Beheizung des Zeltes
nur für einige Tagesstunden zuließ". Aufgrund des Frosteinbruchs
und nachdem die Lagerärzte und "Vertrauensleute" beim Lagerleiter
vorstellig geworden waren, um ihn auf die Mißstände aufmerksam zu
machen, wurde ab dem 16. Dezember 1946 die nahezu doppelte Menge
Holz ausgegeben, wodurch eine Zeltbeheizung wenigstens für 6 bis
8 Stunden täglich möglich wurde. Daß aber auch diese Rationen
noch völlig unzureichend waren, um der Kälte einigermaßen
widerstehen zu können, zeigt der Bericht vom 19./20. Dezember
auf:
"Der Beheizungseffekt ist - angesichts und
infolge
des
Fehlens
jeglicher
Wärmeisolation - während dieser Tagesbeheizung
nur beschränkt, über Nacht aber sofort und
stark abkühlend: Die von mir persönlich
gegen 16 Uhr festgestellte Eiskruste an der
Zelt- Innenwand macht die von Dr. Böhler
notierte Innentemperatur eines Zeltes von
Minus 5-6 Grad vormittags glaubhaft;
nach
Angabe
des
Vertrauensarztes des Teillagers III soll
die Frühtemperatur in einem Zelt seines
Camps im Laufe dieser Woche 17 Kältegrade,
d.h. praktisch die Außen- Lufttemperatur
erreicht haben.
Praktische Maßstäbe für die in den Zelten
herrschende
Untertemperatur
bzw.
die
nächtliche
Unterkühlung
ist
die
glaubwürdige Ärzte-Angabe, daß der Kaffee
im Kaffeekrug in den letzen
Eine weitere Verschärfung der Lage ergab sich daraus, daß die
Internierten neben der völlig unzulänglichen Zeltbeheizung auch
nicht mit ausreichend Winterbekleidung ausgerüstet waren:
38 Krey-Bericht, ebd.
449
"1/3 der Internierten ohne Mantel, alle im
allg. nur eine Bekleidungsgarnitur und
mangelhafte,
trotz
beschränkter
amerikanischer Zuteilung noch lückenhafte
Wärmeausstattung:
nur
geringe
Ausgabe
besonderer Winterbekleidung, vor allem auch
keinerlei
Reparaturmöglichkeiten
(Stopfwolle, Zwirn, Nähzeug
u. dgl.). Infolge dieser Zeltbedingungen
haben sich die Internierten z.B. der Camps
II und III seit 5 Wochen nicht ausgezogen;
nach Angabe der Ärzte herrscht daher eine
'krankhafte Verschmutzung'! Ein 25/tel
aller Internierten, d.h. heute 4-600 haben
Hautkrankheiten allgemeiner Art. ..."39
Der Bericht merkt weiter an, daß bei diesem Zustand des
Zeltlagers eine jeden Tag mögliche Verseuchung des Lagers nach
Auffassung des Lageramtsarztes eine "sehr ernste Sache" wäre. Die
Seuchengefahr bestehe insbesondere auch "infolge der verminderten
Widerstandsfähigkeit, der depressionsbedingten Apathie, der
Verschmutzung,
der
Kreislaufschwächung
und
sonstiger
Mangelerscheinungen
sehr
vieler
Internierter".
Diese
Mangelerscheinungen konnten auch nicht durch eine Kalorienzahl
von (netto) 1500 überwunden werden, weil es vor allem an der
Zufuhr
von
Fett
und
animalischem
Eiweiß
fehlte.
Die
Ärztekonferenz des Lagers verzeichnete 178 Fälle mit Hungerödemen
und ungefähr 800 Fälle mit allgemeinen "Mangel-Ödemen". Die
Krankmeldungsziffer betrug zum Zeitpunkt der Untersuchungen im
Dezember 1946 durchschnittlich 150 bis 200 Neukranke am Tag. Die
Krankenbetten im Lazarett und in den Krankenrevieren bezeichnet
der Bericht als "so überbelegt bzw. unzureichend, daß ca. 5-600
eigentliche Hospitalfälle,
d.
h. fieberhaft Kranke noch in den Zelten liegen".
Aber auch diejenigen, die noch einen Platz auf einer
Krankenstation bekamen, mußten weiterhin unter den völlig
unzulänglichen Lagerbedingungen leiden. Dr. K. H. Böhler weist in
seinem Bericht über seinen Inspektionsbesuch am 16. Dezember 1946
darauf hin40, die Krankenstationen seien in "tropischen Hütten"
("tropical huts") untergebracht, und
39
40
450
Krey-Bericht, ebd.
Böhler-Bericht, ebd.
die Kälte lasse die Medikamente einfrieren. Es gebe auch keine
speziellen Stroh-Matratzen für die Patienten, die ihre Matratzen
aus den Zelten mitbringen müßten. Die sanitären Bedingungen seien
völlig inadäquat. In den Krankenstationen von Camp I gebe es kein
Holz, um Sitze für die Toiletten zu machen, so daß die Patienten
auf der nackten Stein-Auskleidung ("bare stone lining") sitzen
müßten. Patienten mit Magengeschwüren könnten nicht versorgt
werden, da gesagt worden sei, das Kochen einer Spezialdiät sei
nicht möglich. Dr. Krey von der Medizinalabteilung kam vor dem
Hintergrund dieser Verhältnisse zu dem Fazit41:
"Das augenblickliche Mißverhältnis zwischen
Kranken, nicht zu rechnen die in Rechnung
zu
stellenden
Frostschäden,
sonstige
Kälteauswirkungen
(Lungenentzündung,
Blasenkatarrh,
Nierenentzündungen)
und
etwaige Seuchenkranken einerseits, der
Bettenzahl in Krankenrevier und Hospital
andererseits
ist
seitens
der
Gesundheitsbehörde
nicht
länger
zu
verantworten."
Die beiden Berichte über die Zustände im Lager Darmstadt, die
anläßlich der Visiten vom 16. und 19./20. Dezember 1946
angefertigt worden waren, wurden mit Schreiben vom 23. Dezember
1946 der Amerikanischen Militärregierung für Groß- Hessen (OMGH)
in Wiesbaden zugeleitet. In diesem Schreiben wies Dr. Krey noch
auf einige weitere Mißstände hin42: So verfügten die Lager II und
III über keine eigene Dusche, da die Duschen dieser beiden
Teillager dem noch von den Amerikanern betriebenen Lager in
Darmstadt zugeteilt worden seien. Die körperliche Hygiene der
Internierten sei in den letzten Wochen darüber hinaus auch
deshalb nachteilig betroffen gewesen, weil das tägliche Waschen
und das Säubern der Wäsche infolge des Mangels an Wasser und
Seife weitestgehend verhindert worden sei. Dabei sei die Wäsche
aufgrund der weiten Verbreitung von Blasenentzündungen
41
42
Krey-Bericht, ebd.
Großhessisches Staatsministerium, Der Minister des Innern,
Medizinalabteilung, Dezernat Hygiene, an das Office of Military
Government for Greater Hessen, Public Health Branch, vom 23.12.1946;
RG 260/OMGUS 8/57-1/30
451
extrem verschmutzt. Die Zeltbewohner hätten ihre Wäsche und ihre
übrige Kleidung seit Wochen nicht mehr gewechselt. Außerdem gebe
es weder Toilettenpapier noch einen Ersatz dafür, wie z.B.
Zeitungspapier. Es bestehe daher sowohl die Gefahr der Infektion
mit Darmbakterien als auch die Gefahr des Ausbruchs einer GrippeEpidemie, die dann wie ein "Prärie-Feuer" die Lagerinsassen
erfassen werde.
Einen Tag nach diesem Schreiben an die Amerikanische Militärregierung von GroßHessen, am Heiligabend des Jahres 1946,
erfolgte noch eine dritte Inspektion des Darmstädter Lagers.
Durchgeführt wurde diese Untersuchung von Ministerialrat Prof.
Dr. von Drigalski. Sein erster Eindruck, "es stünde gar nicht so
schlimm", änderte sich schnell, nachdem er feststellen mußte,
"daß höchst bedenkliche Schäden durch Unterernährung nachweisbar
waren"43:
"Die Mehrzahl war ausgesprochen mager und
sah dürftig aus. Bei näheren Untersuchungen
finden
sich
aber
ganz
bedrohliche
Erscheinungen, insbesondere ein Schwund der
Hoden bis auf 1/3.
Dieses Symptom habe ich im 1. Weltkrieg bei
den zahlreichen russischen Kriegsgefangenen
kaum
gesehen." (Den Hodenschwund der
Internierten bezeichnete der Chefarzt der
Lagerselbstverwaltung,
Dr. Pfaff, in seinem Bericht vom selben Tag
als "trockene Kastration". 44
Anerkennend vermerkte Professor von Drigalski in seinem Bericht,
daß die Internierten verhältnismäßig ruhig, meist höflich und
durchaus zu Auskünften bereit gewesen seien, obwohl ihm die
allgemeine Stimmung im Lager als "bedrohlich" geschildert worden
sei. Überall herrsche auffällig große Sauberkeit. Die Latrinen
seien größtenteils zugefroren und zum Teil wegen Vereisung nicht
benutzbar. Trotz starker Verschmutzung täten die Internierten für
ihre Sauberkeit was nur irgend möglich sei. Die äußeren Umstände,
vor allem die anhaltende Kälte, waren für die
43
44
452
Die folgenden Ausführungen nach dem Bericht von Prof. Dr. von
Drigalski; RG 260/OMGUS 8/57-1/30
Dr. Pfaff, "Wöchentlicher Bericht" vom 24.12.1946; RG
260/OMGUS 8/57-1/30
Vornahme von Hygienemaßnahmen jedoch mehr als schlecht: "In den
Waschbaracken war das Wasser noch größtenteils zugefroren. Große
Eismassen waren beseitigt, der Boden noch dick mit Glatteis
bedeckt. Einige Wasserstrahlen, aufgetaut, liefen wieder und die
Leute versuchten sich zu waschen; das gleiche versuchten sie in
den Zelten. Die Hautbeschaffenheit war daher nicht so schlimm,
wie ich befürchtet hatte".
Ihren Einfallsrelchtum bewiesen die Internierten bei
Einrichtung der Zelte und deren Beheizung. Professor
Drigalski schildert seine Eindrücke so:
der
von
"Von den Zeltdecken waren die Eisbeläge
entfernt. Trotzdem froren sie wieder an und
begannen bei steigender Wärme zu tauen, und
das Wasser lief in die Betten. So haben
verschiedene ein Dach über das Bett
gemacht, weil sie sonst unter einem
künstlichen Regen schlafen würden. Überall
Erneuerung und Verbesserung der Öfen. In
den meisten Zelten ziemlich viel Holz.
Woher die Leute sich die Mittel zu einer
relativen
Wohnlichmachung
der
Zelte
beschafft
haben,
bleibt
unerklärlich.
Tausende von Kanistern waren sehr geschickt
den Öfen angebaut worden".
In den ebenfalls äußerst sauberen Lazaretten fand Professor von
Drigalski eine Gesamtbelegung von 2055 Personen gegenüber einer
planmäßigen Zahl von rund 1000. In den letzten beiden Wochen
seien vor allem Kollapse zu verzeichnen gewesen, "die Leute
fallen plötzlich zusammen". 200 Fiebernde und weitere 200
Herzkranke, Rheumatiker und Patienten mit Blasenentzündungen
(darunter eine Anzahl dauernder Bettnässer) lagen in den
Lazaretten noch in Zelten. Die Zahl der Lagerunfähigen gibt
Professor von Drigalski in seinem Bericht mit 2239 an, darunter
60 Amputierte, 129 Hirnverletzte, 225 Kriegsverletzte, 416 über
60jährige mit Alterskrankheiten und 1409 Personen wegen Asthma,
Tuberkulose, Herz-, Kreislauf-, Magen- und Darmkrankheiten. Am
23. Dezember seien davon erst 78 zur
45 Drigalski-Bericht, ebd.
453
Entlassung
genehmigt
Schwerstkranke)46.
worden
(56
Geisteskranke,
22
Der evangelische Theologe Professor Helmut Thielicke war einer
der wenigen, der diesen Zuständen im Internierungslager Darmstadt
mit der Kraft seines in ganz Deutschland und teilweise auch bei
den
Besatzungsmächten
gehörten
und
respektierten
Wortes
entgegentrat und auch für die Internierten Gerechtigkeit
forderte. In seiner mutigen Predigt am Karfreitag 1947 in der
Stuttgarter Markuskirche nahm er sich unter anderem auch der
körperlichen und geistigen Not der Internierten mit Hingabe an:
"Ich sprach kürzlich in dem politischen
Internierungslager Darmstadt, in dem über
10.000 Männer die wilde Kälte dieses
Winters fast schutzlos in Zelten überstehen
mußten.
Ich
durfte
als
einer
da
hindurchgehen, der in die Verzweiflung der
Seele, in die Pein der Leiber und in
zertrümmerte Hoffnungen das Evangelium des
Heilandes und den Trost des Kreuzes sprach.
Aber ich würde die Botschaft dieser Stunde
Lüge strafen, wenn ich nicht öffentlich für
die Beleidigten und Erniedrigten im Namen
dieses Heilandes eintreten wollte. Sie sind
dort gefangen - weithin ohne Richterspruch,
Greise
und
Jünglinge,
zum
Teil
in
automatischer Haft,
Schuldige
und
Unschuldige,
menschenunwürdig
und
47
seelenmörderisch".
1.
3. Bemühungen des IKRK um den völkerrechtlichen Schutz der
Zivilinternierten
In Anbetracht der katastrophalen Zustände im Lager Darmstadt
wandte sich die Lagerselbstverwaltung, voran der Vertrauensrat
der internierten Ärzte, am 20. Dezember 1946 in einem Brief an
den Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz
(IKRK) in Genf48, um ihn zu
46
47
48
454
Drigalski-Bericht, ebd.
Von Prof. Thielicke autorisierter Abdruck der Predigt als
Kopie vorhanden in RG 260/OMGUS 8/3-1/4
Schreiben der Lagerselbstverwaltung vom 20.12.1946 an das
IKRK; RG 260/OMGUS 8/57-1/30
bitten, sich mit den Lebensbedingungen im Lager Darmstadt zu
befassen.
Nach
einer
knappen
Schilderung
der
Zustände
appellierten sie an das IKRK: "Das Lager ist schwerstes
Notstandsgebiet geworden! ... Helfen Sie den Internierten in
ihrer körperlichen und seelischen Not! Entsenden Sie schnellstens
eine Kommission nach Darmstadt, und überprüfen Sie die einer
Katastrophe entgegentreibende Lage!" Die Lagerärzte gingen wohl
davon aus, dem Internationalen Roten Kreuz könne es aufgrund
seiner international anerkannten Stellung als - wie die Ärzte
selbst formulierten - "größten und stärksten weltlichen
Organisation im Dienste reinster Menschlichkeit" nicht schwer
fallen, bei den zuständigen Stellen eine Besuchserlaubnis für das
Lager Darmstadt zu erhalten. Diese Einschätzung war jedoch - wie
sich heraussteilen sollte - verkehrt.
a. Erstes
Gespräch
von
IKRK-Vertretern
mit
der
US-Militär-
regierung, September 1946. Denn bereits am 27. September 1946,
also vor der Übergabe der Lager an deutsche Behörden, hatten zwei
Repräsentanten des IKRK den US-Militärbehörden einen Besuch
abgestattet49. Anlaß dieses Besuches waren die mittlerweile auch
zum Internationalen Roten Kreuz durchgedrungenen Gerüchte über
schlechte Zustände in den Internierungslagern in der US-Zone,
aber auch die Praxis des CIC, eine große Anzahl der deutschen
Kriegsgefangenen
direkt
nach
ihrer
Entlassung
aus
der
Kriegsgefangenschaft als Zivilisten erneut zu verhaften.
Die IKRK-Vertreter wiesen zunächst darauf hin, das Internationale
Rote Kreuz wisse sehr wohl, daß die Zivilinternierten nicht durch
die Genfer Konvention geschützt seien und eine GefangenenKategorie bildeten, über die man bei Schaffung der Genfer
Konvention im Jahre 1929 nicht nachgedacht habe. Dennoch fühlten
die Internierten, daß sie als vorherige Feindstaaten-Angehörige
("exenemy nationals"), arrestiert von einer der Besatzungsmächte,
dem Verfahren nach ("technically") als
49
General White, Deputy Chief of Staff, "Memorandum for the
record" vom 27.9.1946, RG 260/OMGUS 3/167-2/23
455
Kriegsgefangene angesehen werden müßten, und dem Internationalen
Roten Kreuz deshalb gestattet werden sollte, Internierungslager
zu besuchen. Die Franzosen und Briten, stellte einer der beiden
Rot-Kreuz-Vertreter fest, hätten für ihre Zonen ihre Zustimmung
bereits erteilt, und das Internationale Rote Kreuz wünsche, ihm
die gleiche Autorität auch in der US-Zone zu gewähren. Es habe
einige Kritik an den Lagerbedingungen gegeben, und es sei deshalb
vorteilhaft, wenn sie von einer neutralen und internationalen
Kraft wie dem IKRK besucht würden. Der Gesprächspartner der
beiden IKRK-Repräsentanten, US-General White, trat diesem
Ansinnen des Roten Kreuzes jedoch nachdrücklich entgegen. Diese.
Angelegenheit, so White, sei bei den zuständigen US-Behören
bereits diskutiert worden. Aber weder General McNarney noch sein
Stellvertreter,
General
Clay,
seien
willens,
irgendeine
Verantwortlichkeit oder Verpflichtung des Internationalen Roten
Kreuzes in Verbindung mit den Zivilinternierten anzuerkennen.
Gegenwärtig (im September 1946) werde man solchen Besuchen
jedenfalls nicht zustimmen. Außerdem wies White zur Begründung
der amerikanischen Position zu dieser Frage noch darauf hin, daß
die meisten Interniertenlager in der Folgezeit in deutsche Hände
übergeben werden sollten. Wenn die Internierten aber erst einmal
unter deutsche Regierungsautorität fielen, dann hätten sie
denselben Status wie jeder andere Zivilgefangene, der von
irgendeiner Regierung festgehalten werde. Das IKRK habe dann
keine weitere Verantwortlichkeit oder Autorität auf diesem Gebiet
wie in den Vereinigten Staaten oder Frankreich auch, wenn es dort
verlange, zivile Gefängnisse oder Strafanstalten zu inspizieren.
Trotz dieser enttäuschenden Antwort General Whites brachten die
beiden Männer des IKRK aber auch ihr weiteres Anliegen noch zur
Sprache: die zivile Internierung deutscher Kriegsgefangener. Sie
machten White klar, daß das Internationale Rote Kreuz sehr
beunruhigt
sei
über
das
Verfahren
der
Entlassung
der
Kriegsgefangenen und ihre unmittelbare Wiederverhaftung und
Zurückhaltung als
Zivilinternierte. Dies sei eine Verletzung der Bestimmung der
Genfer Konvention, die den Kriegsgefangene festhaltenden Staat
verpflichte, dem Kriegsgefangenen alle seine Rechte und
Privilegien bis zu dem Zeitpunkt zu erhalten, zu dem er nach
Hause gebracht und entlassen werde. Aber auch diese Argumente
wollte White nicht gelten lassen. Die Repatriierung und
Entlassung deutscher Kriegsgefangener, so White, sei bei den
Amerikanern weiter fortgeschritten als bei irgendeiner anderen
Macht. Auch könne die Amerikaner niemand daran hindern,
Kriegsgefangene zu entlassen und sie an der nächsten Ecke als
Zivilisten erneut festzunehmen, wenn sie in eine der "ArrestKategorien" fielen50.
b.
Zweites
Gespräch
von
IKRK-Vertretern
mit
der
US-
Militärregierung, November 1946. Am 4. November 1946 versuchten
zwei weitere Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes ihr
Glück bei General White51. Die Anworten, die sie erhielten, waren
jedoch ebenso unbefriedigend wie einige Wochen zuvor. Die
mittlerweile unter deutscher Verwaltung befindlichen Lager
durften sie nicht besuchen, weil diesen angeblich der
"internationale" Status fehlte. Die von den US-Behörden noch
immer betriebenen Zivilinternierungslager durften sie nicht
besuchen, weil die Zivilinternierten keinen KriegsgefangenenStatus hatten. Dem Internationalen Roten Kreuz waren somit die
Hände gebunden, die Hoffnung der Internierten auf Hilfe von
dieser Seite war vergebens.
Scheinbar waren die beiden IKRK-Repräsentanten vom 4. November in
ihrem Engagement für die Internierten zurückhaltender als ihre
beiden Vorgänger. General White hielt nämlich in seiner
Aktennotiz Uber den Besuch fest, die beiden hätten bekundet, die
gegenwärtige Position der Amerikaner vollkommen zu verstehen.
Aber das IKRK habe das Gefühl, seit es wegen der Nichtvornahme
gleicher
Besuche
und
Inspektionen
in
deutschen
Konzentrationslagern während
50
51
White-Memorandum, 27.9.1946, ebd.
General White, Deputy Chief of Staff, "Memorandum for the
record" vom 4.11.1946; RG 260/OMGUS 3/167-2/23
457
des Krieges kritisiert worden sei, daß es sich durch ein Erheben
der Stimme und die Nachfrage nach einer Besuchserlaubnis selbst
schützen müsse. Trotz der ablehnenden Haltung der Amerikaner
scheint es dem IKRK aber Ende Oktober 1946 dennoch gelungen zu
sein, zwei Internierungslager zu besuchen (am 30. Oktober in
Moosburg, am 31. Oktober in Göggingen). Welche Feststellungen
dort getroffen werden konnten, ist jedoch nicht bekannt.
c. Reaktion von General Clay. Nach dem emphatischen Appell der
Darmstädter Lagerärzte in ihrem Brief vom 20. Dezember
1946 sah sich das Internationale Rote Kreuz erneut gezwungen,
bei den zuständigen Stellen vorzusprechen. Zuständige Stelle war
aber nicht nur der hessische "Befreiungsminister", sondern auch
die regionale Amerikanische Militärregierung für Groß-Hessen. Am
4. Januar 1947 erhielten zwei IKRK-Repräsentanten, die bei
Colonel Speidel nach einer Besuchserlaubnis für das Lager
Darmstadt
fragten,
überraschend
die
Antwort,
daß
von
amerikanischer Seite kein Einwand gegen den Besuch des Lagers
bestünde, sofern nur die Erlaubnis der zuständigen deutschen
Stellen vorliege. Die beiden Vertreter des Roten Kreuzes
statteten daraufhin dem Lager Darmstadt einen Besuch ab. Über das
Ergebnis berichteten sie Colonel Speidel in einem Schreiben vom
7. Februar 1947, in dem sie die unbefriedigenden Lagerbedingungen
kritisierten52. Der Inhalt dieses Schreibens wie auch die ganze
Vorgeschichte der Auseinandersetzung zwischen IKRK und USBehörden wurden an den Stellvertretenden Militärgouverneur,
General Clay, weitergeleitet. Dieser reagierte in einer Notiz an
General Keating, in der er befahl:
"I.R.C. has right and may visit our C. I.
enclosures which come under international
law. However, German C.I. enclosures come
under German law and are national, not
international. Since the I.R.C. nor other
international agencies are not as yet
authorized to
52
458
O.W. Wilson, "Note for record: Denying Access of International Red
Cross to German Civil Internment Enclosures" vom 21.2.47; RG
260/OMGUS 1947/77/6
deal with German Govt., there is no basis
for
their
investigation
of
German
enclosures. Moreover, there is too much
need for relief for non-Nazi Germans to
bring attention to relief of Nazis.
