SCHRIFTEN ZUM STAATS UND VÖLKERRECHT Herausgegeben von Prof. Dr. Dieter Blumenwitz Band 45 Frankfurt am Main ■ Bern • New York • Paris Burkhard Schöbener Die amerikanische Besatzungspolitik und das Völkerrecht Frankfurt am Main • Bern • New York • Paris Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schöbener, Burkhard: Die amerikanische Besatzungspolitik und das Völkerrecht / Burkhard Schöbener. - Frankfurt am Main ; Bern ; New York; Paris: Lang, 1991 (Schriften zum Staats- und Völkerrecht; Bd. 45) Zugl.: Würzburg, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-63143967-9 NE: GT D 20 ISSN 01727796 ISBN 3-631-439679 ©Verlag Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 1991 Alle Rechte Vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany 1 2 4 5 6 7 Der Okkupant ist kein König Midas, dem alles zu Recht wird, was er anfaßt. Rolf Stödter (1948) Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1990/91 von der Juristischen Fakultät der Bayerischen Julius-Maximi- liansüniversität Würzburg als Dissertation angenommen. Ziel der Arbeit ist es, die Wechselbeziehungen und das Spannungsfeld deutlich zu machen, die zwischen der politischen und der völkerrechtlichen Besatzungsplanung der US-Administration im Hinblick auf die Behandlung Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bestanden. Dies erforderte zunächst eine eingehende Erörterung des politischen Entscheidungsfindungsprozesses in den Jahren von 1941 bis 1945, die weitgehend auf das veröffentlichte Dokumentationsmaterial gestützt werden konnte (1. Teil). Der völkerrechtliche Entscheidungsfindungsprozeß, bisher in veröffentlichten Materialien nur unzureichend erfaßt, wird auf Grundlage der Auswertung insbesondere der in den National Archives (Washington, D.C.) und in der Roosevelt Library (Hyde Park, New York) vorhandenen Aktenbestände erstmals annähernd lückenlos dargestellt und der Antagonismus zwischen zweckgerichtetem politischen Handeln und normativen Vorgaben des Völkerrechts herausgearbeitet. In diesem Zusammenhang wird auch der historische Hintergrund der Formel von der "bedingungslosen Kapitulation" und ihre mangelnde juristische Substanz aus der damaligen - politischen und völkerrechtlichen - Diskussion heraus erschöpfend gewürdigt (2. Teil). Anschließend wird die Auseinandersetzung um die Rechtslage Deutschlands in den ersten Nachkriegsjahren untersucht und als historischer Vorgang geschildert (3. Teil). Der 4. Teil der Arbeit zeigt exemplarisch anhand bestimmter besatzungspolitischer Maßnahmen, welche konkreten Folgen die Verdrängung des Völkerrechts durch politische Zweckmäßigkeitsüberlegungen und moralisierende Betrachtung für die deutsche Zivilbevölkerung, die Kriegsgefangenen und die Wirtschaft nach sich zog. 1 Hein Dank gilt in erster Linie meinem Doktorvater, Prof. Dr. Dieter Blumenwitz, der mir alle erdenkliche Unterstützung zukommen ließ und mir die Freiheit zu eigenständiger wissenschaftlicher Forschung gab. Nicht minder herzlich darf ich mich bei Prof. Dr. Erich Schwinge bedanken, von dem die Idee zur Bearbeitung dieses Themas stammt, und der mir immer ein aufgeschlossener und wohlwollender Gesprächspartner war. Herrn Prof. Dr. Dietmar Willoweit danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Dank gebührt außerdem der Stiftung Volkswagenwerk, die die vorliegende Arbeit als Forschungsprojekt am Institut für Völkerrecht, Europarecht und Internationales Wirtschaftsrecht der Universität Würzburg finanziell gefördert hat. Ohne ihre Hilfe wären insbesondere die Archivforschungen in den Vereinigten Staaten kaum möglich gewesen. Herzlich bedanken darf ich mich zudem bei Herrn Dr. Kurt Fischer für das zügige Lesen des Manuskripts sowie bei Frau Andrea Ullrich und Herrn Alexander Ihls für die sorgfältige und engagierte Erledigung der umfangreichen Schreibarbeiten. Dieses Buch widme ich meinen Eltern und Susanne, die mir über die ganzen Jahre den nötigen privaten Rückhalt gaben, und damit wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beitrugen. Wetter (Hessen), im Juni 1991 2 Burkhard Schöbener Inhaltsverzeichnis Vorwort 1 Inhaltsverzeichnis 3 Abkürzungsverzeichnis 16 Einleitung 1. Teil: "Decision-making" - Planungen und Entscheidungen zur US-Besatzungspolitik in Deutschland, 1941-1945 19 I. Die Atlantik-Charta - ideologische Zielvorgabe für die Nachkriegspolitik der USA 1.1. Die Abkehr von einer völkerrechtskonformen Neutralitätspolitik a. Einfluß des Briand-Kellogg-Paktes auf den Neutralitätsbegriff b. Schrittweise Überwindung des außenpolitischen Isolationismus und der völkerrechtlichen Neutralität 1.2. Inhalt und Geltungsbereich der Atlantik-Charta a. Zusammenhang mit Wilsons "Vierzehn Punkten" und Roosevelts "Vier Freiheiten" b. Nichtgeltung der Atlantik-Charta für Deutschland 26 26 27 27 30 37 39 45 49 II. Die Wandlung der amerikanischen Militärreaierungs-Grundsätze 11.1. Das Verhältnis von "militärischer Notwendigkeit" und Humanität im Kriegsrecht 11.2. Die Änderung der amerikanischen Militärregierungs-Doktrin a. Amerikanische MilitärregierungsErfahrungen b. Erste Fassung des Field Manual 27-5 (1940) c. Politische Kritik am Field Manual 27-5 49 51 51 53 55 3 d. Revidierte Fassung des Field Manual 27-5 (1943) III. Besatzungsplanung im Außen- und Kriegsministerium. 1942 - August 1944 111.1. Planungen des Außenministeriums a. "Advisory Committee on Post-War Foreign Policy" b. "Interdivisional Country Committee on Germany" 111.2. Planungen des Kriegsministeriums a. Unpolitisches Selbstverständnis des Kriegsministeriums b. Warburg-Plan vom Februar 1944 c. Ablehnung des Warburg-Plans 58 62 64 65 67 70 70 71 77 IV. Die "heiße Phase" der US-Besatzungsplanung. August 1944-August 1945 80 80 IV.1. Finanzminister Morgenthau schaltet sich in die Planungen ein a. Kein unmittelbarer Planungsbedarf bis zum Sommer 1944 b. Morgenthaus erste Kontakte mit der bisherigen US-Planung c. Morgenthaus Einfluß auf den Präsidenten und Roosevelts erste Stellungnahme IV. 2. Entstehen und Inhalt des Morgenthau-Plans a. Erster Entwurf des Morgenthau-Plans, 2. September 1944 b. Erste Sitzung des Kabinetts-Ausschusses, 5. September 1944 Differenzen zwischen Außen- und Kriegsministerium c. Zweite Sitzung des Kabinetts-Ausschusses, 6. September 1944 - Zweite Fassung des Morgenthau-Plans d. Dritte Sitzung des Kabinetts-Ausschusses, 9. September 1944 - Roosevelt 4 81 82 86 89 89 95 98 sympathisiert mit Morgenthaus Vorschlägen IV. 3. IV. Die Konferenz von Quebec - Roosevelt und Morgenthau setzen sich durch a. Der wirtschaftspolitische Teil b. Der "Kriegsverbrecher"-Beschluß Außen- und Kriegsministerium treten Roosevelt und Morgenthau entgegen 112 116 118 b. Hull geht zunehmend auf Abstand zu Morgenthau 118 c. Roosevelts taktischer Rückzug Die Direktive CCS 551 ("Pre-SurrenderDirective") 120 Eisenhower fordert eine Nachkriegs- Direktive für Deutschland 5. a. Möglicher Wegfall der Grundprämissen von CCS 551 b. Überarbeitung des SHAEF-Handbuches Die Entwicklung der ersten Fassung der Besatzungsdirektive JCS 1067 a. Erste Entwürfe in der EAC-Delegation und im Kriegsministerium IV. 7. 111 a. Stimson plädiert für eine konstruktive Planung IV. 4. IV.6. 103 b. Interims-Direktive JCS 1067, 22. September 1944 c. Britische Einwände gegen JCS 1067 Die erste Revision der Besatzungsdirektive JCS 1067 Die Konferenz von Jalta und die diesbezüglichen Vorarbeiten des Außenministeriums IV. 8. a. Vorbereitende Papiere des Außenministeriums b. Die Ergebnisse der Krim-Konferenz IV. 9. Das Memorandum des State Department vom 10. März 1945 123 127 132 132 133 135 135 140 144 146 150 150 155 IV.10. 156 5 IV.11. Die Reaktionen in Kriegs- und Finanzministerium - gemeinsames Memorandum vom 23. März 1945 159 b. Inhalt der gemeinsamen Denkschrift vom 23. März 1945 161 IV.12. Revision von JCS 1067 IV. IV. 163 a. Inhalt der revidierten Fassung 163 b. Bewertung der revidierten Fassung 168 13. Reparationsplanungen nach Jalta 14. Praktische Schwierigkeiten mit den wirtschaftspolitischen Prinzipien von JCS 1067 und Änderungen durch das Potsdamer Protokoll 171 a. General Clays Einschätzung von JCS 1067 IV. 159 a. Widerstand gegen das State Department Memorandum 179 b. Teil-Änderungen in JCS 1067 durch das Potsdamer-Abkommen 179 c. Reparationsbeschlüsse der Potsdamer Konferenz 181 15. Ursachen und Hintergründe der "harten" US-Besatzungspolitik gegenüber Deutschland 184 187 2. Teil: "Unconditional surrender" - von einer politischen Forderung zu einem neuen staats- und völkerrechtlichen Institut? I. II. Die frühe amerikanische "Unconditional Surrender" Planung 204 1.1. Planungen des Subcommittee on Political Problems 204 1.2. Roosevelt bekennt sich zum Prinzip der "bedingungslosen Kapitulation" 209 Die Konferenz von Casablanca und die politische Forderung nach "Unconditional Surrender" II. 1. Die Entstehung der Casablanca-Formel 11.2. Das "Neuartige" der Casablanca-Formel 11.3. Hintergründe der Casablanca-Formel 6 203 212 212 214 215 III. "Unconditional Surrender" als Versuch, in Deutschland einen völkerrechtsfreien Raum zu schaffen 111.1. Das Pollock-Memorandum vom April 1943 111.2. Britische Bedenken hinsichtlich der völkerrechtlichen Zulässigkeit bestimmter Besatzungsmaßnahmen IV. Diskussion in der European Advisory Commission über Form und Inhalt der Kapitulations-Urkunde 218 218 223 224 IV. 1. Amerikanische Vorüberlegungen zur Kapitulations-Urkunde 224 IV. 2. Erste Entwürfe der drei EAC-Mitglieder 229 a. Der britische 70-Punkte-Entwurf IV. 229 b. Der amerikanische Entwurf 229 c. Der sowjetische Entwurf 3. Differenzen in Washington und in der EAC über die Behandlung deutscher Kriegsgefangener nach der Kapitulation 232 234 a. Amerikanische Einwände gegen den britischen Entwurf 235 b. Das US-Außenministerium wendet sich gegen die Behandlung deutscher Soldaten als Kriegsgefangene - Denkschrift vom 4. März 1944 236 c. Der Judge Advocate General, US-Army, beharrt auf dem völkerrechtlichen Schutz deutscher Kriegsgefangener nach der KapitulationDenkschrift vom 15. März 1944 239 d. Der Judge Advocate General, US-Navy, wendet sich ebenfalls gegen das Außenministerium - Denkschrift vom 24. März 1944 IV. 4. Britische und sowjetische Überlegungen zum Kriegsgefangenen-Status deutscher Soldaten 241 a. Sitzung des "Post-Hostilities Committee" am 27. März 1944 244 b. Informelles Gespräch zwischen Strang und Gusew am 4. April 1944 244 c. Die US-Delegation schwenkt auf den britischen Kurs ein 244 248 7 IV. 5. Die drei EAC-Delegationen einigen sich über die Kriegsgefangenen-Klausel 249 IV. 6. EAC-Beratungen über Struktur und Länge der Kapitulationsurkunde und den Inhalt der Ermächtigungsklausel 251 V. Diskussion in Washington über die möglichen völkerrechtlichen Auswirkungen einer "bedingungslosen Kapitulation" V. l. Das Chanler-Memorandum vom Februar 1944 IV. 2. Das Jessup-Memorandum vom Juni 1944 IV. 3. Chanlers Kritik am EAC-KapitulationsDokument 258 258 262 270 IV. 4. Britische Überlegungen zur "bedingungslosen Kapitulation" IV. 5. Washington ohne jegliche völkerrechtliche Konzeption 272 a. Erste amerikanische Reaktionen b. Völkerrechtliche Stellungnahme des USAußenministeriums 276 c. Heftiger Protest aus der Civil Affairs Division III. 6. Völkerrechtlicher Disput innerhalb der Civil Affairs Division a. Memorandum von Mark D. Howe vom 8. Januar 1945 b. Memorandum von William Chanler vom 13. Januar 1945 c. Memorandum von Mark D. Howe vom 13. Januar 1945 276 280 282 283 283 285 292 V. 7. Erörterung der völkerrechtlichen Problematik mit anderen Ministerien a. Memorandum von William Malkin vom 18. Januar 1945 b. William Chanler wendet sich an John J. McCloy c. Memorandum des Finanzministeriums 295 295 300 305 8 V. 8. Bemühungen des "State-War-Navy-Coordinating Committees" um eine klare völkerrechtliche Stellungnahme 310 a. Erste Antwortentwürfe für Murphy 312 b. Nochmalige Überarbeitung der Entwürfe V. 9. Korrespondenz Chanlers mit Philip Jessup und anderen Völkerrechtsexperten a. Wiederaufnahme des Gedankenaustauschs mit Philip Jessup b. Memorandum Ralph Carsons vom März 1945 c. Memorandum von Colonel Hayden N. Smith vom März 1945 VI. Die Änderung der Kapitulations-Urkunde in der Zeit von der Krim-Konferenz bis zur Berliner Viermächteerklärung vom 5. Juni 1945 VI.1. Modifizierung der Kapitulations-Urkunde auf der Konferenz von Jalta VI. 2. Frankreich wird einbezogen VI. 3. Britische Änderungsvorschläge und die Reaktion der anderen EAC-Delegationen a. Britische Änderungsvorschläge b. Reaktion der Sowjetunion und der USA c. Ein weiterer britischer Vorschlag zur Erweiterung der Kapitulations-Urkunde VI. 322 322 328 329 333 333 336 338 338 341 343 4. Die Entscheidung zur Verwendung einer rein militärischen Kapitulations-Urkunde 345 a. Konfusion in den amerikanischen Planungsstäben 345 b. Entwurf und Gebrauch eines militärischen Kapitulations-Textes IV. 318 c. d. 5. 5. Verärgerung in Washington Verhaftung der Regierung Dönitz Die Berliner Viermächteerklärung vom Juni 1945 346 349 350 351 9 VII. Die völkerrechtliche Debatte in Washington im Mai und Juni 1945 353 VII. 1. Ralph Carsons Memorandum vom 19. Mai 1945 VII. 2. William Chanlers Memorandum vom 6. Juni 1945 354 VII. VII. 361 3. Carsons Erwiderung auf Chanlers Memorandum 4. Völkerrechtliche Bewertung der Berliner Deklaration 356 363 3. Teil: Deutschlands Rechtslage im politischen Streit des In- und Auslandes I. Zwischen Recht und Rechtlosigkeit: Völkerrechtliches Vakuum in Deutschland oder zumindest "rule of law"? Überlegungen deutscher Emigranten 1944/4 5 366 366 1.1. Hans Kelsen und seine These vom Kondominium a. Deutschnationale Äußerungen in den zwanziger Jahren b. Entwicklung der Kondominium-These 1944 c. Rechtliche Folgerungen aus den politischen Fakten I.2. Ernst Fraenkel fordert die Grundsätze des "rule of law" für die amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland 366 367 368 371 374 II. Die völkerrechtliche Stellung Deutschlands 1945 und in den Jahren danach in der politischen Auseinandersetzung 379 11.1. Das Deutsche Reich zwischen "Debellatio" und Fortexistenz 382 a. Vertreter der "Debellatio"-These b. Die staatliche Fortexistenz des Deutschen Reiches II.2. Versuche von Konrad Adenauer, die politische Argumentation gegenüber den Besatzungsmächten zu verrechtlichen 383 386 388 a. Konrad Adenauer und der Zonenbeirat 388 10 a. Auseinandersetzung mit der britischen Besatzungsmacht 11.1. Die "Interventions"-These als rechtlicher Ausdruck politischer Zweckmäßigkeit a. Georg August Zinns "Interventions"-These b. Karl Geiler und die "Interventions"-These 391 39 6 39 c. Carlo Schmid wendet sich gegen die "Interventions"-These 6 11.2. Rudolf v. Launs Bestrebungen zur Klärung der Rechtslage Deutschlands 40 a. R.v. Launs wissenschaftliche Auseinander setzung mit dem Rechtsproblem Deutschland b. Die erste Tagung der deutschen Völkerrechtslehrer 1947 c. Das Scheitern der Verrechtlichung der Politik gegenüber den Besatzungsmächten 0 40 3 40 I. Die Einschätzung der völkerrechtlichen Lage Deutschlands durch die Vereinigten Staaten in der Nachkriegszeit 8 40 111.1. Die Fortexistenz des Deutschen Reiches und des Kriegszustands mit Deutschland 8 a. Äußerungen der US-Militärregierung b. Fortdauer des Kriegszustandes und die Kriegsbeendigung 41 111.2. Der rechtliche Status der Besetzung Deutschlands a. Das IKRK und die Rechtslage Deutschlands b. Gutachten des Kriegsministeriums vom 10. Dezember 1946 1 41 3 c. OMGUS-Gutachten vom 17. März 1947 d. Äußerungen von Mitarbeitern der OMGUSRechtsabteilung 41 5 41 5 41 5 41 6 41 7 41 8 415 42 3 3. Teil: Einzelne amerikanische Besatzungsmaßnahmen und die Nichtbeachtung des Völkerrechts 434 I. Die Internierung von Zivilpersonen ("automatic arrest") 434 1.1. Zielrichtung und Durchführung der Zivilinternierung a. Zweck der Zivilinternierung b. Mangelnde Berücksichtigung rechtsstaatlicher Grundsätze 434 c. Aufrechterhaltung der Arrest-Kategorien 437 d. Zahl der Zivilinternierten 1.2. Die Lebensbedingungen in den Zivilinterniertenlagern a. Äußerungen von Robert Murphy b. Das Internierungslager Darmstadt im Winter 1946/47 435 441 443 445 1.3. Bemühungen des IKRK um den völkerrechtlichen Schutz der Zivilinternierten 445 a. Erstes Gespräch von IKRK-Vertretern mit der USMilitärregierung, September 1946 446 b. Zweites Gespräch von IKRK-Vertretern mit der USMilitärregierung, November 1946 454 c. Reaktion von General Clay d. Antwort des zuständigen hessischen Ministers und des Internationalen Roten Kreuzes II.Der Non-Fraternization-Befehl als Maßnahme kollektiver Bestrafung 455 457 11.1. Inhalt und Zweck des Non-Fraternization-Befehls vom 12. September 1944 458 11.2. Hintergründe des Befehls 459 11.3. Non-Fraternization und die deutsche Bevölkerung 462 11.4. Non-Fraternization als kollektive Strafmaßnahme 11.5. Abmilderung des Befehls 462 465 467 469 472 12 III. Die Schutzlosstellung deutscher Kriegsgefangener durch die Alliierten 473 111.1. Eisenhower macht sich den Inhalt der Kapitulations-Urkunde zu nutze 47 a. Eisenhowers Anfrage in Washington, 10. März 1945 b. Antwort des "Combined Civil Affairs Committee" 3 c. Deutsche Kriegsgefangene in Italien und Norwegen 473 111.2. John J. McCloy unterstützt die völkerrechtswidrige Behandlung deutscher Kriegsgefangener 47 111.3. Unklarheiten Uber die Rechtslage in der US-Armee 6 111.4. William Chanlers Memorandum vom 6. Juni 1945 111.5. Memorandum des Kriegsministeriums vom 10. Dezember 1946 47 111.6. Die Schweiz und das Internationale Rote Kreuz im Einsatz für die Interessen der deutschen Kriegsgefangenen a. Schweiz bleibt nicht länger Schutzmacht b. IKRK-Bemühungen um Hilfslieferungen 111.7. Eisenhowers "Disarmed Enemy Forces"(DEF)- Befehle 111.8. Aufhebung des DEF-Befehls 8 47 9 48 a. Gleichstellungsbefehl vom März 1946 b. Nochmaliges Engagement des IKRK 1 48 4 48 7 IV. Übergabe deutscher Kriegsgefangener an andere Gewahrsamsmächte II. 1. Frühe völkerrechtliche Überlegungen im USKriegsministerium IV. 2. Amerikanisch-französische Planungen und Überstellungen deutscher Kriegsgefangener a. Amerikanisch-französische Vereinbarungen 48 9 48 9 49 b. Überstellungen und Versorgungsschwierigkeiten 0 c. Übergabe-Stopp vom 30. September 1945 49 2 49 1 53 49 5 49 6 49 8 IV. 3. Frankreichs Auffassung vom Zweck der Kriegsgefangenschaft: Zwangsarbeit zu Reparationszwecken 506 IV. 4. Die Vereinigten Staaten bemühen sich um die Rückführung der Kriegsgefangenen 508 IV. 5. Bestrebungen in Deutschland, eine Rückführung der Kriegsgefangenen zu erreichen a. Der Länderrat wird aktiv b. Rechtsgutachten von Professor Kaufmann IV. 6. Repatriierung der Kriegsgefangenen aus Frankreich V. Verwendung deutscher Kriegsgefangener im Minenräumdienst VI. Die Demontage von Industrieanlagen in Deutschland V. V. 1. Die Bestimmungen des Potsdamer Protokolls 512 512 513 517 518 523 523 523 a. Inhalt des Potsdamer Protokolls b. Unklare Verwendung der völkerrechtlichen Terminologie 525 2. Der erste Industrieniveauplan, März 1946 528 528 a. General Clays Einstellung zu den Demontagen 529 b. Inhalt des Industrieniveauplans c. Scheitern der "wirtschaftlichen Einheit" Deutschlands - Industrieabbau und Versorgungsprobleme V. V. VI. 3. Washington erkennt zunehmend die Bedeutung der deutschen Wirtschaft für Europa 4. Der zweite Industrieniveauplan, August 1947 5. Das Petersberger Abkommen, November 1949 a. Das Washingtoner Abkommen, April 1949 VI. b. Inhalt des Petersberger Abkommens 6. Die völkerrechtliche Problematik einseitiger Reparationsentnahmen a. Historischer Ursprung des "Reparations"Begriffs 14 530 534 536 536 537 539 539 540 b. Der "Reparations"-Begriff und seine rechtliche Grundlage c. Anerkennung der Notwendigkeit einer vertraglichen Grundlage durch die Alliierten 5. Teil: Schlußbetrachtung Literaturverzeichnis 542 54 6 54 9 55 2 15 Verzeichnis dar häufigsten Abkürzungen: a.a.O. an angegebenem Ort Abs.Nr. Absatznummer AJIL American Journal of International Law Am.Pol.Sc.Rev. American Political Science Review Anm. Anmerkung ArchVR Archiv des Völkerrechts Art. Artikel ASIL American Society of International Law ASW Assistant Secretary of War Bd. Band BGBl. Bundesgesetzblatt Brig.Gen. Brigadier General Bsp. Beispiel bzw. beziehungsweise ca. circa CAD Civil Affairs Division CCAC Combinded Civil Affairs Committee CCS Combined Chiefs of Staff CDU Christlich Demokratische Union CIC Counterintelligence Corps Col. Colonel DA Deutschland-Archiv DAFR Documents on American Foreign Relations DEF Disarmed Enemy Forces Dep. Department Div. Division b. h. das heißt dt. deutsch(e)(r) d. Verf. der Verfasser EA Europa-Archiv EAC European Advisory Commission ebd. ebenda ECEFP Executive Committee on Economic Foreign Policy ed. edited etc. et cetera f. folgende 16 ff. FEA FRUS Gestapo GK GYIL HLKO Hq. Hrsg. hrsg. IKRK IPCOG JAG JAGD JCS JuS JW Leg. Div. Lt. Gen. Maj. Gen. MDR Memo. MGM NJW No. Nr. NSDAP N. Y. o.D. OKW OMGH OMGUS par. POLAD POW folgenden Foreign Economic Administration Foreign Relations of the United States Geheime Staatspolizei Genfer Kriegsgefangenenkonvention (von 1929) German Yearbook of International Law Haager Landkriegsordnung Headquarter Herausgeber herausgegeben Internationales Komitee vom Roten Kreuz Informal Policy Committee on Germany Judge Advocate General Judge Advocate General Division Joint Chiefs of Staff Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Legal Division Lieutenant General Major General Monatsschrift für Deutsches Recht Memorandum Militärgeschichtliche Mitteilungen Neue Juristische Wochenschrift Number Nummer Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei New York ohne Datum Oberkommando der Wehrmacht Office of Military Government for Grater Hessen Office of Military Government, United States paragraph Political Adviser (Robert Murphy) Prisoner of War 17 Proc. ASIL PSF RG RGBl. RL s. SA SBZ SCAEF Sec. Secr. SEP SHAEF SJZ s.o. sog. SPD SS Suppl. SWNCC u.a. USFET USGCC usw. VE-Day VfZG vgl. WSC ZaöRVR z.B. ZNR 18 Proceedings of the American Society of International Law President Secretary Files Record Group Reichsgesetzblatt Roosevelt Library siehe Sturmabteilung Sowjetische Besatzungszone Supreme Commander Allied Expeditionary Forces (D. Eisenhower) Section Secretary Surrendered Enemy Personal Supreme Headquarter Allied Expeditionary Forces Süddeutsche Juristenzeitung siehe oben sogenannte Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Supplement State-War-Navy Coordinating Committee und andere/unter anderem United States Forces European Theatre United States Group Control Council und so weiter Victory Europe Day Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte vergleiche Working Security Committee Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte Einleitung Trotz des in der historischen Forschung vorhandenen Interesses an der amerikanischen Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Ende der Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges, fehlte es bisher an einer monographischen Darstellung, die auch die völkerrechtliche Problematik aus dem Spannungsverhältnis von völkerrechtlicher Machbarkeit und politischer Wünschbarkeit heraus umfassend berücksichtigt. Zwar gibt es mehrere Monographien - insbesondere aus der unmittelbaren Nachkriegszeit -, die eine Klärung der völkerrechtlichen Stellung Deutschlands zum Ziel haben, doch beschränken diese sich weitestgehend auf die rechtstechnische Erörterung des Problems1. Unberücksichtigt blieb bislang vor allem die Frage, wie sich die amerikanischen Ministerien und der Generalstab die Gestaltung der völkerrechtlichen Lage in Deutschland vorstellten, welche Planungen es diesbezüglich bereits während des Krieges gab, und welche völkerrechtlichen Schwierigkeiten bei einzelnen Besatzungsmaßnahmen nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht entstanden. Auch die historische Literatur hat hierauf bisher keine Antwort gegeben2. Dabei bietet diese Fragestellung eine Reihe nicht nur unter dem völkerrechtlichen Blickwinkel interessanter Forschungsinhalte. Gerade der Zusammenhang mit der besonderen politi- 1 Die umfassendste und wohl auch beste Darstellung der völkerrechtlichen Lage in Deutschland in den ersten Jahren nach Kriegsende ist R. Stödter, Deutschlands Rechtslage. Daneben sind zu nennen: W. Grewe, Ein Besatzungsstatut für Deutschland; Erich Kaufmann, Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung; K.E.v. Turegg, Deutschland und das Völkerrecht. Mit diesem Thema beschäftigen sich außerdem die Dissertationen von M. Arndt, Völkerrechtliche und staatsrechtliche Bedeutung der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 und G.W. Prinz von Hannover, Die völkerrechtliche Stellung Deutschlands nach der Kapitulation. 2 Vgl. die Nachweise bei E. Schwinge, Rückblick auf die Zeit der amerikanischen Besetzung, in: B. Willms, Handbuch zur deutschen Nation, Bd. 1, S. 307 ff., insb. S. 317 ff.. Schwinge ist bislang der einzige, der der politischvölkerrechtlichen Seite der amerikanischen Besatzungspolitik mit diesem Aufsatz nachgegangen ist. Er gibt einen guten Einstieg in die Problematik, zeigt das Forschungsdefizit in diesem Feld auf und macht die rechtliche Problematik einiger Maßnahmen deutlich. 19 sehen Situation 1945, mit der bedingungslosen Niederwerfung jeglichen militärischen Widerstandes auf deutscher Seite, mit der für einen weltpolitischen Machtfaktor wie Deutschland völlig neuen Objektrolle, bestimmt allein durch die siegreichen Alliierten, läßt auch den völkerrechtlichen Ausgangspunkt in einem etwas anderen Licht erscheinen. Eben in dieser Situation mußte sich nämlich zeigen, inwieweit die siegreichen Mächte, deren grundlegendes Besatzungsziel es nach Aussage eines kundigen Beobachters war, "to be the re-establishment of the rule of law"3, selbst bereit waren, in einer politischen Konstellation in Deutschland, die ihnen alle Machtmittel in die Hände gegeben hatte, Rechtsgehorsam bei ihrer Besatzungsplanung und durchführung walten zu lassen. Um die rechtlichen und politischen Seiten der amerikanischen Deutschlandpolitik richtig einordnen zu können, sind jedoch einige Vorbemerkungen zum völkerrechtlichen Besatzungsrecht und zur Wandlung des völkerrechtlichen Kriegsbegriffs in der Zwischenkriegszeit erforderlich: Ein solcher Rechtsgehorsam hätte seine Bedeutung vor allem in der Beachtung der Artikel 42 bis 56 der Anlage zum Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18. Oktober 1907 (sog. Haager Landkriegsordnung)4 gehabt. Darin wurden die schon auf der Konferenz im Jahre 1899 festgestellten Grundsätze weitgehend übernommen und nur kleinere Teile geändert5. Die Haager Landkriegsordnung war der Endpunkt der im 19. Jahrhundert sich entwickelnden Kodifikation des Kriegsrechts, das bis dahin lediglich in Form von Gewohnheitsrecht gegolten hatte. Diese Kodifikationsbestrebungen gingen Hand in Hand mit denjenigen einer Humanisierung des Krieges6. Der Initiator und die bestimmende Persönlichkeit der beiden Haager Konferenzen, der 3 4 5 6 20 K. Loewenstein, Justice, in: E.H. Litchfield, Governing Postwar Germany, S. 237 RGBl. 1910, S. 107 ff. Vgl. 0. Nippold, Die zweite Haager Friedenskonferenz, 2. Teil (Das Kriegsrecht), S. 14, 28 f. Chr. Meurer, Die Haager Friedenskonferenz, 2. Band (Das Kriegsrecht der Haager Konferenz), S. 19 ff., 45 ff. russische Diplomat v. Martens, bezeichnete die Artikel 42 bis 56 des Abkommens, die das Recht der kriegerischen Besetzung regeln, als "die bedeutsamsten Artikel" dieses Kriegsgesetzbuches7. Wie in der ganzen Landkriegsordnung überhaupt, wird auch in diesen speziellen Artikeln deutlich, daß die Zivilbevölkerung im besetzten Gebiet nicht als Kombattant angesehen wird. Ihre Rechte, insbesondere ihre Grundrechte, auch und gerade gegenüber den Besatzungstruppen, finden sich ausdrücklich in den Artikeln 42 bis 56 und gewähren ihr eine beachtliche Rechts- und Schutzstellung8. Da aber - trotz aller dahingehender Versuche - eine abschließende und alle denkbaren Kriegs- und Besatzungssituationen erfassende völkerrechtliche Regelung nicht getroffen werden konnte, übernahm die Konferenz in die Präambel der Landkriegsordnung eine Vorbehaltserklärung, die v. Martens in seiner einleitenden Programmrede abgegeben hatte, und die als Martens'sche Klausel das Verständnis der ganzen Landkriegsordnung prägt. V.Martens stellte fest, daß die HLKO-Bestimmungen den Zweck verfolgten, die Rechte und Pflichten der Kriegsparteien und der Bevölkerung abzugrenzen und die Leiden des Krieges zu mildern, soweit es die militärischen Interessen gestatteten. Es sei jedoch nicht möglich, sich auf Bestimmungen zu einigen, die sich auf alle in der Praxis vorkommenden Fälle erstreckten. Andererseits könnte es aber nicht die Absicht der Konferenz sein, daß die nicht vorgesehenen Fälle in Ermangelung eines schriftlichen Übereinkommens der willkürlichen Beurteilung der militärischen Befehlshaber überlassen blieben9. Auf v. Marten's Vorschlag hin hielt es die Haager Konferenz für zweckmäßig, festzulegen, VO 00 "daß in den Fällen, die in den von ihnen angenommenen Bestimmungen nicht vorgesehen sind, die Bevölkerungen und Kriegführenden unter dem Schutz und den herrschenden Grundsätzen des Völkerrechts bleiben, wie sie sich aus den unter gesitteten Staaten geltenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen Chr. Meurer, ebd., S. 207 Vgl. im einzelnen: Chr. Meurer, ebd., S. 243 ff. Chr. Meurer, ebd., S. 88 f. 21 des öffentlichen Gewissens herausgebildet haben."10 Die Signatarstaaten des IV. Haager Abkommens waren sich 1907 völlig einig, daß es nicht allein genüge, Mittel und Wege zu suchen, um den Frieden zu sichern11 und bewaffnete Streitigkeiten zwischen den Staaten zu verhüten, sondern daß man auch den Fall ins Auge zu fassen hatte, in dem es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen würde12. Auch der Kriegsfall war zu bedenken und die kriegerische Auseinandersetzung - ebenso wie die kriegerische Besetzung feindlichen Gebietes - völkerrechtlich zu regeln und der Willkür des militärisch Stärkeren bzw. des Besetzers des feindlichen Gebietes somit zu entziehen. Dieser noch primär vom europäischen Völkerrechtsdenken geprägten Auffassung war eine Unterscheidung zwischen einem "gerechten" bzw. "rechtmäßigen" Krieg einerseits, einem "ungerechten" bzw. "rechtswidrigen" Krieg andererseits, fremd. Das "Jus Publicum Europaeum" dieser Zeit, dessen geschichtlich-politische Ideen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt hatten, vertrat noch die Vorstellung vom "justus hostis", kannte also keine Diskriminierung des Kriegsgegners, und faßte den kontinentalen Landkrieg als einen reinen Kombattantenkrieg auf, der im wesentlichen eine Auseinandersetzung der beiderseitigen staatlich-organisierten Armeen war und den rein militärischen Bereich von allen anderen Bereichen zu trennen suchte13. In der Zwischenkriegszeit, Weltkrieges, erfuhr der beginnend am Kriegsbegriff Ausgang des Ersten allerdings einen grundlegenden Wandel. Die ersten Ansätze finden sich bereits im Versailler Vertrag von 1919 in Artikel 227, der den deutschen Kaiser unter Anklage stellt, und in Artikel 10 11 12 13 22 RGBl. 1910, S. 107 ff.; Chr. Meurer, ebd., S. 89 Zu den kriegverhindernden Bestrebungen der beiden Haager Konferenzen vgl. J. Dülffer, Regeln gegen den Krieg? - Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 in der internationalen Politik. Vgl. Chr. Meurer, Die Haager Friedenskonferenz, S. 45 Vgl. C. Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, S. 180 231, dem sogenannten Kriegsschuldartikel14. Das sich anschließende Obergangszeitalter erfuhr seine Prägung insbesondere durch die anglo-amerikanische Vorherrschaft, in deren Gefolge auch das geltende Völkerrecht mannigfachen Versuchen ausgesetzt war, die den Wandel hin zu einer neuen völkerrechtlichen Ordnung im Sinn hatten. Der markanteste Unterschied, der das Völkerrecht dieser Zeit von dem des 19. Jahrhunderts abhob, lag in der Wendung zu einem diskriminierenden Kriegsbegriff15. Dies war durchaus nichts völlig Neues, hatte doch auch schon die ältere, aus der mittelalterlichen Scholastik stammende Lehre zwischen den Kategorien des gerechten und des ungerechten Krieges differenziert. Das entscheidende Unterscheidungskriterium bestand regelmäßig allein darin, ob dem Kriegführenden eine "iusta causa" zur Rechtfertigung seines kriegerischen Vorgehens zur Seite stand oder nicht. Er mußte ein materielles Recht, einen Anspruch haben, den der Gegner verletzt hatte und die der Verletzte in Ermangelung einer höheren Autorität nun selbst durchsetzte. Es kam nicht darauf an, ob der Krieg - formal - als Angriffs- oder Verteidigungskrieg geführt wurde oder wer die ersten Kriegshandlungen vorgenommen hatte16. Mit diesem früheren "materiellen" Kriegsbegriff hatte die nach dem Ersten Weltkrieg aufgekommene Lehre vom gerechten Krieg jedoch nichts gemein. Sie stellte nicht auf den Kriegsgrund ab, sondern allein auf das rein formale Kriterium des Angriffs, war also mehr eine Lehre vom "formell" gerechten Krieg: Nur der Verteidiger führt einen gerechten Krieg, der Angreifer ist immer im Unrecht, völlig unabhängig von der materiellen Gerechtigkeit seiner Sache. Die Ge 14 15 16 Vgl. C. Schmitt, ebd., S. 233 ff. Begriffsbildung nach C. Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff; vgl. diesbezüglich auch W. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 728. Vgl. die Nachweise bei K. Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 335 ff.; D. Blumenwitz, Der Besiegte in einem "gerechten Krieg", in: v. Siemens-Stiftung (Hrsg.), Die deutsche Neurose, S. 105 ff., der ebenso wie H. Krüger, "Finis belli pax est", Jb.f.Intern.Recht, Bd. XI (1962), S. 200 ff. diese Lehre als die vom "materiell" gerechten Krieg bezeichnet. 23 rechtigkeit wird so zu einer Funktion der Passivität und die Maxime vom Status quo, die die Interessen des Siegers wahrt, zum alleinigen Gestaltungsfaktor der zwischenstaatlichen Beziehungen17. Diese Unterscheidung zwischen Angreifer und Verteidiger entbehrt aber jeglicher juristischer Präzision, was auch immer einen der Hauptkritikpunkte an dieser Lehre bildete. Sie wurde vielmehr in einem "verschwommenen-ideologischen Sinne" gebraucht, der die Diffamierung des jeweiligen Kriegsgegners als Angreifer erlaubte, wodurch der Krieg zu einer ideologisch verklärten Straf- und Vernichtungsaktion gegen verbrecherische Tyrannen und eroberungslüsterne Aggressoren wurde18. Es ist durchaus kein Zufall, daß dieser Wandel im völkerrechtlichen Kriegsverständnis nach dem Ersten Weltkrieg mit einer Entwicklung parallel lief, die an außenpolitische Fragen in zunehmendem Maß ideologisch und moralistisch heranging19. Die völkerrechtlich neue und die außenpolitisch neue Erscheinungsform beeinflußten sich wechselseitig. Die positivrechtliche Normierung der vor allem von amerikanischer Seite betriebenen völkerrechtlichen "Verdammung" des Angriffskrieges geschah - nachdem das dahingehende Genfer Protokoll von 1924 im Entwurf steckengeblieben war - durch die entsprechenden Formulierungen des Briand-Kellogg- Paktes vom 27. August 1928, in dessen Artikel 1 die Vertragschließenden feierlich erklärten. 17 18 19 24 Vgl. D. Blumenwitz, ebd., S. 108 f. W. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 728 f. Vgl. H. Krüger, Jb.f.Intern.Recht, Bd. XI, 1962, S. 204, der ausführt: ",Ideologie' meint in diesem Zusammenhang ein wissenschaftliches, vor allem geschichtsphilosophisches System, das den Gang der Politik nicht realistisch-empirisch erfaßt, sondern diesem Geschehen eine Gesetzlichkeit unterlegt, die chiliastisch alle vergangene Geschichte in einem letzten Gegensatz gipfeln läßt, den die berufenen Kräfte in einem letzten Gefecht aufzuheben und durch einen geschichts- und herrschaftslosen Zustand zu ersetzen haben, in dem alle Menschen friedlich und tugendhaft miteinander leben können. Die moralistische Betrachtung, wenn auch nicht eigentlich in ein wissenschaftliches System gefaßt, weist doch eine fatale Ähnlichkeit mit der ideologischen Sicht auf. ...". "daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten." Der Vertrag, dem bis 1938 insgesamt 63 Staaten beitraten, enthielt jedoch keinerlei Hinweis auf mögliche Sanktionen gegenüber dem Rechtsbrecher. Lediglich die Präambel erklärte einen Staat, der den Pakt verletzte, der Vorteile dieses Vertrages für verlustig. Die Kontrahenten waren somit nicht gehindert, gegenüber diesem Staat zum Krieg zu schreiten21. Jedoch sollte durch diesen Vertrag weder die Anwendung des Kriegsvölkerrechts gegenüber dem Aggressor im allgemeinen noch des Rechts der kriegerischen Besetzung im besonderen ausgeschaltet werden. Die durch den Briand-Kel- loggPakt herbeigeführte Ideologisierung des Kriegsrechts und Ungleichheit der Kriegführenden barg allerdings eine Reihe von Gefahren, die insbesondere im Hinblick auf die amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland 1945 und die Beachtung der entsprechenden Vorschriften der Haager Landkriegsordnung möglicherweise wichtig werden konnten. 1. TEIL; "DECISION-MAKING" - PLANUNGEN UND ENTSCHEIDUNGEN ZUR USBESATZUNGSPOLITIK IN DEUTSCHLAND. 1941-1945 I. Die Atlantik-Charta - ideologische Zielvorgabe für die Nachkriegspolitik der USA 20 21 Als sich die beiden Regierungschefs der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, Präsident Franklin D. Roosevelt und Premierminister Winston Churchill, am 9. August 1941 auf einem vor der Weltöffentlichkeit zunächst geheim gehaltenen Treffen in der Bucht von Placentia vor Neufundland erstmals persönlich begegneten, mußte diese Situation einen unbefangenen Beobachter doch etwas sonderbar anmuten. Denn GegenText in: RGBL 1929 II, S. 97 ff. Vgl. H. Wehberg, Briand-Kellogg-Pakt von 1928, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, S. 249 f. 25 stand der Konferenzberatungen waren unter anderen amerikanische Lieferungen von Kriegsmaterial an Großbritannien, die militärischstrategische Lage in Europa nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion und die Festlegung von Kriegs- und Friedenszielen, auf deren Grundlage die Nachkriegsweit aufgebaut werden sollte22. Die Besonderheit dieses Gipfeltreffens bestand darin, daß sich hier ein kriegführender Staat, Großbritannien nämlich, mit einem zumindest formal noch immer neutralen Land an einen Tisch setzte, um nicht nur einseitige militärische Hilfslieferungen für eine der kriegführenden Parteien zu besprechen, sondern um darüber hinaus auch eine gemeinsame Prinzipienerklärung abzugeben, deren Verwirklichung notwendigerweise die militärische Überwindung Deutschlands und seiner Verbündeten voraussetzte. Dieses Kriegsziel fand in der als "Atlantik-Charta" bekannt gewordenen Erklärung der beiden Regierungschefs dann auch eine unverhüllte Festlegung. Bei näherer Beleuchtung der Vorgeschichte der Atlantik-Konferenz, wie auch der amerikanischen Haltung gegenüber den in Europa tobenden Krieg und dem eigenen Verständnis von völkerrechtlicher Neutralität, zeigt sich jedoch schnell, daß die Atlantik-Konferenz die zwangsläufige Fortsetzung Roosevelt'scher Kriegspolitik war, die darauf abzielte, unter Umgehung der mit der Neutralität verbundenen Pflichten, Großbritannien und dessen Kriegspartner materiell wie auch ideell zu unterstützen, wodurch die amerikanische Neutralität letztlich zur reinen Farce wurde. Eine kurze Betrachtung der amerikanischen NichtNeutralitätspolitik ist vor allem deshalb auch für die Beurteilung der späteren amerikanischen Deutschland- und Besatzungsplanung aufschlußreich, weil bestimmte Denk- und Argumentations-Strukturen hier wie dort immer wieder auf tauchen, wenn es um die Beantwortung der Frage nach der völkerrechtlichen Zulässigkeit von einerseits Kriegs- und andererseits Besatzungsmaßnahmen geht. 22 26 Zur Vorgeschichte der Atlantik-Konferenz und den einzelnen Verhandlungsthemen s. T.A. Wilson: The First Summit. Roosevelt and Churchill at Placentia Bay 1941, S.26 ff., 82 ff., 108 ff. I.1. Die Abkehr von einer völkerrechtskonformen Neutralitätspolitik a. Einfluß des Briand-Kellogg-Paktes auf den Neutralitätsbegriff . Bereits 1929 hatte in den Vereinigten Staaten eine Diskussion eingesetzt, die zunächst rein akademisch war, die aber im Laufe der folgenden Dekade immer stärker auch auf politische Entscheidungen Einfluß ausübte. Streitpunkt war die Stellung der USA im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen anderer Staaten. Sollte man in der amerikanischen Außenpolitik diesen Staaten gegenüber die bis dahin für die Vereinigten Staaten traditionelle Neutralitätspolitik weiter verfolgen oder etwa, anstatt passiv beiseite zu stehen, aktiv in den Konflikt eingreifen - und wenn man sich für letzteres entscheiden sollte, welcher Seite sollte man die Hilfe zuteil werden lassen? Ausgangspunkt derjenigen, die eine Abkehr nicht nur von der amerikanischen Politik der Neutralität, sondern eine Abkehr vom Begriff der völkerrechtlichen Neutralität überhaupt forderten, war der Briand-Kellog-Pakt vom 27. August 192823. Insbesondere die beiden Völkerrechtler Quincy Wright von der Universität Chicago und Clyde Eagleton von der Universität New York verfochten die These, der Pakt habe das Völkerrecht so nachhaltig umgestaltet, daß der Begriff der Neutralität daraus verschwunden sei24. Ihre Beweisführung war so verblüffend einfach wie völkerrechtlich falsch. Sie baute auf der rhetorischen Frage Eagletons auf: 23 R.A. Divine, The Illusion of Neutrality, S. 18; vgl. zur Entstehung und Bewertung des Briand-Kellogg-Paktes und der Renaissance des Begriffes vom "gerechten Krieg": Einleitung, oben. 24 Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen auf der Jahreskonferenz der American Society of International Law 1930: Qu. Wright, Neutrality and Neutral Rights Following the Pact of Paris for the Renunciation of War, Proc. ASIL 1930, S. 79 ff; C. Eagleton, Neutrality and Neutral Rights Following the Pact of Paris for the Renunciation of War, ebd., S. 87 ff. 27 "How can there be neutrality if there is to be no more war?" und ließ, so wie die Frage gestellt war, offensichtlich nur eine Antwort zu: Wenn es keinen Krieg - im Rechtssinn - mehr gab, konnte es logisch auch keine Neutralität mehr geben. Denn Neutralität als notwendiger Komplementär-Begriff zum Terminus Krieg konnte es nur geben, solange auch ein Kriegsbegriff existierte. Wenn durch den Briand-Kellog-Pakt der Krieg als Rechtsbegriff aus dem Völkerrecht eliminiert wurde, dann konnte es auch keine Neutralität mehr im Völkerrecht geben. Dieser scheinbar zwingende Schluß krankte bei genauerer Untersuchung allerdings daran, daß die Prämisse, die als zutreffend unterstellt wurde, nichts anderes als ein bloßes Wunschbild der Verfechter der These von der Nichtexistenz der Neutralität war. Der Briand-Kel- logPakt hatte nicht den Krieg als solchen aus dem Völkerrecht verbannt, sondern lediglich zur Unterscheidung von legalem und illegalem Krieg beigetragen. Dabei hängt die Frage, ob ein Krieg legal oder illegal ist, weitgehend von der Einhaltung gewisser prozessualer Normen ab (etwa Art. XII bis XV Völkerbundsatzung)26. Neben sachlogischen Überlegungen wurden vielfach auch moralisierende und ideologische Gründe in die Debatte eingeführt27. Wie konnte ein Staat wie die USA neutral bleiben, wenn andere Staaten die Opfer der "Aggression" von Drittstaaten wurden, unter Verletzung sowohl des BriandKellogg-Paktes als auch gegebenenfalls der Art. X-XII der Völkerbundsatzung? Quincy Wright fragte deshalb, ob Neutralität "morally possible"28 sei, und kam zu dem Ergebnis, daß Mitglieder "of such a society cannot be neutral in the presence of a peace-breaker"29. 25 26 27 28 29 28 Proc. ASIL 1930, S. 90 J.L. Kunz, Kriegsbegriff, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, S. 330 Einen guten Überblick gibt K. Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 378 ff. IC, Nr. 242, 1928, S. 361 f. (17 f.) ebd. Die traditionelle amerikanische Völkerrechtslehre (unter anderem Edwin Borchard, Philip Jessup, Charles Cheney Hyde) wies dagegen immer wieder auf die eigentliche Bedeutung des Neutralitätsrechts hin, das der örtlichen Begrenzung von Kriegen diene und die Ausweitung der Feindseligkeiten auf andere Staaten verhindern solle. Außerdem sei es gar nicht immer eindeutig möglich festzustellen, wer denn nun der "Aggressor" sei, so daß man sich dauernd in der Gefahr sich widersprechender Urteile befinde. Ganz abgesehen von der Vieldeutigkeit des Briand-Kellogg-Paktes, der praktisch für jeden, der ihn untersuche, etwas anderes bedeute30. Die These von der Nichtmehrexistenz der Neutralität als völkerrechtlicher Begriff konnte sich in der Völkerrechtswissenschaft letztendlich nicht durchsetzen31. Das beruht vor allen Dingen darauf, daß die für die Unterzeichner des Paktes sich ergebenden Pflichten viel zu unbestimmt sind und schon gar keine Pflicht zur Beistandsleistung für den angegriffenen Staat enthalten32. Mit ihrem Ziel der Kriegslokalisierung durch Nichteinmischung fremder Staaten ist die Neutralität außerdem ein "Zeichen des Friedens" (Scheuner)33 und als solches auch im 20. Jahrhundert noch von großer Bedeutung für die Staatenwelt. Denn Neutralität bedeutet ja nicht den Verzicht auf friedenstiftende Maßnahmen, sondern das Absehen von kriegsfördernden, kriegsintensivierenden und damit den Krieg nicht nur örtlich, sondern eventuell auch waffentechnisch ausweitenden Hilfeleistungen. Die Neutralität war und ist deshalb gerade für solche Staaten von grundlegendem Wert, die sich bei internationalen Konflikten um Ausgleich und friedliche Streitbeilegung bemühen, wie es die Vereinigten Staaten in ihrer Geschichte immer wieder versucht haben. Nur die eigene Neutralität bietet die Gewähr dafür, daß ein 30 31 32 33 Vgl. K. Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 383 m.w. Nachw. Vgl. R.A. Bindschleder, Neutrality, Concept and General Rules, in: Encyclopedia of Public International Law, Bd. 4, S. 13 f.; U. Scheuner, Neutralität, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, S. 592 U. Scheuner, ebd. ebd. vertretbarer Kompromiß der Kriegführenden herbeigeführt werden kann. Derjenige, der sich unter faktischer Aufgabe seiner Neutralität, aus welchen Gründen auch immer, mit neutralitätswidrigen Maßnahmen auf die Seite einer Kriegspartei schlägt, wird immer nur ein "schlechter" oder zumindest ein "unehrlicher Makler" sein. Jb. Die schrittweise Überwindung des außenpolitischen Isola- tionismus und der völkerrechtlichen Neutralität. Während also der Versuch, die Neutralität als festen Bestandteil des Völkerrechts zu beseitigen, fehlschlug, bleibt der Einfluß dieser Theoretiker auf die US-Außenpolitik Roosevelts unverkennbar. Während sich der Präsident in den ersten Jahren seiner 1933 begonnenen Amtszeit mehr innenpolitischen Problemen zuwandte, um durch seine Politik des "New Deal" die wirtschaftliche Krise der USA zu überwinden, setzte er ab 1936 auch deutliche außenpolitische Signale. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich in den USA der Isolationismus als außenpolitische Richtung durchgesetzt, eine Erscheinungsform der Außenpolitik, die in den Vereinigten Staaten bis dahin tiefe Wurzeln hatte34. Auch der Nichtbeitritt der USA zum Völkerbund nach Ende des Ersten Weltkrieges fand seinen Grund in dem in den zwanziger Jahren sich verstärkenden Isolationismus. Roosevelts Außenpolitik ab 1936 war ganz darauf gerichtet, die politischen Schranken, die der Isolationismus seinem außenpolitischen Wirken setzte, schrittweise abzubauen. Erste Einschränkungen am Isolationismus-Konzept in seinem Land machte Roosevelt in einer Rede in Chautauqua, New York, am 14. August 1936. Darin reduzierte er das politische Programm des Isolationismus, das eine Absage an so gut wie jedes außenpolitische Engagement enthielt, auf die völkerrechtliche Neutralität der Vereinigten Staaten. Die Amerikaner, so Roosevelt, seien keine Isolationisten, "außer insofern, als wir uns völlig vom Kriege isolieren wollen"35. Er erteilte weiterhin allen Wirtschaftskreisen in 34 35 30 Zum Isolationismus vgl. G. Gnodtke, Isolationismus, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, S. 156 Roosevelt spricht. Die Kriegsreden des Präsidenten, S. 34; seinem Land eine klare Absage, die sich von der Unterstützung kriegführender Staaten durch Kredite und Sachlieferungen eigene Profite versprechen würden, und die versuchen könnten, "unsere Neutralität abzuschaffen oder zu umgehen"36. Gleichzeitig deutete er an, wenn auch noch völlig allgemein gehalten und ohne ein bestimmtes Land zu nennen, daß sich jedes Land die "Sympathien des amerikanischen Volkes" verscherze, das einen Krieg provoziere37. Einen großen Schritt weiter auf seinem Weg zur Überwindung des Isolationismus ging Roosevelt am 5. Oktober 1937 in seiner berühmten "Quarantäne"-Rede in Chicago. Die durch den BriandKellogg-Pakt erweckten Friedenshoffnungen, so Roosevelt, seien in der letzten Zeit einer "schleichenden Angst vor der kommenden Katastrophe gewichen". Erst vor wenigen Jahren habe die "internationale Gesetzlosigkeit" eingesetzt38. Diese Feststellung war primär auf Japan gemünzt, das im Juli 1937 in Nordchina einmarschiert war. Adressat waren aber zweifellos auch die Regime in Deutschland und Italien. Er machte weiter klar, daß es in seinem Weltbild "friedliebende Nationen" gebe, die sich gemeinsam anstrengen müßten, um die Gesetze und Grundsätze aufrechtzuerhalten, die die einzigen sicheren Grundlagen des Friedens seien, wenn man eine Welt haben wolle, "in der wir frei atmen können und in Eintracht leben, ohne Furcht"39. Der Ausdruck "friedliebende Nationen" war eines der Schlagworte dieser Rede. Diesen "friedliebenden Nationen" oder auch "friedliebenden Völkern" standen in Roosevelts Vorstellung "diejenigen Nationen" gegenüber, "die in Versuchung geraten, ihre Verträge zu brechen und die Rechte anderer zu verletzen..."40. Diese simplifizierende Unterscheidung zwischen den "friedliebenden Nationen" einerseits und denjenigen Nationen, 36 37 38 39 40 vgl. auch Roosevelt Roosevelt Roosevelt Roosevelt Roosevelt G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 17 spricht, S. 37 spricht, s. 35 spricht, S. 42 spricht, S. 43 f. spricht, S. 48 31 denen in seinen Augen ein Wille zum Frieden fehlte, deutete schon 1937 eine Tendenz an, die auch Jahre später bei der Planung der Besatzungspolitik für Deutschland wieder in den Vordergrund trat: Die Tendenz nämlich, ein ganzes Volk mit einem Adjektiv (und "friedliebend" ist dafür nur ein Beispiel) zu belegen, das überhaupt nur auf einzelne Individuen Anwendung finden kann und deshalb lediglich eine Scheinwahrheit darstellt. Außerdem verstellte der Blick auf die "Nation" bzw. das "Volk" die Einsicht in die Tatsache, daß Weltpolitik von Staaten bzw. deren Regierungen betrieben wird, und daß die Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglich- keiten des Staatsvolkes oder der Nation, insbesondere in autoritären Staatssystemen, so gut wie völlig ausgeschaltet sind. Roosevelts Rezept gegen " die Epidemie der allgemeinen Gesetzlosigkeit, die immer mehr um sich greift", bestand darin, den von ihm als unfriedlich erkannten Nationen eine "Quarantäne" zu verordnen: "Wenn eine ansteckende Krankheit sich zu verbreiten beginnt, verordnet die Gemeinschaft eine Isolierung der Patienten, um die eigene Gesundheit vor der Epidemie zu schützen." 1 Roosevelts erkennbares Bemühen, die USA aus der zwei Jahrzehnte vorher selbstgewählten Abkehr vom internationalen Parkett wieder in die internationale Politik zurückzuführen, war im Herbst 1937 jedoch noch nicht von Erfolg gekrönt. Als die Öffentlichkeit auf die "Quarantäne"-Rede mit Ablehnung und Empörung reagierte, wußte er bereits einen Tag danach die Gemüter wieder zu beruhigen, indem er versicherte, an der "policy of non-involvement"42 habe sich natürlich nichts geändert. Der bis Ende der dreißiger Jahre in den Vereinigten Staaten hinsichtlich der Gestaltung der Außenpolitik vorherrschende und lange schier übermächtige Isolationismus, der, wie soeben gesehen, auch vom Präsidenten nicht ohne weiteres in 41 42 32 Roosevelt spricht, S. 47 The Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt, Vol. 1937, S. 423 sein Gegenteil zu verkehren war, hatte bereits am 31. August 1935 und am 1. Mai 1937 die Grundlage gebildet für vom Kongreß erlassene Neutralitätsgesetze. Diese Neutralitätsgesetze hatten das Ziel, eine mögliche Verwicklung der USA in fremde Kriege zu verhindern. Der Präsident wurde ermächtigt, Kriegführenden gegenüber ein Waffen- und Kriegsmaterial-Embargo zu erlassen, was dieser auch tat43. Bereits das Neutralitätsgesetz von 1937 enthielt eine erste Version einer cash- und carry-Klausel, die den Kriegführenden die Möglichkeit einräumte, Güter, die nicht von dem Embargo erfaßt wurden, nach Barzahlung selbst abzuholen und mitzunehmen44. Seit Beginn des Jahres 1939 drängte Roosevelt zusehends auf eine Änderung der Neutralitätsgesetze. Der Versuch jedoch, das Waffenembargo zugunsten solcher Staaten aufzuheben, die von einer Aggression bedroht seien, wurde vom Senat zurückgewiesen45. Roosevelts anti-isolationistische und interventionistische Bestrebungen wurden dadurch aber nicht aufgehalten. Unter Heranziehung von Gedanken der universalistischen Neutralitätsdoktrin ließ er in einer Radioansprache am 3. September 1939 wissen: "Wenn der Friede an irgendeinem Punkte (der Welt, d. Verf.) gestört wird, ist der Friede sämtlicher Länder gefährdet."46 Trotz dieser angeblichen eigenen Bedrohung der USA versicherte Roosevelt seinen Mitbürgern: "Unser Land wird neutral bleiben"47. Wie diese Neutralität aussah, zeigte das Neutralitätsgesetz vom 4. November 193948. Der Kongreß lockerte das generelle 43 44 45 46 47 48 AJIL 31 (1937) Suppl. S. 147 ff.; U. Scheuner: Neutralitätsgesetze, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, S. 598 W. Meng, Cash- and Carry-Clause, in: Encyclopedia of Public International Law, Bd. 4, S. 70 f. G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 28 Roosevelt spricht, S. 57 Roosevelt spricht, S. 60 AJIL 34 (1940), Suppl. S. 44 33 Verbot von Kriegsgüterlieferungen und nahm nun auch Waffen und sonstige Kriegsgüter in die cash- und carry-Klausel auf49. Waffenlieferungen an kriegführende Staaten waren von nun an unter der Prämisse erlaubt, daß der Abtransport der Güter auf ausländischen Schiffen erfolgte, und diese Güter vor ihrem Abtransport vollständig bezahlt waren (deshalb: cash und carry). Diese Regelung begünstigte die Seemächte, insbesondere Großbritannien, und wirkte sich dadurch in der Praxis zum Nachteil des im Kriege befindlichen Deutschland aus. Schon diese Abschaffung des Waffenembargos wurde von Vertretern der traditionellen Völkerrechtsschule als Verletzung der amerikanischen Neutralitätspflichten angesehen "because of the motive, not because of the bare fact of change" (Ph. Jessup)50. Eine bis dahin in den Vereinigten Staaten noch nie dagewesene Dimension erhielt Roosevelts Weg weg von der Neutralität im Sommer 1940. Daß er nicht länger bereit war, sich neutral zu verhalten, machte er in seiner Rede in Charlottesville, Virginia, am 10. Juni 1940 deutlich. Er wollte diese Rede verstanden wissen als "one in which the issue between the democracies and the Fascist powers would be drawn as never before."51 Die ganze amerikanische Nation sei davon überzeugt, so führte Roosevelt aus, daß ein "Sieg der Gewalt- und Haßpropheten" die Demokratien in der westlichen Hemisphäre bedrohen würde, und daß deshalb die ganze Sympathie solchen Völkern gehöre, "die ihr Lebensblut im Kampf gegen diese Kräfte opfern."52 Der Kernpunkt der Rede war die Ankündigung, selbst die Rüstungsanstrengungen intensivieren und England und Frankreich noch stärker als bisher unterstützen zu wollen. "Wir werden den Gegnern der Gewalt die materiellen Ressourcen unseres Landes zur Verfügung stellen, und wir werden gleichzeitig uns selber bewaffnen und 49 50 51 52 34 Vgl. W. Meng, Cash- and Carry-Clause, in: Encyclopedia of Public International Law, Bd. 4, S. 71 Ph. Jessup, The Reconsideration of Neutrality Legislation in 1939, AJIL 33 (1939), S. 556 f. R.A. Divine, Roosevelt and World War II, S. 31 Roosevelt spricht, S. 102 f. die Ausweitung dieser schleunigen. .."53 Ressourcen be- Dieses bedingungslose Unterstützungsversprechen gegenüber den Gegnern Deutschlands mußte als eindeutige Absage an jede Art zukünftiger Neutralität gewertet werden. Die Umsetzung der Zusicherung erfolgte am 3. September 1940. Durch einen Notenwechsel beschlossen die Vereinigten Staaten und Großbritannien ihr erstes Leih- und Pachtabkommen, den sogenannten "Destroyer-Deal"54. Die Vereinigten Staaten übergaben den Briten insgesamt 50 zwar veraltete, aber für die U-Bootbekämpfung weiterhin brauchbare Zerstörer der 1200-Tonnen-Klasse. Als Gegenleistung erhielten die Amerikaner Luft- und Marinestützpunkte in Neufundland, Britisch Guayana und mehreren Karibik-In- seln55. Dieser Vereinbarung lag Roosevelts Vorstellung zugrunde, die USA müßten "das große Arsenal der Demokratie werden. Für uns ist die Lage ebenso ernst wie der Krieg."56 Aus diesem Arsenal durften nach dem sogenannten "Land- Lease-Act" vom 11. März 1941, den Kongreß und Senat genehmigt hatten, insgesamt 39 Staaten schöpfen. Dieser "Land- Lease-Act" gab dem amerikanischen Präsidenten alle Vollmachten, jedem Land Waffen und sonstiges Kriegsgerät zu überlassen (von "Leihe“ konnte bei Kriegsgerät wohl kaum die Rede sein). Voraussetzung war lediglich, daß eine Prüfung durch den Präsidenten zu dem Ergebnis führte, daß die Verteidigung des betreffenden Landes für die Verteidigung der USA lebenswichtig sei ("whose defense the President seems vital to the defense of the United States")57. 53 54 55 56 57 Roosevelt spricht, S. 105 f. AJIL 34 (1940) Suppl. S. 184 ff. Vgl. R. Kirchschläger: Leih- und Pachtabkommen, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, S. 411; L. Gruchmann, Völkerrecht und Moral, VfZG 1960, S. 389 Roosevelt spricht, S. 122 "An Act Further to Promote the Defense of the United States", DAFR III, S. 712 ff.; R. Kirchschläger: Leih- und Pachtabkommen, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, S. 411; L. Gruchmann, VfZG 1960, S. 390 35 Das Völkerrecht räumte den Amerikanern allerdings nur zwei Möglichkeiten im Hinblick auf das Kriegsgeschehen in Europa und Asien ein: entweder aktive Teilnahme am Krieg oder strikte Neutralität. Ein Zwischenstadium gab und gibt es nicht. Weder im Sinn einer "qualifizierten Neutralität" noch einer "Politik der Nichtkriegführung"58. Die Hintergründe und Ziele der Bevorzugung des einen Kriegführenden und der Diskriminierung des anderen, sowohl durch einen Teil der amerikanischen Völkerrechtswissenschaft, als auch durch die Politik Roosevelts, faßte der amerikanische Völkerrechtler Edwin Borchard bereits 1941 in einem treffenden Satz zusammen: "Yet the legal fact seems to be that nonbelligerency is a name used as a modern excuse for violating the laws of neutrality and as a hope that war-like acts can be committed while escaping the consequences of belligerency."59 Eine Nation, so Borchard weiter, könne sich jederzeit an einem Krieg beteiligen. Sie müsse nur die notwendigen Konsequenzen dieses Schrittes tragen. Ein Neutraler könne aber nicht für sich das Recht beanspruchen, kriegerische Handlungen zu begehen. Borchard kam zu dem Schluß, "that the acts already committed by the United States are acts of war and cannot be legally explained or excused as measures short of war."60 Schon ein Jahr vorher, 1940, anläßlich des "Destroyer- Deals" hatte Borchard festgestellt, es gebe keine Möglichkeit, den Zerstörer-Handel mit der Neutralität, mit den Gesetzen der Vereinigten Staaten oder mit dem Völkerrecht in Einklang zu bringen. Die Idee von "non-belligerency" wie auch von "measures short of war" habe keinerlei rechtliche Grundlage. Sie sei allem Anschein nach "designed to justify 58 59 60 R.L. Bindschleder, Neutrality, Concept and General Rules, in: Encyclopedia of Public International Law, Bd. 4, S. 13 War, Neutrality and Non-Belligerency, AJIL 135 (1941), S. 624 ebd., S. 624 f. breaches of neutrality or acts of war ... "61. Sein Kollege Herbert Briggs kam zu dem Fazit: "The supplying of these vessels by the United States Government to a bellige- rent is a violation of our neutral sta- tus, a violation of our national law, and a violation of international law".62 Wenngleich formell noch immer neutral, hatten sich die USA durch dieses Verhalten doch schon lange vor dem Treffen Roosevelts und Churchills in die Reihen der Kriegführenden begeben63. 