L.D.C."53
Der Befehl General Clays wurde unmittelbar in die Tat umgesetzt.
Telefonisch wurden die "Special Branch Offices" der drei Länder
in der US-Zone von dem Befehl Clays informiert (am 21. Februar
1947). Diese wiederum hatten die Entscheidung an den jeweiligen
"Befreiungsminister"
und
die
deutschen
Lagerkommandanten
weiterzuleiten54.
Der
Widerspruch
in
der
amerikanischen
Handlungsweise lag nun offen auf dem Tisch. Einerseits sollten
die Deutschen für die vom CIC eingerichteten Internierungslager
seit Herbst
1946 - soweit sie ihnen übergeben worden waren - allein
zuständig sein. Zum anderen aber nahm Clay als Stellvertretender
US-Militärgouverneur für sich das "Recht" in Anspruch, dem
jeweils zuständigen "Befreiungsminister" Vorschriften im Hinblick
auf die Besuchsregelung zu machen
und zwar nicht bezüglich irgendeiner
zwielichtigen
nationalen oder internationalen Organisation, sondern bezüglich
des Internationalen Roten Kreuzes, das zwangsläufig die Aufgaben
des nationalen Roten Kreuzes mit übernehmen mußte, da ein
nationales Rotes Kreuz seit 1945 in Deutschland nicht mehr
bestand.
d.
Antwort des zuständigen hessischen Ministers und
des Internationalen Roten Kreuzes. Die Reaktion des für das Lager
Darmstadt
zuständigen
hessischen
"Befreiungsministers" Binder ließ auch nicht lange auf sich
warten. Nachdem ihm die Instruktion Clays auch schriftlich
zugegangen war, antwortete er bereits am 24. Februar 1946 mit
einem Brief, in dem er - berücksichtigt man die eigentlichen
politischen Machtverhältnisse in der US-Zone zu der Zeit - doch
überraschend deutlich wurde und seine
53
54
Gen. Clay an Gen. Keating; RG 2 6 0 /OMGUS 1947/77/6
O.W. Wilson, "Note for the record", 21.2.1947; RG 2 6 O/OMGUS
1947/77/6
459
Rechte auch gegenüber der Besatzungsmacht einklagte55. In diesem
Brief wies er vor allem auf vier Punkte hin:
1. Das Lager Darmstadt sei ihm Ubergeben worden mit der Haßgabe,
daß die ganze Verwaltung des Lagers eine ausschließlich deutsche
Angelegenheit sei. Einzig und allein bei der Frage der Entlassung
Internierter seien ihm Weisungen der Besatzungsmacht vorgelagert.
Das Verbot für die Delegierten des Internationalen Roten Kreuzes,
das Lager zu betreten, betrachte er als Verletzung der deutschen
Lagerverwaltung.
2. Er selbst habe das größte Interesse daran, daß das Internationale Rote Kreuz sich um die Lagerbedingungen kümmere,
damit die Weltöffentlichkeit ohne irgendeine Übertreibung die
wirklichen Lagerbedingungen erfahre, und daß auf diesem Weg
einigen Gerüchten über menschlich empörende Bedingungen im
Darmstädter Lager, wie sie anscheinend unter der Bevölkerung
erkennbar seien, die Grundlage entzogen würde.
3. Daneben habe er auch deshalb ein Interesse daran, daß das
Internationale Rote Kreuz sich um das Darmstädter Lager kümmere,
weil er hoffe, daß das Komitee sich in einer Position befinde und
willens sei, Lieferungen solcher Güter zu erleichtern, die den
deutschen Behörden nicht zur Verfügung stünden und mit denen man
auch nicht von einer anderen Seite versorgt werden könnte.
4. Er habe die größten Bedenken im Hinblick auf die Wirkung, die
die OMGUS-Weisung bei der deutschen Bevölkerung hervorrufe, da es
allgemein bekannt sei, daß während der nationalsozialistischen
Ära das Internationale Rote Kreuz keinen Zutritt zu den
Konzentrationslagern gehabt habe. Aufgrund dieser Tatsache
könnten kritisch eingestellte Elemente ("ill-disposed elements")
unzulässige Vergleiche anstellen, die er als die für das Lager
verantwortliche Persönlichkeit unter allen Umständen vermeiden
müsse.
55
460
Binder an OMG Hessen mit der Bitte um Weiterleitung an OMGUS, RG
260/OMGUS 3/167-2/23
Aber auch das Internationale Rote Kreuz selbst ging nun noch
einmal in die Offensive. In einem Schreiben vom 24. Februar 1947
an die Amerikanische Militärregierung in Berlin56 wartete die
neutrale und international anerkannte Hilfsorganisation nun mit
neuen Fakten auf. Wie fast alle anderen kriegführenden Nationen
auch, so das IKRK, habe auch die US-Regierung während des Krieges
dem Internationalen Roten Kreuz mitgeteilt, die Genfer Konvention
Uber Kriegsgefangene von 1929 werde von ihr auch auf
Zivilinternierte angewendet. Die amtliche Mitteilung vom 24.
Januar 1944 habe den Wortlaut:
"The policy of the Government of the United
States is to treat German Civi- lian
Internees conforming to the dispositions of
the Convention of 1929, in such a measure
as it can be applied to civilians."
Außerdem sei die Genfer Kriegsgefangenen-Konvention nicht mit der
Absicht geschaffen worden, die humanitären Aktivitäten des
Internationalen Roten Kreuzes zu begrenzen. Artikel 79 dieser
Konvention sage vielmehr: "Vorstehende Bestimmungen dürfen nicht
so ausgelegt werden, als sollten sie die menschenfreundliche
Tätigkeit
des
Internationalen
Komitees
vom
Roten
Kreuz
einschränken". Ganz anders verhalte sich auch die amerikanische
Militärregierung in Japan. Sie erlaube den Delegierten des
Internationalen Roten Kreuzes den Besuch von Internierungslagern.
Inwieweit diese Argumente die Verantwortlichen in der amerikanischen Militärregierung davon überzeugen konnten, daß eine
Inspektion der Lager durch das IKRK notwendig war, ist nicht
bekannt. Jedenfalls scheint es aber noch im März 1947 eine
Besichtigung des Lagers Darmstadt durch Rot-Kreuz- Vertreter
gegeben zu haben, deren genaues Ergebnis
56
E. Meyer, Chief of the Delegation of the ICRC, Special
Delegation, Berlin, an OMGUS, Chief of Staff, Gen. Gailey,
"Subject: Authorization for visits of Civilian Installations in
the US-Zone of Germany by Delegates of the International
Committee of the Red Cross"; RG 260/OMGUS 3/167-2/23
461
allerdings nicht bekannt ist57. Erst im Laufe des nächsten Jahres
kam es dann zu größeren Entlassungen aus den Lagern, die
vornehmlich im Zuge einer Neuordnung der Entnazifizierung im
Frühjahr 1948 durchgeführt wurden. Das letzte Arbeitslager, in
dem Zivilinternierte festgehalten wurden, wurde jedoch erst 1952
geschlossen58.
II. Der Non-Fraternization-Befehl
Bestrafung
als
Maßnahme
kollektiver
Zu den eigenartigsten besatzungspolitischen Maßnahmen der USArmee in Deutschland gehörte zweifellos der sogenannte NonFraternization-Befehl.
Dieser
Befehl
richtete
sich
zwar
unmittelbar nur an die amerikanischen Soldaten, war jedoch in
seiner geplanten Wirkung ganz auf das deutsche Volk in seiner
Gesamtheit gezielt. Wie schon oben festgestellt wurde, war dieser
Befehl sowohl in FM 27-5 als auch in CCS 551 und JCS 1067
durchgehend enthalten59 und wurde während der amerikanischen
Planungsphase nie von irgendeinem Ministerium in Frage gestellt.
11. 1. Inhalt und Zweck des Non-Fraternization-Befehls vom
12. September 1944
Als die amerikanischen Einheiten im September 1944 erstmals
deutschen Boden betraten und ein Kontakt mit der Zivilbevölkerung, aber auch mit den noch verbliebenen Beamten und
festgenommenen Soldaten nicht mehr länger zu umgehen war, galt es
für den Oberbefehlshaber, General Eisenhower, das bis dahin nur
abstrakt
formulierte
Fraternisierungsverbot
für
die
amerikanischen Soldaten zu konkretisieren und ihnen den Sinn und
Zweck verständlich zu machen. Schon am 12. September 1944 erließ
er
eine
Direktive,
die
das
Verhältnis
der
alliierten
Besatzungstruppen zur deutschen Bevölkerung
57
58
59
462
Vgl. den diesbezüglichen Hinweis bei E. Kogon, Der Kampf um
die Gerechtigkeit, S. 375
Vgl. Chr. Schick, Die Internierungslager, S. 323 ff.
Vgl. oben 1. Teil, II.2. und IV.5. ff.
für die ihm unterstehenden Soldaten verbindlich regeln sollte60.
In dieser Direktive stellte Eisenhower Überlegungen zur deutschen
Geisteshaltung und Propaganda an und legte Maßnahmen fest, mit
denen er den erwarteten deutschen Beeinflussungsversuchen
gegenüber alliierten Soldaten von Anfang an begegnen wollte.
Wegen der größeren Schäden durch Luftangriffe, den möglichen
Bodenkämpfen
innerhalb
Deutschlands
und
der
intensiven
nationalsozialistischen Indoktrination erwartete er einen weit
tieferen und viel allgemeineren Haß als 1918. Die deutsche
Vorstellung von sich selbst als einer "Herrenrasse" sei zu stark
eingepflanzt worden, als daß sie sofort ausgerottet werden
könnte. Viele Deutsche würden die Niederlage nur als eine
vorübergehende Phase akzeptieren in einem fortwährenden Kampf,
und große Anstrengungen würden ohne Zweifel darauf gerichtet
sein, eine beherrschende Stellung in Europa zurückzugewinnen. Bei
SHAEF erwartete man deshalb eine enorme, gegen die Alliierten
gerichtete Untergrundbewegung. Da die Deutschen sich wegen der
alliierten Überwachung von einer offenen Propaganda durch Presse
und Radio wahrscheinlich nicht viel versprechen würden, erwartete
SHAEF eine Mund-zu-Mund-Propaganda ("word-of-mouth- propaganda")
unter der Anleitung von Untergrundbehörden61. Für die SHAEFOffiziere stand fest, daß ihnen von jedem Deutschen, vor allem
von Frauen, Kindern und alten Menschen, Gefahr drohe. Jegliches
Differenzierungsvermögen war in diesem Moment ausgeschaltet:
"Its methods will include attempts at
fraternization by civilians (especially by
children, women, and old men); attempts at
'soldier-to-soldier' frater-
60
Gen. D.D. Eisenhower, SCAEF, "Subject: Policy, Relationship Between
Allied Occupying Troops and Inhabitants of Germany", App. "A":
"Policy on Relations Between Allied Occupying Forces and Inhabitants
of Germany", 12.9.1944; RG 2 6 O/OMGUS 44- 45/2/3; RG 331 Hq. 12th Army
Group, General Staff, G-l Section, Operations Branch, Subject
Corresp. File 1944-1945, Box Nr. 6 (Matters Affecting Morale to
Occupational Policy- Non-Fraternization)
61
Gen. D.D. Eisenhower, App "A", 12.9.1944, ebd., Abs. Nr. 1
463
nization; and social,
ligious contacts."62
official
and
re-
Um jeglicher Gefahr oder Beeinflussung und "geistigen Vergiftungen" durch die deutsche Bevölkerung zu entgehen, sollte
deshalb jeglicher Kontakt mit ihnen verhindert werden, von
unumgänglichen offiziellen Kontakten einmal abgesehen. Der NonFraternization-Befehl sah deshalb vor:
1. Die Einquartierung von Offizieren und Soldaten in Häusern der
Bevölkerung wurde verboten. Separate Quartiere sollten beschafft
werden durch den Gebrauch massiver Baracken, Schulen und anderer
öffentlicher Einrichtungen, durch die Requirierung von Hotels,
privater Gebäude und Häuser oder durch die Benutzung von
Baracken- oder Zeltlagern. Dauernde Unterkünfte sollten so
lokalisiert sein, daß der Kontakt mit der deutschen Bevölkerung
auf ein Minimum beschränkt würde.
2. Heirat mit Deutschen oder dem Personal anderer Feindstaaten
wurde verboten.
3. Wann immer möglich sollten von alliierten Feldgeistlichen
duchgeführte Gottesdienste vorbereitet werden. Falls dies nicht
möglich war, wurde auch die Anwesenheit in deutschen Kirchen
erlaubt. In diesem Fall mußte jedoch eine separate Sitzverteilung
für die Soldaten vorgesehen sein.
4. Weiterhin wurde ausdrücklich verboten: Besuch in deutschen
Häusern, Trinken mit Deutschen, Deutschen die Hand zu geben, mit
ihnen zu spielen oder Sport zu treiben, ihnen Geschenke zu geben
oder
solche
von
ihnen
entgegenzunehmen,
an
deutschen
Tanzveranstaltungen oder sonstigen gesellschaftlichen Ereignissen
teilzunehmen, Deutsche auf der Straße, in Theater, Gaststätten,
Hotels oder anderswohin zu begleiten (mit Ausnahme offizieller
Angelegenheiten) , Diskussionen und Debatten mit Deutschen,
insbesonders über Politik und die Zukunft Deutschlands zu
führen63.
62
63
464
Gen. D.D. Eisenhower, ebd.
Gen. D.D. Eisenhower, ebd., Abs. Nr. 7
Offizielle Kontakte mit Deutschen sollten auf das notwendige
Minimum beschränkt werden. Das damit betraute alliierte Personal
sollte mit den Deutschen "gerecht, aber hart" ("just, but firm")
verkehren64.
Der Zweck von Non-Fraternization lag aber nicht nur darin, die
alliierten Soldaten vor der durch die deutsche Bevölkerung
vermeintlich drohenden Propagandagefahr zu schützen, sondern
sollte den Deutschen selbst - ausnahmslos vor Augen führen, daß
sie alle aufgrund ihres vorangegangenen Verhaltens gar nichts
anderes als das sich durch den Non-Fraternization-Befehl
ausdrückende Mißtrauen der anderen Völker verdient hätten.
Dementsprechend hieß es in General Eisenhowers Anweisung:
"They (die Deutschen, d. Verf.) must learn
this time, that their support and tolerance
of militaristic leaders, their acceptance
and furtherance of racial hatreds and
persecutions, and their aggressions in
Europe have brought them to complete
defeat, and have caused the other people of
the world to look upon them with distrust."65
Die Direktive Eisenhowers vom 12. September 1944 wurde später
wortwörtlich in das SHAEF-Handbuch für die militärische Besetzung
Deutschlands vom November 1944 übernommen66.
II.2. Hintergründe des Befehls
Gerade
Ausdruck
die
der
Non-Fraternization-Politik
weit
verbreiteten
und
war
ein
signifikanter
mittlerweile
auch
in
Washington und in der Armee vorherrschenden Ansicht, nicht
64
65
66
Gen. D.D. Eisenhower, ebd., Abs. Nr. 6
Gen. D.D. Eisenhower, ebd., Abs. Nr. 5
Vgl. SHAEF Post-Hostilities Handbook Governing Policy and Procedure
for the Military Occupation of Western Europe Following the Surrender
of Germany (Kurztitel: SHAEF Post- Hostilities Handbook), Nov. 1944,
Chapter XIV, Nr. 626 ff.; RG 260/OMGUS 7/41-2/4
465
der
Nationalsozialismus
und
bestimmte,
diese
Ideologie
verkörpernde Personen oder Gruppen seien in diesem Krieg zu
bekämpfen, sondern das ganze deutsche Volk, dessen Charakter sich
im
Nationalsozialismus
lediglich
politischideologisch
verkörpert habe. Max Rheinstein, der diese Sichtweise selbst auf
das entschiedenste ablehnte, meinte später, die Politik der NonFraternization sei motiviert gewesen
"by the fear that American personnel might
be infected by the Nazi poison; a result of
the prejudice that all Germans are Nazis.
...These
instructions
(zur
Entnazifizierung, d. Verf.) obviously were motivated
by the idea that all Germans were Nazis and
that you cannot trust any single one of
them. We were neatly caught in our own war
propaganda which, for reasons which are
still obscure, obliterated the fact that
the very first victim of the Nazis had been
the German people themselves and that a
clear distinction had to be made between
nonNazi Germans and Nazis."
Noch viel schärfer und uneinsichtiger als Eisenhower formulierte
diese Haltung gegenüber den Deutschen der Kommandierende General
der 12. Armee-Gruppe, Generalleutnant Omar N. Bradley, in einer
Anweisung an seine Organisationskommandeure am 4. Dezember 1944,
in der er den Non-Fraternization-Befehl zu rechtfertigen suchte:
"We must emphasize that we are not just
fighting Hitler and his crowd; we are
fighting the whole German nation. This is a
total war. It is each one of the German
people who has made it that kind of war. If
they had not been led by Hitler, they would
have been led by
67
466
M. Rheinstein, Military Government in Germany, A 1361, der das
langsame Tempo der sich nur allmählich entwickelnden
Demokratisierung insbesondere auf die fehlgeleitete Einstellung der
Amerikaner zu den Deutschen zurückführte: "If we had not been
misguided by hatred, prejudice, and propaganda, if we had not fallen
for Goebbels vicious lie that
98 percent of the German people were Nazis, we might have a sound
democracy in our zone already now (1947)", ebd., A 1362
someone else with the same ideas. The
German people relish war, and are determined to use it until they rule the
world and impose their way of life on us."
Und über die nationalsozialistischen Verbrechen ergänzte der
General:
"These crimes must be shared by the whole
German nation. Each German civilian must be
made to realize that we cannot forgive such
conduct. Until they have proven by many
years of proper dealing that they again
merit some consideration and trust, they
cannot be accepted as members of the family
of civilized nations."68
II.2. Non-Fraternizatlon und die deutsche Bevölkerung
Die praktische Umsetzung dieses Kollektivschuldurteils durch die
alliierten
Soldaten
und
Offiziere
in
Form
jeglicher
Kontaktverweigerung gegenüber der deutschen Bevölkerung barg
jedoch gewichtige Schwierigkeiten, die den Unterschied zwischen
Theorie und Praxis offenkundig werden ließen. Die vorrückenden
alliierten Einheiten trafen nämlich auf keinen nennenswerten
Widerstand von Untergrund-, speziell Werwolf-Organisationen,
sieht man von der Ermordung des von den Amerikanern eingesetzten
Aachener Bürgermeisters einmal ab69. Auch traten die Deutschen den
einrückenden
Truppen
keineswegs
feindlich
oder
in
Propagandaabsicht entgegen; sie waren größtenteils freundlich und
hilfsbereit, was die Soldaten den Widerspruch zwischen Propaganda
und Wirklichkeit ahnen ließ. Ein Beobachter der Psychological
Warfare Division von SHAEF berichtete konsterniert, nachdem er
sich selbst ein Bild von der deutschen Bevölkerung gemacht hatte:
68
69
Lt. Gen. O.N. Bradley, Comm. Gen., Hq. 12th Army Group, an
Organization Commanders, 12th Army Group, "Subject: NonFraternization", 4.12.1944; RG 331 Hq. 12th Army Group, General
Staff, G-l Section, Operations Branch, Subject Correspondence
File 1944-1945, Box Nr. 6 (Matters Affecting Morale to
Occupational Policy-Non-Fraternization)
Vgl. E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany
1944-1946, S. 184, 245 f.
467
"... the crossing of the German frontier is
something of a shock. Even in Nazi Germany
the cows have four legs, the grass is
green, and children in pigtails stand
around the tanks. Self- indoctrination by
years of propaganda make it a shock to
rediscover these trivialities. All the
officers with whom we spoke reinforced
this. The people left behind in this area
are human beings with a will to survive."70
Aber insbesondere den militärischen und politischen Entscheidungsträgern in Washington und im alliierten Hauptquartier
fiel
ein
Umdenken
angesichts
der
offensichtlichen
Fehleinschätzung der deutschen Bevölkerung in den besetzten
Gebieten schwer. Eisenhower ging in seinem Mißtrauen sogar so
weit, in seiner Zeit als Militärgouverneur selbst offiziellen
Kontakten mit den Deutschen auszuweichen, indem er fast alle
Verhandlungen an die Mitglieder seines Stabes delegierte71. Für
Botschafter Robert Murphy handelte es sich bei der NonFraternization schlicht um "eine Art Rassentrennung nach gutem
Vorbild unserer 'Segregation'"72. Als der von den Amerikanern
eingesetzte Bürgermeister von Aachen und der Bischof von Aachen
bei einem Besuch im Hauptquartier der Militärregierung von allen
anwesenden Offizieren mit Handschlag begrüßt wurden, nahm er das
zum Anlaß, noch einmal alle nachdrücklich auf die entsprechenden
Vorschriften aufmerksam zu machen73.
70
71
72
73
468
E.F. Ziemke, ebd., S. 139, vgl. auch S. 142 f.
R. Murphy, Diplomat unter Kriegern, S.346, der fortfährt:
"Eisenhower und Truman in ihrer ablehnenden und mißtrauischen
Haltung gegenüber den Deutschen verkörperten geradezu die Gefühle
von Millionen Amerikanern. In den achtzehn Tagen, die Truman in
Potsdam war..., hat er nicht einmal den Wunsch geäußert, mit
deutschen Politikern der Opposition gegen Hitler offiziell oder auch
nur privat zusammenzutreffen; und fast alle in der Umgebung des
Präsidenten folgten seinem Beispiel."
R. Murphy, ebd., S. 347
R. Murphy an Secr, of State, "Subject: Visit to Aachen",
27.11.1944, S. 3, RG 260/OMGUS POLAD/826/15
II.4. Non-Fraternization als kollektive Strafmaßnahme
Anfang 1945 tauchte in der amerikanischen Besatzungsarmee die
Frage nach der Strafbarkeit von Verstößen gegen die NonFraternization-Politik
auf.
Daß
die
Angehörigen
der
amerikanischen Besatzungstruppen, an die Eisenhowers Befehl
ergangen war, bei Zuwiderhandlungen mit Strafe rechnen mußten,
war sicher. Die gegen sie verhängten Urteile in Form von
Geldstrafen führten schon bald zu bestimmten Sätzen für bestimmte
Delikte74. Problematischer war die mögliche Bestrafung deutscher
Zivilisten, an die nie ein Befehl der Non-Fraternization
gerichtet wurde. Außerdem hatte diese Politik selbst bereits den
Charakter einer kollektiven Bestrafung aller Deutscher, da sie
das
ganze
deutsche
Volk
unabhängig
von
individueller
strafrechtlicher Schuld diskriminierte, indem es nicht als wert
angesehen wurde, mit den anderen Nationen auf einer Ebene zu
stehen, die für das Zusammenleben der Menschen - auch
unterschiedlichster Nationalität - normal ist.
Bei SHAEF kam man zu dem Ergebnis, daß Non-Fraternization eine
interne Politik der Alliierten Expeditionsstreitkräfte sei,
"to impress upon the Germans the prestige
and superiority of the Allied Armies and to
demonstrate to the Germans the fact of
their complete defeat. To enforce that
policy by punishing Germans is contrary to
the reasons underlying it."75
Die Zwei-Klassen-Gesellschaft zwischen Besatzern und besetzter
Bevölkerung, ausgedrückt durch die gesellschaftliche Ächtung der
letzteren durch eine Politik des strafenden Ignorierens, wäre
dann nicht mehr aufrechtzuerhalten gewesen, da man sich mit denen
der zweiten Klasse notgedrungen hätte auseinandersetzen müssen.