1.2. Inhalt und Geltungsbereich der Atlantik-Charta Auch die Besprechungen in der Bucht von Argentia sollten vornehmlich dazu dienen, die im Zusammenhang mit dem Leihund Pachtabkommen vom Januar 1941 stehenden Probleme bei der Abwicklung der Lieferung von Kriegsgerät zu erörtern64. Die Atlantik-Konferenz war deshalb nichts anderes als eine Kriegskonferenz der beiden Repräsentanten der führenden Mächte der westlichen Hemisphäre, um einen Gedankenaustausch über Lage, Strategie und Fortführung des Krieges gegen die Achsenmächte herbeizuführen. Das für die Weltöffentlichkeit Interessantere und Spektakulärste dieser Konferenz war aber die Acht-PunkteErklärung, die am 14. August veröffentlicht wurde, zwei Tage nach Abschluß des Treffens. Diese Erklärung des US-Präsidenten und des britischen Premierministers deutete schon in ihrer Einleitung an, daß sie den Boden reiner Kriegspolitik verlassen würde und auch Leitlinien für die Nachkriegspolitik der beiden Staaten beinhaltete. Die beiden wollten "gewisse allgemeine Grundsätze in der nationalen Politik Ihrer Länder" 61 62 63 64 The Attorney General's Opinion on the Exchange of Destroyers for Naval Bases, AJIL 34 (1940) S. 697 Neglected Aspects of the Destroyer Deal, AJIL 34 (1940) S. 587 G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 29 A. Tyrell, Großbritannien und die Deutschlandpolitik der Alliierten 1941-1945, S. 40 f. 37 festlegen, "auf die sie ihre Hoffnungen für eine bessere Zukunft der Welt gründen"65. Dieser gemeinsamen Erklärung, die unter dem Namen "Atlan- tikCharta" bekannt wurde, lagen keine bilateralen britischamerikanischen Planungen oder Erörterungen im Vorfeld der Konferenz zugrunde. Da in den USA aber immer wieder Kritik laut geworden war, die Briten müßten endlich einmal die von ihnen verfolgten Kriegsziele konkretisieren, und Roosevelt müsse den Grund für seine umfassende Unterstützung Großbritanniens der amerikanischen Bevölkerung deutlicher vor Augen führen*66, bot sich die Konferenz als ausgezeichneter Anlaß, diesen Forderungen durch eine gemeinsame Kriegs- und Friedenszieldeklaration nachzukommen. Roosevelt hatte deshalb schon vor dem Beginn der Konferenz die Absicht geäußert, zusammen mit Churchill bestimmte Prinzipien festzulegen, auf die seiner Meinung nach die Nachkriegsweit aufgebaut sein müßte, um ein friedliches Zusammenleben der Völker zu ermöglichen67. Churchill konnte dagegen nichts einzuwenden haben. Die Ausarbeitung der Erklärung erfolgte dann während der Konferenz unter Einbeziehung der ebenfalls anwesenden Staatssekretäre der Außenministerien der USA und Großbritanniens, Helles und Cadogan. Das Ergebnis war eine Mischung aus allgemeinen nachkriegsund friedenspolitischen Zielen einerseits, konkreten, vor allem das nationalsozialistische Deutschland betreffenden Kriegszielen andererseits. Soweit in ihr grundlegende Friedensmaximen proklamiert wurden, stellte die Atlantik-Charta, zumindest teilweise, eine Fortführung von und ein Festhalten an politischen sowie ideologischen Grundsätzen dar, die in der amerikanischen Außenpolitik schon früher eine Rolle gespielt hatten, und 65 66 67 38 Text der Atlantik-Charta u.a. bei G. Zieger, Die Atlantik- Charter, Dokumentenanhang, S. 93 ff. (dt.); E. Deuerlein, Die Einheit Deutschlands, 2. Aufl., 1961, S. 303 f. (dt); L.W. Holborn, War and Peace Aims of the United Nations, Bd. 1, S. 2 f. (engl.); AJIL 35 (1941) Suppl. S. 191 A. Tyrell, Großbritannien und die Deutschlandplanung der Alliierten 1941-1945, S. 41. T.A. Wilson, The First Summit, S. 176 ff.; S. Welles, Where Are We Heading?, S. 5 f. auf deren bisherige Nichtverwirklichung in der Weltpolitik man das gegenwärtige Kriegsgeschehen zurückführte. Parallelen, aber auch Unterschiede, finden sich schon in Wilsons Vierzehn Punkten vom 8. Januar 1918 und Roosevelts Erklärung der Vier Freiheiten vom 6. Januar 1941. a. Zusammenhang mit Wilsons "Vierzehn Punkten" und Roosevelts "Vier Freiheiten". Der auffallendste Unterschied zwischen Wilsons Vierzehn Punkten und der Atlantik-Charta ist die in vielen Punkten vergleichsweise geringe Differenziertheit der Charta und der damit verbundene hohe Abstraktionsgrad. Dies hing damit zusammen, daß die Charta in einem frühen Stadium des Krieges verkündet wurde, und eine differenzierte Sachaussage politisch weder notwendig noch möglich erschien68. Einer der Punkte, in denen die Nachkriegsziele konkreter gefaßt waren, war Artikel 6, der die "endgültige Zerstörung der Nazityrannel" als notwendige Voraussetzung für ein dauerhaftes Friedenssystem in der Welt nannte. Artikel 8 forderte eine Entwaffnung der Angreiferstaaten . Das war eine eindeutige Absage an die von Wilson initiierte Friedenspolitik nach dem Ersten Weltkrieg, die keine machtpolitischen Maßnahmen vorgesehen hatte und deren idealistische Ziele keinen Platz für Gewaltmethoden kannten69. Traditionelles amerikanisches Ideengut zeigte sich vor allem in den Artikeln 1 bis 3 der Charta, die allen Formen des politischen Imperialismus eine Absage erteilen sollten. Schon Wilson hatte sich für das Selbstbestimmungsrecht engagiert, wenngleich der Inhalt und die Tragweite dieses Begriffes nicht immer identische und deutliche Konturen zeigt70. Die beiden grundlegenden Formen des Selbst- bestimmungsrechts tauchen (angedeutet) bei Wilson und (ausdrücklich) in der Charta auf: Zum einen das Selbstbestimmungsrecht nach innen (freie Wahl der 68 G. Holtmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 31 69 70 G. Holtmann, ebd., S. 33 Vgl. G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 66 f. 39 Regierungsform), zum anderen das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach außen (freie Wahl der territorialen Zugehörigkeit)71, wobei Wilson dem innerstaatlichen Selbstbestimmungsprinzip eine hervorragende Rolle beimaß72. In der Atlantik-Charta kam dieser Grundsatz in Artikel 3 voll zur Geltung. Artikel 2 proklamierte durch die Feststellung, keine territorialen Veränderungen sollten vorgenommen werden, die nicht von dem Willen der Bevölkerung gedeckt seien, ebenso wie Artikel 1, in dem Roosevelt und Churchill bekräftigen, ihre Länder strebten nach keiner territorialen oder sonstigen Vergrößerung, das "Selbstbestimmungsrecht nach außen".73 Während Wilson die innere Struktur der Staaten in einer demokratischen Form als Prämisse einer weltweiten Friedensordnung angesehen und die Frage des Welthandels hinten angestellt hatte, war sie für Roosevelt und seine Administration ein zentraler Faktor. Zwar erschien die Forderung nach Beseitigung aller Wirtschaftsschranken und Gleichheit der Handelsbedingungen überall auf der Welt auch schon in Artikel 3 der Wilson1 sehen Punkte, doch hatte sie bei weitem nicht die zentrale Bedeutung wie in Roosevelts Gedankengängen, die sich dann in den Artikeln 4 und 5 der Charta niederschlugen. Einer der glühendsten Verfechter des Prinzips des "Multilateralismus"74 war Roosevelts Außenminister Cor- dell Hull, der diesem Prinzip schon seit der Wilson-Ära anhing75. Roosevelt selbst beabsichtigte einen weltweiten "New Deal", einen Export der wirtschaftlichen und sozialen Ziele und Verfahrensweisen, die den kulturellen und materiellen Lebensstandard in den Vereinigten Staaten 71 Vgl. G. Moltmann, Amerikas (Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 29, der meint, alle antiimperialistischen politischen Ziele Roosevelts und Churchills ließen sich schon in der amerikanischen Kriegszielpolitik des Ersten Weltkrieges nachweisen. 72 73 G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 67 Vgl. zur Entwicklung und Ausformung des Selbstbestimmungsrechts der Völker ("Selbstbestimmungsrecht nach außen") G. Zieger, ebd., S. 68 ff. Zum Begriff "Multilateralismus” vgl. B. Kuklick, American Policy and the Division of Germany, S. 3 Vgl. C. Hull, Memoirs, S. 69, 81 ff., 133 f., 175 74 75 40 maßgeblich beeinflußt hatten76. Artikel 4 der Charta stellte klar, daß an diesen weltweiten Freihandel alle Nationen teilhaben sollten; nicht nur die "friedliebenden", wie es sonst in Roosevelts Terminologie öfter hieß, oder die Sieger, sondern ganz bewußt wurden auch die "Besiegten" in diese Konzeption eingeschlossen. Eine farblose und inhaltlich nicht weiterentwickelte bloße Wiederholung eines Punktes aus Wilsons Erklärung (Punkt 2) war der in Artikel 7 der Charta aufgenommene Grundsatz der Freiheit der Meere77. Die von Wilson seinerzeit proklamierte "Freiheit des Individuums" wurde von Roosevelt schon vor der Atlantik-Konfe- renz aufgegriffen und in der Erklärung über die "Vier Freiheiten" weiterentwickelt78. Im Zuge seiner Mobilmachung amerikanischer Mittel für die Gegner der Achsenmächte und die Umstellung der amerikanischen Industrie von Friedensauf Kriegsproduktion, hatte er bereits am 6. Januar 1941 in einer Ansprache vor dem Kongreß die Ziele der USA in diesem Krieg in knappen Worten umrissen: Vier Freiheiten, die ihrem Grunde nach damals wohl innerstaatliche Maximen darstellten, aber noch keinen Eingang in internationale Beziehungen gefunden hatten, weil sie das Verhältnis von Staat und Individuum, nicht aber das Verhältnis der Staaten untereinander betrafen, wurden von ihm zu zwischenstaatlichen Forderungen erhoben: die Redefreiheit, die Religionsfreiheit, die Freiheit von aller Not (durch Abschluß internationaler Wirtschaftsabkommen, die den Bewohnern jedes Landes gesunde Friedensverhältnisse sichern sollten) und die Freiheit von aller Angst (durch globale Abrüstung)79. In absoluter Verkennung der weltpolitischen Konstellationen und in der Annahme, diesen Zustand allein durch die Vernichtung der Achsenmächte herbeiführen zu können, wobei die von der Sowjetunion ausgehenden Gefahren gar nicht erkannt oder zumindest verkannt wurden, meinte 76 77 78 79 W. Range, Franklin D. Roosevelt's World Order, S. 137 Eine vergleichende Studie beider Punkte bei G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 64 f. Vgl. G. Zieger, S. 24 Roosevelt spricht, S. 128 f. 41 Roosevelt zur Freiheiten": Begründung seiner Forderung nach den "Vier "Das sind nicht etwa Träume von einem fernen tausendjährigen Reiche. Das ist eine bestimmte Grundlage für eine Welt, wie wir sie in unserer Zeit und in unserer Generation schaffen können."80 Eigenartig ist, daß von diesen vier Freiheitsrechten in der Atlantik-Charta nur zwei auftauchten, nämlich in Artikel 6, in dem - "nach der endgültigen Zerstörung der Nazityrannei" - von einem zukünftigen Frieden die Rede war, der gewährleisten würde, "daß alle Menschen in allen Ländern frei von Furcht und Mangel leben können."81 Die Rede- und Religionsfreiheit wurden mit keinem Wort erwähnt. Gerade diese beiden gehörten zu den traditionellen Menschenrechten82. Aber auch sonstige "klassische" Grundrechte, z.B. Gleichheit der Person und Sicherheit des Einzelnen, Sicherheit der Wohnung und Garantie des Privateigentums, fehlten gänzlich83. Vor allem die Außerachtlassung der Religionsfreiheit wurde dem amerikanischen Präsidenten später häufig zum Vorwurf gemacht, da auch das bolschewistische Rußland diese Freiheit ja schon seit seiner Gründung vehement bekämpfte. Daß es sich bei der Nichtberücksichtigung der Religionsfreiheit um ein reines Versehen gehandelt habe, wurde später häufig betont.84 Eine andere Erklärung für dieses Verhalten könnte aber auch in Roosevelts Einstellung zur stalinistischen Sowjetunion zu suchen sein. Denn es war sicher kein Zufall, daß Roosevelt schon wenige Wochen nach der Veröffentlichung der Atlantik-Charta einen Brief an Papst Pius XII. (3. September 1941) schrieb, in dem er die Religionsausübung in der Sowjetunion zum zentralen Thema machte. Für Roosevelt war die Freiheit der Religionsausübung in der Sowjetunion 80 81 82 83 84 42 Roosevelt spricht, S. 129 G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 84 H. Engelhardt, Vier Freiheiten, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, S. 591 Vgl. G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 58 Z.B. R.E. Sherwood, The White House Papers of Harry L. Hopkins, S. 362 weit weniger gefährdet als in Deutschland, ja er glaubte sogar an eine reale Möglichkeit, daß als ein Ergebnis des gegenwärtigen Konflikts die Religionsfreiheit in Rußland anerkannt werde. Roosevelt weiter: "I believe, however, that this Russian dictatorship is less dangerous to the safety of other nations than is the German form of dictatorship. The only weapon which the Russian dictatorship uses outside of its own borders is communist propaganda ... . I believe that the survival of Russia is less dangerous to religion, to the church as such, and to humanity in general than would be the survival of the German form of dictatorship."85 In dieser Einstellung gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland einerseits und der bolschewistisch-kommunistischen Sowjetunion andererseits fand der amerikanische Präsident auch unter seinen Beratern Unterstützung, die in der Vorstellung wurzelte, daß Stalin auf territoriale Vergrößerung gar nicht aus sei, und sich das in der Sowjetunion praktizierte Gesellschaftssystem dem der Demokratie nach westlichem Muster annähern werde86. Diese Rücksichten auf den künftigen Kriegspartner waren wohl das ausschlaggebende Moment für die Nichtaufnahme der Religionsfreiheit in den Katalog der Atlantik-Charta. Die dadurch herbeigeführte Diskrepanz zwischen den erst sechs Monate vorher so nachhaltig als Essentialien einer friedlichen Nachkriegsordnung hervorgehobenen "Vier Freiheiten" und der Atlantik-Charta kündigte den Wandel in der amerikanischen Außenpolitik bereits eindringlich an: Ein Wandel von idealistischen Friedensproklamationen zu pragmatischer Kriegszielpolitik, die auch - und gerade - die Berücksichtigung der Interessen der Sowjetunion zu gebieten schien.87 85 86 87 Text des Briefes bei E. Schwinge, Bilanz der Kriegsgeneration, S. 95 f. Vgl. E. Schwinge, ebd., S. 34 f. Roosevelts tragische Fehleinschätzung des kommunistischen Gesellschaftssystems in der Sowjetunion wurde im Anschluß an den Brief vom 3. September 1941 gegenüber dem amerikanischen Botschafter beim Vatikan, Myron C. Taylor, durch Monsignore 43 Vor diesen Hintergrund ist es erklärlich, wenn ein langjähriger Beobachter Roosevelts, der republikanische Abgeordnete Hamilton Fish, in bezug auf die Atlantik-Charta von einem "Propagandamanöver gegen das totalitäre Deutschland und Italien" sprach88. Auch rechnete Roosevelt damit, die gemeinsame Erklärung werde die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten sehr stark (zu seinen Gunsten) beeinflussen89. Die tagespolitische Bedeutung der Atlantik- Charta, als Ausdruck traditioneller amerikanischer Prinzipien in Verbindung mit neuen, wenngleich zumeist wenig differenzierten Ideen, lag somit insbesondere in ihrem Propagandawert. Sie erlaubte den Blick in eine idealisierte Zukunft, aufbauend auf bestimmten gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Prinzipien, für deren Verwirklichung es scheinbar "nur" der militärischen Niederringung der Achsenmächte, voran Deutschland, bedurfte. Sie stärkte Roosevelts Position, da sich Amerika mit diesen Prinzipien, derentwegen es die Alliierten unterstützte, vollständig identifizieren konnte. Gleichzeitig rückten die Achsenmächte, und das nationalsozialistische Deutschland wurde ausdrücklich genannt, in die Rolle des Hemmschuhs, des Verhinderers der angeblich bevorstehenden neuen und friedlichen weltpolitischen Ordnung. Die Roosevelt'sche (später Kardinal) Domenico Tardini korrigiert. Taylor berichtete Roosevelt von diesem Gespräch in einem streng persönlichen Memorandum. Tardini, offensichtlich im Auftrag von Papst Pius XII. handelnd, gab darin eine Zustandsbeschreibung Europas für den Fall einer Niederlage Deutschlands und einem Sieg der Sowjetunion. Treffend wurde von ihm (1941) die dann später in Europa (1945) tatsächlich eingetretene Situation vorhergesehen: Ein enormer kommunistischer Block werde entstehen, dessen unumgängliche Bestimmung es sein werde, einen Krieg mit England und Amerika zu provozieren. Er wies auch darauf hin, daß die Sowjetunion durchaus nicht nur Expansion durch Propaganda betrieb, sondern ein tatsächliches und unverkennbares Programm militärischer Aggression, wie er unter Heranziehung der Invasionen in Polen, Estland, Finnland u.a. beweisen konnte; vgl. "Strictly personal memorandum giving summary of considerations expressed by H.E. Mons. Tardini in conversation with H.E. 88 89 44 Mr.Myron C. Taylor", 20. September 1941, Roosevelt Library (RL) PSF Box Nr. 70 Vatican: Myron C. Taylor 1941 H. Fish, Der zerbrochene Mythos, F.D. Roosevelts Kriegspolitik 19331945, S. 149 W. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, III/2, S. 79 Freund-Feind-Einteilung wurde auf diese Weise zu einem für den allergrößten Teil der amerikanischen Bevölkerung konsensfähigen außenpolitischen Programm. Der langfristige und weltpolitische Wert der Atlantik- Charta, die zunächst eine "vorläufige, noch unvollständige Erklärung"90 war, wird erst deutlich, wenn man ihren weiteren Weg verfolgt: Über eine Anerkennung der in ihr niedergelegten Prinzipien auf dem Interalliierten Treffen von zehn Regierungen im St.-James-Palast in London am 24. September 1941 und die "Erklärung der Vereinten Nationen vom 1. Januar 1942" wurde ihr wesentlicher Inhalt schließlich Bestandteil der Satzung der drei Jahre danach gegründeten Organisation der Vereinten Nationen91. Nichtgeltung der Atlantik-Charta für Deutschland. In Großbritannien gab die Atlantik-Charta schon bald Anlaß zu einer Auseinandersetzung über ihren Geltungsbereich. Die Kontroverse kreiste um die Frage, ob der Inhalt der Charta mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit aufgestellt worden war und ihr deshalb universelle Geltung zukam, oder ob die Kolonialvölker, insbesondere im britischen Empire, oder die Achsenmächte aus ihrem Anwendungsbereich ausgeschlossen waren92. b. Churchill verkündete in seiner Rede im Unterhaus am 9. September 1941, das Selbstbestimmungsrecht der Völker sei lediglich in bezug auf die von Hitler unterworfenen Völker festgelegt worden. Die Charta beziehe sich nicht auf Indien, Burma und das britische Weltreich im allgemeinen93. Damit setzte er sich jedoch in Gegensatz zur offiziellen amerikanischen Auffassung, die von Roosevelt so beschrieben wurde: 90 91 92 93 W. Churchill, ebd., S. 79 f. Vgl. dazu G. Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 90 ff.; H.-J. Schlochauer, Atlantik-Charter,in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, S. 96 Vgl. G. Zieger, ebd., S. 46 ff. L.W. Holborn, War and Peace Aims of the United Nations, Bd. 1, S. 219; Hull, Memoirs, S. 1484 45 "Die Atlantikdeklaration gilt nicht nur für die Weltteile, die an den Atlantik grenzen, sondern für die ganze Welt: Entwaffnung der Angreifer, Selbstbestimmungsrecht der Nationen und Völker und die vier Freiheiten Redefreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Not und 94 Freiheit von Furcht." Der dadurch betonte universelle Charakter der Atlantik- Charta barg für die Vereinigten Staaten keinerlei Risiko, sondern versprach ihnen einen enormen Vorteil für die Nachkriegszeit, weil die Verwirklichung des Selbstbestimmungs- rechts auch für die Kolonialvölker im britischen Weltreich und ein weltweiter Abbau der Handelsschranken den exportorientierten USA neue Märkte öffnen konnte. Eine über den ausdrücklichen Wortlaut hinausgehende Differenzierung zwischen den Feindstaaten und den Alliierten war in diesem frühen Stadium des Krieges nicht opportun und hätte die At- lantik-Charta in ihrer propagandistischen Wirkung allzusehr eingedämmt. Das änderte sich allerdings mit Fortdauer des Krieges erheblich und erreichte mit der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation im Januar 1943 in Casablanca95 einen vorläufigen Höhepunkt. Die Charta durfte nach Roosevelts und Churchills gemeinsamer Auffassung keinesfalls am Ende des Krieges eine ähnliche Rolle spielen wie ehedem Wilsons Vierzehn Punkte. Das drückte Churchill im Januar 1944 erstmals in einer internen Anweisung aus, der zufolge die Atlantik-Charta sich auf die Deutschen nicht so beziehe, daß sie einen rechtlichen Anspruch begründe. Die Sieger schuldeten es sich jedoch selbst, die Verpflichtungen der Humanität und Zivilisation einzuhalten96. In seinem Bericht vor dem Unterhaus über die Teheran-Konfe- renz stellte Churchill am 22. Februar 1944 klar: "Wir werden keinerlei Argumente lassen, wie sie Deutschland nach dem 94 95 96 Roosevelt spricht, S. 253 Dazu noch unten, 2. Teil W. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, IV/2, S. 316 gelten letzten Kriege mit der Behauptung, auf Grund der "Vierzehn Punkte" Wilsons kapituliert zu haben, vorgebracht hat. "Bedingungslose Kapitulation" bedeutet, daß die Sieger freie Hand haben, wir erkennen keine aus anderen Gründen als allgemeinen Erwägungen der Zivilisation entspringende Verpflichtungen an. Den Deutschen gegenüber bindet uns keine Vereinbarung irgendwelcher Art. Das ist der genaue Sinn der "bedingungslosen Kapitulation".97 Daß Churchill mit dieser Aussage besonders auf die Atlantik-Charta abzielte, wurde von seinem Außenminister Anthony Eden am folgenden Tag bestätigt: "All ... the Prime Minister intended to convey ... was that Germany would not, as a matter of right, be able to claim to benefit from the Atlantic Charter in such a way as to preclude the victorious Powers from making territorial adjustments at her expense. There are certain parts of the Atlantic Charter which refer in set terms to victor and vanquished alike. Article 4 does so. But we cannot admit that Germany can claim, as a matter of right on her part, whatever our obligation, that any part of the Charter applies to her."98 Ganz in diesem Sinne erklärte sich auch der amerikanische Außenminister Cordell Hull in einer Rundfunkansprache am 9. April 1944: "It is not a code of law from which detained answers to every question can be distilled by painstaking analysis of its word and phrases. It points the direction in which solutions are to be sought; it does not give solutions. It charts the course upon which we are embarked and shall continue. That course includes the prevention of aggression and the establishment of world security. The Charter certainly does not prevent any steps, including those relating to enemy states, necessary to achieve these objectives. What is fun- 97 98 W. Churchill, ebd., S. 318 L.W. Holborn, War and Peace Aims of the United Nations, Bd. 2, S. 469 47 damental are the objectives of the Charter and the determination to achieve them."99 Präsident Roosevelt schränkte hingegen den von ihm proklamierten universellen Geltungsbereich der Atlantik-Charta nie ausdrücklich ein. Es besteht jedoch kein Zweifel, daß auch für ihn die bedingungslose Kapitulation der Schlüssel sein sollte, um den Deutschen die Versprechungen der Atlantik-Charta vorzuenthalten. In seinen Formulierungen bereits deutlich zurückhaltender als früher, teilte er in seiner Neujahrsbotschaft 1945 dem amerikanischen Kongreß mit: "Freilich enthält die Prinzipienerklärung der Atlantik-Deklaration keine bestimmten Regeln, die auf jede einzelne der verwickelten Situationen in dieser vom Kriege zerissenen Welt anzuwenden wären. "100 Dies alles war eine eindeutige Abkehrung von der gerade in den USA immer wieder vertretenen weltumfassenden Geltung der Charta. Das nahe Kriegsende machte nach anglo-amerika- nischer Auffassung eine restriktive Interpretation der Charta notwendig, um eine politische und rechtliche Lage wie zum Ende des Ersten Weltkrieges zu vermeiden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das Deutschland, von dem in den eben zitierten Erklärungen in den Jahren ab 1943 die Rede war, keinesfalls mehr ein Deutschland unter nationalsozialistischer Herrschaft sein würde. Denn die Verwirklichung der ganzen friedenspolitischen Ziele war ja ausdrücklich von der Überwindung des Nationalsozialismus als Grundvoraussetzung abhängig gemacht worden. Auch die Beseitigung des nationalsozialistischen Systems garantierte Deutschland für die Nachkriegszeit somit keine automatische Teilhabe und Einbeziehung in die Charta und eine Behandlung nach den dort festgelegten Prinzipien. Die diesbezüglichen Aussagen gegen Kriegsende waren deshalb nur ein "Reflex der Tatsache, daß die Alliierten nicht öffentlich zugeben wollten, daß sie an der im Anfang des Krieges sorgfältig vorgenomme 99 L.W. Holborn, ebd., S. 274 100 Roosevelt spricht, S. 342 48 nen Unterscheidung zwischen 'Nationalsozialisten' und 'Deutschen' nicht mehr festhielten."101 II. Die Wandlung der amerikanischen Militärregierungs- Grundsätze II. 1. Das Verhältnis von Humanität im Kriegsrecht "militärischer Notwendigkeit" und Alles Kriegsrecht basiert auf dem feinen Gleichgewicht ("subtle balance") zweier sich gegenüberstehender Gesichtspunkte: der militärischen Notwendigkeit einerseits, Humanität andererseits102. Diese beiden grundlegenden Umstände stehen in kriegerischen Auseinandersetzungen zwangsläufig in einem gewissen Spannungsverhältnis. Es war und ist deshalb nicht immer einfach, einen gerechten Ausgleich zwischen beiden Interessen herbeizuführen. Humanitäre Grundsätze sollen verhindern, daß die militärische Potenz eines Kriegführenden schrankenlos ausgeübt wird. In einer Vielzahl von Normen des Kriegsrechts wurde deshalb versucht, einen tragbaren Kompromiß zwischen beiden Prinzipien zu finden. Einige Sätze des Kriegsvölkerrechts enthalten ausdrücklich einen Vorbehalt, der in bestimmten Fällen der militärischen Notwendigkeit den Vorrang vor der Verwirklichung humanitärer Prinzipien einräumt103. Von besonderer Bedeutung für den Stellenwert, der humanitären Erwägungen auch in Kriegssituationen zukommt, für die Auslegung kriegsrechtlicher Normen wie auch für die Ausfüllung von Lücken im kodifizierten und gewohnheitsrechtlichen Kriegsrecht, ist die in der Präambel zum IV. Abkommen der zweiten Friedenskonferenz betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18. Oktober 1907 enthaltene sogenannte Martens'sehe Klausel. Der auf Anregung des russischen Delegierten Friedrich von Martens als Absatz 8 aufge- 101 102 103 J.W. Brügel, Die Atlantik-Charta, EA 1951, S. 4224 Y. Dinstein, Military Necessity, in: Encyclopedia of Public International Law, Bd. 3, S. 274 Vgl. dazu A. Tobler, Kriegsnotwendigkeit, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, S. 350 ff. 49 nommene Text sieht vor, "daß in den Fällen, die in den Bestimmungen der von ihnen (den Vertragsparteien, d. Verf.) angenommenen Ordnung nicht einbegriffen sind, die Bevölkerung und die Kriegführenden unter dem Schutze und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts bleiben, wie sie sich ergeben aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens." Absatz 2 hält fest, das Abkommen habe den Zweck, auch in Kriegszeiten "den Interessen der Menschlichkeit und den sich immer steigernden Forderungen der Zivilisation zu dienen."104 Eine Kompromißlösung stellt auch die Anlage zum oben bereits genannten Abkommen von 1907 , die Haager Landkriegsordnung (HLKO), dar105. Soweit dort die Ausübung militärischer Gewalt auf besetztem feindlichem Gebiet geregelt ist (Art. 42 bis 56) , was im Rahmen dieser Untersuchungen von besonderem Interesse ist, wurde auch der Forderung nach Menschlichkeit, insbesondere menschlicher Behandlung der im besetzten Gebiet lebenden Bevölkerung, Rechnung getragen. Dies geschah vor allem durch die Zuerkennung von Rechtsschutzansprüchen der Bevölkerung. Rudolf von Laun hat dies treffend zusammengefaßt: "Die Haager Landkriegsordnung will also, was immer man sonst unter den Menschenrechten und unter der Menschlichkeit verstehen mag, daß ... der Bewohner des besetzten Gebietes gegenüber der Besatzungsmacht nicht rechtlos sei, denn sonst wäre er dem Sklaven gleichgestellt ... Er wäre also Staatssklave, und die Sklaverei verstieße gegen den Begriff der Menschlichkeit..."106 Neben den Rechtsschutzansprüchen gehört zu einer menschlichen Behandlung im Sinne der HLKO aber auch ein gewisses Maß an Fürsorge des Besetzers für die Bevölkerung. Diese Fürsorge beinhaltet zum Beispiel auch das Sorge tragen um 104 105 106 50 Text des Abkommens:RGBl. 1910, S. 107 ff.; vgl. auch H. Strebei, Martens'sche Klausel, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2,, S. 484 ff. Text der Anlage: RGBl. 1910, S. 132 ff. Haager Landkriegsordnung, 5. Auflage, S. 39 Winterbekleidung und Nahrungsmittel107, erschöpft sich jedoch noch nicht darin. II.2. Die Änderung der amerikanischen Militärregierungs- Doktrin a. Amerikanische Militärregierungs-Erfahrungen. Die US-Army hatte bereits vor dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg vielfache Erfahrung mit der Verwaltung besetzten feindlichen Staatsgebietes sammeln können: in Kuba, nach dem spanisch-amerikanischen Krieg auf den Philippinen und, von besonders instruktiver Bedeutung, bei der Besetzung des Rheinlandes nach dem Ende des Ersten Weltkrieges im November 1918108. Die Erfüllung von Militärregierungs-Aufgaben, wie sie am Ende des Zweiten Weltkrieges zweifelsohne anstehen würden, war deshalb nichts neues für die amerikanischen militärischen Planungsstäbe. Grundlage der US-Militärregie- rungs-Politik vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bildeten die Ideen von Fürsorge für die Bevölkerung des besetzten Gebietes ("welfare of the governed") und der militärischen Notwendigkeit ("military necessity")109. Ein Handbuch der Armee von 1925 stellte fest: "International law recognized that, having overthrown the pre-existing government and deprived the people of the protection which that government afforded, it becomes not only the right but the duty of the invader to give the vanguished people a new government adequate to the protection of their personal and property rights."110 107 108 109 110 R. v. Laun, ebd., S. 39 Zur Rheinlandbesetzung: E. Fraenkel, Military occupation and the rule of law. Occupation government in the Rhineland 1918- 1923; zur US-Besatzungs- und Militärregierungspolitik allgemein, vgl. R.H. Gabriel, American Experience with Military Government, American Political Science Review (37), 1943, S. 417 ff. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 318 P.Y. Hammond, ebd., S. 319 51 Es sei außerdem, so das Handbuch zur "militärischen Notwendigkeit", "decidedly to the military advantage of the invader to establish a strong and just government, such as will preserve order and, as far as possible, pacify the inhabitants"111. Diesen Worten lag die Erkenntnis zugrunde, daß ein Krieg eine Auseinandersetzung zwischen Staaten darstellt, nicht aber zwischen den einzelnen Menschen oder gar Nationen112. Es war das Konzept von "zivilisierter Kriegführung", das auch in den beiden Haager Abkommen von 1899 und 1907 zum Ausdruck gekommen war, der Abschwächung der "militärischen Notwendigkeit" durch die Grundsätze der Humanität113. Dies entsprach auch amerikanischer Tradition. Denn schon 1863 hatte der deutsch-amerikanische Staatswissenschaftler Francis (Franz) Lieber ein Gesetzbuch verfaßt, das Regeln für den Landkrieg enthielt, darunter auch Vorschriften, die bei der kriegerischen Besetzung feindlichen Gebietes zur Anwendung kommen sollten114. Dieser "Lieber code" enthielt Instruktionen für die Nordstaaten-Armee während des amerikanischen Bürgerkrieges und bildete die Basis für alle späteren völkerrechtlichen Kodifikationen des Landkriegsrechts115. In Artikel 22 stellte der "Lieber code" fest: "As civilization has advanced during the last centuries, so has likewise steadily advanced, especially in war on land, the distinction between the private individual belonging to a hostile country and the hostile country itself, with its men in arms. The principle has been more and more acknowledged that the unarmed citizen is to be spared in person, property, and honor as much as the exigencies of war will admit".116 111 112 113 P.Y. Hammond, ebd. P.Y. Hammond, ebd. M. Fainsod, The Development of American Military Government Policy During World War II, in: C.J. Friedrich (Hrsg.), American Experiences in Military Government in World War II, S. 24 114 D.A. Graber, The Development of the Law of Belligerent Occupation 1863/1914, S. 5 D.A. Graber, ebd., S. 14 ff. Vgl. M. Fainsod, The Development of American Military Govern- 115 116 Diese Sätze bildeten die Grundlage der amerikanischen MilitärDoktrin bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Diese Doktrin stand auch in vollem Einklang mit den Erfordernissen des Kriegsvölkerrechts. Humane Prinzipien wie die Fürsorge für die Bewohner des besetzten Gebietes sowie die strikte Trennung zwischen Angehörigen der feindlichen Streitkräfte und der unbewaffneten und nicht am Kriegsgeschehen beteiligten feindlichen Bevölkerung waren schon zur Selbstverständlichkeit geworden. Die unterschiedlichen und teilweise gegenläufigen Prinzipien der "Fürsorge für die Bevölkerung" des besetzten Gebietes und den "militärischen Notwendigkeiten" der Besatzungsarmee standen als besatzungspolitische und -rechtliche Leitprinzipien so gut wie gleichwertig nebeneinander, zum Wohl der Bevölkerung wie der Besetzer. b. Erste Fassung des Field Manual 27-5 (1940). Bis zum Jahr 1940 existierte im Kriegsministerium jedoch nicht ein einziges Diensthandbuch, das sich ausschließlich mit den Aufgaben der Militärregierung beschäftigte. Lediglich ein Diensthandbuch über das Kriegsrecht ganz allgemein war verfügbar (Field Manual 27-10: Rules of Land Warfare, kurz: FM 27-10), das sich unter anderem auch mit Rechtsfragen einer Militärregierung beschäftigte. Dieses Handbuch behandelte das Kriegsvölkerrecht ebenso wie die Kriegsgebräuche und die amerikanische Interpretation dieser Regeln. Keine Antwort gab das Handbuch jedoch auf Fragen, welche Politik gegebenenfalls in den besetzten Gebieten durchzuführen sei oder welche Organisation die Militärregierung haben müsse117. Um diese Lücke zu schließen, wurde im War Department am 30. Juni 1940 ein Diensthandbuch herausgegeben, das sich ausschließlich mit Fragen einer Militärregierung be- 117 ment Policy During World War II, S. 24 H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs: Soldiers become Governors, S. 7, Anm. 4; A.C. Davidonis, Some Problems of Military Government, ... American Political Science Review (38), 1944, S. 460, Anm. 1 S3 faßte118. Das "Basic Field Manual of Military Government" (FM 275) spiegelte die Erfahrungen wider, die die Amerikaner bei früheren Besetzungen gemacht hatten119. Vor allem die Erfahrungen nach der Besetzung des Rheinlandes 1918 waren beispielgebend, da aus dieser Zeit der sogenannte Hunt-Report zur Verfügung stand120. Auch der liberale und humane Geist des "Lieber code" und der Haager Abkommen von 1899 und 1907 fand seinen Ausdruck in dem neuen Diensthandbuch121. Dies war schon deutlich daran zu erkennen, welchen Besatzungsmaßnahmen Präferenz gegeben wurde. An der Spitze der fünf "basic policies" stand die militärische Notwendigkeit, den Krieg bis zu einem erfolgreichen Ende fortzusetzen. So lange die Feindseligkeiten anhielten, so das Handbuch weiter, müsse man sich bei jeder Maßnahme der Militärregierung die Frage stellen, ob sie dieses Ziel fördere oder hindere122. Als zweites Ziel von Besatzungsmaßnahmen wurde die Fürsorge für die Bevölkerung des besetzten Gebietes genannt. Eine Militärregierung, so konnte man in dem Handbuch lesen, "should be just, humane, and as mild as practicable, and the welfare of the people governed should always be the aim of every person engaged therein"123. Der Grund für diesen hohen Stellenwert, den die Fürsorge für die Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt, 1940, im amerikanischen Kriegsministerium genoß, war nicht nur rechtlicher, sondern auch politischer Natur. Man versprach sich davon die Vermeidung unnötiger Haßgefühle gegen die Besatzer und letztendlich eine freundschaftliche Beziehung zur Bevölkerung des besetzten Gebietes. 118 119 120 121 122 123 Einen Überblick über die Entwicklung der MilitärregierungsDoktrin in diesem Diensthandbuch geben C.F. Latour/Th. Vogelsang, Okkupation und Wiederaufbau, S. 28-31 M. Fainsod, The Development of American Military Government Policy During Word War II, S.25 Der amerikanische Oberst Irwin L. Hunt hatte unter dem Titel "American Military Government of Occupied Germany, 1918-1920" seinerzeit seine Erfahrungen aufgezeichnet. Dieser Hunt-Report bildete den Grundstein der amerikanischen Civil-Affairs- Planung während des Zweiten Weltkrieges. M. Fainsod, The Development of American Military Government Policy During World War II, S. 25 M. Fainsod, ebd. M. Fainsod, ebd. "As military government is executed by force, it is incumbent upon those who administer it to be strictly guided by the principles of justice, honor, and humanity - virtues adorning a soldier even more than other men for the very reason that he possesses the power of his arms against the unarmed .. . The object of the United States in waging any war is to obtain a favorable and enduring peace. A military occupation marked by harshness, injustice, or oppression leaves lasting resentment against the occupying power in the hearts of the people of the occupied territory and sows the geeds of future war by them against the occupying power when circumstances shake make that possible; whereas just, considerate, and mild treatment of the governed by the occupying power will convert enemies into friends."124. Als weitere "basic policies" wurden genannt: der Grundsatz der Flexibilität (dies bedeutete, daß ein Plan für die Militärregierung jeweils dem Volk, dem Land, der Zeit und der strategischen und faktischen Situation angepaßt werden müsse), die Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen ("economy of effort") sowie der Grundsatz der Permanenz (d.h. von möglichst wenig Änderungen im Personal oder der Politik der Militärregierung)125. Zu diesen fünf "basic policies" traten noch weitere vier Besatzungsmaximen, denen jedoch nur zweitrangige Bedeutung eingeräumt wurde. Dazu gehörte unter anderem die Anordnung, in den besetzten Gebieten das Zivilpersonal in seinen Ämtern zu belassen und, soweit möglich, Uber diese Personen mit der Bevölkerung des besetzten Gebietes zu verkehren. Außerdem sollte von Änderungen in bestehenden Gesetzen, Gebräuchen und Einrichtungen abgesehen werden126. c. Politische Kritik am Field Manual 27-5. Dieses Diensthandbuch geriet jedoch schon bald, nachdem auch die Ameri 124 M. Fainsod, ebd.; deutsche Übersetzung bei C.F. Latour/Th. Vogelsang, Okkupation und Wiederaufbau, S. 28 125 M. Fainsod, ebd. 126 M. Fainsod, ebd. 55 kaner in den Krieg eingetreten waren, in die Diskussion. Grund dafür war sein völlig unpolitischer Charakter, die bloße Beschränkung auf administrative Aufgaben und eine mangelnde Differenzierung hinsichtlich der zu besetzenden Gebiete. Waren solche Richtlinien auch in allen vorangegangenen Kriegen durchaus zweckmäßig und vertretbar gewesen, so fragten sich die Planer nun, ob man auch in diesem Krieg solche Maximen noch als Richtschnur werde gebrauchen können. Gegen Ende des Krieges, wann immer das auch sein mochte, stand doch zwingend auch die Besetzung zumindest eines Teils von Deutschland bevor. Konnte man aber eine solche Besetzung, wie auch einen solchen Krieg, noch mit normalen, sprich völkerrechtlichen Maßstäben messen? Oder war es nicht sogar besser, die im Diensthandbuch niedergelegten Prinzipien neu zu gewichten, zuungunsten der Bevölkerung des besetzten Gebietes? Auch in der Militärregierungs-schule von Charlottesville prallten unterschiedliche Einschätzungen aufeinander. Einer der Dozenten lobte die Planungen für die zukünftige Verwaltung besetzter Gebiete. Er stellte fest, durch die ganzen Programme ziehe sich eine "fundamental philosophy", die als ersten Zweck einer Militärregierung das Fördern des militärischen Ziels ansehe. Die zweite Aufgabe, für die die Militärregierung verantwortlich zeichne "under international law", sei, "to maintain law and order in the occupied area, to feed the starving, to protect the population against pestilence and disease, and, as far as military operations will permit, to aid the area to bind up its wounds, re-establish essential services, and start the healing processes of economic rehabilitation."127 Zweck einer Militärregierung sei es, ein Fundament zu schaffen für eine mögliche wirtschaftlichen Wiederherstellung Lebens in dem des besetzten politischen Gebiet Bedingungen, die als Grundlage für einen dauerhaften 127 J.P. Harris, Selection and Training of Civil Affairs Officers, Public Opinion Quarterly, VII, 1943, S. 700 und unter Frieden dienen könnten. Militärische und humanitäre Erwägungen stünden nicht notwendigerweise immer in einem Gegensatz, sondern nur im Einzelfall. Dann aber erhalte die militärische Notwendigkeit den Vorzug vor humanitären Überlegungen128. Diese vernünftige und in sich abgewogene Einschätzung, die auch den völkerrechtlichen Anforderungen gerecht wurde, geriet jedoch mit Fortgang des Krieges immer stärker ins Hintertreffen. Der hohe Rang, der der Fürsorge für die Bevölkerung des besetzten Gebietes eingeräumt wurde, erschien vielen Planern nicht mehr zeitgemäß, geschweige denn realistisch. Ein "progressiver" Dozent der Militärregierungsschule, Colonel Lewis K. Underhill, hatte von der ursprünglichen Version von FM 27-5 den Eindruck, "that the objective of promoting the welfare of the governed in occupied territory is almost as important as the objective of military neccessity"129. Er habe das Gefühl, als sei der bedeutendste Zweck von FM 27-5 "to bring light to the heathen". Das aber sei nicht realistisch. Eine Militärregierung in besetztem Gebiet habe nur ein berechtigtes Ziel, und das sei der Gewinn des Krieges. Militärregierung bedeute ein System des Kampfes hinter den Linien, und sie werde ausgeübt, indem man die Zivilbevölkerung in Abhängigkeit halte ("it is done by holding the civil population in subjection"). Alle Maßnahmen der Militärregierung seien allein danach zu beurteilen, ob sie den Feldzug förderten oder hemmten130. Beanstandet wurde außerdem der Grundsatz, daß der Status quo im besetzten Gebiet beibehalten werden sollte. Besonders in bezug auf das nationalsozialistische Deutschland sei an ein Aufrechterhalten des Status Quo nicht zu denken. Das gelte insbesondere für den rechtlichen Status Quo, die Gesetze in Deutschland soweit in ihnen nationalsozialistisches Gedankengut zum Ausdruck kam. Das gleiche Problem 128 129 130 J.P. Harris, ebd. M. Fainsod,The Development of American Military Government Policy During World War II, S. 27 M. Fainsod, ebd. 57 stellte sich aber auch hinsichtlich der möglichen Weiterverwendung des Zivilpersonals, primär der Beamten, in Deutschland131. Revidierte Fassung des Field Manual 27-5. Die ersten Erfahrungen als Besatzungsmacht auf dem Territorium der Achsenmächte sammelten die Amerikaner ab Juli 1943 auf Sizilien. Dort zerschlugen sie den faschistischen Parteiapparat und lösten alle faschistischen Organisationen auf, enthielten sich aber darüber hinaus weitgehend der politischen Einflußnahme132. Am 22. Dezember 1943 legte das War Department eine überarbeitete Fassung von FM 27-5 vor. Die Grundsätze, die 1940 festgelegt worden waren, hatten sich nach Rang und Bedeutung grundlegend geändert. Besonders deutlich wurde das nach der Überarbeitung entstandene Mißverhältnis zwischen Fürsorge für die Bevölkerung und militärischer Notwendigkeit. Fainsod spricht von einem "triumph of the military point of view"133. Das alle anderen überragende Prinzip war nun das der "militärischen Notwendigkeit". Dazu führte das überarbeitete Diensthandbuch aus: d. "Military necessity is the primary underlying principle for the conduct of military government." 134 Die Fürsorge für die Bevölkerung gehörte nicht länger zu den "basic policies". Die Aufforderung zu rücksichtsvoller und milder Behandlung der Zivilbevölkerung, um aus den Einwohnern des besetzten Gebietes Freunde zu machen, wie es die ursprüngliche Fassung noch vorgesehen hatte, war in der neuen Ausgabe nicht mehr vorhanden. Das Wohlergehen der Einwohner des besetzten Gebietes war zwar auch weiterhin aus humanitären Gründen zu berücksichtigen. Den vordringlichsten Zweck einer humanen Behandlung sah man aber nur in der Erleichterung militärischer Operationen und um 131 132 133 134 Vgl. die Kritik in H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs: Soldiers become Governors, S. 145 f. M. Fainsod, ebd. M. Fainsod, ebd. M. Fainsod, ebd.; H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs: Soldiers become Governors, S. 154 rechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Die zivile Bevölkerung im Okkupationsgebiet wurde nicht mehr länger als unbeteiligte und deshalb aus dem Kriegsgeschehen herauszuhaltende Nichtkombattanten angesehen. Erstmalig wurde auch jegliche Beziehung zur Zivilbevölkerung streng untersagt: "Civil Affairs officers and personnel, as representatives of the United States government should keep their relations with local officials and inhabitants on a strictly official basis, avoiding unofficial social relationships."135 Auch wurde der Grundsatz humaner Behandlung nun ausdrücklich in Zusammenhang mit möglichen restriktiven Maßnahmen gebracht: "Such a policy, however, should not affect the imposition of such restrictive or punitive measures as may be necessary to accomplish the objectives of military government in any area ..."136 Das sollte zwar vor allem in Gegenden gelten, in denen die Bevölkerung feindlich eingestellt sei und sich auf aktive oder passive Sabotage einlasse. Die Anweisung konnte aber ebenso die Einschränkung der Humanität aus sonstigen Gründen abdecken, so weit es nur in irgendeiner Form für das Erreichen militärischer Ziele förderlich war. Das Prinzip der Nichteinmischung wurde neu formuliert. Um Verwirrung zu vermeiden und eine einfache Verwaltung des besetzten Territoriums zu begünstigen, hielt man es für ratsam, die örtlichen Gesetze, Gebräuche und Regierungseinrichtungen zu behalten, außer sie widersprachen den Zielen der Militärregierung oder waren den Interessen der Militärregierung aus anderen Gründen abträglich137. Beamte, die Führungspositionen in Partisanenorganisationen oder "unfriendly" politischen Parteien innegehabt hatten, 135 136 137 M. Fainsod, ebd., S. 32 M. Fainsod, ebd. H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs: Soldiers become Governors, S. 146; M. Fainsod, ebd., S. 32 f. 59 sollten ebenso aus ihren Ämtern entfernt werden wie solche, die sich als unzuverlässig oder als nicht zufriedenstellend erwiesen138. Beamte und andere Bedienstete in untergeordneten Stellungen sollten aber soweit wie möglich in ihren Ämtern belassen werden, verantwortlich für die ordentliche Erledigung ihrer Aufgaben, die ihnen von dem amerikanischen Besatzungspersonal zugewiesen und auch von diesen überwacht wurden139. Auch in einem weiteren Punkt wich die revidierte Fassung des FM 27-5 von der ursprünglichen zum Nachteil des Wohlergehens der Bevölkerung ab. Zum ersten Mal wurde die Wirtschaftspolitik angesprochen. Das wirtschaftliche Leben im besetzten Gebiet solle wiederbelebt und die Produktion angeregt werden, um die Bedürfnisse des besetzten Gebietes nach amerikanischer und alliierter Unterstützung auf ein Mindestmaß zu beschränken. Das okkupierte Territorium sollte sich so zum einen zu einer Versorgungsquelle ("source of supply") für weitere Operationen entwickeln, um darüber hinaus die verfügbaren Güter und Dienstleistungen so effizient wie nur möglich für die Befriedigung militärischer und ziviler Bedürfnisse zu verwenden140. Es folgte eine Liste bestimmter Schritte, die vorzunehmen seien, um zuerst die Versorgung der Armee zu garantieren, und um, erst an zweiter Stelle, der Bevölkerung zumindest ein Minimum an notwendigen Gütern und Dienstleistungen zu erhalten ("the population receive at least a minimum of necessary goods and services")141. Die Doktrin der amerikanischen Armee in bezug auf ihr Verhalten gegenüber der Zivilbevölkerung in besetzten Gegenden, gegründet auf einer langen Tradition der Vereinigten Staaten und den Anforderungen des Kriegsvölkerrechts angemessen, hatte in drei Jahren (von 1940 bis 1943) eine grundlegende Wandlung erfahren. Bis zur ersten Fassung des 138 139 140 141 60 M. Fainsod, ebd., S. 32 H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs: Soldiers become Governors, S. 146 M. Fainsod, ebd., S. 34 M. Fainsod, ebd. FM 27-5 wurde die Zivilbevölkerung als ein Opfer des Krieges angesehen, gleichgültig ob es sich bei dem besetzten Gebiet um das des Feindes oder um das eines befreundeten oder verbündeten Staates handelte. Die Verwaltung dieses Gebietes wurde als humanitäre Pflicht angesehen, ohne strafend oder auch nur warnend gegenüber der Zivilbevölkerung sein zu wollen. "In Army doctrlne as well as U.S. civilian thinking, the war ended for civilians almost as soon as they passed un- der American occupation" (Earl F. Ziemke).142 Die Besetzung auch feindlichen Gebietes stellte sich bereits als eine Art friedenfördernde Maßnahme dar, denn man wollte den momentanen Feind für spätere Zeiten zum Freund gewinnen. Die ursprüngliche Militär-Doktrin schaute damit bereits weit über das begrenzte Gesichtsfeld des Krieges hinaus in die Zukunft, in die Zeit nach Beendigung der Feindseligkeiten, wenn es darum gehen mußte, einen gerechten und dauerhaften Frieden mit dem einstigen Feind zu schließen. Und dies schien um so eher möglich, je mehr man aus ehemaligen Feinden Freunde machte. Humanität und Fürsorge für das Wohl der Bevölkerung hatten somit einen eigenständigen friedenfördernden Wert. Verglichen mit diesen Errungenschaften war die revidierte Fassung des FM 27-5 zweifellos ein Rückschritt. Das Gesichtsfeld wurde eingeengt: Die friedenstiftende Wirkung einer humanen Behandlung der Bevölkerung wurde völlig ignoriert. Alles, was hinter der Front auf besetztem feindlichen Gebiet zu geschehen hatte, war nur auf ein Ziel gerichtet: die Förderung des militärischen Erfolgs der eigenen Truppen. In der neuen Militär-Doktrin war die Zivilbevölkerung in besetzem feindlichen Gebieten nicht mehr länger ein Opfer des Krieges, die es aus den Feindseligkeiten herauszuhalten galt. Die Entwicklung ging vielmehr dahin, auch in der Zivilbevölkerung in erster Linie 142 The U.S. Army in the Occupation of Germany, 1944-1946, S. 21 61 den Feind zu sehen, den es zu bekämpfen galt143. Das Wohlergehen der Bevölkerung hatte seinen Eigenwert verloren. Die militärische Zielsetzung hatte von nun an absolute Priorität: "The primary task is to win the war, not to take care of enemy civilians in occupied areas."144 Davon, daß eine Militärregierung in besetztem Gebiet die ",human' side of warfare"145 sei, konnte nicht mehr länger die Rede sein. FM 27-5 faßte in erster Linie die Verwaltung besetzten Gebietes während der Fortdauer der Kriegshandlungen ins Auge. Ob und wie die Besatzungspolitik nach Ende der Feindseligkeiten geändert werden mußte, blieb fast völlig unberücksichtigt146. Das Diensthandbuch blieb jedoch während der meisten Zeit der Okkupation Deutschlands in Kraft147. Die besatzungspolitischen Lücken im FM 27-5 wurden später durch entsprechende Direktiven geschlossen148. III. __ Besatzungsplanung im Außen- und Kriegsministerium1942 - August 1944 Die frühe amerikanische Deutschlandplanung war im Grunde alles andere als eine "Planung", wenn man darunter die 143 144 145 146 147 143 62 In einem Memorandum vom 13. April 1943 der Army Service Forces, ASF, wurde sogar der Gedanke aufgebracht, die Bevölkerung in großer Zahl hinter ihren zurückweichenden Armeen herzutreiben, dann aber wieder verworfen, weil eine solche Politik "will not sound pleasing to American ears. It is the policy required by total war ..."; vgl. H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs: Soldiers become Governors, S. 153. M. Fainsod, ebd., S. 32 So R.H. Glover, Military Government - Where do we stand today?, in: The Annals of the American Academy/ 267, s. 194, in einer Charakterisierung von "military government" als völkerrechtliche Aufgabe. M. Fainsod, ebd., S. 33; J.B. Mason, Lessons of Wartime Military Government Training, in: The Annals of the American Academy, 267, S. 186 E.F. Ziemke, The Formulation and Initial Implementation of U.S. Occupation Policy in Germany, in: H.A. Schmitt (Ed.), U.S. Occupation in Europe after World War II, S. 42 Zur Entwicklung dieser Direktiven vgl. unten, 1. Teil IV.5.ff. Festlegung eines Ziels und die Erarbeitung eines Entwurfes zur Verwirklichung dieses Zieles versteht. Zwar hatten Roosevelt und Churchill mit der Atlantik-Charta Grundsätze einer weltweiten Friedensordnung verkündet, doch sollten diese, wie wir gesehen haben, auf Deutschland nur begrenzte Anwendung finden. Die Charta konnte deshalb als Zielvorgabe für die Behandlung Deutschlands nicht dienen. Eine nur Deutschland betreffende Zielsetzung war nicht vorhanden, sieht man einmal von dem rein kriegspolitischen Ziel der militärischen Niederwerfung des Feindes ab, die auf dem zu begehenden Weg ein notwendiger Zwischenschritt war, jedoch offensichtlich nicht das Endziel sein konnte. Aber weder der Präsident noch einer seiner für die Nachkriegsplanung verantwortlichen Minister, Hull und Stimson, waren in der Lage und willens, dieses Endziel in bezug auf Deutschland zu formulieren. Dabei war das Spektrum der Möglichkeiten enorm und reichte von einem "Karthago-Frieden", wie er dann 1944 im USFinanzministerium ersonnen wurde, bis zu einer unmittelbaren Umsetzung der atlantischen Prinzipien auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes - nach innen und außen -, verbunden mit einem raschen Wiederaufbau des deutschen Wirtschaftpotentials und mit unverzüglicher Wiedereingliederung in den Welthandel. Eine zusätzliche Erschwernis ergab sich aus der Mehrzahl an alliierten Staaten, deren unterschiedliche Vorstellungen und Konzeptionen zu harmonisieren gewesen wären. Eine isolierte amerikanische Planung, wie die Vierzehn Punkte Wilsons 1918, sollte diesmal vermieden werden. Das amerikanische Interesse beschränkte sich deshalb darauf, die Alliierten zur Befolgung gewisser Prinzipien zu verpflichten, und die Einzelheiten der Nachkriegsplanung einer späteren Regelung zu überlassen149. Die Gefahr von Meinungsverschiedenheiten unter den Alliierten und eines möglichen Auseinanderbrechens des Kriegsbündnisses wegen noch gar nicht auf der Tagesordnung stehender Nachkriegsfragen sollte dadurch gebannt werden. John L. Snell hat die amerikanische Deutschlandplanung zutreffend 149 Vgl. Hull, Memoirs, S. 1115 f. 63 als eine "Politik der Zurückstellung" ("policy of postponement") bezeichnet150. Snell führt dazu aus: "Hull, Roosevelt and the Joint Chiefs of Staff approved this .policy of postponement '. It became the basic element of official American tactics in negotiations concerning the future of Germany until 1944, and was strongly reaffirmed at Yalta in February, 1945."151. Ohne Zielvorgabe von höherer und höchster Regierungsstelle und infolge einer Fülle noch unbekannter, aber für eine sachgerechte Planungstätigkeit zentraler Faktoren (würden die Alliierten ganz Deutschland vor dem deutschen Kollaps besetzt haben, würden nur die Sowjets Deutschland okkupieren und die Westalliierten beim Zusammenbruch noch außerhalb der deutschen Grenzen stehen, wie würde es wirtschaftlich, politisch und verkehrstechnisch in Deutschland aussehen und würde man die Verwaltung auf noch existierenden politischen Strukturen aufbauen können), waren die im Außen- und Kriegsministerium zu diesem Zweck eigens gegründeten Kommissionen und Abteilungen vor äußerst schwierige Aufgaben gestellt. Das Bemühen innerhalb der Ministerien, die Deutschlandplanung organisatorisch in geordneten Bahnen ablaufen zu lassen, war zu erkennen. Doch angesichts der Vielzahl noch unbekannter Umstände mußte den Planungsergebnissen zwangsläufig nur vorübergehender Charakter zukommen. III. 1. Planungen des Außenministeriums Im amerikanischen Außenministerium wurde bereits kurze Zeit nach Kriegsbeginn in Europa das erste Komitee ins Leben gerufen, das sich Gedanken über die nach Kriegsende zu schaffende neue Friedensordnung in der Welt, unter der besonde- 150 151 64 J.L. Snell, Wartime origins of the East-West-Dilemma over Germany, S. 14 ff. J.L. Snell, ebd., S. 17; H.P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 105, wendet diesen Begriff auch noch für die Nachkriegszeit bis zur Moskauer Konferenz im Frühjahr 1947 an. ren Berücksichtigung amerikanischer Interessen, machen sollte152. Anfang 1941 kam eine weitere ständige Abteilung hinzu: die Division of Special Research ("Research Staff"). Sie befaßte sich mit der Analyse amerikanischer Kriegsziele und unterbreitete während der Endphase des Krieges auch Vorschläge und Empfehlungen153. "Advisory Committee on Post-War Foreign Policy“. Schon kurz nach dem Kriegseintritt Amerikas gründete Cordell Hull ein "Advisory Committee on Post-War Foreign Policy", dessen Vorsitz er selbst führte. Sein Stellvertreter war auch in diesem Gremium, wie im Ministerium, der enge Roosevelt- Freund Sumner Welles. Die Besonderheit dieses Komitees lag in seiner Zusammensetzung, da es nicht nur Berufspolitiker zusammenführte, sondern auch eine stattliche Zahl Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens154. Einer der Unterausschüsse dieses Komitees, das Subcommittee on Political Problems, erörterte 1942 unter anderem die Frage einer bedingungslosen Kapitulation Deutschlands155. a. Obwohl der Name Advisory Committee on Post-War Foreign Policy vermuten läßt, Gegenstand der Erörterungen seien internationale Probleme der Nachkriegszeit und die zwischenstaatlichen Beziehungen gewesen, stand im Mittelpunkt der Diskussionen immer wieder die Frage nach den Vor- und Nachteilen der politischen Einheit Deutschlands156. Vor allem Sumner Welles wurde zum glühenden Verfechter des Teilungsgedankens. Der Research Staff wurde mit herangezogen, entwickelte Argumente für und gegen eine Teilung Deutschlands und die damit zusammenhängenden politischen, wirtschaftlichen und demographischen Probleme. 152 153 154 155 156 "Advisory Committee on Problems of Foreign Relations", vgl. H. A. Notter (Hrsg.), Postwar Foreign Policy Preparation 19391945, S. 18 ff., der zwar einen guten Überblick über die organisatorischen Strukturen, jedoch wenig über die Inhalte vermittelt. Vgl. H.A. Notter (Hrsg.), ebd., S. 41 ff., 149 ff., 215 ff.; vgl. auch G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 52 ff. G. Moltmann, ebd., S. 54 f. Vgl. dazu unten 2. Teil, I.1. G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 58. 65 Eine Zerstückelung Deutschlands in drei, fünf oder sogar sieben eigenständige Staaten wurde diskutiert. Außenminister Hull, der sich gegen eine mögliche Aufspaltung Deutschlands einsetzte, fand die Unterstützung der Mehrheit des Komitees, insbesondere des Herausgebers der "Foreign Affairs", Hamilton Fish Armstrong, und des Präsidenten der Johns Hopkins Universität, Isaiah Bowman157. Franklin D. Roosevelt befürwortete grundsätzlich eine Teilung Deutschlands, wie er seinen Gesprächspartnern auf der Konferenz von Teheran mitteilte, als er sich für fünf "autonome" und drei internationalisierte deutsche Gebiete aussprach. Dieses Ziel wollte er in erster Linie durch die Förderung separatistischer Bestrebungen erreichen, notfalls aber auch durch andere Mittel. Einer der Teilstaaten, davon war Roosevelt überzeugt, müsse Preußen sein, das er dadurch an der Herrschaft über ganz Deutschland hindern wollte. Ober den prinzipiellen Teilungswillen hinaus waren jedoch bei Roosevelt keine detaillierten Pläne zur Verwirklichung dieser Absicht vorhanden158. Die Teilung Deutschlands wurde im Beratungsausschuß mehrheitlich abgelehnt, da man diese Maßnahme nicht als geeignetes Mittel zur Verhinderung künftiger deutscher Aggressionen ansah. Ein derartiges Vorgehen würde vielmehr in den Augen der Deutschen alle Versuche zur Entwicklung einer demokratischen Regierungsform und einer demokratischen Gesinnung diskreditieren und einer Sammlungsbewegung der Deutschen gegen die Siegermächte den Boden bereiten. Statt- dessen empfahl der Ausschuß eine auf lange Sicht angelegte Deutschlandpolitik, deren Ziel es sein müsse, eine deutsche Wiederaufrüstung zu verhindern, demokratische Entwicklungen in Deutschland zu fördern und das wirtschaftliche Übergewicht Deutschlands in Europa zu reduzieren oder zu kontrollieren159 . Dennoch hielt Roosevelt an seinen Teilungsplänen 157 158 159 66 P.Y. Hammond, Directives for the Occupation of Germany: The Washington Controversy, S. 317 G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 90 f. P.E. Mosely, Die Friedenspläne der Alliierten und die Aufteilung Deutschlands, EA 1950, S. 3034; vgl. auch H.A. Notter fest, wie seine Teheraner Einlassungen zu diesem Thema zeigten. Er stand ganz offensichtlich unter dem starken Einfluß von Sumner Welles, mit dem ihn - wie mit Finanzminister Morgenthau - ein enges Vertrauensverhältnis verband. Unter Übergehung seines direkten Vorgesetzten, Cordell Hull, wußte Welles seine deutschlandpolitischen Ansichten dem Präsidenten nachhaltig deutlich zu machen. Erst mit dem Rücktritt von Welles Ende September 1943 versiegte diese Quelle permanenter Unruhe und Einflußnahme auf die Deutschlandplanung. In Roosevelts Beraterstab entstand dadurch eine Lücke, die erst ein knappes Jahr später Finanzminister Henry Morgenthau schloß, indem er den von Welles vertretenen Teilungsgedanken aufgriff, in seinem Sinne bearbeitete und mit weiteren Anregungen auf anderen Sachgebieten, vor allem hinsichtlich der wirtschaftlichen Stellung Deutschlands, ergänzte160. "Interdivisional Country Committee on Germany". Durch das Ausscheiden seines bisherigen Unterstaatssekretärs wurde Hulls Position im eigenen Ministerium nachhaltig gestärkt. Im Rahmen struktureller Änderungen der Planungsarbeit im State Department wurde im September 1943 unter anderem ein "Interdivisional Country Committee on Germany" eingesetzt, in dem ein Teil der bisher dem Beratungsausschuß obliegenden Aufgaben übernommen wurden161. Am 23. September 1943 stellte diese Arbeitsgruppe eine Denkschrift fertig, mit dem Titel "The Political Reorganisation of Germany". Sie war die Grundlage eines weiteren Papiers, das Hull wenig später auf der Außenministerkonferenz in Moskau präsentierte 162 . b. Die Denkschrift beinhaltete drei Bereiche: Ablehnung gewaltsamen Teilung Deutschlands, Demokratisierung und De- 160 161 162 einer (Hrsg.), Postwar Foreign Policy Preparation, S. 554 ff. Zur Rolle von S. Welles vgl. G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 92 ff. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 318; vgl. zu der Vielzahl an Ausschüssen im Außenministerium G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 56 ff. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 318 67 Zentralisierung163. Zum ersten Punkt wurden die bereits vom Beratungsausschuß vorgetragenen Argumente erneut herangezogen. Die Auseinandersetzung mit Fragen einer Demokratisierung und Dezentralisierung Deutschlands in Form eines Memorandums war jedoch neu. Zur Demokratisierung stellte der neue Ausschuß fest: "The committee is of the opinion that, in the long run, the most desirable form of government for Germany would be a broadlybased democracy operating unter a bill of rights to protect the civil and political liberties of the individual. "164 Um mit einem solchen Projekt ("a new democratic experiment") erfolgreich zu sein, müßten jedoch drei Grundbedingungen erfüllt werden: ein erträglicher ("tolerable") Lebensstandard, ein Minimum an Bitterkeit über die Friedens- bestimmungen und Übereinstimmung der Politik der Regierungen Großbritanniens und Amerikas einerseits, der Sowjetregierung andererseits. Der Ausschuß sei sich zwar bewußt, daß die Besetzung und unerläßliche dauernde Sicherheitskontrollen bei vielen Deutschen Anstoß erregen würden, schlage aber wegen der Bedeutung einer schließlichen Aussöhnung der Deutschen mit einer Friedensregelung vor, die Maßnahmen auf einem mit der Sicherheit noch zu vereinbarenden Mindestmaß an Zahl und Härte zu halten. Auch gaben sich die Planer des Ausschusses, unter der Leitung des Ostexperten Philip E. Mosely (bis Oktober 1943), keinen Illusionen über die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion nach Kriegsende hin. Im Falle von Spannungen zwischen den AngloAmerikanern und den Sowjets werde sich Deutschland in einer Position befinden, das Mächtegleichgewicht mit verhängnisvollen Folgen für vertragliche Beschränkungen und für die politische Stabilität aufrechtzuerhalten. Umgekehrt werde die Sowjetunion über eine Stellung verfügen, in der sie die kommunistische Stärke in Deutschland zum großen Nachteil des inneren politischen Friedens in Deutschland und zum vergleichsweise 163 164 68 Text der Denkschrift in H.A. Notter (Hrsg.), Postwar Foreign Policy Preparation, S. 558 ff. H.A. Notter (Hrsg.), ebd., S. 559 großen Vorteil russischer Interessen gebrauchen könne. Der Ausschuß betrachtete es als Fehler, daß die britische und amerikanische Regierung es an einer Ankündigung ihrer Unterstützung einer zukünftigen deutschen Demokratie hatten fehlen lassen. Das Auftauchen eines demokratischen deutschen Programms unter sowjetischer Patronage könne dazu dienen, den Kommunisten die Kontrolle über die demokratische Bewegung zu geben und folglich eine russische Vorherrschaft in Deutschland zu errichten, es sei denn eine anglo- amerikanische Unterstützung ermutige die Gemäßigten, sich zu beteiligen und die Bewegung wahrhaftig demokratisch zu gestalten165. Aufgrund seiner weitsichtigen und realistischen Analyse kam der Ausschuß zu dem Ratschlag: "The committee therefore recommends that the United States Government adopt, in the interest of fostering moderate government in Germany, the principle of a program looking to the economic recovery of Germany, to the earliest possible reconciliation of the German people with the peace, and to the assimilation of Germany, as soon as would be compatible with security considerations, into the projected international order."166 Die Dezentralisierung des deutschen Staatswesens wurde in dieser Denkschrift als geeignet und ausreichend angesehen, um eine potentielle Bedrohung durch Deutschland einzuschränken. Zu diesem Zweck sollte jeder Dezentralisierungsbewegung, die aus der Tradition des Föderalismus und der Reaktion auf die nationalsozialistische Zentralisierung hervorgehen könne, durch die Siegermächte Unterstützung zukommen167. Die Ausführungen in diesem Papier zeugten von einem hohen Maß an Verantwortungsgefühl, realistischer Begutachtung der in Europa existierenden Macht- und Interessenkonstellation 165 166 167 H.A. Notter (Hrsg.), ebd. H.A. Notter (Hrsg.), ebd. H.A. Notter (Hrsg.), ebd. 69 nen und der zentralen Aufgabe, die gerade Deutschland nach dem Krieg zufallen würde - in wirtschaftlicher wie ideologischpolitischer Hinsicht. Das Papier konnte in dieser Form und mit diesem Inhalt wohl auch nur deshalb zustande kommen, weil es von einem Expertengremium erstellt wurde, das bis dahin noch von keiner politischen Seite ernsthaft bevormundet worden war, und deshalb statt kurzsichtiger Kriegsplanung eine solide und langfristige Friedensplanung betreiben konnte. Größere Abweichungen von dieser Haltung, die schon schnell zu einer Art offizieller Politik des Außenministeriums wurde, gab es in den kommenden Monaten nicht mehr. Anfang Mai 1944 erarbeitete das "Postwar Programs Committee" unter dem Vorsitz des WellesNachfolgers Stettinius auf der Grundlage der Untersuchungen und Ergebnisse des "Country Committee on Germany" ein neues Memorandum, das Außenminister Cordeil Hull im Juli 1944 billigte. Argumentation und Resultat entsprachen den gemachten Vorarbeiten: Ablehnung einer gewaltsamen Zerstückelung des deutschen Staates, Förderung föderalistischer Bestrebungen. Ein zersplittertes Deutschland sei gar nicht wirtschaftlich lebensfähig und außenstehende Großmächte könnten Einfluß und Kontrolle über die einzelnen Staaten gewinnen. Auch mache eine erzwungene Teilung die Schaffung demokratischer Einrichtungen unmöglich168. III.2. Planungen des Kriegsministeriums a. Unpolitisches Selbstverständnis des Kriegsministeriums. Die Deutschlandvorbereitungen des Kriegsministeriums unterschieden sich von denen des Außenministeriums erheblich. Stimson gründete keine Ausschüsse und Komitees, sondern schuf am 1. März 1943 eigens eine Abteilung für Zivilangelegenheiten, die "Civil Affairs Division" (CAD). Ihre Hauptaufgabe war es, den Kriegsminister in allen Angelegenheiten nicht streng militärischer Art zu informieren und zu 168 P.E. Mosely, Die Friedenspläne der Alliierten und die Aufteilung Deutschlands, EA 1950, S. 3035 f.; G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 103 beraten, die sich in besetzten Gebieten aufgrund der militärischen Operationen ergeben würden und in den Zuständigkeitsbereich des War Department fielen. Chef der CAD wurde Mitte April 1943 Generalmajor John H. Hilldring, der dieses Amt dann drei Jahre bekleidete169. Die Joint Chiefs of Staff (JCS) erkannten die CAD schon frühzeitig als den natürlichen Ort für die Koordination der Planung und Verwaltung in den meisten besetzten Gebieten an. Stimson legte gegenüber Hilldring Wert darauf, daß die Armee mit der Entwicklung der Politik nichts zu tun haben dürfe, obwohl er wußte, daß er als Mitglied des Kabinetts durchaus mit politischen Fragen konfrontiert sein würde170. Diese Anweisung entsprach dem Verständnis Stimsons von den Aufgaben des Kriegsministeriums in der Planungsphase und der Armee während der Besatzungszeit. Sie sollte ausführendes Organ von im Außenministerium geschaffenen Plänen sein, und das auch nach Möglichkeit nur für eine kurze Übergangsphase, bis dann zivile Stellen die Armee ersetzen würden. Roosevelt dachte daran, der Armee die Verantwortung für diesen zivilen Einsatz auf besetztem Gebiet für die Zeit der Kampfhandlungen und die ersten sechs Monate nach deren Ende zu übertragen171. Die Tätigkeit der CAD beschränkte sich deshalb in bezug auf die Besatzungsplanung für Deutschland lange Zeit auf die Ausbildung von Militärregierungsoffizieren. Es handelte sich vorwiegend um Zivilisten, die nun an der Universität von Virginia in Charlottesville und später auch an anderen Universitäten auf ihre späteren Aufgaben vorbereitet wurden172. b. Warburg-Plan vom Februar 1944. Ende Februar 1944 verließ John J. McCloy, Unterstaatssekretär und Stellvertreter Stimsons, jedoch die vom Kriegsminister angegebene Generallinie und wandte sich auch der politischen Nachkriegspla- nung zu. Er bat seinen Freund James P. Warburg um die Er- 169 170 171 172 C.F. Latour/Th. Vogelsang, Okkupation und Wiederaufbau, S. 29 P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 320 P.Y. Hammond, ebd. Vgl. K.-E. Bungenstab, Die Ausbildung der amerikanischen Offiziere für die Militärregierung nach 1945, Jahrbuch für Amerikastudien 1973 (Bd. 18), S. 195 ff. 71 Stellung einer Denkschrift zur Behandlung Deutschlands nach Kriegsende173. Warburg war der Sohn einer angesehenen New Yorker Bankiersfamilie und bis wenige Monate vorher stellvertretender Leiter der Auslandsabteilung des amerikanischen Kriegsinformationsamtes gewesen. In dieser Funktion hatte er schon im April 1943 ein Memorandum zur Deutschlandpolitik und im August 1943 ein weiteres zur Gesamtpolitik geschrieben. Im ersten Papier hatte er sich bemüht, die Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation" inhaltlich auszufüllen, um dadurch der deutschen Propaganda weniger Angriffsfläche zu bieten. Die sieben von Warburg genannten Punkte sahen vor: Bedingungslose Kapitulation aller Feinde der USA, kein Frieden oder Waffenstillstand oder auch nur Verhandlungen mit der derzeitigen deutschen Regierung oder irgendwelchen anderen Gruppen oder Einzelpersonen in Deutschland, Bestrafung von Straftätern, aber keine kollektiven Vergeltungsmaßnahmen gegen das deutsche Volk, Rückgabe von geplündertem Eigentum, Versorgung Hungernder nach Kriegsende mit Lebensmitteln, unmittelbarer Beginn mit dem Wiederaufbau zerstörter Gebiete und Angebot zur Eingliederung des deutschen Volkes in eine von den "Vier Freiheiten" beherrschte Weltordnung, sofern die Deutschen sich umstellten und nicht länger die Absicht hätten, ihre Beziehungen zu anderen Völkern mit Gewalt oder Gewaltdrohung zu regeln174. Warburg stellte klar: "Die Alliierten kämpfen nicht gegen das deutsche Volk. Sie kämpfen gegen die Nazis, gegen den militärischen Geist der Eroberungslust und gegen jeden, in dem sich diese besondere deutsche ,Weltanschauung1 verkörpert. Man wird annehmen müssen, daß die Deutschen, die die Regierung unterstützten, die diesen Krieg über die Welt gebracht hat, Anhänger dieser Weltanschauung sind. Deutsche Personen oder Gruppen, die sie ablehnen, müssen ihre Haltung 173 174 72 J.P. Warburg, Deutschland - Brücke oder Schlachtfeld, S. 286 ff.; dort sind die Vorschläge Warburgs auszugsweise aufgeführt. J.P. Warburg, ebd., S. 281 ff. nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten beweisen."175. Roosevelt hatte sich von den Anregungen Warburgs zunächst sehr angetan gezeigt, nach Gesprächen mit seinen Beratern die Zeit für eine derartige Erklärung an das deutsche Volk jedoch für noch nicht gekommen angesehen und das Memorandum wieder zurückgeschickt176. In einem Schreiben vom 21. Februar 1944 zeigte Warburg Mc- Cloy die Grundzüge seiner Denkweise hinsichtlich Deutschlands erneut auf: Das Problem sei die Organisation eines dauerhaften Friedens. Das Einpassen Deutschlands in eine so organisierte Welt sei nicht das primäre Problem der Alliierten, sondern des deutschen Volkes selbst. Es müsse aber verhindert werden, daß Deutschland während einer ihm aufzuerlegenden Probezeit nochmals einen Angriffskrieg führen könne. Während dieser Probezeit sollten die Alliierten keinen Friedensvertrag mit Deutschland schließen, noch sonst in irgendeiner Form die deutsche Souveränität wieder aufleben lassen. Die Probezeit könne lang oder kurz sein, was von verschiedenen Faktoren abhänge. Am Ende müsse aber die volle Anerkennung der deutschen Souveränität stehen, einschließlich der gleichen Rechte und Pflichten, wie sie auch andere Nationen hätten. Der Friedensvertrag solle jedoch erst geschlossen werden, nachdem in Deutschland eine Regierung existiere, mit der die Alliierten auf der Grundlage der Gleichheit verkehren wollten177. In einem ausführlichen Memorandum vom 4. März 1944 machte Warburg dann konkrete Vorschläge für eine Direktive zur Behandlung Deutschlands nach der Kapitulation, den möglichen Inhalt eines Kapitulations-Dokumentes, den Entwurf einer "First Order", die von Eisenhower als oberstem alliierten 179 J.P. Warburg, ebd., S. 282 176 J.P. Warburg, ebd., S. 283 117 J.P. Warburg an J.J. McCloy, 21. Februar 1944, RG 107 ASW 387. Der in J.P. Warburg, Deutschland - Brücke oder Schlachtfeld, S. 286 ff. teilweise abgedruckte Plan ist eine Zusammenfassung zweier für McCloy geschriebener Denkschriften (eine vom 21.2.1944, die andere vom 4.3.1944), was jedoch im Buchtext nicht deutlich wird. 73 Kommandeur dem deutschen OKW unmittelbar nach Unterzeichnung der Kapitulation übergeben werden sollte sowie eine erläuternde Schrift zu Währungsproblemen. In einem Begleitschreiben an McCloy meinte Warburg: "The point of view which underlies these proposals is that once we have rendered Germany harmless, we should get out and let things happen within Germany as they will, while we sit around the borders keeping Germany sealed off and observing the course of events." . Eine lange Besatzungszeit, argumentierte Warburg, bringe zu viele Probleme mit sich: Die Alliierten müßten dann unweigerlich die Ordnung aufrechterhalten, was die Entspannung verhindere, die in Deutschland eintreten müsse; sie müßten dann einen großen Teil der Last übernehmen, die Probleme Deutschlands zu lösen, und würden für viele der unumgänglichen Nachkriegsleiden getadelt werden. Auch sei eine lange Besatzungszeit nur mit Strenge zu erreichen, was den amerikanischen Soldaten schwerfallen werde, und behindere die Fortführung des Krieges gegen Japan 179. In seinem Direktiven-Entwurf bezeichnete Warburg es als Zweck der alliierten Besetzung, die weitere deutsche An- griffsfähigkeit zu verhindern, fremde Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Deutschland zu befreien, den Deutschen klar zu machen, den Krieg diesmal tatsächlich verloren zu haben, nationalsozialistische Unterdrückungseinrichtungen zu beseitigen und den notwendigen Apparat zu schaffen für die Rückgabe gestohlenen Eigentums, für die Erhebung von Reparationszahlungen und für die Bestrafung von Kriegsverbrechern sowie für die Zufuhr der nötigen Lebensmittel und Medikamente. Zu den Zwecken der alliierten Besetzung gehöre es hingegen nicht, Recht und Ordnung innerhalb Deutschlands zu bewahren, das politische und wirtschaftliche Leben in Deutschland zu reorganisieren oder wiederaufzubauen oder das deutsche Volk umzuerziehen. Dies habe das deutsche Volk 178 179 74 J.P. Warburg an J.J. McCloy, 4. März 1944, RG 107 ASW 387 J.P. Warburg an J.J. McCloy, 4. März 1944, ebd. alles selbst zu tun. Erst wenn es dies erfolgreich durchgeführt habe und es in Deutschland eine von den Alliierten anerkannte Regierung gebe, könne man einen Friedensvertrag schließen oder die Souveränität des deutschen Volkes sonstwie anerkennen. Bis dahin sollten die deutschen Grenzen während einer Bewährungsfrist besetzt bleiben und Deutschland vom übrigen Europa isoliert werden. Ein- und Ausfuhr seien ebenso wie der Personenverkehr über die deutsche Grenze zu kontrollieren180. Auf der Grundlage dieser Prinzipien unterschied Warburg drei Phasen der alliierten Tätigkeit: Von der Kapitulation zur Besatzung, von der Besatzung zur Beobachtung und von der Beobachtung zur Anerkennung. In der ersten Phase, die nicht länger als eine Woche oder zehn Tage andauern dürfe, werde Deutschland entwaffnet werden. Während der zweiten Phase, für die Warburg drei Monate und weniger veranschlagte, sollten gewisse Hauptaufgaben erfolgreich ausgeführt werden: Dazu zählte die industrielle Entwaffnung, Durchführung der Moskauer Kriegsverbrecher-Erklärung, Befreiung und Repatriierung von Gefangenen und zu Arbeitszwecken eingezogener Personen, die Konzentration von NS- Amtsträgern, Gestapo und SS (offensichtlich alle Angehörigen) irgendwo außerhalb Deutschlands, Zerstörung der ganzen Maschinerie des Generalstabs einschließlich seiner industriellen Verzweigungen, Zerbrechen der Landgüter der Junker sowie die Errichtung von Maschinerien zur Rückgabe gestohlenen Eigentums, für Reparationen, zur Kontrolle des Außenhandels und zur notwendigen Unterstützung. In der dritten Phase, mit einer von den jeweiligen Umständen abhängigen Dauer von zwei bis zu zehn Jahren, würden die alliierten Truppen die deutschen Grenzen bewachen. In Deutschland befänden sich dann nur noch bestimmte Stamm- streitkräfte und Kontroll-Kommissionen. Diese Kommissionen hätten das Entstehen militärischer oder halbmilitärischer 140 J.P. Warburg, "Draft-Directive for Surrender and Post Surren der Treatment of Germany", Abs.Nr. III, RG 107 ASW 387; vgl. auch die insoweit bis auf einen Punkt identische Darstellung in J.P. Warburg, Deutschland - Brücke oder Schlachtfeld, S. 287 f.. 75 Organisationen zu verhindern, darauf zu achten, daß keine industrielle Wiederbewaffnung erfolge, den Im- und Export zu kontrollieren, die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu beobachten und darüber zu berichten. Diese Phase werde erst beendet, wenn die Deutschen die in sie gesetzten Erwartungen, wozu vor allem eine von den Alliierten anerkannte Regierung zählte, erfüllt hätten181. Ergänzt wurde dieser Entwurf durch die von Eisenhower dem OKW gegenüber zu erlassende "First Order". Neben ein paar detaillierten Anweisungen zur Entwaffnung und Übergabe von Waffen und Truppen enthielt sie noch Vorschriften über den Umgang mit bestimmten Personengruppen in Deutschland. Während die deutschen Soldaten nach Hause gehen könnten, sollten alle Offiziere in Konzentrationslagern zurückgehalten werden, um dort sorgfältig gesäubert zu werden. Nach ein paar Wochen oder Monaten sollte den besseren "Elementen" unter ihnen erlaubt werden, nach Hause zurückzukehren ("Officers should be carefully weeded out and the better elements allowed to return home after a few weeks or perhaps months."). Innerhalb Deutschlands befindliche deutsche Truppen und Reserveeinheiten hätten das Zusammentreiben ("round up"), die Entwaffnung und Arrestierung aller Personen durchzuführen, die in Kriegsverbrecher-Listen erfaßt seien, aller N.S.- Amtsinhaber bis hinab zum Gauleiter sowie aller SS- und Gestapo-Angehöriger. Die Gefangenen seien festzuhalten und der alliierten Besatzungsarmee zu übergeben. Diese Personengruppen und die nicht wieder entlassenen Offiziere würden dann die ersten Arbeiter sein, die in anderen Ländern die von Deutschland begangenen Verwüstungen wieder instand zu setzen hätten182. Warburg merkte weiter an: "It is to be hoped that the foregoing order would result in the mass killing by German troops of those to be arre 181 182 J.P. Warburg, "Draft-Directive for Surrender and Post Surrender Treatment of Germany", Abs.Nr. IV, ebd.; die Wiedergabe in J.P. Warburg, Deutschland - Brücke oder Schlachtfeld, S. 288 ist lückenhaft und spricht nur von zwei statt von drei Phasen. J.P. Warburg, "Draft-Directive for Surrender and Post Surrender Treatment of Germany", ebd. sted. This would be the first step in the rehabilitation of the German peoDie Übergabe der Waffen (für ihren Gebrauch im Krieg gegen Japan) sollte ebenso wie die Verpflichtung zur Internierung der bereits genannten Personengruppen in das KapitulationsDokument aufgenommen werden. Die Unterschrift sollte das OKW und die Regierung, im Erlebensfälle Hitler selbst, leisten. Neben einigen anderen Einverständniserklärungen führte War- burg in seinem Entwurf einer Kapitulations-Urkunde auch einen Punkt zur Währung an. Die Reichsbank sollte danach jede Woche eine von den alliierten Besatzungsarmeen verlangte Geldsumme zur Deckung der Besatzungskosten an diese herausgeben. Die Auszahlung sollte in einer neuen "Besatzungs-Mark" ("Occupational Marks") erfolgen, die von der Hauptwährung zu unterscheiden sei184. Die Entwertung der deutschen Währung sah er als unvermeidlich an. Er wollte die Inflation deshalb so schnell wie möglich nach der Kapitulation eintreten lassen, um eine spätere demokratische Regierung vor der Belastung mit einem solchen Ereignis zu bewahren185. c. Ablehnung des Warburg-Plans. Die Reaktionen im Kriegsministerium auf Warburgs Vorschläge waren durchweg ablehnend. Generalmajor Ray W. Barker von der "Operations Division" meinte: "I cannot agree either with the fundamental morality ... or advisability of allowing or encouraging Germany to fall into a state of anarchy. Germany can, and should, be an important element in the rehabilitation of war-torn Europe, and our policy should be designed to make her serve that purpose."186 . 183 J.P. Warburg, "Draft-Directive for Surrender and Post Surrender Treatment of Germany", ebd. 114 J.P. Warburg, "Surrender Document", RG 107 ASW 387 185 J.P. Warburg, "Explenatory Note on 3(g) - Currency Proposal", RG 107 ASW 387 Maj. Gen. R.W. Barker, War Dep. General Staff, Operations Division, "Memorandum to General Hilldring", "Subject: Comment 77 Auch der Direktor der Civil Affairs Division, Generalmajor J.H. Hilldring, stand den Denkschriften des New Yorker Bankiers skeptisch gegenüber. Er übermittelte McCloy ein Memorandum des Hauptmanns Fritz Oppenheimer, ein deutscher Emigrant aus Berlin, der dort als Rechtsanwalt gearbeitet hatte. Er erklärte sich mit den Ausführungen Oppenheimers im wesentlichen einverstanden187. Ganz besonders intensiv setzte sich Oppenheimer mit der grundlegenden These Marburgs auseinander - die jedoch nicht nur von ihm, sondern auch in vielen Magazinen (Life, Fortune, Time) damals vertreten wurde -, daß Deutschland zunächst einmal durch ein totalitäres Chaos gehen müsse, und daß man erst nach seiner Selbstreinigung normale Beziehungen zu ihm aufnehmen könne. Ein Chaos in Deutschland, befand Oppenheimer, führe möglicherweise zum Tod der besten Elemente der Nation, da Revolution die Herrschaft des Mobs sei und Plünderung, Töten, Hunger und Elend bedeute und die falschen Leute zusammenführe. Außerdem sei das deutsche Problem ein europäisches Problem, und solange in Deutschland Chaos bestehe, könne in Europa kein Frieden einziehen. Eine Politik, die es Deutschland gestatte ins Chaos abzugleiten, widerspreche der Haager Konvention, insbesondere Art. 43 der Landkriegsordnung. Eine Inflation treffe vor allem die ärmeren Schichten, während die Wohlhabenderen schon wüßten, wie sie ihre Kapitalanlagen gegen eine Geldentwertung schützen könnten. Ein dauerhafter Friede sei ohne gesunde wirtschaftliche Bedingungen undenkbar188. Oppenheimer weiter: 187 188 on Mr. Warburg's letter of 4 March, 1944, re surrender and post surrender policy toward Germany", 14. März 1944; vgl. auch die negativen Anmerkungen aus dem Büro des Assistant Secretary of War "Memorandum for Mr. McCloy", "Subject: Comments on Mr. Warburg's surrender and post-surrender treatment of Germany", 6. März 1944; beide Denkschriften in RG 107 ASW 387 Maj. Gen. J.H. Hilldring, CAD, "Memorandum for Mr. McCloy", "Subject: Comments on Mr. Warburg’s proposals re surrender and post-surrender policy toward Germany", 23. März 1944, RG 107 ASW 387. F. Oppenheimer, Memorandum ohne weitere Spezifizierung und Datum, Abs.Nr. B.I.; RG 107 ASW 387 "If we support inflationary tendencies we would repeat the flaws of the last peace."189 Oppenheimer befürwortete demgegenüber eine zwar sehr strenge, aber gleichzeitig gerechte und menschliche Militärregierung in Deutschland. Sein Ziel lautete: "The dictate of terror and mental oppression (durch das NS-Regime, d.Verf.) should not be followed by a period of anarchy but by a rule of law established and maintained by military government; though necessarily very strict and absolute at the beginning the military rule can gradually be relaxed to allow and encourage the formation of a new democratic government in Germany."190 Die kritische Stellungnahme Oppenheimers zu Warburgs ChaosPlänen für Deutschland überzeugte John J. McCloy, der sie für intelligent und begründet erachtete und Oppenheimers Weg für erfolgversprechender hielt als Warburgs191. Wenngleich Warburgs Vorschläge vom Kriegsministerium mit der Erklärung abgelehnt wurden, "daß die Regierung der Vereinigten Staaten keine Politik verfolgen könne, die in Deutschland zum Chaos führen würde"192, waren viele seiner Gedanken damit aber noch lange nicht zu den Akten gelegt. Seine Haltung beispielsweise zu den Landgütern der Junker, die er zerschlagen wollte, oder zur Internierung bestimmter Personenkategorien und deren spätere Verwendung im Ausland als Zwangsarbeiter, deckte sich mit den Ansichten vieler, vielleicht sogar der weit überwiegenden Mehrzahl der mit der Deutschlandplanung beschäftigten Leute. Die entsprechenden politischen Forderungen verschwanden nicht in den Papierkörben, sondern wurden regelmäßig erneuert. In den Diskussionen der folgenden Monate wurden diese beiden Themen nie Gegenstand politischer Auseinandersetzungen II* F. Oppenheimer, ebd. 190 F. Oppenheimer, ebd., Abs.Nr. B.II. 191 J.J. McCloy, "Memorandum for General Hilldring", 27.03.1944 RG 107 ASW 387 192 J.P. Warburg, Deutschland - Brücke oder Schlachtfeld, S. 290 79 innerhalb der einzelnen Ministerien oder zwischen diesen. Beide Themen gehörten - wie wir noch sehen werden - zu den politischen Bereichen, in denen weitestgehender Konsens bestand. IV. Die "heiße Phase" der US-Besatzungsplanung, August 1944 August 1945 IV. 1. Finanzminister Morgenthau schaltet sich in die Planungen ein Eine ganz neue Dimension bekam die amerikanische Deutschland- und Besatzungsplanung im Hochsommer 1944 durch den im USFinanzministerium ausgearbeiteten sogenannten"Morgenthau-Plan". Die Genesis dieses Planes hat in der historischen Literatur bereits eine umfassende Würdigung erfahren193. Neben der Entwicklung, den Hintergründen und Zielen der Casablanca-Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation" ("unconditional surrender") vom Januar 1943194 gehört diese Episode zweifellos zu den mit am besten und ausführlichsten untersuchten Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges, soweit es die amerikanische und alliierte Nachkriegsplanung betrifft. Man muß sich jedoch davor hüten, diesen Plan, seine Entwicklung, seine Annahme durch Roosevelt und Churchill und nicht zuletzt auch das (zumindest teilweise) wieder Fallenlassen als isolierten historischen Vorgang zu sehen. Der Plan steht vielmehr, trotz aller mit ihm verbundenen Auseinandersetzungen in den federführenden amerikanischen Ministerien, in einer 193 Vgl. nur H.G. Gelber, Der Morgenthau-Plan, in: VfZG 1965, S. 372 ff.; G. Moltmann, Der Morgenthau-Plan als historisches Problem, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau (V), 1955, s. 15 ff.; J.L. Chase, The Development of the Morgenthau-Plan through the Quebec Conference, in: Journal of Politics 1954, S. 324 ff.. Die Einordnung des Planes in den Zusammenhang der gesamten amerikanischen Besatzungsplanung findet sich u.a. bei P.Y. Hammond, Directives for the Occupation of Germany: The Washington Controversy, S. 348 ff.; J.L. Snell, Wartime Origins of the EastWest-Dilemma over Germany, S. 64 ff.; G. Moltmann, Amerikanische Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 121 ff.. 194 Vgl. dazu noch unten 2. Teil 80 gewissen Planungskontinuität, die als Anknüpfungspunkt nicht nur (aber auch) die Casablanca-Formel hat. a. Kein unmittelbarer Planungsbedarf bis zum Sommer 1944. Die Wurzeln des Plans reichen bis in das Jahr 194 3 zurück. Denn bereits im Juni 1943 legte Robert McConnell, Mitarbeiter im Finanzministerium, Ölmanager und damals Verwalter der amerikanischen IG-Farben-Werke195, eine "Vorstufe des MorgenthauPlanes"196 vor197. In seinem Memorandum vom 25. Juni 1943, das zu diesem Zeitpunkt "a far cry from the post war Problems" (Joseph O'Connell, jr.)198 war, gab McConnell erste Anregungen für die wirtschaftliche Nachkriegskon- trolle Deutschlands. Er empfahl eine lange Waffenstillstandsperiode, in der die Sieger die deutsche Wirtschaft kontrollieren, kriegswichtige Produktionen wie die synthetische Herstellung von Benzin und Stickstoff abbauen und beseitigen und die übermäßige Vorratsbildung bei bestimmten Rohstoffen verbieten sollten. Er versprach sich davon eine starke Limitierung eines neuen deutschen Kriegspotentials, die Deutschland eine zukünftige Bedrohung des Friedens unmöglich mache199. Diese im Finanzministerium entstandene Denkschrift hatte jedoch zunächst keine weiteren Folgen. Die Zeit war offensichtlich noch nicht reif, um bei den Planungen für Deutschland über generelle Absichtsbekundungen hinaus zu einer ins einzelne gehenden Erörterung zu kommen. Dies mußte sich allerdings zwangsläufig ändern, als im Juni 1944 die Amerikaner und Briten über die nordfranzösische Küste in Frankreich vorstießen, mit Blick in Richtung Deutschland. Wollte man nicht gänzlich unvorbereitet in Deutsch- 195 Zu den verschiedenen Aufgaben, die Robert McConnell im Laufe des Krieges im Finanzministerium wahrnahm, vgl. J.M. Blum, Deutschland ein Ackerland? Morgenthau und die amerikanische Kriegspolitik 1941-1945, S. 11 196 W. Krieger, General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik 1945-1949, S. 29 197 Text in: Morgenthau Diary (Germany), Hrsg. A. Kubek, Committee on the Judiciary, U.S. Senate, 2 Vol., S. 353 ff.; zusammenfassend W. Krieger, ebd., S. 29 f. 198 Morgenthau Diary (Germany), S. 354 199 Morgenthau Diary (Germany), S. 354 ff. 81 land einmarschieren, dann mußten schnellstmöglich Grundsätze über die politischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Zielvorstellungen entwickelt werden. Das Bewußtsein für die Dringlichkeit der Aufgabe war besonders ausgeprägt bei SHAEF. Eisenhower und seinen Planungsoffizieren war klar, daß die Verwaltung eines besetzten Deutschland eine Vielzahl von Problemen aufwerfen würde, die nur durch gezielte Weisungen, möglichst in einem Dokument zusammengefaßt, in den Griff zu bekommen waren. Zwar war Eisenhower mit einer Direktive der CCS ausgerüstet, die unter dem Aktenzeichen CCS 551 bekannt wurde. Diese Direktive sollte jedoch ausdrücklich nur für die Zeit der Militärregierung in Deutschland vor dessen Niederlage oder Kapitulation gelten200. Was danach zu geschehen hätte, lag noch völlig im Dunkeln. b. Morgenthaus erste Kontakte mit der bisherigen US-Pla- nung. Ausgelöst wurde die Washingtoner Kontroverse, als Henry Morgenthau auf einem Flug nach London von seinem Assistenten Harry Dexter White die Kopie einer Denkschrift erhielt, die in einer interministeriellen Arbeitsgruppe erstellt worden war (Executive Committee on Economic Foreign Policy = ECEFP), der White als Vertreter des Finanzministeriums angehörte, und deren Vorsitz Dean Acheson, Unterstaatssekretär im Außenministerium, innehatte201. Die kurz zuvor fertiggestellte Denkschrift befaßte sich mit Reparationen, Restitutionen und Eigentumsrechten in Deutschland202. Die wirtschaftlichen und politischen Ziele der amerikanischen Regierung wurden darin folgendermaßen zusammengefaßt: 1. Aufrechterhaltung des Friedens durch ein System kollektiver Sicherheit und die Entwaffnung der Aggressoren. 