Ihren krassesten Ausdruck
Vgl. E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany
19441946, S. 161
Brig. Gen. T.J. Davies, SHAEF, "Subject: Non-Fraternization
Germans", Febr. 1945; RG 260/OMGUS POLAD/736/2
by
469
erfuhr die amerikanische Theorie von den zwei Klassen in
Deutschland, Alliierte einer-, Deutsche andererseits, in einer
Stellungnahme des US-Außenministeriums zur Rechtmäßigkeit des
strikten Heiratsverbotes zwischen Besetzern und Besetzten für den
Fall, daß dieses in einem Militärregierungs-Gesetz noch einmal
festgeschrieben würde. Robert Murphy erhielt Ende Januar 1945
eine Mitteilung aus dem State Department, das er an SHAEF
weiterleitete. In dieser Mitteilung wurde darauf verwiesen, es
sei ein anerkannter Rechtsgrundsatz, daß jede Besatzungsmacht die
existierenden Gesetze für jeden militärischen Zweck ändern oder
aufheben könne. Falls Eisenhower der Meinung sei, daß das ins
Auge gefaßte Militärregierungs-Gesetz im Hinblick auf die Heirat
von Angehörigen der Alliierten Expeditionsstreitkräfte wirklich
eine militärische Notwendigkeit sei, sehe das US-Außenministerium
keine dagegen gerichteten rechtlichen Einwände76. Murphy teilte
SHAEF auch mit, was das Außenministerium zur Begründung seiner
These noch angeführt hatte, um das Heiratsverbot rechtlich
abzusichern:
"It is pointed out that the laws of certain
states of the Union forbid, as a matter of
public policy, marriages between certain
classes of people."77
Kollektivschulddenken und kollektive Bestrafung durch gesellschaftliche Degradierung und Diskriminierung wurden mit dem
Kriegsende und nachher gegenüber den ursprünglich ins Feld
geführten Sicherheitsinteressen absolut vorrangig. Daß Artikel 50
HLKO eine derartige kollektive Bestrafung verbietet, wurde nicht
berücksichtigt.
Da die amerikanischen Soldaten aber alles andere taten, als sich
an den Non-Fraternization-Befehl zu halten78, wurden schon bald
Überlegungen angestellt, wie insbesondere dem
76
77
78
470
R. Murphy an Ass. Chief of Staff, G-l, 27.1.1945; RG 260/OMGUS
POLAD/736/2
R. Murphy, ebd.
Vgl. nur E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany
1944-1946, S. 321 ff.; M. Hiller, Die Invasion der Be- freier, S. 177
f., 186 ff.
Verkehr der Soldaten mit deutschen Frauen Einhalt geboten werden
könnte. Der amerikanische Generalmajor Walter E. Lauer schlug
deshalb am 5. Juli 1945 vor, das Außenministerium solle ein
Gesetz erlassen, das Deutschen für die nächsten zehn Jahre die
Einreise in die Vereinigten Staaten zum Zweck der Niederlassung
und der Erlangung der Staatsangehörigkeit verbiete79. Daß die USBesatzungstruppen den Non-Fraternization-Befehl ganz primär als
Bestrafungsmaßnahmen gegen die Deutschen als Volk auffaßten, ließ
auch Lauer in der folgenden Aussage erkennen:
"It is felt that the non-fraternization
regulation exists primarily to punish the
German people as a whole and to impress
upon them most forcefully that they are
undesirable to associate with our troops
and our citizens."80
Diese Einstellung war durchaus kein Einzelfall. Sie war im und
unmittelbar nach dem Krieg in Amerika vorherrschend, weil sie
glaubte, die Deutschen schlechthin mit dem Nationalsozialismus
gleichsetzen zu können. Als die ersten Pressefotos in
amerikanischen Zeitungen deutsche Zivilisten, im allgemeinen
Frauen und kleine Kinder zeigten, die US-Soldaten grüßten, ging
bereits ein merkliches Rumoren in den USA um, und Roosevelt ließ
- im September 1944 - Eisenhower persönlich auffordern, jegliche
"Fraternisierung" zu unterbinden81. Ähnliche Reaktionen folgten,
als ein hoher amerikanischer Offizier Göring die Hand gab, und
dieses Bild in den USA verbreitet wurde82. Die antideutsche,
germanophobische Stimmungslage in den Vereinigten Staaten machte
es besonnenen Köpfen auch nach dem Ende des Krieges noch schwer,
Gehör in der Öffentlichkeit zu finden.
79
80
81
82
Maj. Gen. W.E. Lauer,
Hq., 99th Infantry Div., Memo., an Comm.
General, 12th Army Group, 5.7.1945, Abs.Nr. 1; RG 2 6 0 /OMGUS
POLAD/736/4
Maj. Gen. W.E. Lauer,
ebd., Abs. Nr. 2
E.F. Ziemke, The U.S.
Army in the Occupation of Germany, 19441946, S. 98
E.F. Ziemke, ebd., S.
321 f.
471
U.S. AbmiIderung des Befehls
Allmählich änderte sich diese Situation jedoch zumindest im
Hinblick auf den Non-Fraternization-Befehl83. Die ersten Schritte
zur Lockerung des Fraternisierungsverbots wurden in der
britischen Zone vollzogen. Feldmarschall Montgomery erließ am 12.
Juni 1945 einen Befehl, der es den britischen und kanadischen
Soldaten von nun an gestattete, mit kleinen deutschen Kindern zu
sprechen und zu spielen. Klarstellend wurde jedoch darauf
verwiesen, daß das absolute Verbot des Kontakts mit deutschen
Mädchen und Frauen in vollem Umfang und ohne Einschränkung
bestehen blieb84. Nach eingehenden Beratungen zwischen dem
britischen und amerikanischen Oberkommando wurde das Verbot für
die britischen und amerikanischen Truppen im Juli 1945 noch
einmal abgemildert. Danach war es ebenfalls erlaubt, sich mit den
Deutschen auf der Straße und in öffentlichen Lokalen in Gespräche
einzulassen. Verboten blieb aber weiterhin, die Deutschen in
ihren Häusern zu besuchen. Auch durfte nicht zugelassen werden,
daß Deutsche - außer in dienstlichen Geschäften - von Alliierten
benutzte Räumlichkeiten betraten. Montgomery brachte die ganze
Angelegenheit im September im Kontrollrat zur Sprache und
erreichte es, daß das Fraternisierungsverbot mit Wirkung vom 1.
Oktober 1945 aufgehoben wurde. Danach blieben nur noch zwei
Befehle bestehen: Kein Soldat durfte bei einer deutschen Familie
einquartiert werden, und keiner durfte eine deutsche Frau
heiraten85. Erst im August 1946 beschloß die britische Regierung,
das bestehende Eheverbot für die Fälle
83
84
85
472
Vgl. E. Schwinge, Die Lage bis zum Stuttgarter
Schuldbekenntnis, in: Veröffentlichungen der
Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt, 15. Bd.
(Ingolstädter Vorträge 1984), der anhand der Auswertung
amerikanischer Zeitungsberichte der ersten Monate nach
Kriegsende das Stimmungsbild in den Vereinigten Staaten
hinsichtlich der Deutschen analysiert und dabei auch das
Fraternisierungsverbot behandelt.
Keesings Archiv der Gegenwart 1945/1946, 14.6.1945, S. 271 B
Keesings Archiv, ebd., 14.7.1945, S. 321 ff.; V. Montgomery,
Memoiren, S. 416, merkt beinahe entschuldigend an: "Mir hatte der
Befehl nie gefallen, aber ich mußte ihn erlassen, denn die Politik
der Alliierten verlangte es so."
aufzuheben, in denen die Ehe gut begründet werden könne und keine
Sicherheitseinwände erhoben würden86.
III. Dia Schutzlosstellung deutscher Kriegsgefangener durch die
Alliierten
III.l.
Eisenhower
macht
sich
den
Inhalt
der
Kapitulations-
urkunde zunutze
Wie wir oben bereits gesehen haben87, erreichten die britische und
die amerikanische EAC-Delegation gegen sowjetischen Widerstand
und die rechtlichen Bedenken, ja Ablehnungen durch die
rechtskundigen Stellen in Washington, die Aufnahme eines Artikels
(2.b.) in die Kapitulations- Urkunde, der den jeweiligen
militärischen
Oberbefehlshaber
ermächtigen
sollte,
gefangengenommene deutsche Soldaten nach eigenem Gutdünken zu
Kriegsgefangenen zu "erklären", was die entsprechende Behandlung
gemäß der Genfer Konvention nach sich ziehen mußte, oder ihnen
ihren völkerrechtlich geschützten Status "abzusprechen". Der
Judge Advocate General wies zwar mit Nachdruck darauf hin, eine
solche Dispositionsbefugnis stehe
den
militärischen
Oberbefehlshabern nicht zu, weil die Soldaten, sobald sie in die
Hand des Feindes fielen, automatisch zu Kriegsgefangenen würden
und deshalb bis zu ihrer Repatriierung in die Heimat einen
Anspruch auf Behandlung nach der Genfer Konvention hätten. Doch
setzten sich die politischen Planer über diese Einwände hinweg.
Noch bevor sich die Delegationen in London Ende Juli 1944 über
das Kapitulations-Dokument einigten, brachte der militärische
Beratet der amerikanischen Delegation, General Meyer, aus
Washington die Nachricht mit, daß nach der Beendigung der
Feindseligkeiten die Amerikaner keine deutschen Streitkräfte zu
Kriegsgefangenen
erklären
wollten
("...
that
after
the
termination of hostilities we would not
86
87
Keesings Archiv, ebd., 3.8.1946, S. 835 ff.
Vgl. oben 2. Teil, IV.3.-5.
473
declare any of the German armed forces prisoners of war.")88.
a.
Eisenhowers
Anfrage
in Washington, 10. März 1945. Die scheinbaren Möglichkeiten zur
Umgehung der Genfer Konvention, die die Kapitulations-Urkunde
enthielt, gedachte General Eisenhower im Frühjahr 1945 zu nutzen.
Am 10. März 1945 fragte er bei den CCS in Washington um eine
Genehmigung nach, unter Verweisung auf Artikel 2 (b) der
Kapitulations-Urkunde
entsprechende Erklärungen abgeben zu
dürfen, obwohl die Absicht bestehe, so Eisenhower, die
Verantwortung für die Ernährung und sonstige Versorgung aller
Kriegsgefangenen der Alliierten und der verschleppten Personen
den deutschen Behörden zu übertragen, werde damit gerechnet, daß
diese Aufgabe in dem wahrscheinlich herrschenden Chaos die
Möglichkeiten dieser Behörden überschreite und daß die Alliierten
vor
der
Notwendigkeit
stehen
würden,
sehr
große
Nahrungsmittelmengen bis zur Repatriierung bereitzustellen.
Die
zusätzliche
Versorgungsverpflichtung, die mit der Erklärung der deutschen
Streitkräfte zu Kriegsgefangenen verbunden sei und die die
Bereitstellung von Rationen in einem Ausmaß erforderlich machen
würde, die dem Bedarf der eigenen regulären Truppen entspreche,
würde sich als weit jenseits der Möglichkeiten der Alliierten
erweisen, selbst wenn alle deutschen Quellen angezapft würden.
Darüber hinaus sei es nicht wünschenswert, den deutschen
Streitkräften Rationen zuzuteilen, die weit über das für die
Zivilbevölkerung verfügbare Maß hinausgingen. Es sei deshalb
beabsichtigt, alle Angehörigen der deutschen Streitkräfte, die
nach der Einstellung der Feindseligkeiten gefangengenommen
würden, als "entwaffnete deutsche Truppen" ("disarmed German
troops") zu behandeln bis ihre Entlassung unter Verwaltung und
Versorgungspflicht der deutschen Wehrmacht unter Aufsicht durch
alliierte Streitkräfte vollzogen sei. Eisenhower rechnete damit,
daß in der Endphase vor der
88
474
Col. T.W. Hammond, jr., Ass. Military Adviser, EAC,
"Memorandum for the Secretary, Joint Chiefs of Staff",
"Subject: European Advisory Commission", 21.7.1944; RG
260/OMGUS AGTS/85/1
Einstellung der Feindseligkeiten die Deutschen in großer Zahl
kapitulieren würden. Er teilte deshalb den CCS weiter mit, es sei
beabsichtigt, es in das Ermessen der Oberbefehlshaber zu stellen,
unmittelbar nach Beendigung der Feindseligkeiten auch solche
Kriegsgefangenen aus ihrem Kriegsgefangenen-Status zu entlassen,
die noch nicht aus Deutschland fortgeschafft seien. Er bat die
CCS um ihre Zustimmung zu einer derartigen Vorgehensweise und
merkte an, bestehende Pläne seien bereits auf dieser Basis
ausgearbeitet worden89.
Nachdem man in London 1944 versucht hatte, mit einer nicht
haltbaren juristischen Begründung all jenen deutschen Soldaten
ihren
Kriegsgefangenen-Status
abzuerkennen,
die
nach
der
Kapitulation in alliierten Gewahrsam genommen würden, wollte
Eisenhower diesen ohnehin schon großen Kreis nun auch noch auf
die Kriegsgefangenen ausdehnen, die bereits vor der Kapitulation
der deutschen Streitkräfte festgenommen worden waren. Ihnen war
ihr völkerrechtlicher Status ebenfalls zu nehmen, soweit sie noch
irgendwo auf deutschem Boden von den Alliierten festgehalten
wurden. Diese Einschränkung auf Deutschland hatte seinen Sinn
daher, daß die aus Deutschland nach Frankreich zu überstellenden
deutschen Kriegsgefangenen nach der Genfer Konvention behandelt
werden sollten90. Noch am 18. April 1945 erließ Eisenhower einen
Befehl, nach dem das bis dahin gefangengenommene "deutsche
Personal" weiterhin den gegenwärtigen Kriegsgefangenen-Status
beibehalte. Grund für diesen Befehl waren jedoch nicht rechtliche
oder humanitäre Erwägungen, sondern der Gedanke an die noch in
deutscher Hand befindlichen alliierten Kriegsgefangenen91. Noch
hätten die Deutschen die Gelegenheit gehabt, mit ihren
amerikanischen Kriegsgefangenen ähnliches zu tun und auch ihnen
ihre Stellung abzuerkennen und möglicherweise zu Repressalien zu
greifen. Erst wenn der letzte deutsche Widerstand gebrochen
89
90
91
J. Bacque, Der geplante Tod. Deutsche Kriegsgefangene in
amerikanischen und französischen Lagern, S. 42; SHAEF an War Dep.,
10.3.1945, RG 260/OMGUS 5/265-2/6-8
Dazu noch unten, 4. Teil, IV.
SHAEF an USGCC U.a., 18.4.1945, Abs. Nr. 4; RG 260/OMGUS 4445/17/3
475
sein würde und der letzte alliierte Kriegsgefangene sich in
Freiheit befinden würde, so war wohl Eisenhowers Überlegung,
konnte man zu den geplanten Maßnahmen schreiten ohne von
irgendeiner Seite Angriffe fürchten zu müssen.
b. Antwort des "Combined Civil Affairs Committee". In Washington
wurde Eisenhowers Anfrage zwischenzeitlich dem "Combined Civil
Affairs Committee" zur Begutachtung vorgelegt. Auch dort teilte
man die Meinung, es sei nicht ratsam ("inadvisable") alle ,
deutschen Streitkräfte zu Kriegsgefangenen zu erklären. Die
alliierten Kommandeure sollten ermächtigt werden, auch den
Kriegsgefangenen-Status derjenigen deutschen Truppen zu beenden,
die vor der Kapitulation oder der Niederlage gefangengenommen
worden seien und zu diesem Zeitpunkt noch in Deutschland
zurückgehalten würden92. Außerdem ließ das "Combined Civil Affairs
Committee" keinen Zweifel daran, daß es nicht unbedingt die
Nahrungsmittelknappheit war, die die Amerikaner und Briten zu
diesem Vorgehen veranlaßte. Die Entmilitarisierung Deutschlands
sollte auch vor dem einfachen deutschen Soldaten nicht halt
machen; auch ihm sollte klargemacht werden, daß er für seine Lage
doch selbst verantwortlich sei, und die Alliierten ihre Hände in
Unschuld waschen könnten. So hieß es in der Stellungnahme des
"Combined Civil Affairs Committee" weiter:
"As a primary aim of the United Nations is
the destruction of German militarism, it
would be inappropriate to feed the defeated
military forces on a scale in excess of the
civil population. The Germans should feed
and maintain such forces."93
Das Komitee legte aber Wert darauf festzustellen, daß das
empfohlene Verfahren sich nicht auf die Auflösung der deutschen
Streitkräfte nachteilig auswirken dürfe. Auch sollte es keine
Erklärung über das vorgesehene Programm an
92
93
476
CCS, Note by the Secretaries, Enclosure A, - Report by the
Combined Civil Affairs Committee, 13.4.1945, Abs.Nr. 7; RG
260/OMGUS 5/265-2/6-8
CCS, ebd., Abs. Nr. 8
die deutsche Öffentlichkeit geben. Kriegsverbrecher sollten
diesem Verfahren nicht unterworfen werden, ebenso wie andere
Kategorien gesuchten deutschen Personals oder anderer Personen,
die unter den deutschen Streitkräften gefunden und aus
Sicherheitsgründen
zurückbehalten
würden.
Sie
sollten
in
Gefangenschaft verbleiben, aber nicht als Kriegsgefangene. Ihre
Ernährung, Unterbringung und anderweitige Verwaltung sollten
alliierte Streitkräfte übernehmen, Deutsche sollten keinerlei
Kontrolle über sie haben94.
Diese Anmerkungen des "Combined Civil Affairs Committee" wurden
durch die CCS unter gleichzeitiger Zustimmung zu seinen
Vorschlägen vom März 1945 an Eisenhower weitergegeben95. Lediglich
die britischen Stabschefs fügten noch eine weitere Einschränkung
an: Wenn Großbritannien entscheide, daß es zusätzliche deutsche
Kriegsgefangene benötige, werde dieses Personal nicht in die
Kategorie "entwaffneter Soldaten" eingegliedert. Die Briten
übernahmen später auch nicht den von den Amerikanern für die in
amerikanischen) Gewahrsam befindlichen deutschen Soldaten, die
nicht als Kriegsgefangene behandelt werden sollten, geprägten
Begriff "Disarmed Enemy Forces" (DEF)
("Entwaffnete Feindkräfte"), sondern benutzten für diese Soldaten
den Begriff "Surrendered Enemy Personnel" (SEP) ("Feindliches
Personal, das sich ergeben hat")96. Ein nennenswerter Unterschied
lag dieser unterschiedlichen Bezeichnung jedoch nicht zugrunde,
standen sie doch beide für deutsche Soldaten, die man jeglichen
völkerrechtlichen Schutzes berauben wollte. Der von den
britischen Stabschefs angefügte Zusatz läßt aber wohl erkennen,
daß die Briten grundsätzlich bereit und willens waren, ihre
deutschen Gefangenen im Rahmen des Möglichen nach der Genfer
Konvention zu behandeln, anders als noch bei den EAC- Planungen
im Frühjahr und Sommer 1944, während die Amerikaner sich ihren
Pflichten von Anfang an und in großem Ausmaß zu entziehen
versuchten.
94
95
96
CCS, ebd., Abs. Nr. 9,10
Vgl. J. Bacque, Der geplante Tod, S. 42
J. Bacque, ebd., S. 43
477
Eisenhower bekundete allerdings wenig Verständnis für die von den
britischen Stabschefs bezogene Position. Er mutmaßte, die Briten
seien aufgrund einer geringeren zahlenmäßigen Bürde an deutschen
Kriegsgefangenen
in
der
Lage,
ein
höheres
Niveau
aufrechtzuerhalten, das die amerikanische Position im Vergleich
in ein ungünstigeres Licht rücke97. Aus neuesten Forschungen ist
mittlerweile aber bekannt, daß die Amerikaner durchaus in der
Lage gewesen wären, ihre Gefangenen ebenso gut zu behandeln wie
die Briten, da die US-Vorräte, die durch eroberte Lagerbestände
noch ergänzt wurden, für diese Aufgabe mehr als ausreichend
vorhanden waren98.
c. Deutsche Kriegsgefangene in Italien und Norwegen. Doch statt
dem britischen Beispiel zu folgen, bemühte sich die US-Armee,
auch den deutschen Kriegsgefangenen in Ländern außerhalb
Deutschlands ihren Status zu nehmen. Zunächst waren davon die
deutschen Kriegsgefangenen in Norwegen betroffen99, dann auch die
in Italien festgehaltenen100.
In einem Bericht über die entsprechenden Maßnahmen in Norwegen
hieß es, es handele sich um eine "ziemlich erschrek- kende
Abweichung auf dem Gebiet des Völkerrechts" ("A somewhat
startling departure in the field of international law ...")101,
deren Auswirkung, insbesondere für die betroffenen Soldaten,
offensichtlich war:
"The effect of the foregoing was to create
in international law an entirely new class
of persons ... . Such persons are not
prisoners of war nor are they displaced
persons, but represent a class in between
whose privileges and burdens are not
specified by any body
97
98
99
100
101
478
J. Bacque, ebd.
J. Bacque, ebd., S 42 f.
SHAEF an CCS, "Treatment of members of German armed forces in
Norway is subject", 9.4.1945; RG 260/OMGUS 5/265-2/6-8
Allied Force Hq., Caserta, Italien, an CCS, 2.5.1945; RG
260/OMGUS 5/265-2/6-8
H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs: Soldiers become
Governors, S. 845
of established law nor by any international
convention."102
III.2.
John
J.
McCloy
unterstützt
die
völkerrechtswidrige
Behandlung deutscher Kriegsgefangener
Der Judge Advocate General in Washington verteidigte trotz des
gegen
ihn
ausgeübten
politischen
Drucks
weiter
seine
Rechtsposition, die er bereits im Frühjahr 1944 unmißverständlich
zum
Ausdruck
gebracht
hatte:
daß
die
Aberkennung
des
Kriegsgefangenen-Status völkerrechtlich gar nicht möglich sei.
Weil dem stellvertretenden Kriegsminister John J. McCloy dieses
Ergebnis nicht in die politische Konzeption paßte, kam er am 11.
Mai 1945 mit dem Stellvertretenden Stabschef im Pentagon überein,
das JAG-Rechtsgutachten dem Kriegsminister gar nicht zum Zweck
einer Genehmigung zu unterbreiten. McCloy sprach sich für die
einstweilige Geheimhaltung des Gutachtens aus und das Ergreifen
von Vorsichtsmaßnahmen, um eine Veröffentlichung zu verhindern
("I think that the opinion should remain classified for the time
being and that precautions should be taken to see that it is not
published..., zumindest solange bis umfassende Erwägungen zu
bestimmten politischen Angelegenheiten angestellt worden seien103.
Derlei Erwägungen wurden jedoch offensichtlich nie vorgenommen.
Denn im November 1945 stand das Gutachten immer noch zur Debatte.
McCloy meinte nun, der JAG sei bei der Abfassung nicht über alle
wesentlichen Umstände, Papiere und Verhandlungen in der EAC und
sonstwo informiert gewesen, noch habe er von den Plänen für die
Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 Kenntnis gehabt, wie sie dann
auch ausgeführt und publiziert worden seien. Zu dem Zeitpunkt der
Vorlage des Gutachtens habe man gemeint, daß eine Anzahl
rechtlicher Probleme auftauchen würden. Im Laufe der Zeit sei
aber offenkundig geworden, daß die mei
102
103
H.L. Coles/A.K. Weinberg, ebd.
J.J. McCloy, "Memorandum for the Assistant Chief of Staff, G- 1",
"Subject: Denunciation of Geneva Convention - JAG Opinion 25. April
1945", 11.5.1945; RG 107 ASW 383.6 Enemy POW in American Hands Germans
479
sten, wenn nicht sogar alle diese Fragen in der Praxis gar nicht
entstanden seien und daß es nur wenige Schwierigkeiten in der
Verwaltung gegeben habe ("... few administrative difficulties.")
. Die Vereinigten Staaten hätten seit der deutschen Kapitulation
die Kriegsgefangenen nach einem Standard behandelt, der dem in
der Genfer Konvention festgelegten im allgemeinen entsprochen
habe, obwohl es keine Regierungserklärung gegeben habe, die
anerkenne, daß die Genfer Konvention in allen ihren Details nach
einer bedingungslosen Kapitulation anwendbar sei. Um die
Flexibilität der Regierung zu bewahren, solle es auch keine
Erklärung darüber geben, wenn es irgendwie verhindert werden
könne. Soweit man es überblicken könne, seien die im Gutachten
diskutierten Probleme nicht von praktischer Wichtigkeit. In
Anbetracht dieser Umstände und der Tatsache, daß momentan
scheinbar kein Gutachten erforderlich sei, empfahl McCloy, das
Gutachten an den Judge Advocate General zurückzugeben und ihn zu
fragen, ob es nicht ratsam sei, das Gutachten zurückzunehmen, um
diese wichtigen Fragen dann zu entscheiden, wann immer sie
auftauchten. Vorher seien jedoch neben anderen interessierten
Behörden das Kriegsund das Außenministerium über kontroverse
rechtliche und politische Fragen anzuhören104.
Diese Äußerungen McCloys sprachen dem wirklichen Sachverhalt
jedoch Hohn. Eine neue Untersuchung zum Schicksal der deutschen
Kriegsgefangenen in amerikanischer und französischer Hand105 kommt
zu dem Ergebnis, daß vom April 1945 an vornehmlich Männer, aber
auch Frauen, Kinder und alte Menschen, in amerikanischen und
französischen
Lagern
an
klimaund
witterungsbedingten
Krankheiten, an den Folgen unzureichender Hygiene, an Krankheit
und Hunger gestorben sind. Die Zahl der Opfer soll dieser Studie
nach im Bereich zwischen 800.000 und einer Million zu beziffern
sein106.
104
J.J. McCloy, "Memorandum for the Chief of Staff", "Subject:
Informal Opinion of the Judge Advocate General SPJGW 1945/5817",
15.11.1945; RG 107 ASW 383.6 Enemy POW in Allied Hands-Germans
105
J. Bacque, Der geplante Tod: deutsche Kriegsgefangene in
amerikanischen und französischen Lagern, 1945-1946
J. Bacque, ebd., S. 15
106
480
Dies zeigt überdeutlich, welche schwerwiegenden Folgen die
Nichtanwendung der Genfer Konvention für die davon betroffenen
Menschen mit sich brachte. Vor diesem Hintergrund davon zu
sprechen, die Gefangenen seien nach der Genfer Konvention
behandelt worden, wie McCloy es im November 194 5 tat, ist
entweder ein Beweis für grenzenlosen Zynismus oder ein Hinweis
darauf, daß die Informationen über das Geschehen in Europa soweit es die Kriegsgefangenen betraf - McCloy nicht bekannt
waren oder von ihm ignoriert wurden.
III.3. Unklarheiten über die Rechtslage in der US-Armee
Während McCloy in Washington händeringend eine eindeutige Aussage
zur Beachtung oder Nichtbeachtung der Genfer Konvention zu
verhindern suchte, war man sich im Mai 1945 in der US-Armee in
Europa völlig unschlüssig über die Behandlung, die den deutschen
Kriegsgefangenen zukommen sollte.
Eine Anfrage an das Kriegsministerium blieb ohne Antwort. Charles
Fairman, Oberst in der Abteilung für Völkerrecht beim Chef des
Heeresjustizwesens im Hauptquartier der US- Armee in Europa,
meinte allerdings die Theorie auch weiterhin aufrechterhalten zu
können, wonach die Genfer Konvention noch immer anwendbar sei,
obwohl die deutschen Streitkräfte bedingungslos kapituliert
hätten und die deutsche Regierung ausgelöscht sei. Andererseits
habe das Kriegsministerium aber Maßnahmen genehmigt, die ein
Abweichen von einigen Vorschriften der Konvention bedeuteten. So
werde der Kriegsgefangene sicherlich nicht mit einer Ration
ernährt, die, wie es die Genfer Konvention verlangte, nach
Qualität und Quantität derjenigen von Truppen in Lagern der
Etappe gleichkomme. Das Hauptquartier der Nachschub- und
Verbindungszone der US-Armee (Hq Com Z) habe die Basisabteilungen
("base sections") autorisiert, deutsche Kriegsgefangene zur
Säuberung von Minenfeldern zu organisieren, auszubilden und
Gebrauch von ihnen zu machen. Die Judge Advocate Section hatte zu
Bedenken gegeben, daß es höchst erstrebenswert erscheine, daß
Deutsche, und nicht alliierte Soldaten oder Zivilisten, die Minen
beseitigten,
481
was durch Artikel 32 der Genfer Konvention jedoch strikt
untersagt war, wonach Kriegsgefangene nicht zu unzuträglichen
oder gefährlichen Arbeiten verwendet werden durften. Aus der G-1Abteilung des Obersten Hauptquartiers erhielt die Judge Advocate
Section zur Antwort, es wäre effizienter, "entwaffnete deutsche
Einheiten" ("disarmed German units"), die von Kriegsgefangenen zu
unterscheiden seien, und die in der Minenarbeit ausgebildet
seien, zu verwenden. Falls dies der Fall sei, scheine kein
Bedürfnis zu bestehen, die Frage nach der Verwendung von
Kriegsgefangenen für diese Arbeit aufzuwerfen107.
Keine Bedenken hegte Fairman gegen eine längere Zurückhaltung
deutscher Kriegsgefangener, ja selbst ihre mögliche Verschickung
in den Fernen Osten schien ihm rechtliche Fragen nicht
aufzuwerfen. Daß ein längeres Einbehalten der Kriegsgefangenen
mit Art. 75 der Genfer Konvention nicht im Einklang stand, da
danach "die Heimschaffung der Kriegsgefangenen binnen kürzester
Frist nach Friedensschluß zu erfolgen" hätte, glaubte er mit dem
Hinweis rechtfertigen zu können, daß zur Zeit ja gar keine
deutsche Regierung existiere und niemand sagen könne, wann ein
Frieden geschlossen werde108. Daß die Überschrift über Art. 75
Genfer Konvention nicht nur von einem Friedensschluß sprach,
sondern die "Freilassung und Heimschaffung nach Beendigung der
Feindseligkeiten" verlangte, war ihm dabei ganz offensichtlich
entgangen, so daß er schlußfolgerte:
"... it seems that PWs (Prisoners of War,
d. Verf.) and disarmed German units will be
retained in our service as long as they
seem useful and it is believed that at
present no legal problem arises. Evidently
if they are to be transported to the Far
East the War Department will have to be
brought into
107
Col. Ch. Fairman, Chief, International Law Division (Hq. European
Theatre of Operations, US-Army, Judge Advocate Section),
"Memorandum for General Betts", "Subject: Treatment of German
Prisoners of War after VE Day", 28.5.1945, Abs.Nr. 3,4; RG 331
SHAEF, G-1, 383.6/3-18 Employment of Enemy POW;
vgl. auch J. Bacque, Der geplante Tod, S. 87 f.
108
Col. Ch. Fairman, ebd., Abs. Nr. 12
482
the Situation, but the problem does not
109
appear to be one of law."
Das Resultat von Fairmans Bestandsaufnahme vom Mai 1945 war, ganz
im Gegensatz zu dem Eindruck, den McCloy im November desselben
Jahres zu erwecken suchte, daß eine maßgebliche Entscheidung zu
bestimmten unerledigten Problemen benötigt werde, und er glaubte,
eine solche Entscheidung sollte von der Regierung der Vereinigten
Staaten kommen. General Lerch, der Provost Marshal General, hatte
ihm anläßlich eines Besuches im Hauptquartier bereits deutlich zu
verstehen gegeben, daß das Kriegs- und wohl noch mehr das
Außenministerium nicht vorbereitet seien, um eine eindeutige
Aussage zu machen, wonach die Genfer Konvention auf die neue
Situation unanwendbar geworden sei. Dies, so scheine es, sei
vielleicht
ebensosehr
eine
Angelegenheit
der
Öffentlichkeitsarbeit wie eine Entscheidung der Rechtsfrage.
General
Lerch
hatte
dem
Hauptquartier
nahegelegt,
das
Kriegsministerium über alle seine Handlungen zu informieren, die
mit der Genfer Konvention nicht vereinbar seien, verbunden mit
der Erklärung, auf diesem Weg fortzufahren bis gegenteilige
Instruktionen einträfen. Er versprach sich davon sowohl die
Informierung des Kriegsministeriums als auch einen Schutz des
Hauptquartiers der US-Armee in Europa vor nachteiliger Kritik.
Eine gegenteilige Antwort aus dem Kriegsministerium hielt Lerch
nach eigenem Bekunden nicht für wahrscheinlich110.
Oberst Fairman hielt die Genfer Konvention zumindest für
teilweise anwendbar. Die deutsche Nation - Fairman nannte
neben den Zivilisten noch ausdrücklich die Kriegsgefangenen und
"entwaffente deutsche Einheiten" - befinde sich jetzt in der Hand
der alliierten Nationen. Sie sollten gerecht und im- Einklang mit
einem intelligenten und konsequenten Plan behandelt werden. Wenn,
wie seine Abteilung von Anfang an argumentiert habe, nicht alle
Bestimmungen der Genfer Konvention auf diese neue Situation
anwendbar seien, so
109
Col. Ch. Fairman, ebd.
110
Col. Ch. Fairman, ebd., Abs. Nr. 13
483
gelte dessen ungeachtet, daß das System der Kontrolle rational
und fair sein sollte111. Fairman klagte in seinem Memorandum vom
28. Mai 1945 abschließend:
"The legal situation at the moment has
become so confused that it is difficult to
give sound advice on problems that are
reffered to this section for an opinion. It
is believed therefore the entire matter
should be reviewed in order that the
policies to be pursued may be rational,
just and based upon some consistent
theory."112
Die gewünschte verbindliche und der Rechtskonfusion ein Ende
setzende Weisung aus Washington blieb allerdings aus. Die
rechtliche Unsicherheit, die vor Ort in Europa zu Lasten der
deutschen Kriegsgefangenen ging, wurde nie restlos beseitigt. Die
Erklärung McCloys in seinem Memorandum vom November 1945,
rechtliche Probleme seien im Zusammenhang mit der Behandlung
deutscher Kriegsgefangener gar nicht aufgetaucht, entbehrt
angesichts der klaren Forderung von Oberst Charles Fairman vom
28. Mai 1945 jeglicher Grundlage. Gleiches gilt auch für die
Behauptung, es habe nur geringe Schwierigkeiten in der Verwaltung
gegeben. Die großen rechtlichen Probleme lagen zwar offen auf dem
Tisch, eine Lösung wurde aus Europa angemahnt, doch beliebte McCloy - aus gutem Grund - dies alles zu ignorieren.
III.
4. William Chanlers Memorandum vom 6. Juni 1945
Selbst der Stellvertretende Direktor der Civil Affairs Division,
Oberst William Chanler, der sich monatelang bemühte, alle
rechtlichen, pseudo-rechtlichen und politischen Register zu
ziehen, um eine Anwendbarkeit der HLKO auf Deutschland zu
vermeiden, konnte sich mit dem Gedanken, den deutschen
Kriegsgefangenen alle Rechte und Privilegien zu entziehen, nicht
anfreunden. In seinem Rechtsgutachten vom
6. Juni 1945 rang er sich zu einer differenzierenden Stellungnahme durch. Aufgrund einiger besonderer Merkmale sei
111
112
484
Col. Ch. Fairman, ebd., Abs. Nr. 15
Col. Ch. Fairman, ebd.
die Argumentation, die ihn zu einer Verneinung der HLKO geführt
hatte, auf die Genfer Konvention nicht so ohne weiteres
übertragbar. Die Kriegsgefangenen-Konvention habe bestimmte
Elemente einer "Drittbegünstigungs-Vereinbarung" ("Third party
beneficiary"agreement) und es sei fraglich, ob einem feindlichen
Land erlaubt sein sollte, seinen "de facto-Untertanen" ("de facto
subjects") den Schutz der Konvention zu entziehen, selbst wenn es
rechtlich mit der vollen Macht der Regierung über das besiegte
Land und sein Volk ausgestattet sei. Nach ihren Bestimmungen
binde die Konvention so lange, bis der Kriegsgefangene
repatriiert
sei.
Kriegsgefangene
seien
auch
berechtigt,
Beschwerden über angebliche Verstöße gegen die Konvention der
Schutzmacht vorzulegen113. Auch die möglichen nachteiligen politischen Folgen schreckten Chanler ab:
"An unpleasant situation might arise, both
with relation to U.S. prisoners of war, now
in Japanese hands, and for the future
reputation of United States, if German
prisoners, captured in actual battle,
should make formal complaint that their
rights are being violated by the Allied
Powers, and such complaints were found to
be justified."114
Chanler hielt es deshalb für politisch vernünftiger, nicht zu
behaupten, die Alliierten betrachteten nach der Niederlage und
Kapitulation Deutschlands die Genfer Konvention als rechtlich
nicht mehr bindend. Auch war eine solche Erklärung nach seinem
Dafürhalten gar nicht notwendig. Die einzigen Bestimmungen der
Konvention, die ernsthaft lästig seien, seien die hinsichtlich
der Rationen, der Beschränkungen über die Verwendung von
Offizieren und
Unteroffizieren für Arbeitszwecke und die Vorschrift gegen den
Einsatz von Kriegsgefangenen bei gefährlicher Arbeit. Um die
damit verbundenen rechtlichen Schwierigkeiten einigermaßen lösen
zu können, verfiel Chanler auf eine
113
Col. W.C. Chanler, "Memorandum of Law", "Subject: Rights and Powers
of the Control Council over Germany under International Law",
6.6.1945, S. 24; RG 107 ASW (General Correspondence of
J.J. McCloy 1941-45) 370.8 Germany - Control Council; RL
Charles Fahy Papers Box Nr. 65
114 W.C. Chanler, ebd., S. 24 f.
485
äußerst fragwürdige Argumentation: Der bedeutsamste Einwand bei
"gefährlicher Arbeit" beziehe sich auf die Minenräumung. In
selbstgerechter Weise meinte Chanler, die Gerechtigkeit, von
Deutschen zu verlangen die Minen zu beseitigen, die sie selbst
gelegt hätten, sei so offenkundig, daß es scheine, daß nach der
bedingungslosen
Kapitulation
diese
besondere
Vorschrift
eigentlich außer acht gelassen werden könne. ("The justice of
requiring Germans to remove the mines which they themselves have
planted is so obvious that it would seem that after unconditonal
surrender
this
particular
provision
can
properly
be
disregarded."). Falls es dabei noch irgendeine Frage gebe,
könnten deutsche Kriegsgefangene, die Kenntnis von der Lage der
Minen hätten oder in ihrer Entfernung ausgebildet seien, nach
ihrer Repatriierung für diesen Zweck einberufen werden.
Den gleichen Trick wollte Chanler auch in bezug auf deutsche
Offiziere und Unteroffiziere benutzen, die ebenfalls in einer
solchen Menge repatriiert werden sollten, wie man sie für
Arbeitszwecke benötigte. Nach ihrer Repatriierung seien sie dann
für Arbeitszwecke wieder einzuziehen. Die Notwendigkeit, den
Kriegsgefangenen Nahrungsmittel-Rationen zukommen zu lassen,
gleichwertig zu denen der Soldaten der gefangennehmenden Truppen,
sah Chanler als unmöglich an, weil die Nahrungsmittelknappheit in
der Welt das nicht zulasse. Er empfahl, die Alliierten sollten
sich
auf
den
Standpunkt
stellen,
daß
kein
deutscher
Kriegsgefangener größere Rationen erhalten werde als das, was für
die Zivilisten in befreiten Gebieten zur Verfügung stehe. Es sei
unerträglich, daß deutsche Kriegsgefangene eine vollständige USMilitärration empfangen sollten, während die zivilen Opfer ihrer
Aggression hungerten. ("It is intolerable that German prisoners
of war should receive a full U.S. military ration, while the
civilian victims of their aggression are starving.")115. Daß die
Kriegsgefangenen im Gegensatz zur Zivilbevölkerung in den von den
alliierten befreiten, also nichtdeutschen Gebieten gar
115 W.C. Chanler, ebd., S. 25
486
nicht die Möglichkeit besaßen, durch eigenes Zutun und eigene
Anstrengung für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, sondern auf
Gedeih und Verderb von den amerikanischen Zuteilungen abhängig
waren, entging Chanler dabei. Genauso wenig war er in der Lage,
Kriterien anzugeben, an denen die Nahrungsmittelrationen der
deutschen Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung in anderen
Ländern
hätten
verglichen
werden
können.
Die
von
ihm
vorgeschlagene Handhabung dieses für die Kriegsgefangenen
existentiellen Problems öffnete willkürlicher Handhabung der
Nahrungsmittel-Portionierung Tür und Tor. Chanlers Ergebnis zur
Weitergeltung der Genfer Konvention lautete:
"Although the Geneva Convention is legally
inapplicable, it should, as a matter of
policy, be observed in the treatment of all
prisoners of war except as to the matter of
rations and mine removal."116
Gerade diese beiden von Chanler gemachten Ausnahmen aber waren
für die Kriegsgefangenen von enormer Wichtigkeit, waren sie
dadurch ja nicht mehr nur wehrlos, sondern auch rechtlos. Bei
Zugrundelegung dieser Auffassung bei der Behandlung der
Kriegsgefangenen stand ihr Leben und Überleben in den
amerikanischen Lagern zur Disposition eines jeden amerikanischen
Lagerverwalters.
III.5. Memorandum des Kriegsministeriums vom 10. Dezember 1946
Eine Chanlers Ansicht ähnliche Position bezog auch das
amerikanische Kriegsministerium in seinem Gutachten vom 10.
Dezember 1946117. Die Genfer Konvention, meinten die Auto
ren des Gutachtens, habe weiterhin eine bestimmte begrenzte
Anwendbarkeit ("... a certain limited application... ") , nämlich
auf diejenigen Kriegsgefangenen, die vor der Been
116
117
W.C. Chanler, ebd., S. 26
Zum Inhalt des Gutachtens vgl. schon oben , 3. Teil, III.2.b.,
"Gutachten der Völkerrechtsabteilung des Heeresministeriums der
Vereinigten Staaten zur Anwendung der Haager Landkriegsordnung und
der Genfer Konvention auf das besetzte Deutschland", in: Jahrb. f.
Intern. Recht 1956, S. 300 ff.
487
digung der Feindseligkeiten am 8. Mai 1945 durch die
amerikanischen Truppen gefangengenommen worden seien. Soweit sie
unter Gefechtsbedingungen eingebracht worden seien, worauf die
Konvention anwendbar sei, seien sie berechtigt, ihren Schutz bis
zur Repatriierung zu erhalten. In einem gewissen Sinne befinde
sich der einzelne Kriegsgefangene in einer Position, etwa
ähnlich zu der eines "cestui que trust" oder einer
"Drittbegünstigung" ("third party beneficiary"). Die Konvention
schaue Uber die Beendigung der Feindseligkeiten hinaus und lege
der siegreichen Macht die Verpflichtung auf, Kriegsgefangene
ohne übermäßige Verzögerung nach dem Ende der Kämpfe zu
repatriieren118. Von diesen Vergünstigungen und Rechten sollten
die DEF jedoch ausgeschlossen bleiben, aus formalen Gründen des
Zeitpunktes der Gefangennahme, ohne daß das Kriterium der
Schutzwürdigkeit dieser Menschen, die nach dem Wegfall der
eigenen Regierung und der Entwaffnung der eigenen Truppen
zweifellos größer als während des Andauerns der kriegerischen
Auseinandersetzungen war, hinreichend berücksichtigt worden
wäre. Die DEF standen damit rechtlich nicht nur bedeutend
schlechter als ihre Kameraden da, die als Kriegsgefangene
angesehen wurden, sondern auch schlechter als Zivilinternierte,
denen nach Aussage des Gutachtens vom Dezember 1946 der Schutz
der Genfer Konvention durchaus zukommen sollte. Dementsprechend
hieß es in dem Gutachten:
"It seems clear..., that such disarmed
enemy personnel are not entitled to any
benefits under the Geneva Convention,
unless at a later date they were declared
to be prisoners of war; further, that
German civilian internees held in United
States custody for reasons other than war
crimes or similar offenses are entitled to
the protection of the Geneva Convention,
and that all prisoners of war who were
captured by us or our Allies must be
treated in conformity with the applicable
provisions of the Geneva Convention until
their release and repatriation."119
118
119
488
"Gutachten ...", ebd., S. 397
"Gutachten ...", ebd.
Die beiden Rechtsgutachten des amerikanischen Kriegsministeriums
vom 6. Juni 1945 (Chanler) und vom 10. Dezember 1946 gingen mit
keinem Wort auf die Einwände ein, die schon im Frühjahr 1944
gegen die amerikanischen und britischen Pläne der EAC zur
Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen unterbreitet worden
waren. Für McCloy, der das Chanler-Me- morandum kannte, wäre es
ein leichtes gewesen, die darin vertretene Position als
offizielle Stellungnahme des Kriegsministeriums zu übernehmen und
an den Oberbefehlshaber in Europa weiterzuleiten. Daß er dies
nicht tat und sich vielmehr darauf verlegte, das kritische JAGGutachten vom April 1945, das die bekannten Einwände noch einmal
aufgegriffen hatte, totzuschweigen und die rechtliche Frage
offenzulassen bzw. zu ignorieren, zeigt wohl, wie wenig überzeugt
er selbst von den Aussagen Chanlers war.
Eine offizielle Stellungnahme zur rechtlichen Seite des
Kriegsgefangenen und DEF-Problems ist in Washington nie erfolgt.
Die zuständigen Stellen, allen voran McCloy, wußten sehr wohl um
die juristische Fragwürdigkeit ihres Vorgehens. Ein Interesse, an
dieser Vorgehensweise etwas zu ändern, hatten, abgesehen von den
mehr oder weniger wehrlosen Deutschen, jedoch außerhalb
Deutschlands nur wenige.
III.6.
Die Schweiz und das Internationale Rote Kreuz im Einsatz
für die Interessen der deutschen Kriegsgefangenen
Schweiz bleibt nicht länger Schutzmacht. Ein Land, das
verpflichtet gewesen wäre, an dem Schicksal der deutschen
Kriegsgefangenen Interesse zu bekunden, wäre die Schweiz gewesen,
die während des Krieges für Deutschland als Schutzmacht fungiert
hatte. Dieser Aufgabe fühlte die Schweiz sich auch im Mai 1945
verpflichtet. Aber auch in diesem Bereich sorgten die Amerikaner
schnellstens dafür, daß die Schweiz von ihrer Aufgabe entbunden
wurde. Schon am 8. Mai 1945 wurde der Gesandte der Schweiz in
Washington davon in Kenntnis gesetzt, die amerikanische Regierung
sehe
a.
489
die Vertretung deutscher Interessen in den Vereinigten Staaten
als nicht länger notwendig an. Deshalb werde die Schweizer
Regierung auch die Interessen deutscher Kriegsgefangener in USGewahrsam in den Vereinigten Staaten und in Übersee nicht länger
vertreten.