200 201 202 82 Zu Inhalt und Entstehung der Direktive CCS 551 vgl. unten 1. Teil IV.5. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 342 ff. Text des ECEFP-Memorandums "Summary: Report on Reparations, Restitutions and Property Rights - Germany" vom 31.07./04.08.1944 in: Morgenthau Diary (Germany), S. 679 ff.; FRUS 1944 I, S. 287 ff. 2. Schnelle Rückkehr zu einem multilateralen System des internationalen Handels und Finanzwesens durch die Abschaffung übermäßiger Hindernisse für den Handel mit Gütern und Kapital. 3. Schnelle Wiederherstellung beeinträchtigten Gebiete. und Sanierung der vom Krieg 4. Aufrechterhaltung einer hohen Beschäftigungsrate und eines hohen Lebensstandards. 5. Für Deutschland wurden zwar Einschränkungen von diesen Grundsätzen erwogen, eine vollkommene Eliminierung des deutschen Wirtschaftspotentials jedoch absolut ausgeschlossen: Zwar sollte Deutschland die Wirtschaftsdominanz in Europa genommen und das deutsche Kriegspotential überwacht werden. Das bedeutete jedoch keine ausgedehnte und dauernde Beeinträchtigung der ganzen deutschen Industrie. Weiterhin sollten in Deutschland demokratische Einrichtungen, einschließlich einer freien Gewerkschaftsbewegung, gegründet und Deutschland schließlich in die Weltwirtschaft integriert werden203. Reparationsleistungen, legte das Memorandum fest, sollten in einem Zeitraum von fünf Jahren durch Warenlieferungen, bei einer Ausweitung auf zehn Jahre möglicherweise auch in Geld erbracht werden. Diese Konzentration des Augenmerks auf Sachgüter entsprang der in den zwanziger Jahren gemachten Erfahrungen204. In der Denkschrift hatten vornehmlich die Anschauungen des Außenministers ihren Niederschlag gefunden205. Morgenthau meinte später, er habe das Memorandum zuerst mit Interesse, dann zweifelnd und schließlich mit heftigem Widerspruch gelesen206. Dem Memorandum mangelte es nach seinem Urteil an einer Auseinandersetzung mit der für ihn grundlegenden Frage: FRUS 1944 I, S. 288 FRUS 1944 I, S. 295 205 O. Nübel. Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber Deutschland 1941-1945, S. 83 106 H. Morgenthau, jr., "Our Policy Toward Germany", The New York post, 24.11.1947, S. 2 103 104 83 " - the establishment of conditions which would prevent Germany from imposing devastation and terror upon a helpless Europe for a third time in a single century." Er habe dann versucht, berichtete Morgenthau weiter, alles über die amerikanischen Planungen für Deutschland herauszufinden, um feststellen zu können, ob diese Art des Denkens charakteristisch sei207. Entgegen Morgenthaus Vermutung hatte die ECEFP sich durchaus die Frage vorgelegt, wie das deutsche Kriegspotential unter Kontrolle gehalten werden könnte. Anders als Morgenthau hatte die Arbeitsgruppe unter der Ägide des Außenministeriums jedoch schon recht frühzeitig erkannt, daß jede andere Politik, als die einer Rückführung Deutschlands mit allen seinen Ressourcen in den Welthandel, an der Realität Vorbeigehen würde. Ziel der amerikanischen Politik in Deutschland müsse es sein, so vermeldete das ECEFP in einem zweiten Memorandum, Frieden und Sicherheit in der Welt zu stützen, indem man helfe, Bedingungen in der wirtschaftlichen Sphäre zu erzeugen, die die Gefahr einer zukünftigen Aggression durch Deutschland beseitigten. Lange anhaltende Kontrollen über die deutsche Wirtschaft aus Strafzwecken oder aufgrund der Suche nach Sicherheit zu verhängen, stehe im Gegensatz zu den Zielsetzungen der amerikanischen Politik208. Auch im Hinblick auf das deutsche Volk, das wußte man im ECEFP, wäre eine solche Politik völlig unrealistisch: "An indefinitely continued coercion of more than sixty million technically advanced people, however, would at best be an expensive undertaking and would afford the world little sense of real security. More important still, there exists no convincing reason to anticipate that the victor powers would be willing and able indefinitely to apply coercion. 207 208 H. Morgenthau, jr., ebd. FRUS 1944 I, S. 279 For the longer run, therefore, only those economic measures should be envisaged which are a part of general arrangements for collective security and which could be applied to each and every major power whose actions were deemed to constitute a threat to the maintenance of peace and security."20® Morgenthau jedoch war zu einer differenzierenden Beurteilung Deutschlands und des deutschen Volkes weder fähig noch bereit. Ein weiteres Dokument, das ihm sein Mitarbeiter bei SHAEF in London, Colonel Bernard Bernstein, während der Europareise in die Hände spielte, vergrößerte Morgenthaus Befürchtung vor einer zu milden Behandlung Deutschlands noch. Bei diesem Dokument handelte es sich um ein "Basic Handbook for Military Government of Germany". Erstellt hatte dieses Handbuch die sogenannte "German Country Unit", eine im Februar 1944 in der G-5 Abteilung von SHAEF gebildete Landeseinheit für Deutschland, die die Funktionen der Militärregierung in Deutschland übernehmen und den dafür notwendigen Apparat solange bereitstellen sollte, bis die Kontrolle durch eine Alliierte Hohe Kommission übernommen würde. Bei ihrer Gründung arbeitete diese Einheit, ebenso wie SHAEF G-5 überhaupt, ohne jegliche politische Richtlinie210. Im Laufe des Frühjahrs und Sommers 1944 waren insgesamt drei Entwürfe des Handbuches vorbereitet worden, zusammen mit verschiedenen funktionalen Dienstvorschriften mit detaillierten Plänen für die öffentliche Sicherheit, örtliche und regionale Militärverwaltung und andere Dinge211. Die Autoren des Handbuches machten einen Unterschied zwischen der nationalsozialistischen Regierung und dem deutschen Volk212. Die Deutschland-Abteilung bei SHAEF bereitete ausführliche Besatzungspläne vor, 109 110 211 112 FRUS 1944 I, S. 279 C.F. Latour/Th. Vogelsang, Okkupation und Wiederaufbau, S. 33 H. Zink, American Military Government in Germany, S. 43 H.G. Gelber, VfZG 1965, S. 378 85 "... die eher auf einen konstruktiven Pragmatismus als auf negative Strafmaßnahmen hinausliefen, jedoch alles andere als 'weich' waren. Zwar erkannten sie die Nutzlosigkeit einer Revanchepolitik, doch sahen sie eine gründliche Umbildung des deutschen Regierungsapparates und die Liquidierung des deutschen Kriegspotentials vor. Die Deutschland-Abteilung faßte es als eine Aufgabe der Militärregierung auf, die Erholung der deutschen Wirtschaft zu beschleunigen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, daß für die deutsche Bevölkerung die Härten gemildert würden. "213 _ Das im Juni 1944 fertiggestellte Militärregierungs-Handbuch, das dementsprechend eine "feste, aber gerechte" Behandlung (G. Moltmann)214 der Deutschen propagierte, war für Morgenthau der letzte Anstoß zur Einmischung in die amerikanische Deutschlandund Besatzungsplanung. In Gesprächen mit General Eisenhower und führenden britischen Politikern (Churchill, Eden, Anderson) äußerte er daraufhin erstmals Vorstellungen über eine komplette Zerstörung der deutschen Industrie und die Überführung Deutschlands in einen Agrarstaat. Widerstand seiner Gesprächspartner erklang kaum, aber auch vorbehaltlose Befürwortung kam nicht zum Ausdruck215. Noch verhielten sich die Briten, offensichtlich überrascht durch derartig rigorose und realitätsferne Gedanken, Morgenthau gegenüber eher indifferent. c. Morgenthaus Einfluß auf den Präsidenten und Roosevelts erste Stellungnahme. Nach Washington zurückgekehrt, wandte sich Morgenthau gleich am darauffolgenden Tag an Roosevelt, um ihn über die Ergebnisse der Reise zu informieren, ganz 213 214 215 86 C.F. Latour/Th. Vogelsang, Okkupation und Wiederaufbau, S. 33 ff.; vgl. auch H. Zink, American Military Government in Germany, S. 19 f. G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 122 Zu den in Großbritannien geführten Gesprächen Morgenthaus vgl. J.L. Chase, Journal of Politics 1954, S. 329 ff.. Die zeit_ weilig vertretene These, Eisenhower sei der eigentliche Urheber des Morgenthau-Planes gewesen, widerlegt G. Moltmann, Wehrwiss. Rundschau V, 1955, S. 19 f.. besonders aber über die amerikanische und anglo-amerikani- sche Nachkriegsplanung. Roosevelt sagte nach Morgenthaus Bekundung bei diesem Gespräch, man müsse mit dem ganzen deutschen Volk hart sein, nicht nur mit den Nazis216. Am 25. August händigte der Finanzminister dem Präsidenten ein SHAEF-Handbuch und ein Memorandum aus, in dem er Auszüge aus dem Handbuch aufgeführt hatte217. In der am selben Tag stattfindenden Kabinett-Sitzung deutete Roosevelt bereits an, daß er gegenüber Deutschland eine harte Linie zu fahren beabsichtige. Unter Hinweis auf den hohen Grad der Industrialisierung Deutschlands und deren große Bedeutung für ganz Europa versuchte Kriegsminister Stimson Einfluß auf Roosevelts Überlegungen zu gewinnen. Man einigte sich schließlich, einen Kabinetts-Ausschuß ("cabinet committee") zusammenzurufen, bestehend aus dem Außen-, dem Kriegs- und dem Finanzminister, um dort das Problem der Behandlung Deutschlands zu erörtern218. Nachdem Roosevelt die Eingaben Morgenthaus vom Vortag gelesen hatte, schickte er seinem Kriegsminister am 26. August ein geharnischtes Memorandum, in dem er den Inhalt des Militärregierungs-Handbuches scharf angriff: "This so-called 'Handbook' is pretty bad. ... If it has not been sent out as approved, all copies should be withdrawn and held until you get a chance to go over it. It gives me the impression that Germany is to be restored just as much as The Netherlands or Belgium, and the people of Germany brought back as quickly as possible to their pre-war estate. It is of the utmost importance that every person in Germany should realize that this time Germany is a defeated nation. I do not want them to starve to death but, as an example, if they need food to keep body and soul together beyond what they have, they should be fed three times a day with soup from Army soup kitchens. That will keep them 116 117 118 Vgl. H.G. Gelber, VfZG 1965, S. 381 Morgenthau Diary (Germany), S. 440 ff. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 355 87 perfectly healthy and they will remember that experience all their lives. The fact that they are a defeated nation, collectively and individually, must be so impressed upon them that they will hesitate to start any new war."219 Damit stellte sich Roosevelt eindeutig auf die Seite seines Freundes Henry Morgenthau. Die Besetzung Deutschlands sollte eine Art Strafaktion sein, die sich aber nicht nur gegen die nationalsozialistische Regierung, sondern gegen alle Deutschen richten mußte. Die These von der Kollektivschuld der Deutschen klingt dabei bereits unüberhörbar mit. In Roosevelts Deutschlandund Weltbild hatten sich die Deutschen als Volk gegen die "moderne Zivilisation" vergangen. Er schrieb am Ende des Memorandums an Stimson: "Too many people here and in England hold to the view that the German people as a whole are not responsible for what has taken place - that only a few Nazi leaders are responsible. That unfortunately is not based on fact. The German people as a whole must have it driven home to them that the whole nation has been engaged in a lawless conspiracy against the decencies of modern civili- zation."220 Solche destruktiven Zielsetzungen mußten für alle konstruktiven und realistischen Deutschlandplanungen das Ende bedeuten. Sie waren gleichzeitig aber auch eine Gefahr für die Zukunft Europas, die nicht zuletzt von der Wirtschaftskraft Deutschlands und der friedlichen Stabilität und Koexistenz in der Mitte des Kontinents abhängig war. Roosevelts Destruktivismus war ein starker Rückschlag vor allem für das Kriegsministerium, weil ja gerade das Militär im besetzten Deutschland die Dinge in die Hand nehmen mußte, um in dem absehbaren Chaos für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Und um eine vernünftige Politik betreiben zu können, benötigte man ebenso vernünftige politische Zielvorgaben aus Washington. Der von Roosevelt im Sog von 219 220 Morgenthau Diary (Germany), S. 443 Morgenthau Diary (Germany), S. 445 Henry Morgenthau eingeschlagene Weg konnte deshalb die Planer im Kriegsministerium nicht zufriedenstellen, wenngleich Unterstaatssekretär McCloy und CAD-Chef General Hilldring nach eigenem Bekunden im wesentlichen mit der vom Präsidenten vertretenen Ansicht übereinstimmten221. Nach der Aufhebung des Handbuches durch den Präsidenten stand die Armee erneut ohne Direktive oder sonstige Anleitung für die Nach-Kapitulationszeit da. Das Kriegsministerium befand sich in einer ungewöhnlichen und verzwickten Lage. Die Hoffnungen, nur für eine kurze Zeit in Deutschland Verantwortung tragen zu müssen, in der man in der Militärregierung eine Art politische Neutralität walten lassen und die politischen Fragen bis zu einem späteren Zeitpunkt, nach der Militärregierungs-Zeit, aufschieben könne, wurden zunehmend geringer. Wollte man sich nicht nur zum Sprecher der Politik anderer Ministerien machen und den Kopf für Maßnahmen hinhalten, die man zwar als dafür verantwortliches Ministerium ausführte, deren geistige Urheberschaft aber bei anderen lag, dann war jetzt der Moment gekommen, die politisch neutrale Haltung zugunsten einer aktiven politischen Teilhabe an der Diskussion aufzugeben. Die Möglichkeiten dafür boten sich für Stimson insbesondere am Kabinettstisch und in dem neu geschaffenen Kabinetts- Ausschuß222 . IV. 2. Entstehen und Inhalt das Morgenthau-Plans a. Erster Entwurf des Morgenthau-Plans, 2. September 1944. Am 2. September 1944 hielt der Kabinetts-Ausschuß eine vorbereitende Sitzung ab, an der die Stellvertreter der Minister teilnahmen. Das Finanzministerium nutzte die Gelegenheit, indem es durch Harry D. White einen ersten Entwurf dessen vorlegte, was später unter der Bezeichnung "Morgent- hau-Plan" eine so traurige Berühmtheit erlangte. Dieser Entwurf trug die Überschrift: "Suggested Post-Surrender Program for Germany"223. Entstanden war das Papier in einer 221 222 223 P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 356 P.Y. Hammond, ebd., S. 358 ff. Text des Entwurfs: FRUS The Conference at Quebec 1944, S. 86 ff.; Morgenthau Diary (Germany), S. 463 ff. 89 von Harry D. White geleiteten Arbeitsgruppe des Finanzministeriums, die Morgenthau unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Europa zusammengestellt hatte224. Am 1. September hatte das Finanzministerium eine Kopie des Entwurfes an Morgenthau geschickt, der sich zu dieser Zeit in seinem Wohnort Fishkill, N.Y., aufhielt, ganz in der Nähe von Roosevelts Anwesen in Hyde Park, N. Y. . Am selben Tag, als in Washington die Mitarbeiter des Ministeriums zur vorbereitenden Sitzung des KabinettsAusschusses zusammentrafen, übergab Morgenthau Roosevelt den Entwurf des Finanzministeriums226. Das zehn Punkte umfassende Programm sah im einzelnen vor: 1. Vollständige Entmilitarisierung kürzestmöglichen Zeit. Deutschlands in der 2. Teilung Deutschlands durch Verlust von Grenzgebieten im Osten an Polen und die Sowjetunion, im Westen an Frankreich und im Norden an Dänemark und die Schaffung dreier Staaten: ein Südstaat, ein Nordstaat und eine Internationale Zone im Ruhrgebiet und angrenzenden Industriegebieten (Rheinland) . Im Anhang zum Programm befand sich eine Karte mit den vorgeschlagenen Grenzen. 3. Internationalisierung der Ruhr und Übertragung des Eigentums und der Kontrolle des größeren Industriebesitzes auf eine internationale Organisation, die diese Zone regieren solle. Die Organisation solle sich weiterhin von zwei allgemeinen Prinzipien leiten lassen: Die natürlichen Ressourcen und die Industrie-Kapazität der Ruhr dürften nicht derart verwendet oder entwickelt werden, daß dadurch in irgendeiner Form etwas zum deutschen Militärpotential an der Ruhr beigetragen werde. Die Zone solle ein Freihandelsgebiet, die Einfuhr von Kapital jedoch verhindert werden. 4. Keine Reparationen in der Form laufender Zahlungen Lieferungen. Restitutionen und Reparationen sollten gelei- 224 225 226 90 Vgl. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 353, 361 f. Morgenthau Diary (Germany), S. 463 FRUS Quebec 1944, S. 86, Anm.l und gtet werden durch den Transfer existierender deutscher Ressourcen und Territorien. Als Reparationsleistungen schlug Morgenthau unter anderem die Nutzung deutscher Zwangsarbeit außerhalb Deutschlands und die Beschlagnahme deutscher Auslandsguthaben vor. 5. Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern. Alle Mitglieder bestimmter Gruppen (S.S., Gestapo, alle hohen Offiziellen von Polizei, S.A. und anderen Sicherheitsorganisationen, alle hohen Regierungs- und Nazi-Partei-Offi- ziellen, alle bekannten Persönlichkeiten, die eng mit dem Nazismus verbunden waren) sollten zurückgehalten werden, bis der Umfang der Schuld jedes einzelnen festgestellt sei. Schon die Mitgliedschaft in der S.S., Gestapo und ähnlichen Gruppen solle die Grundlage bilden für ihre Einbeziehung in ZwangsarbeitsBataillone. Auflösung der NSDAP und aller angeschlossenen Organisationen. Entlassung der Angehörigen bestimmter Gruppen (NSDAP- Angehörige, Nazi-Sympathisanten, Junker und Offiziere) aus öffentlichen Ämtern, und ihre Nichtbeschäftigung in bestimmten Berufen (vor allem im Unterrichts- und Rechtswesen) . Zerbrechen aller Junker-Liegenschaften und Aufteilung unter Kleinbauern und Abschaffung des Systems des Erstgeburtsrechts und der festgelegten Erbfolge. 6. Aufhebung aller Vorkapitulations-Gesetze, -Verordnungen und Vorschriften, die auf der Grundlage von Rasse, Hautfarbe, Glaubensbekenntnis und politischer Meinung diskriminierten. 7. Schließung aller Schulen und Universitäten. Keine weiteren Veröffentlichungen der deutschen Presse und keine weiteren Sendungen deutscher Radiostationen. 91 8. Politische Dezentralisierung durch Unterstützung der Wiedereinrichtung der Länderregierungen, auch im Hinblick auf die geplante Teilung Deutschlands. 9. Der alleinige Zweck des Militärs in der Kontrolle der deutschen Wirtschaft sei die Förderung militärischer Operationen und der militärischen Besetzung. Die alliierte Militärregierung solle keine Verantwortung übernehmen für wirtschaftliche Probleme wie Preiskontrollen, Rationierung, Arbeitslosigkeit usw. oder irgendwelche Maßnahmen zur Aufrechterhaltung oder Stärkung der deutschen Wirtschaft vornehmen . 10. Die Ausführung dieses Programms liege in der gemeinsamen Verantwortlichkeit der Vereinten Nationen. Aus praktischen Gründen spielten die USA, Großbritannien und die Sowjetunion die Hauptrolle in der Entmilitarisierung Deutschlands, während die Ausführung anderer Teile des Programms am besten durch die Nachbarn Deutschlands gehandhabt werden könne. Am Ende des Programms wurde noch darauf hingewiesen, daß die Durchführung dieses Planes es erlauben könnte, die amerikanischen Truppen in einer recht kurzen Zeit zurückzuführen227 . In der vorbereitenden Sitzung legte neben dem Finanzministerium auch das Außenministerium ein Deutschland-Programm vor . Meinungsunterschiede zeigten sich vor allem in zwei Bereichen: in der Teilungsfrage und in der Frage nach der Behandlung der deutschen Wirtschaft. Das Problem der staatlichen Einheit Deutschlands beinhaltete für das Außenministerium nicht die etwaige Abtrennung von Ostpreußen und Danzig und ihre Angliederung an Polen. Diese Möglichkeit wurde durchaus zugestanden. Eine Zerstückelung Deutschlands in mehrere selbständige Staaten, wie es auch in dem Memorandum des Finanzministeriums zu lesen war, 227 228 92 FRUS Quebec 1944, S. 86 ff. FRUS Quebec 1944, S. 81 ff. werde jedoch den damit verbundenen politischen Zielsetzungen nicht gerecht. Jedes Wiederaufleben einer deutschen Aggression werde dadurch nämlich nicht verhindert. Eine solche Maßnahme mache die Notwendigkeit weitreichender Sicherheitskontrollen über Deutschland für eine unbestimmte Zukunft nicht überflüssig. Wegen des hohen Grades an ökonomischer, politischer und kultureller Integration in Deutschland sei zu erwarten, daß die Teilung nicht nur mit Gewalt auferlegt, sondern auch aufrechterhalten werden müsse. Die siegreichen Mächte würden dann eine lästige und niemals endende Aufgabe übernehmen mit der Verhinderung heimlicher Zusammenarbeit zwischen den geteilten Staaten und der Zurückhaltung nationalistischer Entschlossenheit, sich wieder zu vereinen, was nach aller Wahrscheinlichkeit die Antwort des deutschen Volkes sein werde. Statt einer Teilung Deutschlands empfahl das Außenministerium, müßten alle Anstrengungen unternommen werden, in Deutschland ein föderales Regierungssystem zu fördern229. Dadurch wollte man die Nachteile sowohl einer Teilung als auch des zentralistischen Regierungssystems in Deutschland vermeiden230. Obwohl die Autoren des State Department-Memorandums, Matthews und Riddleberger, bis zum 2. September noch keinen schriftlich fixierten Plan Morgenthaus gesehen hatten, waren ihnen die Vorstellungen Morgenthaus zur Agrarisierung Deutschlands dennoch geläufig. Sie machten deshalb in dem Memorandum des State Department auf die durch eine derartige Politik mit aller Wahrscheinlichkeit hervorgerufenen Folgen aufmerksam. Falls man sich auf ein weitreichendes Programm industrieller Zerstörung und Demontage einige, sei es offensichtlich, daß es beträchtliche und wichtige Veränderungen in der Wirtschaft ganz Europas mit sich bringe. Es sei außerdem sehr zweifelhaft, ob ein solcher Plan, demzufolge Deutschland überwiegend zu einem Agrarstaat gemacht werden solle, durchgeführt werden könne, ohne die Beseitigung oder Emigration mehrerer Millionen Deutscher. Falls 229 230 FRUS Quebec 1944, S. 82 f. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 361 93 die Amerikaner für ein "wrecking program" einträten, müßten sie wegen der Auswirkungen auf die ganze Ökonomie Europas mit erheblichem Widerstand in Europa rechnen231. Damit blieb das Außenministerium seiner bisherigen Linie treu, wonach man bestrebt war, in einem dezentralen, aber als Staat grundsätzlich erhaltenen Deutschland, eine Friedenswirtschaft aufzubauen, unter internationaler Kontrolle, zum Wohl des gesamten alten Kontinents. Die anderen in dem Memorandum aufgeführten. Punkte zeugten von dem interministeriellen Konsens in den anderen Bereichen der Deutschlandplanung: Auflösung und Entwaffnung der deutschen Streitkräfte, der paramilitärischen und polizeilichen Organisationen; Liquidation der NSDAP und ihrer Erscheinungsformen; Aufhebung aller Gesetze mit nationalsozialistischem Inhalt oder sonst aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, des religiösen Bekenntnisses oder der politischen Einstellung diskriminierender Bedeutung. Parteimitglieder sollten von politischen oder zivilen Aktivitäten ausgeschlossen und einer Anzahl von Restriktionen unterworfen werden. Politische Tätigkeiten sollten grundsätzlich verboten werden, Ausnahmen nur von der "Supreme Allied Authority" zugelassen werden. Adolf Hitler, seine Hauptgefährten in der NSDAP, Amtsträger auf Ministerialebene oder andere, die im Besitz wichtiger Posten waren, Verdächtige eines Kriegsverbrechens und andere von den drei Hauptalliierten zu bestimmende Personen sollten in Haft genommen und bis zu einer "späteren Anordnung" ("subsequent disposition") festgehalten werden. Außerdem sollten alle vorhandenen Informationsdienste (Presse, Radio etc.) und alle Kommunikationskanäle unter einer von der "Supreme Allied Authority" formulierten Politik verwaltet werden232. Die Fronten, aber auch eine Fülle an Gemeinsamkeiten, waren somit zwischen Außen- und Finanzministerium abgesteckt. Aber Morgenthau selbst war mit dem Entwurf seiner eigenen Mitarbeiter nicht völlig einverstanden. Ihm war der Plan 231 232 FRUS Quebec 1944, S. 84 f. FRUS Quebec 1944, S. 83 f. noch nicht hart genug. Insbesondere die Ruhr erschien ihm nach dem vorliegenden Plan noch zu sehr intakt zu bleiben. Er zog einen Plan vor, der die vollständige Demontage der Ruhrindustrie und ihre Verteilung unter die Nationen, die Deutschland zum Opfer gefallen waren ("which had been vic- tims of Germany"), vorsah233. b. Erste Sitzung des Kabinetts-Ausschusses, 5. September 1944. Am 5. September 1944 trat erstmalig der Kabinetts- Ausschuß zusammen. Außenminister Hull präsentierte seinen Kollegen Stimson und Morgenthau sowie Harry Hopkins ein von Riddleberger entworfenes Memorandum. Riddleberger machte darin den Versuch, unter Beibehaltung der Gemeinsamkeiten die Entscheidung über Themen mit Divergenzcharakter vorläufig zurückzustellen. Erst müsse man sich ein Bild über die innere Situation in Deutschland schaffen und über die Haltung der Alliierten in dieser Frage, bevor man eine Entscheidung für oder gegen die Teilung treffen könne. Allerdings sollte eine Dezentralisierung gefördert und, wenn Tendenzen hin zu einer spontanen Teilung Deutschlands aufkämen, diese nicht entmutigt werden. Seperatistische Tendenzen waren durchaus erwünscht. Auch hinsichtlich der deutschen Wirtschaft sollte eine endgültige Festlegung zunächst vermieden werden. Die amerikanische Regierung habe kein eigenes Interesse an Reparationen aus Deutschland und somit auch kein Interesse am Aufbau der deutschen Wirtschaft, um laufende Reparationsleistungen zu beziehen. Die Sowjetunion und das Vereinigte Königreich, zusammen mit einer Anzahl kleiner Staaten, könnten jedoch Ansprüche an die deutsche Produktion haben, die sie für Zwecke der Wiederherstellung benötigten. Deshalb sollten die Amerikaner zu dieser Zeit noch keine feste Position zur Reparationsfrage beziehen, sondern erst einmal die Ansichten der unmittelbar interessierten Regierungen abwarten234. 233 234 P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 364 FRUS Quebec 1944, S. 96 Die primären Ziele amerikanischer Wirtschaftspolitik in Deutschland waren jedoch, in Abwendung von bisherigen Denkschriften des State Department, mit eindeutig negativen Vorzeichen versehen: Der Lebensstandard der deutschen Bevölkerung sollte auf dem Existenzminimum gehalten werden, Deutschlands Position als Wirtschaftsmacht in Europa sollte gebrochen und seine Wirtschaftskapazität in einer Weise umgewandelt werden, so daß es abhängig vom Im- und Export sei und nicht durch eigene Vorhaben auf Kriegsproduktion umgestellt werden könne235. Genereller Konsens herrschte über die Entmilitarisierung Deutschlands, Auflösung nationalsozialistischer Gliederungen, Internierung einer großen Zahl SS- und Gestapo-Angehöriger ("Large groups of particulary objectionable elements, especially the SS and the Gestapo, should be arrested and interned"), Verurteilung von Kriegsverbrechern, Entfernung von Parteimitgliedern aus politischer und ziviler Tätigkeit und Unterwerfung unter zahlreiche Einschränkungen, Aufhebung nationalsozialistischer Rechtsvorschriften, umfassende Kontrolle der Kommunikations-, Presseund Propagandaeinrichtungen sowie des Schul- und Erziehungssystems. Daneben hatte das State Department auch eine Forderung aus dem ersten Morgenthau-Plan übernommen, wonach die großen JunkerLiegenschaften, die angeblich die Grundlage für das Bestehen einer "Militär-Kaste" in Deutschland gewesen seien, zerbrochen und der Grundbesitz an die Pächter ("tenants") verteilt werden müsse236. Morgenthau stand dem Kompromißvorschlag des Außenministeriums jedoch sehr skeptisch gegenüber. Zwar waren Hull und Riddleberger deutlich auf ihn zugegangen, doch konnte ihn das noch nicht zufriedenstellen, weil das eindeutige Ziel des Finanzministers, die Agrarisierung Deutschlands, auch durch dieses vermittelnde Dokument noch nicht zum Programmpunkt erhoben wurde. Morgenthau bezog deshalb in der Sitzung noch keine abschließende Stellung zu diesem Entwurf237. 