Dem
Schweizer
Gesandten
wurde
ausdrücklich
zugesichert,
die
Kriegsgefangenen
würden
weiterhin
in
Übereinstimmung mit den Vorschriften der Genfer Konvention
behandelt, bis zum Zeitpunkt ihrer Repatriierung120. Der einzige
neutrale Beobachter, von dem die Gefangenen nun noch Hilfe und
Unterstützung erhofften und in dem sie einen Ansprechpartner für
ihre Klagen finden konnten, war von nun an das Internationale
Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).
IKRK-Bemühungen
um
Hilfslieferungen.
Dem IKRK gegenüber
erklärten die Amerikaner, voran Außenminister James F. Byrnes,
die Genfer Konvention beachten zu wollen121. Seine Bemühungen
wurden
jedoch
regelmäßig
torpediert.
Nachdem
das
Kriegsministerium am 4. Mai 1945 allen deutschen Kriegsgefangenen
verboten hatte, Post abzuschicken oder zu empfangen, schlug das
IKRK im Juli einen Plan vor, um diesen Postverkehr wieder
aufzunehmen, erhielt jedoch nur eine abschlägige Anwort. Und als
das IKRK Ende Mai, Anfang Juni zwei Güterzüge mit Lebensmitteln
aus seinen Lagerhäusern in der Schweiz nach Mannheim bzw.
Augsburg schickte, wurde dem Begleitpersonal vor Ort von
Offizieren der US-Armee mitgeteilt, die Lagerhäuser seien noch
gefüllt und die Hilfslieferungen müßten zurückkehren, was auch
geschah122.
b.
IKRK-Präsident Max Huber schrieb daraufhin einen Brief an das
amerikanische Außenministerium, in dem er sein Befremden über die
US-Politik ausdrückte. Hubers Sorge galt vornehmlich der Lage
verschleppter Personen in Deutschland, die ebenfalls dringender
Hilfe bedurften. Er gelangte zu der Erkenntnis, daß die von den
zuständigen Stellen der alliierten Armeen an die angloamerikanische Zentralstelle
120
121
122
490
Sec. of State, Grew act., an R. Murphy, dort eingegangen:
13.5.1945; RG 260/OMGUS POLAD/728/24
J. Bacque, Der geplante Tod, S. 9, S. 224
J. Bacque, ebd., S. 90
des IKRK gerichteten Anforderungen in keinem Verhältnis zu dem
herrschenden Bedarf stünden. Das habe zur Folge, so Huber, daß
die humanitäre Arbeit des IKRK Gefahr laufe, diskreditiert zu
werden. Die Verantwortung des Roten Kreuzes für die angemessene
Verwendung von Hilfsgütern, die ihm anvertraut worden seien, sei
unvereinbar mit einer Beschränkung auf die Befolgung von
Befehlen, die das IKRK bei der Zurverfügungstellung von
Hilfsgütern, die es selbst für erforderlich halte, zur Ohnmacht
verurteilen. Die erwarteten Anforderungen würden entweder gar
nicht an das Rote Kreuz gerichtet, oder sie träfen mit großer
Verzögerung ein. Die Tatsache, daß die Lagerhäuser in Deutschland
noch immer gefüllt waren, bildete für Huber einen schlagenden
Beweis dafür, daß die früher angeforderten Güter noch immer nicht
verteilt worden waren. Huber meinte abschließend, diese Umstände
ließen dem IKRK keine andere Möglichkeit, als seiner ernsten
Besorgnis für die unmittelbare Zukunft Ausdruck zu verleihen.
Untätig zuzuschauen, während das IKRK selbst Uber große Mengen
sofort verfügbarer Hilfsgüter verfüge, bei einer Not in
Deutschland, die ständig beunruhigender werde, vertrage sich
nicht mit der Tradition des Roten Kreuzes123.
Hubers begründete Sorge fand in Washington aber kein Gehör. Der
Brief wurde an die Armee weitergegeben, die sich unter einer
fadenscheinigen Begründung, eine zwischen der Armee und dem
britischen und amerikanischen Roten Kreuz getroffene Vereinbarung
verbiete die Verwendung von Lebensmitteln des Roten Kreuzes für
Feindpersonal, jedoch ihrer Verantwortung für die von Huber
angeprangerten Mißstände weiterhin entzog124. Der eigentliche
Grund für die Beschränkung der Lebensmitteleinfuhr nach
Deutschland lag darin, daß man jeglichen Eindruck vermeiden
wollte, die Deutschen erhielten durch diese Hilfslieferungen
einen höheren Lebensstandard, als es dem Durchschnitt der angrenzenden europäischen Nationen entspreche. Deshalb war auch der
Empfang von Wohltätigkeits-Paketen ("Care") für
123
124
J. Bacque, ebd., S. 91 ff.
J. Bacque, ebd., S. 93
491
Einzelpersonen in Deutschland bis zum 5. Juni 1946 verboten125.
Stellte sich die angebliche Lebensmittelknappheit, die eine
notwendige Versorgung Deutschlands selbstverständlich erschwert
hätte, somit als insbesondere von der Armee inszeniertes
Schauspiel
heraus,
wäre
eine
Differenzierung
zwischen
völkerrechtlich geschützten Kriegsgefangenen und völkerrechtlich
rechtlosen "disarmed enemy forces" eigentlich überflüssig
gewesen. Denn schon die Planungen für diese Unterscheidung aus
dem Jahre 1944 hatten besonderen Nachdruck auf die Feststellung
gelegt, daß eine solche Differenzierung nur aus praktischen
Erwägungen erfolge, um den DEF nicht die ihnen rechtlich
zustehenden Rationen zuteilen zu müssen, falls es zu einem Engpaß
in der Versorgung kommen sollte. Ohne diesen Engpaß aber war auch
die Unterscheidung hinfällig. Dennoch hielt Eisenhower an dieser
Konzeption fest. McCloys Rückendeckung aus Washington war ihm
dabei sicher.
III.7.
Eisenhowers "Disarmed Enemy Forces" (DEF)-Befehle
Schon am 4. Mai 1945, also noch vor der militärischen
Kapitulation, befahl General Eisenhower, daß deutsche Soldaten,
die in Deutschland gefangengehalten würden, und jene, die
gegenwärtig die Waffen streckten, als "disarmed enemy forces"
bezeichnet werden sollten, nicht als Kriegsgefangene. Der erste
Bericht, in dem zwischen beiden Kategorien unterschieden wird,
datiert vom 26. Mai. Obwohl noch unvollständig, spricht der
Bericht davon, daß von den
6.
155.468 Gefangenen 2.057.138 Kriegsgefangene und
4.098.330 DEF waren126.
Am 5. August 1945 ging Eisenhower sogar noch einen Schritt
weiter. Hatte es bisher immer geheißen, alle vor der Kapitulation
gefangengenommenen deutschen Soldaten müßten
125
126
492
E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany 1944- 1946,
S. 410
Office of the chief Historian, Disarmament and Disbandment of the
German Armed Forces, S. 39
auch weiterhin als Kriegsgefangene angesehen und auch als solche
behandelt werden, und hatte er diese Vorgabe schon durch seinen
Befehl vom 4. Mai unterlaufen, so machte er durch einen weiteren
Befehl vom 5. August auch noch die letzten Schranken zunichte,
die man ihm aus Washington gesetzt hatte. In dem neuen Befehl
hieß es klar und bündig:
"Effective immediately all members of the
German forces held in US custody in the
American Zone of Occupation in Germany will
be considered as disarmed enemy forces and
not as having the status of prisoners of
war."127
Am 22. August wurde diese Anweisung noch auf alle ngehörigen der
deutschen Streitkräfte in amerikanischem Gewahrsam in der US-Zone
Österreichs erweitert, und es wurde ausdrücklich hinzugefügt,
dies schließe auch die Waffen-SS und andere SS-Abteilungen mit
ein128.
Daß eine solche Ausweitung der DEF-Kategorie möglich sein müsse,
hatte in einem Memorandum vom 25. Mai 1945 schon die USGCC
durchblicken lassen. Durch die Übernahme der "supreme authority"
in Deutschland, so glaubte Oberstleutnant James L. Williams,
hätten die Alliierten auch die Befugnis erhalten, alle deutschen
Kriegsgefangenen, auch die schon während der Feindseligkeiten
festgenommenen, ihres Status entkleiden zu können, mit dem Ziel,
sie auch außerhalb Deutschlands für die verschiedensten, sonst
verbotenen Arbeiten einsetzen zu können:
"Any or all of (the German Armed Forces who
are
now
physically
within
Germany,
including Austria) may be treated as
disarmed, disbanded, or demobilized German
troops, as the case may be, and thus be
released from prisoner of war status. The
same would be true as to those held as
prisoners of war outside of Germany if they
were repatriated. All such persons when
released from prisoner of war status would,
together with all other Germans, be subject
to the supreme authority of the Allies.
127
128
USFET, Eisenhower, an USGCC, 5.8.1945; RG 26O/OMGUS 44-45/21/2
USFA an USGCC, 22.8.1945; RG 260/OMGUS 44-45/21/2
493
There is no judicial concept and no treaty
or rule of international law that precludes
the use of all people in any type of labor
under any circumstances anywhere that the
labor can be taken, and controlled,
subject, of course, in the case of labor
employed outside Germany, to satisfactory
arrangements with the country concerned.
Such proceedings will be limited only by
political considerations. "129
Diese Feststellungen, auf denen Eisenhowers Befehl zweifellos
beruhte, bildeten somit die Grundlage, um auch noch den letzten
deutschen Kriegsgefangenen rechtlos zu stellen, abhängig allein
vom politischen Willen seiner Gewahrsamsmacht, die ihrerseits
Entscheidungen nur vor dem Hintergrund ihrer politischen
Opportunität zu fällen gewillt war.
Als Kriegsgefangene wurden danach nur noch diejenigen bezeichnet,
die sich im US-Gewahrsam außerhalb Deutschlands und Österreichs
befanden. Alle anderen waren DEF. Eine Aufstellung vom 17.
Dezember 1945 bezifferte die Gesamtzahl der von den Vereinigten
Staaten noch zurückbehaltenen deutschen Soldaten, nachdem in den
Monaten vorher bereits ein erheblicher Teil entlassen bzw. an
andere Gewahrsamsmächte übergeben worden war130, mit 1.420.504.
Davon waren 972.837 als Kriegsgefangene aufgeführt, 447.667 als
DEF. Letztere befanden sich alle in den Händen der 3. und
7. US-Armee. Das Memorandum merkte weiter an, der einzige
Unterschied zwischen Kriegsgefangenen und DEF bestehe darin, daß
die DEF dem Internationalen Roten Kreuz nicht gemeldet seien131.
Durch diese Nichtmeldung wurde natürlich die Wirkungsmöglichkeit
des IKRK für diese Gefangenen enorm eingeschränkt, ja fast bis
auf Null reduziert. Ohne
129
130
131
Lt. Col. J.L. Williams, Hq. USGCC, an Joint US Advisors, EAC, Memo.,
"Subject: Use of German Military Personnel by Allied Nations After
the Surrender of Germany", 25.5.1945, Abs.Nr. 5; RG 260/OMGUS
AGTS/88/9
Vgl. unten 4. Teil, IV.
Col. F.E. Emery, Deputy Director, OMGUS, Armed Forces Division, an
Deputy Military Governor, Memo., "Subject: Status of Prisoners of War
and Disarmed Enemy Forces", 17.12.1945; RG 260/OMGUS 44-46/88/1
Kenntnis von den Gefangenen konnte das Rote Kreuz auch keine
Hilfe leisten.
III.8.
Aufhebung des DEF-Befehls
a. Gleichstellungsbefehl vom März 1946. Anfang 1946 führte USFET
Inspektionen in den verschiedenen Gefangenenlagern durch und kam
zu dem Ergebnis, daß es keine merklichen Abweichungen in der
Behandlung von Kriegsgefangenen, DEF und Zivilinternierten mehr
gebe, und daß eine gewisse Klarstellung im Hinblick auf die
praktische Anwendung der FM 27-10 ("Rules of Land Warfare")
notwendig sei132. Die grundlegende Neuerung bestand in dem
schlichten Satz:
"Disarmed Enemy Forces henceforth to be
considered Prisoners of War."133
Zur Begründung dieses Sinneswandels wurde angeführt, die
Umstände, aufgrund derer ursprünglich eine Unterscheidung
zwischen Kriegsgefangenen und DEF gemacht worden sei, existierten
nicht mehr. Um die Verwaltung beider Kategorien zu vereinfachen,
solle von nun an (23. März 1946) dieses Personal den
Kriegsgefangenen zugerechnet und von ihnen als Kriegsgefangenen
berichtet werden. Die Behandlung dieses als Kriegsgefangene
zurückgehaltenen Personals werde grundsätzlich so eng wie möglich
mit den Vorschriften von FM 27-10 und TM 19-500 übereinstimmen.
Eine Ausnahme wurde jedoch auch weiterhin aufrechterhalten: Die
Räumung
von
Minenfeldern
sollte
sich
nicht
nach
den
entsprechenden Vorschriften richten (§ 105, FM 27-10), sondern
auf der Grundlage der alliierten Viermächteerklärung vom 5. Juni
1945 gehandhabt werden134.
Hinsichtlich der Zivilinternierten ging man davon aus, daß sie
weder der Genfer Konvention noch der HLKO unterfielen.
132
133
134
Brig. Gen. L.S. Ostrander, Hq. USFET, an Commanding Generals,
"Subject: Treatment of Prisoners of War, Members of Disarmed Enemy
Forces and Civilian Internees", 20.3.1945, Abs.Nr. 1; RG 260/OMGUS
44-46/88/1
Brig. Gen. L.S. Ostrander, ebd., Abs. Nr. 2
Brig. Gen. L.S. Ostrander, ebd., Abs. Nr. 3; über den
Minenräumdienst vgl. unten 4. Teil, V.
495
Dennoch wurden die Kommandeure aufgefordert, sie nach dem
amerikanischen Standard von Fairneß und Menschlichkeit zu
behandeln ("... it is desired that treatment of civilian
internees conform to US Standards of fairnes and humane- ness.").
Innerhalb noch zu nennender Grenzen sollte ihnen im wesentlichen
die gleiche Behandlung gewährt werden wie sie FM 27-10 für
Kriegsgefangene bestimmte. Die Grenze dieser Behandlung bildeten
noch im Umlauf befindliche Direktiven über die Ernährung,
Versorgung
und
Beschränkungen
von
Besuchen
in
Zivilinterniertenlagern. Keine Rücksicht sollte zudem genommen
werden auf den ehemaligen Rang oder die Stellung dieser Personen,
und jede als notwendig erachtete Bevorzugung werde nur auf das
Alter, das Geschlecht und den Gesundheitszustand zurückzuführen
sein. Örtliche und vorübergehende Ausnahmen von dieser Regel
könnten gemacht werden, sofern die militärische Notwendigkeit
dies auferlege. Dies sollte beispielsweise für bestimmte Zeugen
für die Kriegsverbrecherprozesse gelten, bei denen man durch die
zeitweise Gewährung besonderer Privilegien bessere Resultate
erwartete135.
Nochmaliges Engagement des IKRK. Die Erklärung vom 20. März
1946 wurde jedoch entgegen der ausdrücklichen Anordnung nicht
unmittelbar ausgeführt. Außerdem regelte sie nur das Problem der
deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand. Weiter offen
blieb hingegen das Problem japanischer Kriegsgefangener, die ein
ähnliches Schicksal wie ihre deutschen Kameraden hatten. Deshalb
richtete das IKRK am 6. September 1946 erneut ein Schreiben an
die
Alliierten,
unter
anderem
an
das
amerikanische
Außenministerium136, in dem es sich noch einmal für die
Gleichbehandlung aller gefangenen Militärpersonen einsetzte:
b.
"Die
bedingungslose
Kapitulation
der
deutschen und japanischen Streitkräfte, die
aus der Tatsache resultiert, daß die
Streitkräfte ihre Waffen nieder-
135
136
496
Brig. Gen. L.S. Ostrander, ebd., Abs. Nr. 4
Vgl. oben 3. Teil, III.2.a.
gelegt haben, ohne sich auf die Bestimmungen
verlassen zu können, wie sie üblicherweise
in
einem
Waffenstillstandsvertrag
niedergelegt werden, bedeutet nicht ipso
facto den Verzicht auf die Rechte, die in
der Haager Landkriegsordnung und in der
Genfer Konvention vorgesehen sind. Das IKRK
versteht voll und ganz die besonderen
Schwierigkeiten, denen sich die Gewahrsamsmächte
bezüglich
der
Anerkennung
bestimmter Artikel der Konvention gegenüber
sahen. Es würde sich jedoch glücklich
schätzen, wenn die Mächte davon Abstand
nähmen, den Gefangenen die Vorteile der
genannten Abkommen völlig zu versagen. Es
ist außerdem hinzuzufügen, daß die Schaffung
dieser neuen Kategorie von Militärgefangenen
sogar den Status gefährdet, der in dem
Abkommen von 1929 für die Kriegsgefangenen
festgelegt wurde. Das IKRK kann dieser
Situation
nicht
gleichgültig
gegenüberstehen: es erachtet es für seine
Pflicht, die Aufmerksamkeit der Regierungen
auf die Gefahren zu lenken, die sich künftig
aus einem solchen Präzedenzfall, der durch
eine
kriegführende
Macht
hervorgerufen
werden könnte, ergeben könnten. Es liegt
zweifellos im Interesse aller Staaten, schon
im Frieden, mehr noch im Krieg, die
Gewißheit zu haben, daß diejenigen ihrer
Staatsbürger, die in die Hand des Feindes
fallen könnten, stets die Vorteile der
Konventionen genießen würden."137
Entsprechend dem auch in Washington mittlerweile eingetretenen
Meinungswandel fiel dann auch die amerikanische Antwort aus. In
der Note des Außenministeriums an das IKRK war demgemäß zu lesen:
"Es ist die Politik der Regierung der
Vereinigten Staaten, diesen Gefangenen den
gleichen Status wie den Kriegsgefangenen
zuzubilligen. Seien Sie versichert, daß der
Bericht des Komitees die Aufmerksamkeit der
zuständigen Militärbehörden gefunden hat.
Es werden geeignete Maßnahmen ergriffen, um
sicherzustellen, daß das gesamte
137
IKRK-Report I, S. 565; dt. Übersetzung zit. nach: K.W. Böhme,
Die deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand - Europa,
S. 71
497
feindliche Militärpersonal, das sich in
amerikanischer Hand befindet, die Behandlung erfährt, wie sie im Genfer
Abkommen vorgesehen ist."138
Diese Erklärung beendete endgültig eine Kriegsgefangenenpolitik,
deren Ursprünge seinerzeit in London von anglo- amerikanischen
Diplomaten befürwortet und gegen die einhellige Ansicht aller
rechtskundiger Stellen in Washington durchgesetzt worden war.
Ihre vermeintliche Rechtlosigkeit machte die deutschen und
österreichischen
DEF
zum
Spielball
der
amerikanischen
Besatzungstruppen; sie waren machtlos, rechtlos und wehrlos. Die
Schutzmacht Schweiz wurde von den Vereinigten Staaten ihrer
Pflichten entbunden, und gerade in den Zeiten, als die
Kriegsgefangenen den völkerrechtlichen Schutz am stärksten
benötigten, war er - mangels Durchsetzbarkeit und mangels
amerikanischer Selbstbeschränkung bei der Machtausübung - am
wenigsten vorhanden. So kam es, daß es die Soldaten der deutschen
Wehrmacht und der paramilitärischen Einheiten waren, denen noch
nach Beendigung der Feindseligkeiten neben den Vertriebenen mit
das härteste und menschlich bestürzendste Schicksal beschieden
war.
IV. Übergabe deutscher Kriegsgefangener an andere Gewahrsamsmächte
IV.1. Frühe völkerrechtliche Überlegungen im US-Kriegs- ministerium
Während die amerikanischen Ministerien und die Streitkräfte
bestrebt waren, den ihrer Verwaltung in Deutschland unterstehenden Kriegsgefangenen ihre rechtliche Stellung abzuerkennen,
um sie nicht nach der Genfer Konvention behandeln zu müssen, ging
ihr öffentlich bekundetes Interesse bei der Überstellung von
zunächst
in
US-Gewahrsam
gewesenen
Kriegsgefangenen
an
Frankreich, Großbritannien und andere westliche Staaten dahin,
diesen ihre Rechte zu gewährleisten oder zurückzugeben. Dabei
waren sich die
138
498
IKRK-Report I, S. 566; dt. Übersetzung zit. nach: K.W. Böhme, ebd.,
S. 72
amerikanischen Behörden schon im Verlaufe des Krieges gar nicht
völlig im klaren, ob eine solche Übergabe völkerrechtlich
überhaupt zulässig war. Da aber weder der HLKO noch der Genfer
Konvention von 1929 etwas Gegenteiliges zu entnehmen war, kam man
im Kriegsministerium zu dem Ergebnis, der Transfer von
Kriegsgefangenen
von
einem
Alliierten
zum
anderen
sei
völkerrechtlich gestattet, um aber noch mahnend anzumerken:
"However it is doubtful if such a transfer
would relieve the transferor power of its
liability to the country in whose army the
prisoners served for observance with
respect to them of the provisions of the
Geneva Convention and other requirements of
international law."139
Damit war das Problem jedoch noch nicht vom Tisch, da noch die
weitere Möglichkeit bestand, die USA könnten noch aus Verträgen
mit Preußen aus dem 18. und 19. Jahrhundert gehalten sein, keine
ihrer Kriegsgefangenen an andere Gewahrsamsmächte zu überstellen.
Die Vereinbarungen über die Kriegsgefangenen stammten vom 11.
Juli 1799 und vom 1. Mai 1828. Artikel 24 des ersten Abkommens
und Artikel 12 des zweiten sahen vor, daß die beiden
Vertragspartner,
um
Verderben
von
den
Kriegsgefangenen
fernzuhalten, diese nicht in entfernte und harte Länder
verschicken dürften, und sie stattdessen in Teile ihrer
jeweiligen Herrschaftsgebiete in Europa und Amerika gebracht
würden, wo sie unter gesunden Bedingungen leben könnten140. Der
amerikanische Außenminister Lansing ging noch 1918 davon aus,
dieses Abkommen sei für die Vereinigten Staaten
139
140
Col. A. King, JAGD, Chief, War Plans Division, "Memorandum for the
Judge Advocate General
"Subject: Transfer of
prisoners of war to an ally", o.D.; RG 155 ABC 1942-1948,
383.6 (6-19-42) Sec. 1-A
Art. 12 lautet: "And to prevent the destruction of prisoners of
war, by sending them into distant and inclement countries, or by
crowding them into close and noxious places, the two Contracting
Parties solemnly pledge themselves to the world and to each other,
that they will not adopt, any such practice; ... but that they
shall be placed in some parts of their dominions in Europe or
America, in wholesome conditions..." FRUS 1918, Suppl. 2 The World
War, S. 55
499
bindend, und teilte
dementsprechend mit:
seinem Amtskollegen im Kriegsministerium
"It is believed ... that the plan of
sending to the United States the prisoners
of war captured by our military and naval
forces to be retained here is the proper
course to follow as Germany might insist
that under the treaty they should be
returned to the United States."141
Als das Kriegsministerium 1942 befürchtete, auch in und nach dem
Zweiten Weltkrieg an diese Abkommen der Vereinigten Staaten mit
Preußen gebunden zu sein, richtete es eine entsprechende Anfrage
an das Außenministerium. Von dort wurde telefonisch mitgeteilt,
das Abkommen von 1828 sei mittlerweile durch die Wirkung des
Friedensvertrages zwischen Deutschland und den Vereinigten
Staaten von 1921 außer Kraft getreten, da dieser den USA alle
Vorteile und Rechte der Alliierten Vorbehalten habe, die den
Versailler Vertrag unterzeichnet hätten. Artikel 289 dieses
Vertrages aber sage, daß alle vorher existierenden Abkommen
zwischen Deutschland und den Alliierten aufgehoben seien, mit
Ausnahme solcher, die jeder der Alliierten ausdrücklich wieder in
Kraft setze. Die Auskunft des Außenministeriums besagte weiter,
die Vereinigten Staaten hätten nur einen der schon vorher
bestehenden Verträge wieder in Kraft gesetzt, der sich aber mit
Patenten befaßt habe142. Oberst Archibald King schlußfolgerte
daraus:
"It, therefore, appears that the treaties
of 1799 and 1828, and in particular article
24 of the former with reference to
prisoners of war, are no longer in force."