235 236 237 96 FRUS Quebec 1944, S. 97 FRUS Quebec 1944, S. 96 Hull, Memoirs, S. 1608 f. Kriegsminister Stimson wandte sich als einziger gegen die negativen wirtschaftlichen Pläne des State Department. Seine besondere Kritik richtete sich gegen den Vorschlag, der deutschen Bevölkerung lediglich ein Leben auf dem Exi- stenzminimum zu gewähren238. Nach Schluß der Sitzung, aber noch am selben Tag, faßte Stimson seine Einwände in einem Memorandum zusammen, das er an Hull sandte, damit dieser es an den Präsidenten sowie an Morgenthau und Hopkins weiterleite239. Mit allen sonstigen Punkten stehe er in Übereinstimmung, betonte Stimson, nur nicht mit den vorgeschlagenen Wirtschaftsmaßnahmen. Zur Begründung verwies er auf die große Rolle, die das Ruhrgebiet für Deutschland und für Europa spielte, als Rohstoffquelle wie für den An- und Verkauf wichtiger Güter in andere europäische Länder, für deren Entwicklung die Industrie des Ruhrgebiets auch weiterhin eine große Rolle spielen mußte240. Stimson meinte zu den diesbezüglichen Planungen in Außen- und Finanzministerium:241 "I cannot treat as realistic the suggestion that such an area in the present economic condition of the world can be turned into a non-productive 'ghost territory' when it has become the center of one of the most industrialized continents in the world, populated by peoples of energy, vigor and progressiveness."242 Um einen Mißbrauch dieser Produktion durch Deutschland zu verhindern, könne er sich auch ein System der Kontrolle oder Treuhänderschaft oder die Übertragung von Eigentumsrechten an andere Nationen vorstellen, nicht jedoch die Umwandlung eines solchen Geschenks der Natur in einen Müllhaufen. Die ins Auge gefaßte Übertragung des Eigentums an Ostpreußen, Oberschlesien und Elsaß-Lothringen, die Aufer- 238 239 240 241 242 P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 365 Stimson and Bundy, On Active Service in Peace and War, S. 570 ff. Stimson-Memorandum, in: FRUS Quebec 1944, S. 98 ff. Morgenthau Diary (Germany), S. 530 ff. FRUS Quebec 1944, S. 99 97 legung von Wirtschaftskontrollen und die mögliche Teilung Deutschlands in zwei oder mehr Staaten seien ausreichende Vorsichtsmaßnahmen, die es nicht weiter notwendig machten, die ganze Industrieproduktion im Ruhrgebiet zu zerstören. Auch sei er nicht einverstanden, daß es eines der Ziele sein solle, die deutsche Bevölkerung auf einem Existenzminimum festzuhalten. Dies liefe nach seiner Ansicht auf eine Versklavung des ganzen deutschen Volkes hinaus und lasse Spannungen und Verstimmungen entstehen, die jegliche unmittelbare Sicherheitsvorteile weit überträfen und dazu führen würden, die Schuld der Nazis und die Bösartigkeit ihrer Doktrin und Taten zu verdunkeln243. Stimson faßte am Ende seiner Denkschrift seine Folgerungen zusammen in dem Satz: "My basic objection to the proposed methods of treating Germany ... was that in addition to a system of preventive and educative punishment they would add the dangerous weapon of complete economic oppression. Such methods, in my opinion do not prevent war; they tend to breed war."244 Stimson hatte den Eindruck, alle anderen in der Frage der Behandlung Deutschlands gegen sich zu haben, insbesondere auch den Außenminister. McCloy stellte fest, er habe den Kriegsminister noch nie so niedergeschlagen erlebt wie nach der Sitzung am 5. September245. McCloy hingegen versicherte Morgenthau, abgesehen vom Zusperren der Ruhr, das auch er für einen Fehler halte, gehe er in den anderen Punkten mit dem Finanzminister völlig konform246. c. Zweite Sitzung des Kabinetts-Ausschusses, 6. September 1944. Zweite Fassung des Morgenthau-Plans. Als sich der Kabinetts-Ausschuß am 6. September zu seiner nächsten Sitzung 243 244 245 FRUS Quebec 1944, S. 99 f. FRUS Quebec 1944, S. 100 Morgenthau Diary (Germany), S. 532 f.; Stimson selbst meinte dazu: "I found myself a minority of one and I labored vigorously but entirely ineffectively against my colleages. In all the four years that I have been here I have not had such a difficult and unpleasent meeting although of course there were no personalities", Stimson and Bundy, On Active Service in Peace and War, S. 570 246 Morgenthau Diary (Germany), S. 583 98 im Weißen Haus zusammenfand, Ubergab Hull dem Präsidenten das Memorandum des Außenministeriums, das er tags zuvor bereits seinen Kollegen im Ausschuß unterbreitet hatte. Er informierte Roosevelt, daß die Ausschußmitglieder eine Einigung über dieses Memorandum noch nicht erzielt hätten, und es deshalb als Diskussionsgrundlage dienen möge247. Morgenthau legte einen überarbeiteten und verschärften Entwurf des Finanzministeriums vor248. Seine Mitarbeiter hatten am Ende des Schriftstücks drei Punkte eingebaut, die Roosevelt gegenüber Morgenthau nach der Durchsicht des ersten Entwurfs aus psychologischen und symbolischen Gründen angemahnt hatte: Verbot des Gebrauchs von Abzeichen und Uniformen für Deutsche, Verbot militärischer Paraden und Beschlagnahme aller Luftfahrzeuge militärischer und nicht-militärischer Art249. Alle anderen Änderungen beruhten auf den Gedanken Morgent- haus. Neben der Waffenindustrie wollte er nun auch alle anderen "Schlüsselindustrien" ("key industries"), die die Basis der militärischen Stärke bildeten, entfernen oder zerstören lassen250. Das Ruhrgebiet (einschließlich Rheinland, Kielkanal und alles Gebiet nördlich des Kanals) sollte nicht nur der gegenwärtig existierenden Industrie beraubt, sondern so geschwächt und kontrolliert werden, daß es in absehbarer Zeit nicht wieder zu einem Industriegebiet werden könne. Innerhalb eines Zeitraums von nicht mehr als sechs Monaten nach Ende der Feindseligkeiten sollten alle Industrieanlagen und Gerätschaften, die nicht schon durch militärische Aktionen zerschlagen worden waren, vollständig abgebaut und aus diesem Gebiet entfernt oder komplett zerstört werden. Aus den Minen sollten alle Geräte entfernt und die Minen selbst völlig in Trümmer gelegt werden ("... and the mines shall be throughly wrecked."). Zur Durchführung dieses Planes schlug Morgenthau drei Phasen 247 248 249 250 Hull, Memoirs, S. 1609 Text dieses zweiten Entwurfs des Morgenthau-Plans in: FRUS Quebec 1944, S. 101 ff.; Morgenthau Diary (Germany), S. 548 ff. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 364, 366 FRUS Quebec 1944, S. 101 99 vor: In der ersten Phase sollten die militärischen Einheiten unmittelbar nach ihrem Eintreffen in dieser Gegend alle Anlagen und Gerätschaften zerstören, die nicht weggeschafft werden könnten. In der zweiten Phase sollten Mitglieder der Vereinten Nationen Anlagen und Gerätschaften als Restitutionen und Reparationen entfernen. Was nicht innerhalb von sechs Monaten entfernt worden sei, werde dann in der dritten Phase vollkommen zerstört oder zu Schrott gemacht (”... reduced to scrap ...") und den Vereinten Nationen zur Verfügung gestellt werden. Allen Leuten in dieser Gegend solle beigebracht werden, daß dieses Gebiet niemals wieder zu einem Industriegebiet werden dürfe. Deshalb sollten alle diejenigen mit besonderen Fähigkeiten oder einer technischen Ausbildung ermuntert werden, auf Dauer fortzuziehen und so weit wie möglich zerstreut werden. Dieses Gebiet solle dann, wie es schon der erste Entwurf vorgesehen hatte, zu einer Internationalen Zone werden, regiert von einer von den Vereinten Nationen eingesetzten Sicherheitsorganisation251. Besonderes Augenmerk richtete Morgenthau in seinem zweiten Entwurf auf die Frage der Bestrafung von Kriegsverbrechern. Zu diesem Zweck fügte er seinem Memorandum noch einen gesonderten Anhang bei, der sich ausschließlich mit diesem Thema auseinandersetzte252. In diesem mit "Punishment of Certain War Crimes and Treatment of Special Groups" betitelten Zusatz befaßte er sich zunächst mit den "Erzkriminellen" ("Archcriminals"). Morgenthau sprach sich aus für das Aufstellen einer Liste von "Erzkriminellen", deren offenkundige Schuld von den Vereinten Nationen anerkannt worden sei. Diese Liste sei dann den militärischen Autoritäten zuzusenden, verbunden mit den folgenden Instruktionen: "(a) They (die "Erzkriminellen", d. Verf.) shall be apprehended as soon as possible and identified as soon as possible after apprehension, the identifi- 251 252 FRUS Quebec 1944, S. 102 FRUS Quebec 1944, S. 105 ff./Morgenthau Diary (Germany), S. 551 ff. cation to be approved by an officer of the General rank. (b) When such identification has been made the person identified shall be put to death forthwith by firing squads made up of soldiers of the United Nations. "253 Neben diesen summarischen Exekutionen ohne Gerichtsverhandlung sah das Papier für andere "Kriegsverbrecher" die Aburteilung durch Militärkommissionen vor, die von der alliierten Militärregierung einzusetzen seien. Gegenstand der Verurteilung sollten Verbrechen sein, die gegen die "Zivilisation” begangen worden seien ("... certain crimes which have been committed against civilization."). So schnell wie praktisch möglich sollten Repräsentanten der befreiten Länder Europas an diesen Kommissionen beteiligt werden. Die Art der "Verbrechen", wie Morgenthau sie verstand, wurde von diesem jedoch nicht genauer spezifiziert, wie schon die Bezugnahme auf die "Zivilisation" andeutete. Drei Situationen führte er an, bei deren Vorliegen eine Verurteilung zu erfolgen habe: - Wenn die Ursache des Todes eines Menschen auf einer gegen das Kriegsrecht verstoßenden Handlung beruhe, - wenn das Opfer als Geisel in Vergeltung ("reprisal") für die Taten anderer Personen getötet worden sei, - wenn das Opfer den Tod gefunden habe wegen seiner Nationalität, Rasse, Hautfarbe, seines Religionsbekenntnisses oder einer politischen Verurteilung254. Diese Aufzählung erhob jedoch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Morgenthau erwähnte vielmehr noch, daß es auch noch andere "Verbrechen" gebe, "as such military commissions may be ordered to try from time to time."255. 253 254 255 FRUS Quebec 1944, S. 105 f. FRUS Quebec 1944, S. 106 FRUS Quebec 1944, S. 106 Damit hatte Morgenthau der alliierten "Verbrechens-Rechtschöpfung" Tür und Tor geöffnet. Schon der zweite und dritte Punkt seiner kurzen Aufzählung möglicher Kriegsverbrechen war äußerst fragwürdig, waren Repressalien doch ein legitimes Mittel in Kriegszeiten (bei Vorliegen entsprechender Voraussetzungen)256 und unterlagen Tötungen von Deutschen aus den im einzelnen aufgeführten Beweggründen nicht der Gerichtsbarkeit des Kriegsgegners. Jeder Verurteilte sollte nach Morgenthaus Vorschlag mit dem Tode bestraft werden, und nur in Ausnahmefällen, beim Vorliegen mildernder Umstände, könne auch eine andere Bestrafung zugemessen werden, einschließlich der Deportation in eine Strafkolonie außerhalb Deutschlands. Das Urteil müsse unverzüglich vollstreckt werden257. Alle Angehörigen bestimmter Gruppen sollten nach Morgenthaus Plan in Haft genommen werden bis zu einer Entscheidung über den Umfang ihrer Schuld. Zu diesen Gruppen gehörten die SS, die Gestapo, alle hohen Amtsträger der Polizei, SA und anderer Sicherheitsorganisationen, alle hohen Amtsträger der Regierung und der Partei sowie alle führenden Personen des öffentlichen Lebens mit einer engen Verbindung zum Nationalsozialismus. Abgesehen von der Frage nach der Schuld für besondere Verbrechen reiche schon die bloße Mitgliedschaft in der SS, der Gestapo und ähnlichen Gruppen dafür aus, diese Personen in ZwangsarbeitsBataillone zu stecken, um außerhalb Deutschlands zu Wiederaufbauzwecken zu dienen258. Neu im Programm Morgenthaus war auch ein rigoroses Verbot der Emigration aus Deutschland. Dieses Verbot sollte durch eine entsprechende Proklamation bekannt gemacht werden, Ausnahmen von einer Erlaubnis der alliierten Militärregierung abhängen. Ein Verstoß gegen die Proklamation sollte hohe Strafen nach sich ziehen, einschließlich der Todesstrafe259. 256 Vgl. zu Repressalien: K.J. Partsch, Repressalie, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, S. 103 ff. 257 258 259 FRUS Quebec 1944, S. 106 FRUS Quebec 1944, S. 106 f. FRUS Quebec 1944, S. 107 f. 102 Durch diese Ergänzungen seines ursprünglichen Planes erweiterte Morgenthau die Anzahl der unter den drei Ministern streitigen Themen von zwei auf drei: Neben der Teilungsfrage, die zwischen Finanz- und Außenministerium nicht abgestimmt werden konnte, und der Wirtschaftspolitik, in der sich Finanz- und Kriegsministerium in den Haaren lagen, wurde nun auch die Frage nach der Behandlung von sogenannten "Kriegsverbrechern", wie der gesamte Komplex der "Entnazifizierung"260, aktuell. In der Sitzung vom 6. September kam es allerdings noch zu keiner Erörterung dieses Themas. Vermutlich waren Außen- und Kriegsministerium derart überrascht von dem plötzlichen Vorpreschen Morgenthaus auf diesem Gebiet, daß es keines von beiden auf eine unvorbereitete Außeinandersetzung ankommen lassen wollte. Auch von Roosevelt ist keine Reaktion auf die neuen Vorschläge Morgenthaus, soweit sie die Kriegsverbrecher- und Entnazifizierungsfrage betrafen, überliefert. Stimson hatte den Eindruck, der Präsident richte die meisten seiner Bemerkungen an seine, Stimsons, Adresse. Roosevelt kam auf seinen Vorschlag zurück, daß Deutschland glücklich und zufrieden von Suppe aus Suppenküchen leben könne. Dennoch schien er Morgenthaus Überlegungen zur Zerstörung der Ruhrindustrie nicht vorbehaltlos gewogen zu sein. Seine Bedenken entsprangen vor allem der Überlegung, daß die Briten sich nach dem Krieg in einer schwierigen Lage befinden würden und die Produkte der Ruhr dann die britische Stahlindustrie mit Rohmaterial versehen könnten261. Entscheidungen wurden noch nicht getroffen auf dieser Sitzung des Kabinetts- Ausschusses mit dem Präsidenten. d. Dritte Sitzung des Kabinetts-Ausschusses, 9. September 1944. sympathisiert mit Morgenthaus Vorschlägen. Am 9. September trat der Kabinetts-Ausschuß zum dritten Mal innerhalb weniger Tage zusammen. Morgenthau und Stimson waren erneut mit Denkschriften versehen, mit deren Hilfe jeder der beiden den Präsidenten in seinem Sinne beeinflussen Roosevelt 260 Zur Entstehung des Begriffes "Entnazifizierung" vgl. L. Niethammer, Entnazifizierung in Bayern, S. 12. 261 Stimson and Bundy, On Active Service in Peace and War, S. 573 f. 103 wollte. Morgenthaus Ziel war es, die Bedenken des Präsidenten auf der letzten Sitzung zu zerstreuen. Er bestritt energisch, daß das Ruhrgebiet, und mithin Deutschland, für die wirtschaftliche Entwicklung Europas von so eminenter Bedeutung sei, wie Stimson behauptet hatte. Schon die neu gewählte Überschrift der Denkschrift des Finanzministeriums zeigte, daß Morgenthau bestimmte Akzente betonen wollte. Hatte es dort bisher immer wertneutral von der (beabsichtigten) Behandlung Deutschlands geheißen, so war in dem neu vorgeschlagenen Entwurf zu lesen, es handele sich um ein "Program to Prevent Germany From Starting a World War III"262. Das Angstbild vom Bedroher des Weltfriedens, der allein in den Deutschen, ihrem Wohlstand und ihrer industriellen und wirtschaftlichen Potenz zu sehen sei, wurde dadurch von Morgenthau erneut an die Wand gemalt. Für Morgenthau, aber auch für die große Zahl der anderen Leiter und Mitarbeiter in den Planungsstäben Washingtons, lag die Gefahr im Charakter und Wesen der Deutschen, nicht im nationalsozialistischen Regime begründet. In einer Zusammenfassung der Denkschrift des Finanzministeriums vom 9. September, die einen Tag später erstellt wurde, hieß es diesbezüglich, das Nazi-Regime sei im wesentlichen der Höhepunkt des unveränderlichen deutschen Aggressionstriebes ("The Naziregime is essentially the culmination of the un- changing German drive toward aggression.")263. Die Analyse führte zu dem Ergebnis, daß es sich bei dem deutschen Volk und der deutschen Gesellschaft um eine Inkarnation des Bösen schlechthin handeln mußte, unfähig zu einer Umkehr aus eigenem Willen und Rückkehr in eine (imaginäre) Völkergemeinschaft. Die Sicherheit in der Welt machte aufgrund einer derartigen Denkweise einschneidende und rigorose Maßnahmen offensichtlich zwingend notwendig. Das Finanzministerium vertrat die Auffassung: "The Nazi regime is not an excrescence on an otherwise healthy society but an 262 263 104 Text des dritten Entwurfs des Morgenthau-Planes in: FRUS Quebec 1944, S. 128 ff.. Zur Entstehung dieses Entwurfes im Finanzministerium vgl. Morgenthau Diary (Germany), S. 591 ff.. Morgenthau Diary (Germany), S. 599 organic growth out of the German body politic. ... What the Nazi regime has done has been to systematically debauch the passive German nation on an unprecedented scale and shape it into an organized and dehumanized military machine integrated by all the forces of modern technique and science." Eine Auflösung der NSDAP werde deshalb allein die Zerstörung des militärischen Geistes nicht sicherstellen, der dem deutschen Volk Uber Generationen nahegebracht worden sei und im letzten Jahrzehnt einen überwältigenden Auftrieb ("overwhelming impetus") erfahren habe. Die Ausmerzung des militärischen Geistes werde ein mühsamer Prozeß sein, "... and for a long time to come it would be gambling with the very destiny of civilization to rely on an unproven German capacity for self-regeneration in the face of its proven capacity for creating new weapons of destruction to be used in wars of aggression."264. Auf der Grundlage dieser Mixtur aus historischer Dichtung und Wahrheit folgerte der Finanzminister, im Interesse der "Weltsicherheit" ("world security") seien außer der Entwaffnung und Schwächung Deutschlands als Militärmacht noch zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen: Reduzierung der deutschen Industriekapazitäten, so daß Deutschland nicht länger eine wirtschaftliche, militärische und politische Macht darstelle, und gleichzeitig Stärkung der Nachbarn Deutschlands in politischer und ökonomischer Hinsicht265. Aber war das nicht ein Widerspruch? Konnte es eine prosperierende Wirtschaft in Europa geben, ohne daß Deutschland als Im- und Exportgroßmacht daran beteiligt war? Konnte man unter Umkehrung der Vorzeichen eine Zweiklassen-Gesell- schaft in Europa aufbauen, in der Deutschland mit allen seinen Möglichkeiten und Kenntnissen als eine der bislang führenden Industrienationen auf den Agrarsektor heruntergeschraubt werden sollte und die Bevölkerung auf dem Exi 64 Morgenthau Diary (Germany) , S. 599 265 2 Morgenthau Diary (Germany), S. 599 f. 105 stenzminimum zu leben hatte, während zum Teil wirtschaftlich zurückgebliebene und unterentwickelte Nachbarstaaten plötzlich zu Industrienationen würden? Morgenthau glaubte an diese Quadratur des Kreises. Entgegen allen wirtschaftspolitischen Erkenntnissen behauptete Morgenthau in der Sitzung am 9. September, es sei ein Trugschluß, daß Europa ein starkes und industrialisiertes Deutschland brauche ("It is a fallacy that Europe needs a strong industrial Ger- many.")266. Die Annahme, Deutschland sei eine unentbehrliche Versorgungsquelle mit Industriegütern für den Rest Europas, bezeichnete er als nicht stichhaltig. In der Nachkriegsphase könne die ausgedehnte industrielle Leistungsfähigkeit der Vereinten Nationen, allen voran natürlich der Vereinigten Staaten, leicht die Wiederaufbauund Industriebedürfnisse versorgen, auch ohne deutsche Hilfe. Europa sei auch nicht abhängig von der Ruhrkohle. Vielmehr werde den Briten ein lästiger Konkurrent auf dem Weltmarkt genommen, so daß sie nun auch die vorher von Deutschland versorgte französische und belgische Stahlindustrie beliefern könnten267. Gedanklich konsequent folgerte Morgenthau weiter, daß die Sieger auch keinerlei Reparationen verlangen dürften, da Reparationen ein mächtiges Deutschland bedeuteten ("Reparations mean a powerful Germany"). Falls man von Deutschland laufende Reparationen in Form von Geld oder Sachleistungen erwarte, setze das ein sofortiges Wiederaufbauprogramm zugunsten der deutschen Volkswirtschaft voraus. Nach Einstellung der Reparationslieferungen werde Deutschland dann über eine leistungsfähigere Wirtschaft verfügen als in den dreißiger Jahren268. Stattdessen sollte Deutschland "Restitutionen" leisten, worunter der amerikanische. Finanzminister Gebietsabtretungen, Beschlagnahme deutschen Auslandsvermögens, Aufstellung eines deutschen Zwangsarbeiterheeres, Transfers ganzer Fabrikanlagen, Maschinen und Apparate, technischer Ausrüstungen, deutscher 266 267 268 106 FRUS Quebec 1944, S. 133 FRUS Quebec 1944, S. 133 ff.; vgl. auch Morgenthau Diary (Germany), S. 600 ff. FRUS Quebec 1944, S. 131 Rohstoffvorräte und Verkehrsmittel (u.a. Schiffe und Eisenbahnen) verstand269. Diese Ausführungen waren bei den wirtschafts-politischen Diskussionen des Sommers 1944 der Höhepunkt einer negativen Entwicklung weg von der Vernunft und hin zu irrationalen, aber politisch opportun erscheinenden emotionsgeladenen Überlegungen. Otto Nübel hat das so beschrieben: "(Die wirtschafts- und reparationspolitische Diskussion) hielt sich im Sommer 1944 nicht mehr an die Grenzen wirtschaftstheoretischer und wirtschaftspolitischer Zusammenhänge. Ihnen trug die Willensbildung von dieser Zeit an kaum noch Rechnung. Man orientierte sich in zunehmendem Grade an politischen Erwägungen .... Das Maß aller Dinge bildeten immer seltener die sinnvolle Einbettung des Reparationsvorganges in das weltwirtschaftliche System und ein möglichst umfassender Nutzen zur Wiedergutmachung von Kriegsschäden. Reparationsplanungen wurden immer deutlicher Mittel zu politischen Zwecken."270 Der soeben beschriebene wirtschaftspolitische Teil des Morgenthau-Planes war für diese Entwicklung das Paradebeispiel. Blindlings hatte man im Finanzministerium ein Wirtschaftsprogramm für Deutschland (und mithin Europa) zusammengeflickt, das jeglichen Realitätsbezuges entbehrte und geeignet war, ganz Europa am Ende des Krieges in eine neue Krise zu treiben. Auch war es eine offensichtliche Abkehr von der Vorstellung einer multilateralen Weltwirtschaftsordnung, wie Roosevelt und Churchill sie als Nachkriegsziel noch in der Atlantik-Charta proklamiert hatten271. Den wirtschaftspolitischen Teil des Morgenthau-Planes hat Nübel zutreffend charakterisiert: FRUS Quebec 1944, S. 132 270 O. Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber Deutschland 1941-1945, S. 84 271 tun diesbezüglichen Inhalt der Atlantik-Charta vgl. oben 1. Teil, I.2.a.. 107 "Es war dies alles ein Durcheinander von Wahrheiten, Halbwahrheiten und unzutreffenden Behauptungen. Die wirtschaftswissenschaftliche Fragwürdigkeit der aufgestellten Kausalketten ließe sich überdies rasch nachweisen. Aber auf sie kam es nicht einmal an. Dem Finanzministerium lag ausschließlich daran, sein Vernichtungsprogramm durchzusetzen, und dafür genügte seine dem ersten Anschein nach zutreffende Argumentation. Die vereinfachenden Thesen des Morgenthauplanes boten rasche Lösungen für ein Problem, dem man sonst ratlos ausgesetzt blieb, wenn man den multilateralen Planungen der ersten Kriegsjahre nicht folgen wollte. Überdies kam Morgenthau den seit langem anwachsenden amerikanischen Neigungen zu härteren Friedensbedingungen für Deutschland entgegen, und diese Momente besaßen entschieden mehr Gewicht als die Frage nach der Stichhaltigkeit seiner Gedankengänge."272 Kriegsminister Stimson ging auf der zweiten Sitzung mit dem Präsidenten (9. September) erneut deutlich auf Distanz zu Morgenthaus wirtschaftspolitischen Ansichten273. Er verwies neben der Wichtigkeit Deutschlands für die Weltwirtschaft auch noch auf eine mögliche psychologische Auswirkung, wenn die Zerstörungsvorschläge Morgenthaus durchgeführt würden: Die unnatürliche Zerschlagung dieser Industrie werde sicherlich in der Welt Sympathie für die Deutschen hervorrufen, und die Deutschen würden dann in Amerika und auch sonstwo Freunde finden, wohingegen zur Zeit die meisten Völker der Welt völlige Abneigung gegen die Deutschen empfänden274. Den Teilungsplänen Morgenthaus war Stimson zugeneigt. Eine endgültige Entscheidung hatte er allerdings noch nicht gefaßt und empfahl einen Gedankenaustausch zu dieser Frage mit den Russen und Engländern. Daneben befürwortete er auch territoriale "Amputationen": Wenn die Russen oder Polen Ostpreußen und einige Teile Schlesiens übernähmen, sollten die Amerikaner 272 273 274 108 0. Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber Deutschland 1941-1945, S. 84 Text des Stimson-Memorandums in: FRUS Quebec 1944, S. 123 ff.; Morgenthau Diary (Germany), S. 612 ff. FRUS Quebec 1944, S. 124 keine Einwände erheben, aber auch keinen Anteil nehmen an der Verwaltung dieser Gebiete; Frankreich erhalte Elsaß- Lothringen und solle statt weiterer deutscher Gebiete besonders von der Internationalisierung von Ruhr und Saar und den damit einhergehenden Vorteilen profitieren275. Auf dieser Sitzung wurde jedoch deutlich, daß Morgenthau und Stimson noch bei einem zweiten wichtigen Punkt unterschiedlicher Auffassung waren. Mit summarischen Erschießungen ohne vorherige gerichtliche Verurteilung war der Kriegsminister nicht einverstanden. Die Methode der Behandlung von "Erzkriminellen" und anderen "Verbrechern" verlange ein sorgfältiges Nachdenken und ein gut definiertes Verfahren. Dieses Verfahren müsse wenigstens die rudimentären Aspekte der "Bill of Rights" enthalten, nämlich dem Angeklagten den gegen ihn erhobenen Vorwurf bekanntzumachen, Anspruch auf rechtliches Gehör und der Aufruf von Zeugen der Verteidigung; letzteres allerdings nur innerhalb "vernünftiger Grenzen" ("reasonable limits"). Dabei standen jedoch keine Fragen der Gerechtigkeit und der Rechtmäßigkeit eines Gerichtsverfahrens für Stimson im Vordergrund, sondern die Nutzung eines solchen Prozesses und der damit anfallenden Materialien für Zwecke der historischen Stoffsammlung und deren politische Verwendung: "I do not mean to favor the institution of state trials or to introduce any cumbersome machinery but the very punishment of these men in a dignified manner consistent with the advance of civilization, will have all the greater effect upon posterity. Furthermore, it will afford the most effective way of making a record of the Nazi system of terrorism and of the effort of all Allies to terminate the system and prevent its recurrence."276 Er glaube, daß zumindest die führenden Amtsträger der Nazis ("chief Nazi officials") vor ein internationales Tribunal gestellt werden müßten, an dem auch die Amerikaner teilneh 275 FRUS Quebec 1944, S. 125 f. 276 FRUS Quebec 1944, S. 125 109 men sollten. Sie sollten angeklagt werden wegen strafbarer Handlungen gegen das Kriegsrecht, indem sie zügellos und unnotwendig Grausamkeiten in Verbindung mit der Fortsetzung des Krieges begangen hätten277. Bei den anderen von Morgenthau vorgebrachten möglichen "Kriegsverbrechen" hatte Stimson hingegen große Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer solchen Anklage, insbesondere auch für die Aburteilung von Geschehnissen innerhalb Deutschlands und gegenüber Deutschen. Stimson führte dazu aus: "I have great difficulty in finding any means whereby military commissions may try and convict those responsible for excesses committed within Germany both before and during' the war which have no relation to the conduct of the war. I would be prepared to construe broadly what constituted a violation of the Rules of War but there is a certain field in which I fear that external courts cannot move. Such courts would be without jurisdiction in precisely the same way that any foreign court would be without jurisdiction to try those who were guilty of, or condoned, lynching in our own country." Roosevelt äußerte sich während der Sitzung nicht zu diesem neuen Disputgegenstand. Seine Begeisterung für Morgenthaus wirtschaftspolitische Vorstellungen war derart groß, daß dieser Aspekt der Deutschlandplanung sein ganzes Denken beherrschte. Als er beim Durchlesen des Memorandums zu der Stelle kam, an der Morgenthau es als einen Trugschluß be- zeichnete, daß Europa ein starkes industrialisiertes Deutschland benötige, merkte der amerikanische Präsident laut an: "This is the first time I have seen anybody say that. ... All the economists disagree but I agree with that." Und zu den damit verbundenen wirtschaftlichen Auswirkungen auf das hochindustrialisierte Deutschland meinte Roosevelt: 277 278 110 FRUS Quebec 1944, S. 125 FRUS Quebec 1944, S. 125 "As far as I am concerned I'd put Germany back as an agricultural country. "279 Das konnte nur bedeuten, daß er sich mit Morgenthaus wirtschaftspolitischen Darlegungen identifizierte und sie zu unterstützen bereit war. Der amerikanische Finanzminister nahm es mit Befriedigung zur Kenntnis. Auch Außenminister Cordell Hull ließ seinen Kollegen im Finanzministerium wissen, das MorgenthauMemorandum sei eine ausführliche Darstellung all dessen, für was sie beide stünden280. Auch auf Roosevelts Einstellung zur Behandlung der "Kriegsverbrecher "-Frage verfehlte das Finanzministerium seine Wirkung nicht. Wie er noch am 9. September in einem Gespräch mit Robert Murphy erklärte, hoffe er, man werde mit "Kriegsverbrechern" "summarisch" verfahren ("War criminals, the President hoped, might be dealt with summarily."). Er sei gegen lange und sich hinziehende Verfahren281. Trotz der offensichtlichen Sympathien Roosevelts für Morgenthaus Gedankengänge, kam es jedoch auch auf dieser Sitzung zu keinem greifbaren offiziellen Ergebnis. Es war die letzte Sitzung des Ausschusses vor der Abreise Roosevelts nach Quebec, wo er sich vom 11. bis 16. September mit Premierminister Churchill traf. IV. 3. Die Konferenz von Quebec - Roosevelt und Morgenthau setzen sich durch In Quebec wurde der amerikanische Präsident zunächst von keinem seiner Minister begleitet. Er hatte vorsorglich einen Entwurf des Morgenthau-Planes in der zuletzt vorgetragenen Fassung mitgenommen. Doch schon kurz nach Beginn der anglo-amerikanischen Gespräche ließ er seinen Freund und Finanzminister Morgenthau nachkommen. 