141
142
FRUS 1918, Suppl. 2, S. 56, Vgl. auch S. 59
Col. A. King, JAGD, Chief, War Plans Division, "Memorandum for the
files", "Subject: Treatment of Prisoners of War - Treaty of July 11,
1799, between the United States and Prussia", 23.9.1942, Abs.Nr. 1;
RG 165 ABC 1942-1948, 383.6 (6-19-42) Sec. 1—A
143
Col. A. King, ebd., Abs. Nr. 2
Somit war der Weg für Kriegsgefangenen-Überstellungen an andere
verbündete Mächte grundsätzlich frei und völkerrechtlich nicht zu
beanstanden. Oberst King hielt in einem Memorandum eine Aussage
fest, die er im Hinblick auf die dabei zu beachtenden
Rechtspflichten schon im Sommer 1942 gegenüber einem Offizier des
Generalstabs abgegeben hatte:
"I told him that in the absence of some
express provision in a treaty between the
particular powers involved, there is no
general provision of international law
forbidding such a transfer. I called
attention to the Geneva Convention on
Prisoners of War of 1929, and said that if
those provisions as to the care of
prisoners are observed that is all that the
nation to whose army the prisoner belongs
has a right to demand."144
IV. 2.
Amerikanisch-französische
Planungen
und
Überstellun-
gen
deutscher Kriegsgefangener
a. Amerikanisch-französische
Vereinbarungen.
Um
diesen
Anforderungen gerecht zu werden, drangen die Vereinigten Staaten
gegenüber Frankreich von Anfang an auf eine Vereinbarung, die den
übergebenen Kriegsgefangenen ihre Rechte garantieren würde. Mitte
November 1944 stellte SHAEF Grundbedingungen auf, deren Annahme
durch die Franzosen Voraussetzung für die geplante Überstellung
sein sollten. Zuerst wurde die Beachtung der Genfer Konvention in
jeglicher Hinsicht ("in all respects") genannt. Auch sollte die
französische Regierung den Vertretern des Internationalen Roten
Kreuzes ein Recht auf Besuche, Zutritt und Interviews gewähren,
identisch mit dem in Artikel 86 der Genfer Konvention für die
Schutzmacht vorgesehenen Recht. Die gleichen Rechte sollten auch
der übergebenden Gewahrsamsmacht zugestanden werden145. Mit
144
Col. A. King, JAGD, Chief, War Plans Division, "Memorandum for the
files", "Subject: Transfer of prisoners of war from one captor power
to another", 20.7.1942, Abs. Nr. 1; RG 165 ABC 1942-1948, 383.6 (619-42) Sec., 1-A
X45 Brig. Gen. T.J. Davis, SHAEF, an Head, Supr. Headqu., AEF,
Mission (France), 18.11.1944, Abs. Nr. 4; RG 260/OMGUS 44501
dieser letzten Bestimmung mochten die Franzosen sich jedoch nicht
einverstanden erklären. Sie stellten sich auf den Standpunkt, die
übergebende Macht habe nach der Übergabe keine Verantwortung mehr
und sollte die von den Vereinigten Staaten geforderten Rechte
nicht beanspruchen. Mit der Begründung, die gegenwärtige
französische Regierung sei ein voll entwickeltes Mitglied der
Vereinten Nationen und der EAC, wurde daraufhin von den
Amerikanern diese Bedingung fallengelassen146. In Washington war
man sich bei den CCS - im Gegensatz zu der französischen
Auffassung - der bleibenden Verantwortung für die übergebenen
Kriegsgefangenen dennoch bewußt:
"The
United
States
and
the
British
Governments have adopted the view that the
act of transfer of a prisoner of war from
the captor power to the custody of an
Allied power does not divest the captor
power of all its responsibility under the
Geneva Convention.147
Dieser anglo-amerikanische Vorbehalt wurde aber nicht in die
Vereinbarung aufgenommen. Auf amerikanischer Seite glaubte man
wohl, durch das Zugeständnis einer Behandlung nach den
Bestimmungen der Genfer Konvention und der Gewährleistung einer
Art Schutzmachtfunktion für das IKRK die notwendigen Vorkehrungen
für das Wohl der deutschen Kriegsgefangenen getroffen zu haben148.
b. Überstellungen und Versorgungsschwierigkeiten. Vom 22. Februar
bis Ende Mai 1945 wurde ein erstes Kontingent von 50.000 Mann an
Frankreich abgegeben, von denen 15.000 aus britischen Lagern in
der Normandie und aus Belgien, die restlichen 35.000 aus
amerikanischen Sammellagern hinter
146
147
148
502
45/21/2, "Subject: Transfer of Prisoners of War to French
Custody"
Vgl. CCS, "Report by the Combined Administrative Committee",
"Transfer of German Prisoners to the French", 17.1.1945, Abs. Nr.
2-4; RG 260/OMGUS AGTS/88/9
CCS, ebd., Abs. Nr. 7
Zum Inhalt der amerikanisch-französischen Vereinbarung vgl. Brig.
Gen. T.J. Davis, SHAEF, "Subject: Transfer of Enemy Prisoners of
War to French Custody", 14.2.1945; RG 260/OMGUS 44-45/21/2
der Invasionsfront kamen. Es handelte sich um das einzige
"gemischte" Kontingent. Die Briten lieferten später nur noch
insgesamt weitere 10.000 Kriegsgefangene. Alle anderen Übergaben
erfolgten aus amerikanischem Gewahrsam und beliefen sich bis
Mitte September 1945 auf rund 663.000 Personen149. Unter anderem
übernahmen die Franzosen am 10. Juli 1945 von den Amerikanern
acht Kriegsgefangenen- Sammellager mit 182.400 Insassen im Raum
Koblenz/Mainz, darunter auch die berüchtigten "Rheinwiesenlager"
Sinzig, Andernach, Siershahn, Bretzenheim Dietersheim, Koblenz,
Hechtsheim und Diez, in denen das Elend besonders groß war, zumal
sich unter den Gefangenen eine ganze Anzahl von Frauen,
Jugendlichen, vereinzelt Kindern, alten Menschen sowie große
Mengen
Arbeitsunfähiger
(Verwundete,
Amputierte)
und
Unterernährter befanden150.
Schon bald sah man sich in Frankreich bei der Versorgung dieser
Kriegsgefangenen vor große und ernste Schwierigkeiten gestellt151.
In dieser Situation erwies es sich als besonders vorteilhaft, daß
die Vereinigten Staaten darauf bestanden hatten, dem IKRK einen
schutzmachtähnlichen Status einzuräumen. Das Internationale Rote
Kreuz war nun in der Lage, die Zustände in den Lagern zu
analysieren und die gewonnenen Ergebnisse weiterzumelden und zu
veröffentlichen. Bei ihren Inspektionsbesuchen stellten die IKRKRepräsentanten im Sommer 1945 fest, daß die Lage derart kritisch
geworden war, daß nach ihrer Meinung die Gesundheit und sogar das
Leben von 300.000 Gefangenen in französischen Lagern infolge von
Unterernährung ernsthaft bedroht war. Die Pariser Delegation des
Komitees appellierte daraufhin dringend an die amerikanischen
Stellen in Frankreich um Hilfe, um die bevorstehende Katastrophe
zu vermeiden152. Die Lagerbedingungen, die
149
150
151
152
Vgl. K.W. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen in
französischer Hand, S. 16-18, wo auch die einzelnen
Kontingente (insgesamt fünf) zahlenmäßig aufgeschlüsselt
werden.
K.W. Böhme, ebd., S. 27
Vgl. K.W. Böhme, ebd., S.61 ff. zur Ernährungssituation, S. 77 ff.
zum Gesundheitswesen und der Mortalität.
IKRK-Report I, S. 255 f.
503
Versorgung der Kriegsgefangenen und die Übergriffe der (auch
amerikanischen) Wachmannschaften entsprachen in keiner Weise den
Anforderungen der Genfer Konvention, zu deren Einhaltung sich
Frankreich gegenüber den USA verpflichtet hatte.
Das amerikanische Kriegsministerium wurde im September 1945
aufgeschreckt durch ein Memorandum des Generalsekretärs des
"Federal Council of the Churches of Christ in America", Samuel
McCrea Cavert, der über die von ihm in der Zeit von Mai bis
August gemachten Erfahrungen berichtete. Die Kriegsgefangenen, so
Cavert, befänden sich zwar hauptsächlich in französischen Lagern,
seien jedoch durch amerikanische Streitkräfte in der letzten
Phase des Krieges gefangengenommen und an die Franzosen übergeben
worden. Deshalb habe Amerika
"to bear much of the responsibility,
especially so since many of the prisoners
were turned over to the French in a
halfstarved condition."153
Über die Lagerbedingungen in von Frankreich bewachten Camps
konnte Cavert keine näheren Angaben machen, da er in diese keinen
Einblick hatte nehmen dürfen. Selbst das nationale französische
Rote Kreuz, so mußte er nach Washington melden, habe keine
Erlaubnis zum Besuch dieser Lager erhalten154. Doch auch das, was
er in den unter amerikanischer Kontrolle stehenden "Continental
Centers Prisoner of War Enclosures" gesehen hatte, war äußerst
besorgniserregend:
"In May a visit to one of these camps
revealed that the prisoner of war chaplains
complained that the prisoners received as
their entire ration a little thin soup
twice a day and were sleeping on the
ground. Several young prisoners had been
beaten by American guards a fact which was
confirmed by
153
154
504
J.L. Barclay, Executive, Special Group, G-1, an Assistant Chief
of Staff, G-1, 30.10.1945, Anhang: "Memorandum on Conditions in
Prisoner of War Camps in France" (Auszüge aus dem CavertMemorandum) vom 29.9.1945; RG 107 ASW 383.6 Enemy POW in
American Hands (Germans in French Custody)
J.L. Barclay, ebd., Abs. Nr. 3
the American chaplain when he was alone
with the observer. ...
At another similar camp, visited in May and
again in August, it had been found on both
occasions
that insufficient food
was
provided, that the prisoners of war
suffered so from hunger that some did not
have the moral strength to endure this slow
death and had tried to commit suicide. Many
of them showed famished faces. Furthermore,
they had to sleep on thin straw on the
ground. It was nothing unusual to see men
faint from weakness during the worship
services."155
a. Übergabe-Stopp vom 30. September 1945. Aufgrund der Berichte
aus Frankreich ließ Eisenhower am 30. September 1945 alle
weiteren Übergaben deutscher Kriegsgefangener an Frankreich
stoppen156. Für die schweren Fälle wurde die Repatriierung
angeordnet, wovon insgesamt 73.000 Mann betroffen waren. Doch
schon im Februar 1946 wurden neue Überstellungen vorgenommen,
unter der Bedingung, daß das IKRK die Behandlung auch weiterhin
überwachen durfte. Als dieses seiner Aufgabe jedoch erneut
gerecht werden wollte und von wenigstens 120.000 deutschen
Kriegsgefangenen berichtete, die unter Unterernährung litten,
reagierte die amerikanische Armee nur sehr ungehalten und meinte,
daß die Situation keine Repatriierungsaktionen rechtfertige, aber
sorgfältig beobachtet werde. In einer nicht für das IKRK
bestimmten zusätzlichen Notiz wurde außerdem festgehalten, die
Berichte des Internationalen Roten Kreuzes seien in der
Vergangenheit pessimistisch und überhuman gewesen157.
155
156
157
J.L. Barclay, ebd., Abs. Nr. 1
Gen. Eisenhower an 3. und 7. US-Army, 30.9.1945: "Effective
immediately, no transfer of German PW's or DEF's will be made to
French custody or into French Zone Germany"; RG 26O/OMGUS
POLAD/728/25
A.L. Smith, Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg, Die Entlassung der
deutschen Kriegsgefangenen, S. 28 f.
505
IV. 3. Frankreichs Auffassung vom Zweck der Kriegsgefangen
schaft: Zwangsarbeit zu Reparationszwecken
In Frankreich machte man indessen keinerlei Anstalten, die
deutschen Kriegsgefangenen in ihre Heimat zurückzuführen, was ihr
Los sicherlich erheblich gemildert und die Amerikaner und
Franzosen ihrer Verantwortung entbunden hätte, einmal ganz
abgesehen von der sich aus Artikel 75 der Genfer Konvention
ergebenden Pflicht zur schnellstmöglichen Heimschaffung der
Kriegsgefangenen nach Ende der Feindseligkeiten. Für Frankreich
waren die Kriegsgefangenen jedoch nicht, wie es das Völkerrecht
schon seit geraumer Zeit vorsah. Sicherheitsgefangene158, die mit
dem Ziel festgehalten wurden, sie an der Fortführung des Kampfes
zu hindern. Ihre Zurückhaltung wurde vielmehr mit einem ganz
neuartigen Sinn und Zweck versehen, mit dem Reparationsgedanken.
Für Frankreich gehe es um den Wiederaufbau seiner Wirtschaft, die
in den Besatzungsjahren und durch die Kriegshandlungen ruiniert
worden sei. Die Nutzung der Arbeitskraft der Gefangenen wurde als
lebenswichtige Notwendigkeit für Frankreich angesehen. Schon die
Verfasser der Friedensverträge, mit denen der Erste Weltkrieg
beendet
worden
sei,
hätten
auf
die
früher
üblichen
Kriegsentschädigungen
verzichtet und stattdessen
von
den
Besiegten Beiträge zur Beseitigung der Zerstörungen gefordert,
deren verantwortliche Urheber sie zu einem großen Teil gewesen
seien. Es sei der Gedanke der "gerechten Reparation" entstanden,
die von den Mächten geleistet werden müßten, die den Krieg
verloren
hätten.
Die
Notwendigkeit
solcher
Reparationen
erachteten die Franzosen nach dem Zweiten Weltkrieg als noch
unumgänglicher als nach dem vorangegangenen. Dieses Bedürfnis
nach deutschen Reparationsleistungen glaubte Frankreich nicht
durch entsprechende Sachleistungen oder Zahlungen befriedigen zu
können, da Deutschlands gegenwärtiger Zustand es nicht in die
Lage versetze, in absehbarer Zeit die Verpflichtungen
158
506
Vgl. J. Hinz, Das Kriegsgefangenenrecht, S. 52; F. Berber,
Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 2 (Kriegsrecht), S. 151; Chr.
Meurer, Die Haager Friedenskonferenz, 2. Bd. (Das Kriegsrecht der
Haager Konferenz), S. 123
zu erfüllen, die man das Recht habe, ihm aufzuerlegen. Aus diesem
Grund müsse man auf die Kriegsgefangenen zurückgreifen, die als
eine Ergänzung des für den Wiederaufbau der französischen
Wirtschaft benötigten Arbeitskräftepotentials galten159.
Aus der bloßen Sicherheitsverwahrung wurde somit, nachdem die
Fortführung des Krieges ausgeschlossen und der Sicherungsgrund
damit entfallen war, ein dem Völkerrecht bis dahin fremder
Gesichtspunkt für die Zurückhaltung der Gefangenen entwickelt,
der mit dem Sicherheitsgewahrsam nichts mehr zu tun hatte, und
eine
völkerrechtswidrige
Nutzung
der
Arbeitskraft
als
reparationspolitische Notwendigkeit kaschierte. In der deutschen
zeitgeschichtlichen Forschung ist diese fragwürdige Entwicklung
teilweise noch mit Verständnis aufgenommen worden. Kurt W. Böhme
hat in seiner Untersuchung über das Schicksal der deutschen
Kriegsgefangenen in französischer Hand dazu ausgeführt:
"Frankreich - und nicht nur Frankreich
allein - ging den kürzesten Weg, als es den
völkerrechtlich umstrittenen, jahrelangen
Einsatz
von
Kriegsgefangenen
zu
Reparationsleistungen
beschloß.
Verständlich wird diese Haltung, wenn man
einige
ernsthafte
Gesichtspunkte
berücksichtigt. Der Zweite Weltkrieg endete
ohne Waffenstillstandsvertrag, in dem die
Gefangenenfrage geregelt worden wäre. Mehr
noch. Am Ende des Krieges gab es im
zerstörten Deutschland keine Regierung, mit
der
über
die
Wiedergutmachung
hätte
verhandelt werden können. Die Aussicht auf
einen Friedensvertrag war damit in weite
Ferne gerückt. Auf ihn zu warten, um die
Frage
der
Wiedergutmachung
zu
reglementieren,
schien
den
Franzosen
angesichts der eigenen wirtschaftlichen
Situation nicht vertretbar. So gingen sie,
unterstützt von den USA, den Weg, der
schnelle und wirksame Hilfe versprach: die
Kriegsgefangenen wurden zu Arbeitskräften,
um die Kriegsschäden zu beseitigen."160
159
160
K.W. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen in französischer
Hand, S. 143
K.W. Böhme, ebd., S. 143 f.
507
Bei einer solchen Argumentation wird jedoch übersehen, daß es für
die Kriegsgefangenenfrage gar keiner Vereinbarung - sei es
Waffenstillstand oder Friedensvertrag - bedurfte, da sie nach
geltenden Völkerrecht gerade in Ermangelung einer gegenteiligen
Vereinbarung unmittelbar nach dem Wegfall des Sicherungsgrundes durch die endgültige Einstellung der Feindseligkeiten nach der
Kapitulation der deutschen Wehrmacht - in ihre Heimat zu
entlassen
gewesen
wären.
Daß
die
französischen
Reparationsforderungen möglicherweise aus den noch vorhandenen
deutschen Ressourcen nicht hätten gedeckt werden können, ist eine
ganz andere Frage, berechtigte jedoch weder die Franzosen noch
die Amerikaner, deutsche Kriegsgefangene noch Jahre nach der
militärischen Kapitulation des einen Kriegführenden als billige
Arbeitskräfte zu nutzen. Treffender als Böhme hat denn auch sein
amerikanischer Kollege Arthur L. Smith die Situation erkannt und
beschrieben, die für das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen
nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmend war:
"Ohne den Schutz durch eine Regierung wurde
das Schicksal der Kriegsgefangenen ebenso
'bedingungslos'
wie
die
Kapitulation
selbst. ... Die bedingungslose Kapitulation
gab den alliierten Mächten den Vorwand, den
sie brauchten, um internationale Konventionen zu ignorieren und das Kriegsgefangenen-Problem nach Belieben zu behandeln.
"161
IV.
4. Die Vereinigten Staaten bemühen sich um die Rückführung der
Kriegsgefangenen
Zwar fühlten sich die Vereinigten Staaten auch weiterhin für die
aus ihrem Gewahrsam an andere Mächte überlassenen Gefangenen
verantwortlich,
doch
waren
ihre
Einflußmöglichkeiten
auf
Frankreich
nur
äußerst
begrenzt.
Auch
war
ihre
Verhandlungsgrundlage mit Frankreich nicht die beste, hatten die
Amerikaner doch selbst über fast ein Jahr hinweg
161 A.L. Smith, Die deutschen Kriegsgefangenen und Frankreich 19451949, in: VfZG 1984, S. 103
508
die deutschen Kriegsgefangenen in US-Gewahrsam nicht als solche
anerkannt und behandelt. Der Druck der Öffentlichkeit, die sich
über diese neue Form von "Sklavenarbeit" zu recht immer mehr
erbost zeigte, wurde jedoch zusehends stärker. Bei OMGUS verfiel
man deshalb auf die Idee, die Rückführung der Kriegsgefangenen
damit zu begründen, die Alliierte Reparationskommission habe
diese Art Arbeit als Reparationsleistung gar nicht besprochen, so
daß die entsprechende Verwendung der Kriegsgefangenen gar nicht
gerechtfertigt sei. In einem Bericht vom 20. Juni 1946 hieß es
demgemäß:
"Under the Geneva Convention the United
States
remains
responsible
for
these
prisoners of war even though they have been
transferred to another power. It is deemed
desirable that these prisoners of war be
returned to United States custody through
the failure of the Allied Reparations
Commission
to
discuss
reparations
or
rehabilitation labor."162
Frankreich war jedoch nicht das einzige Land, mit dem es wegen
der Rückführung der zuvor übergebenen Kriegsgefangenen zu
Schwierigkeiten kam. Auch Großbritannien zeigte sich über das
amerikanische Rückgabeverlangen alles andere als erfreut. Im USAußenministerium wurde man sich nun langsam der Bedeutung bewußt,
die zum Schutz der Kriegsgefangenen deren Regierung oder aber
einer
unabhängigen
internationalen
Organisation
wie
beispielsweise dem IKRK zukommt. In einer Nachricht an
Botschafter Robert Murphy im Juni 1946 hieß es, die Erklärung der
britischen Regierung,
"that the German POWs lacked the protection
of any government and were not covered by
Geneva Convention has created the new
demand that the International Red Cross be
authorized to assume the protection of POWs
in the United Kingdom in the same manner
that protection was exercised by the IRC
162
W.B. Lockling, OMGUS, Office of Political Affairs, "Subject: Staff
Study on 'Return to U.S. Custody of German Prisoners of War
Transferred to France, Belgium, the Netherlands, and Luxembourg",
20.6.1946; RG 260/OMGUS POLAD/745/38
509
over allied prisoners in German hands
before VE-Day. The argument presented ...
is that these POWs being without the
protection of their own government, are
more in need than ever of the protection of
some body outside the control of .the
Government holding them prisoners."163
Im Sommer 1946 begannen die Vereinigten Staaten und Frankreich
mit Verhandlungen über die Repatriierung der Gefangenen. Das
Interesse der französischen Regierung war jedoch denkbar gering,
da
sie
so
ohne
weiteres
nicht
auf
die
mit
der
Gefangenenverwendung
verbundenen
Vorteile,
vor
allem
wirtschaflicher Art, verzichten wollte. Sie versuchte deshalb,
die aufgrund der Wahlen in Frankreich zeitweise ausgesetzten
Gespräche nur schleppend wieder in Gang kommen zu lassen164.
Auf Bitten der Franzosen vermied US-Außenminister James F. Byrnes
lange Zeit jeden offiziellen Schritt in dieser Angelegenheit. Als
diese Geheimdiplomatie jedoch ganz offensichtlich fruchtlos
blieb, ließ er am 29. November
1946 die diplomatische Vertretung der Vereinigten Staaten in
Paris - wie auch in Belgien, Luxemburg und den Niederlanden über
eine
neue
und
nachdrücklichere
Vorgehensweise
unterrichten165. Am 2. Dezember richtete er dann eine offizielle
Note an die jeweiligen Regierungen166. Der durch die amerikanische
Öffentlichkeit auf die Regierung in Washington ausgeübte Druck
wurde von Byrnes als so erdrückend empfunden, daß er keine
Alternative zu einem sofortigen Repatriierungsprogramm mehr
erkennen konnte167. Die amerikanischen Botschafter wurden von
ihrem Außenministerium deshalb mit Argumenten versehen, mit deren
Hilfe sie auf ihre Verhandlungspartner einwirken sollten. Zu
diesen Punkten gehörte vor allem:
"The Geneva POW Convention, both in its
letter and spirit, contemplates the re-
163
164
165
163
16
7
510
Harriman an R. Murphy, 5.6.1945; RG 260/OMGUS POLAD/745/38
Vgl. A.L. Smith, VfZG 1984, S. 110
FRUS 1947 III, S. 621 ff.
Vgl. J.F. Byrnes, In aller Offenheit, S. 225
FRUS 1947 III, S. 621
patriation of POWs as soon as possible
after the cessation of active hostilities.
The concept of forced labor is
repugnant to the American people. The
growing feeling in this country, therefore,
is that failure to repatriate POWs who are
not charged with war crimes or who are not
otherwise ineligible for repatriation is
indefensible on moral as well as legal
grounds."168
Das waren eindeutige Forderungen, die gar nicht notwendig gewesen
wären, hätten die Amerikaner bereits zwei Jahre eher diesen
Standpunkt bezogen, weil eine solche Situation dann gar nicht
erst eingetreten wäre. Ganz offensichtlich mußte erst die breite
Öffentlichkeit
in
den
Vereinigten
Staaten,
und
daneben
insbesondere in Großbritannien, sich der Sache annehmen, um auch
bei der amerikanischen Regierung eine Rückbesinnung auf die
Prinzipien zu erreichen, für die zu kämpfen man während des
Krieges angegeben hatte. Die Vereinigten Staaten ersuchten nun
die Regierungen der betroffenen Länder, die Repatriierung der
Gefangenen, für die die USA verantwortlich seien, bis zum 1.
Oktober 1947 abzuschließen169. Während alle anderen Regierungen
sich zu diesem Schritt bereitfanden, anerkannte ein Sprecher des
französischen Außenministeriums zwar das Recht Washingtons, die
Freilassung der 620.000 deutschen Kriegsgefangenen zu verlangen,
die
die
amerikanische
Armee
Frankreich
übergeben
habe.
Gleichzeitig machte er allerdings Argumente gegen dieses Begehren
geltend. Insbesondere verwies er auf die immer noch gespannte
französische Ernährungslage und den deshalb nach wie vor
bestehenden Bedarf an den 200.000 in der Landwirtschaft
eingesetzten Gefangenen, sowie die angebliche Notwendigkeit,
60.000 deutsche Kriegsgefangene weiterhin in den französischen
Kohlengruben zu verwenden. Zudem hätten die amerikanischen
Delegierten auf der Pariser Reparationskonferenz ein Jahr zuvor
die Meinung vertreten, daß die in Frankreich arbeitenden
deutschen Kriegsgefange
168
169
FRUS 1947 III, S. 621 f.
FRUS 1947 III, S. 622
511
nen einen Teil der deutschen Reparationen an Frankreich abtragen
sollten170.
IV.
5.
Bestrebungen
in
Deutschland,
eine
Rückführung
der
Kriegsgefangenen zu erreichen
Länderrat wird aktiv. Das schwere Los der deutschen
Kriegsgefangenen in Frankreich und die Suche nach politischen
Möglichkeiten, nachdrücklich auf ihre Entlassung hinzuarbeiten,
beschäftigte natürlich auch die mittlerweile wieder geschaffenen
öffentlichen
Stellen
in
den
westlichen
Besatzungszonen
Deutschlands. Auf deutscher Seite versuchte man von Ende 1946 an,
über die amerikanischen Behörden, die die Entlassung der in ihrem
Gewahrsam befindlichen deutschen Kriegsgefangenen ohne größere
Verzögerung durchgeführt hatten und die Auslieferung "eigener"
Kriegsgefangener an Frankreich schon bereuten, Druck auf
Frankreich auszuüben. Im Dezember 1946 stellte der Länderrat ein
formelles Gesuch an die amerikanische Militärregierung in
Deutschland, unter Berufung auf die Genfer Konvention alle
deutschen
Kriegsgefangenen
freizulassen. Die Antwort
der
Amerikaner erschien durchaus ermutigend. Sie teilten dem
Länderrat mit, daß alle Kriegsgefangenen bis Juli 1947 entlassen
werden sollten. Außerdem hätten sie Frankreich, Belgien, Holland
und Luxemburg aufgefordert, ihre Gefangenen bis Oktober 1947
ebenfalls zu repatriieren. In dieser positiven Haltung der
Amerikaner sah der Länderrat "einen bedeutenden Schritt vorwärts"
auf dem Weg zur endgültigen Heimschaffung der Gefangenen171.
a. Der
Der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard hatte bereits kurz
vorher die Verwendung erzwungener Kriegsgefangenenarbeit mit
völkerrechtlichen Argumenten lautstark vor der amerikanischen
Presse moniert:
"Es widerspricht dem Völkerrecht, die
Kriegsgefangenen zu Arbeitsleistungen
zurückzubehalten. Der Sinn der Kriegs-
170
171
512
Keesings Archiv der Gegenwart 1945/46, S. 945 (A); vgl. auch
FRUS 1947 III, S. 623 ff.
A.L. Smith, Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 61 f.
gefangenschaft ist, eine Wiederaufnahme der
Kampfhandlungen zu verhindern.
Deutschland ist besetzt und entwaffnet.
Die Kriegsgefangenen bedeuten also keine
Gefahr mehr für die Alliierten. "172
Um die Hilfs- und Wohlfahrtsmaßnahmen für die Kriegsgefangenen zu
koordinieren, genehmigte General Clay ein Länder- ratsbüro für
Kriegsgefangene. Er bestand jedoch darauf, daß das Büro sich aus
allen
Angelegenheiten
herauszuhalten
hätte,
die
auf
internationaler
Ebene
verhandelt
werden
müßten173.
Die
Repatriierungsfrage war der Zuständigkeit des Ausschusses damit
entzogen.
Rechtsgutachten von Professor Kaufmann. Im Länderrat dachte
man
deshalb
verstärkt
darüber
nach,
wie
man
in
der
Kriegsgefangenenfrage internationalen Handlungsspielraum bekommen
könnte. Ein möglicherweise erfolgversprechender Weg schien die
Anrufung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag zu bieten.
Anfang 1947 kam man im Länderrat angesichts der Tatsache, daß
weder der Länderrat noch irgendeine andere deutsche Körperschaft
berechtigt war, außerhalb ihrer jeweiligen Besatzungszone
direkten
Kontakt
mit
einem
internationalen
Gerichtshof
aufzunehmen, auf den Gedanken, einen Appell oder eine Petition
über die Besatzungsbehörden laufen zu lassen174. Die rechtliche
Fundierung
einer
derartigen
Vorgehensweise
wurde
dem
Völkerrechtler Erich Kaufmann übertragen. Kaufmann rekurrierte in
seinem Gutachten "Die Freilassung und Heimschaffung der deutschen
Kriegsgefangenen in völkerrechtlicher Beleuchtung"175 gezielt auf
den Sinn und Zweck der Kriegsgefangenschaft, die mittlerweile
entfallen
seien,
und
die
einschlägigen
völkerrechtlichen
Vorschriften. Zwar mußte Kaufmann zugestehen, daß weder die
Voraussetzungen von Art. 2 0 HLKO Vorlagen, der vorsieht, daß die
Kriegsgefangenen "nach dem Friedensschluß" binnen kürzester Frist
in ihre Heimat
b.
172
173
174
175
A.L. Smith, ebd., S. 62
A.L. Smith, ebd., S. 65; über die erfolgreiche Arbeit des
Kriegsgefangenenausschusses vgl. ebd., S. 66 ff.
A.L. Smith, ebd., S. 189 Abgedruckt in: SJZ
1947, S. 57 ff.
513
entlassen werden sollen, noch den Anforderungen des Art. 75 der
Genfer Konvention genüge getan war. Dieser bestimmt nämlich, daß,
wenn die Kriegführenden einen Waffenstillstandsvertrag schließen,
sie in diesen grundsätzlich Bestimmungen über die Heimschaffung
der Kriegsgefangenen aufzunehmen haben, wenn dahingehende
Bestimmungen in dem Vertrag nicht aufgenommen werden konnten,
haben die Kriegführenden demnach sobald wie möglich zu diesem
Zweck miteinander in Verbindung zu treten. Auf alle Fälle hat die
Heimschaffung der Kriegsgefangenen innerhalb kürzester Frist nach
Friedensschluß zu erfolgen. Die Autoren dieser Vorschriften waren
wie selbstverständlich davon ausgegangen, daß Kriege der
bisherigen
politischen
und
völkerrechtlichen
Tradition
entsprechend durch einen Waffenstillstand, auf jeden Fall aber
durch einen der Beendigung der Feindseligkeiten alsbald
nachfolgenden Friedensvertrag beendet würden. Eine rechtlich so
völlig offene Situation wie die 1945 entzog sich ihrem Vorstellungsvermögen .
Kaufmann stützte sich zunächst auf die Präambel der HLKO. Dort
heißt es, daß es nicht möglich war, sich schon jetzt (1899/1907)
über Bestimmungen zu einigen, die sich auf alle in der Praxis
vorkommenden Fälle erstrecken, daß es aber nicht die Absicht der
vertragschließenden Parteien sein konnte, daß die nicht
vorgesehenen Fälle in Ermangelung einer schriftlichen Abrede der
willkürlichen
Beurteilung
der
militärischen
Befehlshaber
überlassen bleiben dürften und die Vertragsparteien es daher für
zweckmäßig hielten, daß in den Fällen, die in den Bestimmungen
der HLKO nicht einbegriffen sind, die Bevölkerung und die
Kriegführenden unter dem Schutz und der Herrschaft der Grundsätze
des Völkerrechts bleiben, wie sie sich ergeben aus den Gesetzen
der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen
Gewissens.
Kaufmann
meinte
vor
dem
Hintergrund
dieser
Forderungen:
"Geht man von diesen Grundsätzen aus, so
wird es nicht nur in Deutschland, sondern
auch im alliierten Lager, nicht wenige
geben, die die Entlassung der
deutschen Kriegsgefangenen mehr als 1 1/2
Jahre nach dem Ende der Kriegshandlungen
als den Gesetzen der Menschlichkeit und den
Forderungen des öffentlichen
Gewissens
entsprechend halten werden." 176
Aber auch das Genfer Abkommen selbst bot für Kaufmann Fingerzeige
in diese Richtung. Es liege nahe, so Kaufmann, das, was Artikel
75 der Genfer Konvention den beiden Kriegführenden als Pflicht
auferlege, auch als den siegreichen Mächten, vor denen die
deutsche Wehrmacht kapitulieren mußte, als Pflicht auferlegt
anzusehen. Und wenn der zweite Satz des Artikel 75 sogar für den
Fall
eines
die
Kriegshandlungen
nur
unterbrechenden
Waffenstillstands den Kriegführenden die Pflicht auferlege,
"sobald als möglich" zwecks Freilassung der Kriegsgefangenen in
Verbindung zu treten, dann liege es ebenfalls nahe, im Falle
einer Kapitulation von dem Sieger zu erwarten, daß er von sich
aus zur Freilassung und Heimschaffung schreite, da dies ja gerade
wegen der Kapitulation ohne jede Gefährdung militärischer und
sogar
ohne Gefährdung legitimer politischer Interessen möglich
sei 177.
Kaufmann verwies weiterhin auf die Überschrift von Artikel 75,
die zwar keine normative Kraft habe, aber anerkanntermaßen zur
Auslegung der von der Überschrift gedeckten Rechtsnormen
herangezogen werden dürfe und herangezogen werden müsse, wenn die
Frage auftauche, ob die betreffenden Rechtsnormen einengend oder
ausdehnend zu interpretieren seien. Die Überschrift von Artikel
75 spricht von "Freilassung und Heimschaffung nach Beendigung der
Feindseligkeiten", so daß hier weder auf einen Waffenstillstand
noch einen Friedensvertrag abgestellt wird, sondern bloß die rein
tatsächliche
"Beendigung
der
Feindseligkeiten"
für
die
Repatriierungspflicht maßgeblich ist. Daß bei einer bedingungslosen Kapitulation die Feindseligkeiten beendet seien, also
auch eine militärische Verwendung der Gefangenen nicht
176
177
E. Kaufmann, ebd., S. 59
E. Kaufmann, ebd.
515
in Frage komme und ein Widerstand gegen die vom Sieger zu
fordernden Friedensbedingungen nicht mehr möglich sei, meinte
Kaufmann, bedürfe keiner weiteren Ausführung178.
Das gleiche Ergebnis, eine bestehende Freilassungs- und Repatriierungspflicht der noch immer deutsche Kriegsgefangene
zurückhaltenden alliierten Mächte, folgerte Kaufmann auch im
Hinblick
auf
den
traditionellen
Sinn
und
Zweck
der
Kriegsgefangenschaft. Er schrieb dazu in seinem Gutachten:
"Die Kriegsgefangenschaft ist eben nach
hervorragenden Autoritäten des Völkerrechts
lediglich Sicherheitshaft, die bewirken
soll, daß der gefangene Soldat außer
Gefecht gestellt ist und bleiben soll, um
das Kriegspotential des Gegners für die
Dauer der Feindseligkeiten zu schwächen.
Die Heranziehung der Arbeitskraft der
Kriegsgefangenen zur Ergänzung mangelnder
eigener Arbeitskräfte, oder gar der von
Bundesgenossen, nach Beendigung der Feindseligkeiten dürfte als ein nicht im Sinne
des Instituts liegender Mißbrauch anzusehen
sein." 179
Kaufmann konnte sich zur Zementierung dieser in der modernen
völkerrechtlichen Literatur einhellig geteilten Auffassung sogar
auf das Urteil des Internationalen Militärgerichts in Nürnberg
berufen. Dieses hatte eine Aussage von Admiral Canaris aus dem
Jahre 1941 rechtlich zu würdigen gehabt. Canaris hatte
ausgeführt:
" (Die Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts
über
die
Behandlung
von
Kriegsgefangenen) haben sich seit dem 18.
Jahrhundert dahin
gefestigt,
daß
die
Kriegsgefangenschaft
weder
Rache
noch
Strafe
ist,
sondern
lediglich
Sicherheitshaft, deren einziger Zweck es ist,
die Kriegsgefangenen
an
der
weiteren
Teilnahme am Kampf zu verhin-
178
179
180
516
E. Kaufmann, ebd., S. 60
E. Kaufmann, ebd.
K. Heinze/K. Schilling, Die Rechtsprechung der Nürnberger
Militärtribunale, S. 41
Diese Protesterklärung von Canaris, die sich damals gegen die
völkerrechtswidrige Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener
gerichtet hatte, gab nach Auffassung des Nürnberger Gerichts "die
rechtliche Lage richtig wieder"181.
Auf der Grundlage dieser überzeugenden Rechtsauffassung, die
insbesondere auch der Präambel der HLKO umfassend gerecht wurde,
war die alsbaldige, ja die sofortige Heimschaffung der noch in
alliiertem Gewahrsam befindlichen deutschen Kriegsgefangenen fast
zwei
Jahre
nach
der
militärischen
Kapitulation
ein
völkerrechtlich
zwingender
Schritt.
Die
entgegenstehenden
politischen Erwägungen der Gewahrsamsmächte erschwerten jedoch
auch
weiterhin
eine
völkerrechtskonforme
Lösung
der
Kriegsgefangenenfrage.
IV.
6. Repatriierung der Kriegsgefangenen aus Frankreich
Nach einigem diplomatischen Hin und Her kam es am 11. März
1947 endlich zu einem amerikanisch-französischen Abkommen, das
zwei
Tage
später
vom
französischen
Außenministerium
veröffentlicht wurde. Danach hatten die Franzosen zu diesem
Zeitpunkt noch 630.000 deutsche Kriegsgefangene unter ihrer
Kontrolle, von denen 450.000 zuvor aus amerikanischem Gewahrsam
überführt worden waren. Fast allen deutschen Kriegsgefangenen
sollte ein Angebot unterbreitet werden, verbunden mit einer
Überlegungsfrist von drei Monaten, das ihnen die Wahl gab,
entweder weiter Kriegsgefangener zu bleiben, um dann nach einem
festgelegten Zeitplan repatriiert zu werden, oder aber - auf
freiwilliger Basis - einen Arbeitsvertrag zu unterzeichnen.
Diejenigen, die sich entschieden, weiterhin Kriegsgefangene
bleiben zu wollen, sollten in monatlichen Kontingenten von
mindestens 20.000 Mann nach Deutschland zurückgebracht werden182.
Eine abschließende Gesamtregelung über die Heimschaffung der
deutschen Kriegsgefangenen wurde dann am 23. April 1947 auf der
Außenministerkonferenz in Moskau zwischen den
181
182
K. Heinze/K. Schilling, ebd., S. 42
FRUS 1947 III, S. 629 f.
517
Vertretern
der
USA,
der
Sowjetunion,
Frankreichs
und
Großbritanniens erreicht. Sie sah vor, bis zum 31. Dezember
1947 alle ehemaligen Angehörigen der deutschen Wehrmacht und der
angeschlossenen Organisationen zu entlassen183. Zwar wurde am 13.
Dezember 1948 offiziell von französischer Seite verkündet, die
letzten deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich hätten fünf Tage
zuvor die Heimreise angetreten, doch stimmte das nur bedingt. Von
der Repatriierung blieben bestimmte Kreise nach wie vor
ausgenommen: Kriegsgefangene, die ein Kriegsverbrechen begangen
hatten oder eines solchen verdächtigt wurden, die Angehörigen der
Waffen-SS und von Organisationen, die im Nürnberger Prozeß für
verbrecherisch erklärt worden waren (sog. "gesperrte Einheiten")
sowie NSDAP-Funktionsträger einschließlich der Blockleiter184.
IV. Verwendung deutscher Kriegsgefangener im Minenräumdienst
Die amerikanischen Überstellungen an Frankreich geschahen vor
allem mit dem Ziel, die deutschen Kriegsgefangenen in der
Wiederaufbauarbeit einzusetzen. Dabei waren sich die zuständigen
US-Offiziere aber auch darüber im klaren, daß diese ihrer
Verantwortung
anvertrauten
Gefangenen
nicht
nur
im
landwirtschaftlichen Bereich tätig werden sollten, sondern viele
von ihnen auch im Minenräumdienst Verwendung finden würden. Ein
Oberst der Armed Forces Division von OM- GUS meinte dazu im
August 1947:
"In regard to the prisoners of war
transferred to the French authorities, be
advised that these prisoners were on a loan
basis for the purpose of rehabilitating
areas destroyed by the former German
Wehrmacht and for clearing danger areas
such as mine fields ... . It is considered
that this
183
K.W. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen in französischer Hand, S.
130; US-Außenminister Byrnes zeigte sich später mit diesem Ergebnis
unzufrieden, da der von den USA zunächst anvisierte
Entlassungszeitpunkt (1.10.1947) um mehr als ein Jahr überschritten
wurde: "... wir hätten darauf bestehen sollen, daß Frankreich die
Gefangenen, für die wir verantwortlich waren, bis zum 31. Oktober
1947 entließ.", J.F. Byrnes, In aller Offenheit, S. 226
184
K.W. Böhme, ebd., S. 132 f.
518
work is a proper function of
responsible for the devastation."185
those
Schon im Sommer 1945 stellte sich die amerikanische Militärregierung in Deutschland die Frage, ob eine Verwendung von
Kriegsgefangenen im Minenräumdienst völkerrechtlich zulässig sei.
Gegen die Legalität dieser Tätigkeit sprach insbesondere Artikel
32 der Genfer Konvention, nach dem gefährliche Arbeiten, und
unter diesen Begriff fiel die Minenbeseitigung zweifellos,
verboten waren. In einer Studie vom 3. Juni 1945 machte deshalb
Oberstleutnant Ray Adams von der Policy Branch, G-1, SHAEF
Bedenken gegen eine solche Nutzung der deutschen Kriegsgefangenen
geltend. Er empfahl, statt der Kriegsgefangenen DEF für diese
Arbeiten heranzuziehen, da diese weder unter die Genfer
Konvention noch unter die HLKO fielen186.
Die alliierten Planer in der EAC hatten aber auch für die
Beantwortung dieser Fragestellung bereits Vorkehrungen getroffen.
So enthielt die in London entworfene Kapitulations-Urkunde vom
25. Juli 1944 einen Passus über Minenräumarbeiten187, der
unverändert in die Berliner Viermächteerklärung übernommen worden
war188. Artikel 7 (b) verpflichtete die zuständigen deutschen
Behörden, den Alliierten vollständige und ausführliche Auskünfte
über Minen, Minenfelder und sonstige Hindernisse gegen Bewegungen
zu Lande, zu Wasser und in der Luft zu geben. Diese sollten
soweit wie möglich unschädlich gemacht werden. Weiter wurde
bestimmt:
"Unbewaffnetes
deutsches
Militärund
Zivilpersonal mit der notwendigen Ausrüstung wird zur Verfügung gestellt und zu
obigen Zwecken sowie zum Entfernen von
Minen, Minenfeldern und sonstigen
185
186
Col. Th.B. Whitted, jr., Acting Director, Armed Forces Div., an
Leg. Div., 27.8.1947, Abs. Nr. 3; RG 260/OMGUS 17/55-3/9
Lt. Col. R. Adams, Policy Branch, G-1, SHAEF, "Memorandum for
General Barker", "Subject: Use of German PW in Clearing Minefields",
3.6.1945; RG 331 SHAEF, General Staff, G-1 Division, Adm. Sect.,
Dec. File 1944-45, 383.6/3-18 Employment of Enemy POW
187
188
Vgl. FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 109
Vgl. W. Cornides/H. Volle, Um den Frieden mit Deutschland, S. 76
519
Hindernissen
nach
den
Weisungen
Alliierten Vertreter eingesetzt."189
der
Diese Klausel war ursprünglich darauf gerichtet gewesen, die
deutsche Regierung gegenüber den Alliierten zu einem Tätigwerden
in diesem Sinne zu verpflichten. Nach welchen Kriterien die
deutsche Regierung eine Auswahl der Minen- räumarbeiter vornehmen
würde, war offengelassen bzw. ihrer eigenen Entscheidung
überlassen worden. Es lag jedoch auf der Hand, daß eine noch
existierende Regierung für diese Arbeiten ausgebildetes und auf
freiwilliger Grundlage rekrutiertes Personal zur Verfügung
gestellt und dadurch Komplikationen mit der Genfer Konvention
vermieden hätte. Durch die Absetzung der Regierung Dönitz hatten
sich die Alliierten die Möglichkeit eines solchen Vorgehens
selbst vereitelt. Dennoch hielt das Außenministerium im Juli 1945
immer noch an der diesbezüglichen Bestimmung der Berliner
Erklärung fest, die nun allerdings nicht mehr als Verpflichtung
einer deutschen Regierung angesehen wurde, was mangels Existenz
einer solchen und aufgrund der Einseitigkeit der Erklärung auch
gar nicht möglich war, sondern in eine (einseitige) Ermächtigung
für entsprechende Abweichungen von Artikel 32 der Genfer
Konvention umgedeutet wurde.
Der
Stellvertretende
US-Außenminister
Grew
teilte
Ansprechpartner bei den europäischen Armeeeinheiten,
Murphy, am 17. Juli 1945 mit:
seinem
Robert
"Article 7 (b) of Declaration of June 5,
issued at Berlin authorizes employment of
German POWs for mine clearance. ... In
Department's view, rights Germany may have
under previous engagements such as Geneva
Convention are superseded by requirements
imposed thus upon Germany as a result of
unconditional surrender."190
Damit machte Washington den Weg frei für den deutschen Minenräumdienst. In der amerikanischen und britischen Zone
189
190
520
W. Cornides/H. Volle, ebd.
Grew an R. Murphy, 17.7.1945; RG 260/OMGUS POLAD/728/24
konzentrierte sich dieser Dienst, der im Sommer 1945 aufgenommen
wurde, auf die Räumung von Häfen und Küstengewässern. Dieser
Dienst wurde als Besatzungsmaßnahme im Dezember 1947 aufgelöst,
die Arbeit ging aber bis 1951 weiter191. Zumindest auf englischer
Seite wurde das Minensuchen auf deutschen Minensuchbooten den
deutschen Marineangehörigen nicht freigestellt, sondern als
normaler militärischer Dienst auf See angesehen, der in
Übereinstimmung mit den Kapitulationsbestimmungen durchgeführt
werden mußte192.
Ähnlich erging es, und dafür waren die Vereinigten Staaten als
Übergabenation mitverantwortlich, den deutschen Kriegsgefangenen
in französischer Hand. Etwa 40.000 von ihnen wurden, vorwiegend
in Frankreich selbst, im Minenräumdienst eingesetzt. Bei ihnen
handelte es sich um keine Spezialisten auf diesem Gebiet, auch
war ihr Einsatz nicht freiwillig. Sie erhielten zwar zunächst
eine Unterweisung, um die Gefahr zu vermindern, doch war die Todesrate erschreckend hoch. Sie lag anfänglich bei etwa 40
Prozent, ging dann - nachdem das IKRK energisch interveniert
hatte - auf ungefähr 4 Prozent zurück193. Das IKRK hat später über
sein damaliges Tätigwerden folgendes berichtet:
"Das Problem (der Minenräumung, d. Verf.)
tauchte Anfang 1945 verschärft wieder in
Frankreich auf. Die Presse nahm sich seiner
an und schrieb, daß die Aufgabe der
Minenbeseitigung denen zukäme, die sie
gelegt hätten. Das IKRK vermied es, getreu
seiner
rein
humanitären
Aufgabe,
zu
polemisieren oder eine rein juristische
These über die Anwendung der Verträge zu
verfechten. Es wies die französische
Verwaltung auf die Gefahren hin, die
191
192
A.L. Smith, Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 25
H.-L. Borgert, Zur Entstehung, Entwicklung und Struktur der
Dienstgruppen in der britischen und amerikanischen Besatzungszone
Westdeutschlands 1945-1950, in: ders./W. Stürm/ N. Wiggershaus,
Dienstgruppen und westdeutscher Verteidigungsbeitrag. Vorüberlegungen
zur Bewaffnung der Bundesrepublik Deutschland, S. 89 ff., 103
193
K.W. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen in französischer Hand,
S. 172 ff.
521
eine durch Nichtspezialisten ausgeführte
Minenräumung mit sich brächte.
Unter
den
deutschen
Kriegsgefangenen,
die
mit
diesen
Arbeiten
beschäftigt waren, gab es jeden Monat 2000
bei tödlichen Unfällen ums Leben gekommene
Opfer. Dies entspricht dem Verhältnis: ein
Todesfall auf 5000 Minen. Man konnte leicht
daraus schließen, daß eine unter diesen
Umständen durchgeführte Minenräumung das
Leben von 20.000 Gefangenen kosten würde.
Das IKRK bestand auf der Notwendigkeit von
Vorsichtsmaßnahmen und zählte diese auf.
Dann beauftragte es seine Delegierten, vor
allem auf deren Durchführung zu achten. Bei
Einhaltung der Maßnahmen verringerte sich
die Unfallrate jedesmal, bis sie beinahe
bei Null lag."194
Daß
das
Internationale
Rote
Kreuz
lediglich
humanitär
argumentierte, um das Los der deutschen Minenräumer einigermaßen
zu erleichtern und die Gefahren auf ein Mindestmaß zu
beschränken, und nicht auf die entgegenstehenden Vorschriften der
Genfer Konvention verwies, auf deren Grundlage die gefährliche
Verwendung der deutschen Kriegsgefangenen hätte umfassend
eingestellt werden müssen, hatte seinen tieferen Grund in der
Tatsache, daß Frankreich nicht bereit war, die juristischen
Argumente anzuerkennen. Die Franzosen hatten bereits während des
Krieges in Nordafrika Kriegsgefangene zum Minenräumdienst
eingesetzt, nachdem die deutsch-italienischen Truppen dort im
März 1943 kapituliert hatten. Die dagegen gerichtete Intervention
des Delegierten des IKRK bei den zuständigen Behörden in Algier,
gestützt auf die einschlägigen völkerrechtlichen Normen, war aber
von Frankreich nicht akzeptiert worden. Der IKRK-Vertreter hatte
lediglich erreicht, daß die Franzosen zusagten, zukünftig nur
noch Soldaten von Pioniereinheiten mit der Minenräumung zu
beauftragen195. Diese negativen Erfahrungen, insbesondere die
mangelnde Zugänglichkeit Frankreichs für die völkerrechtlichen
Argumente, haben das Internationale Rote
194
195
522
IKRK-Report I, S.343; dt. Übersetzung zit. nach: K.W. Böhme,
ebd., S. 173
Vgl. IKRK-Report, ebd.
Kreuz offenbar bewogen, sich in der ähnlichen Situation nach
Kriegsende auf die humanitären Argumente zu beschränken, um für
die deutschen Minenräumer wenigstens bessere Arbeitsumstände
erreichen zu können. Es besteht aber kein Zweifel, daß das IKRK
die zwangsweise Heranziehung deutscher Kriegsgefangener zur
Minenräumung als völkerrechtswidrig erachtete.
VI. Die Demontage von Industrieanlagen in Deutschland
Der Begriff der "Demontage" entstammt ursprünglich der Technik,
erhielt nach dem Zweiten Weltkrieg aber auch zunehmend rechtlichpolitische Bedeutung. Man versteht darunter den Abbau und die
Wegnahme respektive die Zerstörung von Industriepotential zur
Verwirklichung bestimmter Ziele. Zu diesen Zielen zählten
insbesondere die Entnahme zum Zweck der Reparationsleistung sowie
die Beseitigung des deutschen Rüstungspotentials und Beschränkung
der übrigen Industriekapazität aus Sicherheitsinteressen der
Siegermächte196.
V.
1. Die Bestimmungen des Potsdamer Protokolls
Inhalt des Potsdamer Protokolls. Zwar war der MorgenthauPlan
einer
vollständigen
Agrarisierung
Deutschlands
aus
Rücksichtnahme auf das damit verbundene Schicksal auch der
anderen
europäischen
Nachbarländer
nicht
mehr
aktuelle
amerikanische Politik im Sommer 1945, doch bestand nach wie vor
Einigkeit in den Reihen der Alliierten, daß eine umfassende
Demontage
der
deutschen
Rüstungsund
Rüstungszulieferungsindustrie und eine Begrenzung und Kontrolle
der Friedensindustrie absolute Notwendigkeit sei, um eine
zukünftige deutsche Aggression zu vermeiden. Das Potsdamer
Protokoll vom 2. August 1945 enthielt deshalb einen umfassenden
Katalog von Verboten, Einschränkungen und Kontrollmaßnahmen für
die
deutsche
Nachkriegswirtschaft.
Um
das
deutsche
Kriegspotential zu
a.
196 H. Maier, Demontage, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des
Völkerrechts, Bd. 1, S. 343
523
vernichten, wurde die Produktion von Waffen, Kriegsausrüstung und
Kriegsmitteln ebenso wie die Herstellung aller Typen von
Flugzeugen und Seeschiffen verboten. Die für die erlaubte
Industrie entbehrliche Produktionskapazität war entsprechend dem
Reparationsplan entweder zu entfernen oder, falls dies nicht
möglich war, zu vernichten. Außerdem legten Truman, Churchill und
Stalin fest, das deutsche Wirtschaftsleben sei innerhalb der
praktisch kürzesten Frist zu dezentralisieren, mit dem Ziel, die
bestehende übermäßige Konzentration der Wirtschaftskraft zu
vernichten. Bei der Organisation des deutschen Wirtschaftslebens
sei das Hauptgewicht auf die Entwicklung der Landwirtschaft und
der Friedensindustrie für den inneren Bedarf (Verbrauch) zu
legen. Von besonderer Bedeutung war zudem die Bestimmung, wonach
Deutschland während der Besatzungszeit - und ungeachtet der
zonalen Einteilung - als eine wirtschaftliche Einheit zu
betrachten sei197.
Einen gänzlich anderen Weg als nach dem Ersten Weltkrieg schlugen
die Alliierten in der Reparationsfrage ein. Nach den in der
Zwischenkriegszeit gemachten Erfahrungen waren sie nun an
langfristigen Zahlungen und Entnahmen aus der laufenden
Produktion kaum interessiert. Zwar hatten die "Großen Drei" in
Jalta als mögliche Reparationsarten neben den Entnahmen aus dem
deutschen Nationalvermögen auch noch jährliche Warenlieferungen
aus der laufenden Produktion und die Verwendung deutscher
Arbeitskräfte festgelegt198, doch wurden diese beiden letzten
Punkte im Potsdamer Protokoll nicht mehr aufgeführt. Die
Reparationsansprüche der Sowjetunion sollten durch Entnahmen aus
der von ihr besetzten Zone und durch angemessene deutsche
Auslandsguthaben befriedigt werden. Die Reparationsansprüche der
Vereinigten Staaten und Großbritanniens sowie aller anderen zu
Reparationsansprüchen berechtigter Länder sollten aus den
westlichen Zonen und ebenfalls aus deutschen Auslandsguthaben
erfüllt werden. Darüber hinaus wurde in
197
198
524
W. Cornides/H. Volle, Um den Frieden mit Deutschland, S. 82;
E. Deuerlein, Potsdam 1945, S. 357
W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 57
Potsdam vereinbart, die Sowjetunion erhalte aus den westlichen
Zonen
zusätzlich
15
Prozent
der
verwendungsfähigen
und
vollständigen
industriellen
Ausrüstung,
vor
allem
der
metallurgischen, chemischen und Maschinen erzeugenden Industrien,
soweit sie für die deutsche Friedenswirtschaft unnötig und aus
den westlichen Zonen Deutschlands zu entnehmen seien. Dafür
sollte die UdSSR einen entsprechenden Wert an Nahrungsmitteln,
Kohlen, Kali, Zink, Holz, Ton- und Petroleumprodukten sowie
anderen Waren auf Austauschbasis zur Verfügung stellen. Dazu
kamen
noch
weitere
10
Prozent
der
für
die
deutsche
Friedenswirtschaft unnötigen, aus den westlichen Zonen zu
entnehmenden und auf Reparationskonto an die Sowjetregierung zu
übertragenden industriellen Ausrüstung, ohne daß dafür eine
Bezahlung oder Gegenleistung anderer Art erbracht werden
sollte199.
Unklare Verwendung der völkerrechtlichen Terminologie. Die
begriffliche Unterscheidung der Entnahmen aus der deutschen
Wirtschaft anhand völkerrechtlicher Kategorien war vor, während
und nach Potsdam jedoch nie so eindeutig, wie es der Text des
Potsdamer Protokolls vermuten läßt. So hatten die alliierten
Delegationen schon auf der Moskauer Reparationskonferenz keinen
Konsens
darüber
erzielen
können,
was
eigentlich
unter
Reparationen, Restitutionen und Kriegsbeute zu verstehen war200.
Die sowjetischen Verhandlungsführer in Potsdam legten besonderen
Nachdruck auf den Terminus "Kriegsbeute", dem sie eine
Interpretation
beigaben,
der
eine
möglichst
große
Zahl
Demontageobjekte umfaßte, um sie so einer Anrechnung auf das
Reparationskonto zu entziehen. Unter "Kriegsbeute" fielen bei
ihnen alle Fabriken und Maschinen, die Kriegsmaterial erzeugt
hatten, sowie das gesamte der deutschen Wehrmacht
b.
199
W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 84; E. Deuerlein, Potsdam 1945, S.
360; vgl. auch W. Benz, Wirtschaftspolitik zwischen Demontage und
Währungsreform, in: Westdeutschlands Weg zur Bundesrepublik: 19451949, S. 70, der bemerkt, gegenüber dem in Potsdam beschlossenen
Reparationsprogramm habe sich der 26 Jahre zuvor diktierte Versailler
Vertrag "geradezu harmlos aus(genommen)".
200
0. Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber
Deutschland 1941-1945, S. 173
525
gehörende
Eigentum.
Selbst
das
von
den
Vertriebenen
zurückgelassene Privateigentum wollten sie unter diesen Begriff
subsumieren201.
Dies widersprach ganz offensichtlich dem völkerrechtlichen
Beutebegriff. Die HLKO kennt ein Beuterecht zur Bereicherung des
Militärs nicht mehr. Artikel 53 HLKO gestattet dem Besatzungsheer
lediglich, das bare Geld und die Wertgegenstände des Staates
sowie die dem Staat zustehenden kontrollierbaren Forderungen, die
Waffenniederlagen,
Beförderungsmittel,
Vorratshäuser
und
Lebensmittelvorräte zu beschlagnahmen, wie überhaupt alles
bewegliche Eigentum des Staates, das geeignet ist, den
Kriegsunternehmungen zu dienen. Hieraus ergibt sich aber
gleichzeitig
auch
die
zeitliche
Einschränkung
für
die
Zulässigkeit des Erwerbs von Kriegsbeute: das Beuterecht besteht
nur bis zum Ende der Kampfhandlungen. Wenn Kriegsunternehmungen
nicht mehr erforderlich sind, kann Beute an feindlichem
Staatseigentum im Sinne des Artikels 53 I HLKO nicht mehr gemacht
werden. Die gleiche Einschränkung gilt auch für die Beute von
Privateigentum unter den Voraussetzungen des Artikels 53 II
HLKO202.
Dennoch hielten auch die amerikanischen Truppen bei ihren
Eigentumsentnahmen in Deutschland auch nach dem Mai 1945 am
Begriff der "Kriegsbeute" fest. Das Kriegsministerium stellte
sich zur Differenzierung beider Kategorien auf den Standpunkt,
daß das ganze weggenommene feindliche Kriegsmaterial Kriegsbeute
sei. Andere Materialien könnten als Reparationen angesehen
werden203. Die Gesamtentnahmen wurden Ende März 1947 auf
89.579.000 Dollar beziffert, von
201
202
203
526
Vgl. F. Faust, Die wirtschaftliche und politische Einheit
Deutschlands im Potsdamer Abkommen, in: F. Klein/B. Meissner
(Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, 1.
Teil: Geschichte und rechtliche Grundfragen, S. 128
Vgl. nur H. Maier, Demontage, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch
des Völkerrechts, Bd. 1, S. 345; K.E. von Turegg, Deutschland
und das Völkerrecht, S. 118 f.
H.C. Petersen, Ass. Secr, of War, an J.H. Hilldring, Ass. Secr,
of State, 31.3.1947; RG 107 ASW (Formerly-Security Classified
Correspondence of Howard Petersen, Dec. 1945-Aug. 1947) 383.6
Captured Property
denen nur ein geringer Teil (7.336.000 Dollar) als Reparationen
angesehen wurden. Eine genaue Zuordnung war bei Eigentum im Wert
von 2.201.000 Dollar nicht möglich. Der ganz überragende Teil der
Eigentumsentnahmen (80.042.000 Dollar) wurde unter den Begriff
"Kriegsbeute" gefaßt204. Ähnlich ging auch die französische
Besatzungsmacht vor, die unter dem Titel "Beute" selbst Rohstoffe
und solche Erzeugnisse entnahm, die nicht nur aus dem allgemein
anerkannten Beutebegriff, sondern auch aus dem von der
Militärregierung
in
eigenen
Erlassen
selbst
gesteckten
definitorischen Rahmen klar herausfielen205.
Ein Teil der als Kriegsbeute deklarierten Entnahmen war jedoch soweit es sich um Kriegsmaterial und Produktionsstätten für
solches handelte, die keinem friedlichen Zweck zugeführt werden
konnten - dadurch völkerrechtlich gerechtfertigt, daß ihre
Zerstörung oder Entfernung aus Sicherheitsgründen für die
Alliierten unumgänglich war. Die HLKO setzt der Besatzungsmacht
keine engen Grenzen, wenn es um den Schutz ihrer militärischen
Interessen geht, und auch Artikel 43 HLKO verpflichtet die
Besatzungsmacht Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die
öffentliche Ordnung im besetzten Gebiet wiederherzustellen und
aufrechtzuerhalten. Aus diesen Erwägungen heraus waren etliche
Maßnahmen
der
Demontage,
soweit
sie
Waffenund
Waffenproduktionsstättenzerstörung
betrafen,
völkerrechtlich
zulässig206.
204
205
206
Lt. Gen. L.R. Lutes, Director of Service, Supply and Procurement,
"Summary", "Property Removed from Germany by the U.S. Army",
31.3.1947, Abs. Nr. 1. e; RG 107 ASW (Formerly- Security-Classified
Correspondence of Howard Peterson, Dec. 1945-Aug. 1947) 383.6
Captured Property
K.-D. Henke, Politik der Widersprüche, in: VfZG 1982, S. 520, der
hinzufügt, der Sache nach habe es sich um "vorweggenommene
Reparationen" gehandelt.
Vgl. M. Antoni, Das Potsdamer Abkommen - Trauma oder Chance?, S. 202
f., 224 ff.; J. Hacker, Die Entmilitarisierungs- Bestimmungen des
Potsdamer Abkommens, in: B. Meissner/Th. Veiter (Hrsg.), Das
Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, 2. Teil: Berliner
Deklaration und Sonderfragen, S. 84 f.
527
VI.2. Der erste Industrieniveauplan. März 1946
a. General Clays Einstellung zu den Demontagen. Nachdem die drei
Hauptsiegermächte in der Wirtschafts- und Reparationspolitik in
Potsdam trotz aller terminologischer und politischer Gegensätze
doch noch zu einer Vereinbarung gefunden hatten, der sich später
auch Frankreich - unter Erhebung etlicher Vorbehalte grundsätzlich anschloß207, hatte der Kontrollrat sechs Monate
Zeit, einen Industrieplan aufzustellen, der die "überflüssige"
Industriekapazität definieren, die zur Demontage bereitstehenden
Anlagen
benennen
und
die
Verteilung
unter
den
Reparationsempfängern festlegen sollte. Für den Stellvertretenden
US-Militärgouverneur, General Lucius D. Clay, waren Demontagen
jedoch
nicht
nur
ein
Mittel,
den
alliierten
Nationen
Kriegsentschädigung für die erlittenen Verluste zukommen zu
lassen oder Maßnahmen im Interesse der alliierten Sicherheit
durchzuführen. Ende August 1945 verteidigte er vor den
Regionalchefs der Militärregierung die Demontagen als notwendiges
Mittel, um den Deutschen ihre Kriegsschuld zu demonstrieren. Für
das Erreichen dieses Zwecks nahm er sogar in Kauf, daß darunter
der Wille zu einer demokratischen Selbstverwaltung leiden
werde208.
Einigen Beamten im amerikanischen Militärregierungsapparat kamen
bereits frühzeitig erhebliche Bedenken, daß der umfassende
Abtransport deutscher Industrieanlagen in die befreiten Gebiete
zu einer gravierenden Störung der Produktion führen und
wahrscheinlich den Lebensstandard aller Beteiligten herabdrücken
werde. Sowohl Außen- als auch Kriegsministerium unterstützten
Clay jedoch in seiner Auffassung, das Potsdamer Abkommen könne
und müsse wie geplant vollzogen werden. Zu diesem Zweck erhielten
die Sowjets erheblich höhere Vorauslieferungen aus den Westzonen
(50 Prozent) als ihnen aufgrund des Abkommens zustanden
(insgesamt nur 25 Prozent). Der enge Kontext
207
208
528
Zur rechtlichen Bindung Frankreichs an das Potsdamer Abkommen: M.
Antoni, ebd., S. 45 f.
W. Krieger, General Lucius D. Clay und die amerikanische
Deutschlandpolitik 1945-1949, S. 134 f.
zwischen den Demontagen bzw. Reparationsleistungen einerseits,
dem deutschen Lebensstandard andererseits war offensichtlich.
Clay wollte keiner dieser beiden Militärregierungs-Aufgaben
jedoch den Vorrang einräumen. Auf einer Pressekonferenz am 12.
Oktober 1945 machte er sich noch einmal für die Demontage eines
großen Teils der deutschen Schwerindustrie stark und fügte hinzu,
ein Lebensstandard, der Massenelend verhindere, müsse von den
Deutschen selbst erarbeitet werden209.
Inhalt
des
Industrieniveauplans.
Die Verhandlungen im
Alliierten Kontrollrat über den Industrieniveauplan dauerten
annähernd zwei Monate länger, als es im Potsdamer Abkommen
vorgesehen war. Hauptstreitpunkt, der die Gespräche so über
Gebühr schwierig gestaltete, war insbesondere die Höhe der
Deutschland nach dem Ende der Demontagen zu belassenden
Stahlproduktions-Kapazität. Großbritannien wollte zu Beginn der
Verhandlungen eine Kapazität zur Herstellung von 10,5 Millionen
Tonnen Rohstahl zugestehen, während die Sowjetunion 4,6 Millionen
Tonnen als ausreichend ansah210. Der dann am 28. März 1946 vom
Kontrollrat
bekanntgegebene
Industrieniveauplan211
sah
eine
Reduzierung der gesamten industriellen Tätigkeit Deutschlands auf
50 bis 55 Prozent des Wertes von 1938 vor. Als zu erreichende
Ziele proklamierte der Plan die Eliminierung des deutschen
Kriegspotentials und die industrielle Abrüstung Deutschlands, die
Leistung von Reparationen an die Länder, die unter der deutschen
Aggression gelitten hatten, die Entwicklung der Landwirtschaft
und der friedensmäßigen Industrien in Deutschland sowie die
Erhaltung eines mittleren europäischen Lebensstandards. Der Plan
setzte voraus, daß die deutsche Nachkriegsbevölkerung 66,5
Millionen Menschen zählte, die vier Mächte Deutschland als
wirtschaftliche Einheit behandelten und die deutschen Exporte auf
den internationalen
a.
209
210
211
W. Krieger, ebd., S. 135 f.
Vgl. zu den langwierigen und kontrovers geführten
Auseinandersetzungen: F. Jerchow, Deutschland in der
Weltwirtschaft 1944-1947, S. 195 ff.
Text in: G. Stolper, Die deutsche Wirklichkeit, S. 330 ft.; vgl.
auch F. Jerchow, ebd., S. 202 ff.
529
Märkten akzeptiert würden. Zu den verbotenen Industrien und
Industrieerzeugnissen
gehörten
unter
anderem
alle
Kriegsmaterialien, einschließlich Flugzeugbau, alle Seeschiffe,
schwere Werkzeugmaschinen, synthetisches Benzin, Öle und Gummi,
Magnesium und Rohaluminium. Viele andere Zweige wurden mit
Produktionsbeschränkungen belegt, darunter eine Reihe von
Chemikalien, Maschinenbau, Traktoren für die Landwirtschaft, Lkw
und Pkw, Kohle, Gummi, Papier, und selbst Schuhzeug wurde mit
einer Höchstkapazität festgelegt. Trotz der großen Bedenken der
Briten,
die
bei
einem
niedrigen
Stahlproduktionsausstoß
verhehrende Folgen für den deutschen Lebensstandard fürchteten,
wie auch für die Wirtschaftsentwicklung Gesamteuropas, einigten
sich die Alliierten, bei der Ermittlung des erlaubten
Industrieniveaus eine Stahlproduktion von nur 5,8 Millionen
Tonnen pro Jahr zugrundezulegen, die Produktionskapazität auf 7,5
Millionen Tonnen zu beschränken und alles darüber hinausgehende
zur Demontage freizugeben212.
c. Scheitern der "wirtschaftlichen Einheit" Deutschlands Industrieabbau
und
Versorgungsprobleme.
Hatte 
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