279 Morgenthau Diary (Germany), s. 609 280 Morgenthau Diary (Germany), S. 609 281 FRUS Quebec 1944, S. 145 111 Der wirtschaftspolitische Teil. Morgenthau sollte auf Wunsch Roosevelts dem britischen Premier und dem ihn begleitenden Außenminister Eden den von seinem Ministerium aufgestellten Deutschland-Plan vorstellen. Als Morgenthau am Abend des 13. September seine wirtschaftspolitischen Ansichten Churchill unterbreitete, reagierte der mit heftiger Ablehnung. Morgenthau mußte später eingestehen, niemals in seinem Leben einer größeren Beschimpfung ausgesetzt gewesen zu sein. Während Roosevelt sich nicht in die Auseinandersetzung einmischte und seinen Günstling Morgenthau im Regen stehen ließ, warf Churchill dem amerikanischen Finanzminister vor, er werde mit seinem Plan England an eine deutsche Leiche ketten282. a. Am darauffolgenden Morgen hatte Morgenthau ein Gespräch mit dem persönlichen Berater Churchills in wissenschaftlichen Angelegenheiten, Lord Cherwell. Nachdem er den Plan kurz überflogen hatte, meinte Cherwell, er könne gar nicht verstehen warum Churchill soviel Widerstand geleistet habe. Er führte es letztlich darauf zurück, daß Churchill nicht ganz verstanden habe, was Morgenthau eigentlich wolle. Morgenthau machte daraufhin seine Zielsetzung noch einmal deutlich, indem er behauptete, man habe die Wahl: "Do you want a strong Germany and a weak England or a weak Germany and a strong England?"283. Cherwell, der solchen Ideen gegenüber aufgeschlossen war, gelang es dann doch noch, Churchill für eine (zumindest modifizierte) Fassung der amerikanischen Pläne zu gewinnen. Ob dabei das von Morgenthau ins Feld geführte Argument den britischen Premierminister überzeugte, daß eine Zerschlagung der deutschen Industrie den Briten einen lästigen Konkurrenten auf dem Weltmarkt vom Leib halten werde, ist mit recht angezweifelt worden. Churchill handelte vielmehr aus einer Zwangslage heraus, in seinen Memoiren berichtet er, daß Roosevelt und Morgenthau äußerst hartnäckig auf seine Unterschrift gedrängt hätten, er selbst aber von den Amerikanern auch viel zu verlangen ge 282 283 112 J.L. Chase, The Development of the Morgenthau Plan through the Quebec Conference, Journal of Politics 1954, S. 355 f. FRUS Quebec 1944, S. 330 habt habe284. Somit wurde die Zustimmung zu den Morgenthau'schen wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu einem Kompensationsgeschäft: Die Zustimmung erfolgte als Gegenleistung für die Gewährung eines amerikanischen Dollarkredits285. Churchill beabsichtigte aber nicht, dem amerikanischen Deutschlandplan in seiner ursprünglichen Form nachzugeben. Er beauftragte Lord Cherwell, zusammen mit Morgenthau ein britischamerikanisches Memorandum zu entwerfen. Diese maßgeblich von Cherwell geprägte Denkschrift wich in entscheidenden Punkten von Morgenthaus bisher vorgetragenen Ideen ab: Zwar wollte auch Cherwell die deutsche Rüstungsindustrie abbauen, doch sollten sich Produktionsbeschränkungen nur auf die Erzeugung von Stahl und chemische sowie elektrotechnische Artikel beziehen. Die Ruhr und gegebenenfalls noch andere in Betracht kommende Gebiete würden dann unter eine internationale Autorität gestellt werden, der die Entscheidung zufalle, ob, wann und bis zu welchem Umfang die Industrie wieder aufgebaut werden sollte. Der deutsche Lebensstandard werde den im nationalsozialistischen Deutschland übersteigen286. Diese Aussagen waren alles andere als ein blindes Folgen auf dem von Morgenthau vorgezeichneten Weg. Das bemerkte auch Morgenthau recht schnell. Für ihn ging die Denkschrift zu weit in die falsche Richtung ("The Secretary felt that the memorandum went too far in the wrong direction"), ja daß sie zwei Schritte rückwärts bedeute. Er faßte den Entschluß, Churchill erneut in seinem Sinn zu bearbeiten287. Den Gegenentwurf, den Morgenthau daraufhin Churchill unterbreitete, sprach sich für eine völlige Freistellung von Demontagen an der Ruhr und im Saargebiet aus. Allen Alliierten, auch den Sowjets, sollte erlaubt werden, nach eigenem Gutdünken Industriebetriebe zu entfernen. Dies sollte aber 284 W. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, VI/1, S. 192 285 G. Moltmann, Der Morgenthau-Plan als historisches Problem, Wehrwiss. Rundschau /(V), 1955, S. 25 286 FRUS Quebec 1944, S. 343 f. 287 FRUS Quebec 1944, S. 3 59 113 nur der Auftakt für ein viel größeres Programm sein. Mor- genthau schrieb in diesem Sinn weiter: "This programme for eliminating the warmaking industries in the Ruhr and in the Saar is part of a programme looking forward to diverting Germany into largely an agricultural country."288. Churchill wies nicht das, was nunmehr selbst die dann auch hieß es: das Papier mit der Begründung zurück, das sei er gewollt habe289. Er nahm sich der Angelegenheit an und diktierte kurzerhand eine eigene Fassung, von Roosevelt und ihm unterzeichnet wurde. Dort "In einer Konferenz zwischen dem Präsidenten und dem Premierminister, über den besten Weg, eine Wiederaufrüstung Deutschlands zu verhindern, war man sich darüber einig, daß ein wesentlicher Aspekt der künftige Zustand des Ruhr- und des Saargebietes sei. Die Leichtigkeit, mit der die metallurgischen, chemischen und elektrischen Industrien Deutschlands von Friedens- zur Kriegsproduktion umgestellt, werden können, wurde uns bereits durch bittere Erfahrung eingeprägt. Auch darf man nicht vergessen, daß die Deutschen einen großen Teil der Industrie Rußlands und anderer alliierter Staaten zerstört haben. Es ist nur gerecht, daß diese Länder, die Schaden erlitten haben, berechtigt sein sollen, die Maschinerie zu entfernen, die sie brauchen, um ihre Verluste wiedergutzumachen. Die schon erwähnten Industrien im Ruhr- und Saargebiet würden also notwendigerweise außer Dienst gestellt und geschlossen werden müssen. Man war der Meinung, daß diese beiden Gebiete einer Körperschaft im Rahmen der Weltorganisation unterstellt werden sollten, die die Demontage dieser Industrien überwachen und gleichzeitig aufpassen würde, daß sie nicht wieder unter irgendeinem Vorwand aufgebaut werden. Dieses Programm der Beseitigung Kriegsindustrien im Ruhr- und im Saar- 288 289 114 P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 368 FRUS Quebec 1944, S. 361 der gebiet faßt die Verwandlung Deutschlands in ein Land ins Auge, das in erster Linie einen landwirtschaftlichen und ländlichen Charakter hat. Der Premierminister und der Präsident haben diesem Programm zugestimmt" Danach folgten - am 15. September 1944 - die Unterschriften der beiden Regierungschefs290 Mit diesen Formulierungen fand Churchill einen Kompromiß zwischen seinen und Roosevelts bzw. Morgenthaus wirtschaftspolitischen Ansichten. Die geplanten Deindustrialisierungsmaßnahmen wurden zwar räumlich (nur Ruhr- und Saargebiet) und sachlich (nur metallurgische, chemische und elektrotechnische Industrie) begrenzt, ihnen stand als quasi übergeordnetes und mit allen Mitteln zu erstrebendes Ziel jedoch die Agrarisierung des ganzen Deutschland gegenüber, wie es der vorletzte Satz bestimmte. In seiner Widersprüchlichkeit und unterschiedlichen Interpretierbarkeit waren beide Argumentationsweisen denkbar: Entweder man berief sich auf die ersten und mehr oder weniger konkreten Handlungsauftrag beinhaltenden Sätze, wie es wohl im Interesse der Briten lag, oder man verlangte mit Blick auf den letzten Satz eine schrankenlose Deindustrialisierung Deutschlands, was Roosevelts und Morgenthaus Vorstellungen entsprach. Jedenfalls war es ein Dokument diplomatischer Finesse, das die Meinungsdifferenz kaschierte und jeder der beiden Parteien die Möglichkeit einer Berufung auf dieses Papier mit dem Ziel, den eigenen Standpunkt zu stärken, offenhielt. Letztendlich aber war dieses Papier zweifellos ein Erfolg Morgenthaus. Gerade die weite Auslegungsfähigkeit der Forderung nach Agrarisierung Deutschlands vermied einen ins einzelne gehenden wirtschaftspolitischen Deutschlandplan, erlaubte aber gleichzeitig, zumindest in der eigenen Besatzungszone, die Umsetzung der bisherigen Planung in praktische Handlungen 290 Text in: FRUS Quebec 1944, S. 466 f.; P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 368 f.; dt. Übersetzung: H.G. Gelber, VfZG 1965, S. 389 f. 115 der Industriezerschlagung. Daß der britische Außenminister Eden seinen Regierungschef wegen dieser Denkschrift mit kritischen Äußerungen bedachte291 und Morgenthau der festen Überzeugung war, einen großen Sieg davongetragen zu haben292, unterstreicht eine solche Beurteilung der Ereignisse in Quebec. Der "Kriegsverbrecher"-Beschluß. Morgenthau war in Quebec auch noch auf einem zweiten Feld der Besatzungsplanung erfolgreich, ohne dabei allerdings viel Überzeugungsarbeit gegenüber den Briten leisten zu müssen: in der Frage nach dem bei deutschen "Kriegsverbrechern" anzuwendenden Verfahren. Churchill und andere führende britische Persönlichkeiten waren mit Morgenthau und Roosevelt einig, daß summarische Exekutionen der maßgeblichen "Kriegsverbrecher", worunter sie vor allem die Führungspositionen in Staat und Partei verstanden, einem Gerichtsverfahren vorzuziehen seien293. Britischer Vordenker solcher Strafmaßnahmen war der ehemalige Innen- und Außenminister und von 1940 bis 1945 als Lord-Kanzler agierende Lord Simon. Churchill hatte dann diesen Standpunkt auch im britischen Kriegskabinett vertreten, hatte dort jedoch wenig Zustimmung gefunden, weil die anderen Regierungsmitglieder deutsche Repressalien gegen britische Kriegsgefangene befürchteten294. Die beiden Briten nutzten deshalb ebenso wie ihre amerikanischen Verhandlungspartner die Konferenz in Quebec, um auf internationaler Ebene politische Fakten festzulegen, die ihrem Konzept entsprachen und andernfalls in den eigenen Entscheidungsgremien nur schwer eine Mehrheit gefunden hätten. b. Basis der Vereinbarung von Quebec bildete eine Denkschrift Lord Simons vom 4. September 1944295. Er vertrat darin die Ansicht, die Methode eines Gerichtsverfahrens, Schuldigsprechung und Urteil durch ein Gericht sei völlig 291 292 293 294 295 FRUS P.Y. Vgl. B.F. Text Quebec 1944, S. 362 Hammond, Directives for Germany, S. 369 B.F. Smith, The Road to Nuremberg, S. 45 Smith, ebd., S. 45 f. in: FRUS Quebec 1944, S. 91 ff. unangebracht für "bekannte Rädelsführer" ("notorious ringleaders") wie Hitler, Himmler, Göring, Göbbels und Ribbentrop. Neben den riesigen Schwierigkeiten, einen Gerichtshof einzusetzen, der eine Anklage zu formulieren und Beweise zusammenzutragen habe, sei die Frage nach deren Schicksal "... a political, not a judicial question. It could not rest with judges, however eminent or learned, to decide finally a matter like this, which is of the widest and most vital public policy."296 Er sei sich in gleicher Weise klar darüber, fuhr Simon fort, daß diese führenden und bekannten Verbrecher ("these leading and notorious criminals") nicht unangetastet bleiben dürften, während geringere Leute, die unter ihren Befehlen und mit ihrer Einwilligung Grausamkeiten und Kriegsverbrechen begangen hätten, verurteilt und hart bestraft würden297. Das britische Foreign Office hatte aus diesem Anlaß eine Liste mit "Kriegsverbrechern" zusammengestellt, deren genauer Inhalt leider nicht bekannt ist298. Dieses Memorandum Simons lag auf der selben Linie wie die dazu von Morgenthau gemachten und von Roosevelt für gut befundenen Vorschläge. Nach einer kurzen Erörterung des Themas am 15. September, bei der Roosevelt sich noch einmal stark machte für eine Erschießung der "Nazi-Führer" ohne jegliche Verhandlung299, einigten sich Roosevelt und Churchill, die Vorschläge Lord Simons ebenso wie die Liste Marschall Stalin zukommen zu lassen300. Von amerikanischer und britischer Seite waren die Exekutionen somit zum Programm erhoben. Auf beiden Planungsgebieten, die zwischen Morgenthau und Stimson vor der Konferenz von Quebec zum Disput geführt hatten, war Morgenthau durch Roosevelts Unterstützung und 296 297 298 296 30 0 FRUS Quebec FRUS Quebec Ein Hinweis S. 92. B.F. Smith, FRUS Quebec 1944, S. 92 1944, S. 92 auf diese Liste befindet sich in FRUS Quebec 1944, The Road to Nuremberg, S. 47 1944, S. 467 117 die Entscheidung auf überstaatlicher anglo-amerikanischer politischer Ebene als eindeutiger Sieger hervorgegangen. Durch die Zwangssituation der Briten hatte er ihnen, trotz Churchills Formulierungskünsten, sein wirtschaftspolitisches Programm aufoktroyieren können, in der Frage summarischer Exekutionen waren sich die in Quebec versammelten politisch Verantwortlichen ohnehin einig. IV. 4. Außen- und Morgenthau entgegen Kriegsministerium treten Roosevelt und a. Stimson plädiert für eine konstruktive Planung. Während Morgenthau in Kanada seinem größten politischen Erfolg entgegenstrebte, ließ Henry Stimson durch seinen Unterstaatssekretär John. J. McCloy ein neues Memorandum gegen Morgenthau vorbereiten, nicht ahnend, daß der amerikanische Finanzminister zur gleichen Zeit den Sieg - vorläufig - schon davongetragen hatte. Die Denkschrift wurde am 15. September beendet und Roosevelt nach Hyde Park geschickt, wo er sie nach der Rückkehr aus Quebec vorfand. Stimson versprach sich von diesem Papier keine Wende in der Mor- genthau-Roosevelt'schen Politik, sandte es aber dennoch ab, um, wie er sich ausdrückte, die Achtung vor sich selbst nicht zu verlieren301. Die Unterschiede zwischen ihm und Morgenthau lägen nicht in ihrer Zielsetzung - fortwährendem Weltfrieden -, sondern seien eine Frage der Mittel, ließ Stimson den Regierungschef wissen: "When we discuss means, the difference is not whether we should be soft or tough on the German people, but rather whether the course proposed will in fact best attain our agreed objective, continued peace. ... The question is not whether we want Germans to suffer for their sins. Many of us would like to see them suffer the tortures they have inflicted on others. The only question is whether over the years a group of seventy million educa- 301 118 Vgl. Stimson and Bundy, On Active Service in Peace and War, S. 578 ff.; Text des Memorandums in: FRUS Quebec 1944, S.482 ff.; Morgenthau Diary (Germany), S. 621 ff. ted, efficient and imaginative people can be kept within bounds on such a low level of subsistence as the Treasury proposals contemplate. I do not believe that is humanly possible."302. Stimson gestand ein, daß er gegen Morgenthaus Vorschläge nichts einzuwenden hätte, wenn sie das Ziel eines dauerhaften Weltfriedens wirklich erreichen könnten. In Geist und Aussage seien sie jedoch strafend, nicht ausgleichend oder konstruktiv, und deshalb eher geeignet, einen anderen Krieg zu erzeugen statt ihn zu verhindern. Er verwies noch einmal auf die enorme internationale Bedeutung der deutschen Volkswirtschaft, und daß Deutschland nicht nur ein Wettbewerber der Briten auf dem internationalen Markt sei, sondern auch ein potentieller Abnehmer. Auch der Hinweis auf den Widerspruch mit den in der Atlantik-Charta bestimmten Grundsätzen fehlte nicht in Stimsons wirtschaftspolitischer Morgenthau-Schelte303. Die Argumente des Kriegsministers waren eine Mischung aus humanitären Überzeugungen und politischer sowie wirtschaftlicher Vernunft. Er schien seine Lektion aus der Zeit zwischen den Kriegen anders gelernt zu haben als die meisten seiner Kollegen, Roosevelt eingeschlossen. Nicht Bestrafung eines ganzen Volkes, seine Degradierung von einer Industrienation zu einem Agrarstaat war das Gebot der Stunde, sondern die Umsetzung der in der Atlantik-Charta feierlich beschworenen Ziele. Stimson gelang es, sich von dem um ihn herum herrschenden geistigen Provinzialismus zu befreien und über das momentane Triumpfgefühl nicht die so viel größeren, so viel komplexeren und komplizierteren weltpolitischen Zielsetzungen zu vergessen. Nicht das rückwärtsgewandte Bestrafungs- und Rachedenken prägte seine Haltung in dieser Frage, sondern ein realistischer und problembewußter Blick nach vorn. Deshalb läßt sich Stimson auch nicht in das häufig bemühte Bild pressen, das die in den USA und andernorts planenden und verantwortlichen Personen nach Befürwortern eines "weichen" oder eines "harten" Kurses 302 303 FRUS Quebec 1944, S.483 FRUS Quebec 1944, S.483 f. 119 gegenüber Deutschland und dem deutschen Volk einordnet304. Während die Behandlung Deutschlands für Morgenthau und offensichtlich auch für Roosevelt und die meisten anderen amerikanischen Politiker von zentraler Wichtigkeit war, sah man doch allein in Deutschland den Aggressor und Bedroher des Weltfriedens, war es für Stimson nur ein Mosaiksteinchen in seinem Weltbild, das nicht nach den Kriterien von Strafe und Begnadigung, von "hart" oder "weich" zu lösen war, sondern zukunftsorientiert und konstruktiv. In diesem Sinne schrieb Stimson an Roosevelt: "Enforced poverty is even worse, for it destroys the spirit not only of the victim but debases the victor. It would be just such a crime as the Germans themselves hoped to perpetrate upon their victims - it would be a crime against civilization itself. ... The sum total of the drastic political and economic steps proposed by the Treasury is an open confession of the bankruptcy of hope for a reasonable economic and political settlement of the causes of war. I plead for no "soft" treatment of Germany. I urge only that we take steps which in the light of history are reasonably adapted to our purpose, namely, the prevention of future wars. The Carthaginian aspect of the proposed plan would, in my judgement, provoke a reaction on the part of the people in this country and in the rest of the world which would operate not only against the measures advocated but in its violence would sweep away the proper and reasonable restrictive measures that we could justifiably impose."305 b. Hull geht zunehmend auf Abstand zu Morgenthau. Am 20. September informierte Morgenthau seine Kollegen im Kabinetts -Aus schuß über Verlauf und Ergebnis der Quebecer Konferenz. Stimsons Vermutung, Churchill habe sein Einverständnis erklärt, um das Leih- und Pachtverhältnis und somit weitere amerikanische Unterstützung nicht zu gefährden, 304 305 120 Vgl. dazu noch ausführlicher unten 1. Teil, IV.15. FRUS Quebec 1944, S.483 ff. verneinte Morgenthau, wenngleich er zugeben mußte, daß dies Churchills vorrangiges nichtmilitärisches Ziel in Quebec gewesen sei. Hull, der in den letzten Tagen vor Beginn der Konferenz immer stärker auf Morgenthaus Kurs eingeschwenkt war, rang sich auf dieser Sitzung erstmals wieder zu einer kritischen Anmerkung durch. Seine Bemerkungen richteten sich aber noch nicht gegen den Inhalt des Quebecer Beschlusses, sondern gegen die Art und Weise, wie er zustande gekommen war, nämlich ohne vorherige Konsultation der Sachverständigen der amerikanischen Regierung und ohne Rücksicht auf die vorhergegangenen Besprechungen306. Edens Widerspruch in Quebec war für Hull ein weiterer Hinweis für Morgenthaus Neigung zur Einmischung in Dinge, die eigentlich nur das Außenministerium betrafen307. Als Hull verbittert meinte, daß er zunehmend das Interesse an der ganzen Angelegenheit verliere, und daß er sein Interesse ganz verlieren würde, sollte er von den Diskussionen und Entscheidungen derart wichtigen Charakters weiterhin ferngehalten werden, entgegnete Morgenthau ruhig und in vollem Bewußtsein seiner enormen momentanen Einflußmöglichkeiten, er werde sich auch weiterhin dafür interessieren, eine aktive Rolle bei Überlegungen hinsichtlich der gegenüber Deutschland einzuschlagenden Politik und ähnlicher Dinge solange zu spielen, wie der Präsident ihn dazu ermutige308. Mittlerweile hatte auch die Presse Wind von den Vorgängen in Roosevelts Kabinett und den Besprechungen und Entscheidungen in Quebec erhalten. Ihre Reaktion war unterschiedlich und reichte von Zustimmung zu Morgenthaus Ideen und dem Quebecer Beschluß bis zu strikter Ablehnung. Das Wall Street Journal veröffentlichte am 24. September eine nahezu vollständige Zusammenfassung des Morgenthau-Plans. Eine kontroverse öffentliche Debatte über die Nachkriegsbehand- lung Deutschlands war jedoch das letzte, was Roosevelt sich 306 Foreign Relations of the United States (FRUS), Die Konferenzen von Malta und Jalta, dt. Ausgabe, S. 125 f. 307 Hull, Memoirs, S. 1616 308 FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 130 121 damals leisten konnte, waren es doch kaum noch sechs Wochen bis zur nächsten Präsidentenwahl309. In einem Memorandum vom 25. September 1944 fragte Hull beim Präsidenten vorsichtig nach, ob es nicht ratsam sei, das volle Einverständnis Großbritanniens und der Sowjetunion in bezug auf die gegenüber Deutschland zu verfolgende Politik zu erzielen. Gerade die EAC sei zu dem Zweck geschaffen worden, um solche Probleme zu erörtern. Ein Abweichen von dieser Linie vermehre nicht nur die Schwierigkeiten und die Verantwortung der Soldaten in der unmittelbar bevorstehenden militärischen Besatzungszeit, sondern auch die der Beamten in der danach folgenden Kontrollperiode. Die britische Regierung habe nach seinen Informationen zweifellos eigene Gedanken, was die Anwendung wirtschaftlicher Kontrollen in Deutschland anbetreffe, und die Amerikaner besäßen keinen Hinweis, daß die Briten die vollständige Ausrottung der deutschen Industriekapazität an Ruhr und Saar für angebracht hielten. Da über die Haltung der Sowjetunion zu diesem Thema nichts bekannt war, regte Hull an, das Außenministerium könne über die EAC oder auf andere Weise die britischen und russischen Ansichten über die Behandlung der deutschen Industrie erfragen310. Kurz darauf wurde Hull im Weißen Haus vorstellig. Er sagte dem Präsidenten, der Morgenthau-Plan sei nicht von Experten vorbereitet worden, da sich nur 60 Prozent der Bevölkerung aus der Landwirtschaft würden ernähren können, 40 Prozent müßten sterben. Die Politik seines eigenen Hauses umriß Hull knapp: Deutschland müsse so lange unter militärischer Kontrolle gehalten werden, bis die Theorien des Nationalsozialismus und der rassischen Überlegenheit vollständig ausgerottet seien, was möglicherweise 25 bis 50 Jahre in Anspruch nehmen könne. Den Lebensstandard in Deutschland wollte Hull unterhalb des durchschnittlichen Lebensstandards der Nachbarbevölkerungen halten und ihn erst dann an309 310 Vgl. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 378; H.G. Gelber, VfZG 1965, S. 393 FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 132 f.; Hull, Memoirs, S. 1616 f. heben, wenn Menschenrechte, Freiheitsrechte und Frieden sich verbessert hätten311. c. Roosevelts taktischer Rückzug. Bei Roosevelt machte sich in den folgenden Tagen, wohl nicht zuletzt wegen der für ihn teilweise unangenehmen Pressereaktionen, Unruhe breit. Er blies nun doch vorsichtig zum taktischen Rückzug. In dem Gespräch mit Hull deutete er an, daß er an den Plan nicht gebunden sei312, und Stimson hatte nach einem Telefonat mit ihm am 27. September den Eindruck, Roosevelt sei zu der Überzeugung gekommen, einen Fehler gemacht zu haben, und versuche nun, sich herauszureden313. Am 26. September löste der Präsident den Kabinetts-Ausschuß auf und versuchte durch die Herausgabe einer Stellungnahme die hohen Wogen in der Öffentlichkeit zu glätten, ohne daß er auf die aufgeworfenen Fragen allerdings sachlich-inhaltlich eingegangen wäre. Er wollte die öffentliche Aufmerksamkeit vielmehr vom Problem der Nachkriegsgestaltung Deutschlands ablenken, anstatt die Öffentlichkeit zu unterrichten - ein erneuter Hinweis darauf, daß insbesondere der Präsident selbst nicht geneigt war, sich in der zukünftigen Politik festzulegen314. Am 29. September antwortete er auf Hulls Memorandum vom 25.. Die EAC als Konsultationsorgan zu nutzen, um dort die Ansichten Großbritanniens und der Sowjetunion zur Nachkriegsbehandlung Deutschlands zu erfahren, lehnte Roosevelt ab. Er teilte seinem Außenminister mit, für ihn bewege sich die EAC auf dritter und nicht einmal auf zweiter Ebene. Kern der ganzen Angelegenheit sei, Großbritannien davor zu bewahren, am Ende des Krieges bankrott zu sein. Jedoch beabsichtige niemand, aus Deutschland ein völlig landwirtschaftliches Land zu machen und die industrielle Produktionskapazität an Rhein und Ruhr vollständig zu vernichten. Stattdessen beabsichtigte er, eine beinahe umfassende Kontrolle in diesen beiden Gebieten durchzusetzen315. 311 312 313 314 315 Hull, ebd. Hull, ebd., S. 1618 Stimson and Bundy, On Active Service in Peace and War, S. 580 P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 379 FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 144 f. 123 Am 1. Oktober legte Hull dem Präsidenten eine weitere Denkschrift vor, in der er den Stand der Beschlüsse in der EAC referierte und die Vorstellungen des Außenministeriums zur Besatzungspolitik in Deutschland etwas ausführlicher darstellte. In diesem letzten Punkt war ganz offensichtlich wieder eine Rückbesinnung auf die im Memorandum vom 4. September niedergelegten Prinzipien zu erkennen. Eine wirtschaftliche Vormachtstellung Deutschlands in Europa sollte ein für allemal ausgeschaltet werden. Zu diesem Zweck wollte er alle Fabriken zerstören, bei denen eine Umstellung auf friedliche Zwecke nicht möglich schien, während alle anderen Fabriken umzuwandeln seien. Weiterhin sollte Deutschland durch Reformen von den Weltmärkten abhängig gemacht werden, die Schlüsselindustrie und der Außenhandel kontrolliert und die Vormachtstellung der Großindustriellen und Großgrundbesitzer zerschlagen werden. Dann sei es Deutschland unmöglich, einen neuen Krieg zu entfachen, seine wirtschaftliche Vormacht in Europa sei gebrochen und die anderen Nationen könnten Wiedergutmachungsleistungen und Reparationen verlangen. Hull blieb auch bei seiner schon früher geäußerten Meinung, eine Entscheidung über die Teilung Deutschlands (territoriale Amputationen waren damit nicht gemeint) noch nicht zu treffen. In allen anderen Punkten bestand ohnehin weitgehend Konsens: Vollkommene Entmilitarisierung Deutschlands, Auflösung der NSDAP und der angeschlossenen Organisationen, Festnahme und Internierung von SS- und Gestapo-Mitgliedern, Verhör von Kriegsverbrechern und, falls (offensichtlich ohne Gerichtsverhandlung) für schuldig befunden, deren Hinrichtung, sowie Ausschluß aller aktiven Parteimitglieder von jeder politischen oder zivilen Tätigkeit und deren Unterwerfung unter zahlreiche Einschränkungen. Außerdem sollten Nachrichtenwesen, Presse, Propaganda und Erziehungssysteme streng überwacht werden, um NSEinfluß und -Doktrin auszumerzen316. 316 124 FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 145 ff. Welche Einstellung der amerikanische Außenminister zum deutschen Volk hatte, ließ er im letzten Absatz seines Memorandums durchblicken: "Es ist von höchster Wichtigkeit, daß in den Anfangsjahren der Lebensstandard der deutschen Bevölkerung derart zugeschnitten wird, daß es ihr bewußt wird, daß sie den Krieg verloren hat, und daß sie alle ihre überheblichen Theorien, sie gehöre einer höheren Rasse an, die geboren sei, die Welt zu regieren, auf- gibt. Durch Mangel an Luxus werden wir ihr beibringen, daß sich ein Krieg nicht bezahlt macht."317 Roosevelts Abrücken von Morgenthaus Plänen, die ja auch seine eigenen gewesen waren und vielleicht immer noch waren, zeigte sich auch darin, daß er Morgenthau Ende September nicht zu sich vorließ und ihm sagen ließ, er wolle ihn nicht sehen318. Kriegsminister Stimson schien beim Präsidenten nun eher gelitten zu sein. Ihm gegenüber sagte Roosevelt am 3. Oktober, Morgenthau habe einen "Schnitzer" ("boner") gemacht. Als Stimson ihm daraufhin die Passage aus dem Beschluß von Quebec vorlas, nach der Deutschland ein landwirtschaftliches Gebiet werden sollte, meinte der Präsident nur, er habe keine Ahnung, wie er das habe abzeichnen können. Er habe es offensichtlich ohne viel Überlegung getan319. Daß dies nicht mehr als eine billige Ausrede war, scheint eindeutig. Roosevelt hatte sich ja schon Tage vor der Quebecer Konferenz mit Morgenthaus Ideen vertraut gemacht, kannte die Einwände von Stimson und hörte in Kanada die Bedenken Churchills und Edens, um dennoch seinen Finanzminister in dessen Plänen, die er zu seinen eigenen machte, vorbehaltlos zu unterstützen. Als alter politischer Fuchs, der es verstand, die Öffentlichkeit mit seinen Reden zu begeistern und zu bewegen, der aber auch die Stimmungen in der Bevölkerung immer gut einzuschätzen und dann gegebenenfalls für seine Zwecke zu nutzen wußte, hatte Roosevelt bemerkt, daß die kontroverse öffentliche Deutschlanddiskus- 317 318 319 FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 148 Morgenthau Diary (Germany), S. 678 Stimson and Bundy, On Active Service in Peace and War, S. 581 125 sion ihm im Wahlkampf nur schaden konnte. Er kehrte deshalb schnellstmöglich zu seiner schon vor der Morgenthau-Affäre betriebenen Politik der Verzögerung deutschlandpolitischer Entscheidungen zurück. Eleanor Roosevelt, die Frau des Präsidenten, wies später überzeugend darauf hin, daß Roosevelt innerlich nie vom Morgenthau-Plan abgerückt sei. In der letzten Nacht vor seinem Tod habe er sogar noch mit Mor- genthau in diesem Sinn gesprochen320. Am 20. Oktober teilte Roosevelt dem amerikanischen Außenminister in Beantwortung von dessen Memorandum vom 29. September mit, er mache ungern ins einzelne gehende Pläne für ein Land, das noch gar nicht besetzt sei. Dennoch stimmte er Hulls Vorschlägen zur Entmilitarisierung, zur Entnazifizierung und zur Überwachung bestimmter Bereiche des öffentlichen Lebens ohne Einschränkungen zu. Lediglich die Entmilitarisierungs-Bestimmungen wollte er auch auf Flugzeuge angewendet sehen. Auch mit dem Aufschub der Teilungspläne war er einverstanden321. Der Morgenthau-Plan in seiner Quebecer Form, also nur auf die zu verfolgende Wirtschaftspolitik bezogen, wurde damit aus der öffentlichen Schußlinie herausgenommen. Die Gedanken und Ideen aber, die Morgenthau weit über die Wirtschaftspolitik hinaus und in die meisten anderen Bereiche hineingehend in seinen Denkschriften verfochten hatte, waren dadurch nicht von den Tischen der Planungsabteilungen der amerikanischen Ministerien herunter. Denn bei näherer Betrachtung der interministeriellen Debatten um den ursprünglichen Plan, insbesondere in der Form vom 9. September 1944, wird klar, daß im Grunde Streitgegenstand nur die Behandlung von Wirtschaft und Industrie in Deutschland war, mit Abschwächungen auch die Teilungs- und Kriegsverbrecherfrage, daß aber in allen anderen Bereichen fast deckungsgleiche Ansichten bestanden. Beispielgebend sei nur der Lebensstandard des deutschen Volkes genannt, den man übereinstimmend auf einem niedrigen Niveau halten wollte. 320 321 126 E. Roosevelt, This I Remember, S. 333 ff. FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 148 f. Selbst in den streitigen Punkten hatten Außenund Kriegsministerium keine einheitliche Phalanx gegen das Finanzministerium gebildet. Hull zeigte sich lange Zeit den Wirtschaftsplänen Morgenthaus gegenüber äußerst aufgeschlossen, bejahte die summarische Erschießung von Deutschen, denen ein Kriegsverbrechen vorgeworfen wurde, und beharrte lediglich in der Teilungsfrage auf seinem Standpunkt. Stimson wiederum hatte keine Bedenken gegen die Zerschlagung Deutschlands, opponierte jedoch gegen Morgenthaus Wirtschafts- und Kriegsverbrecherpläne. Die unterschiedlichen Positionen blieben bestehen, nur wurden sie in den nächsten Monaten nicht mehr in der Öffentlichkeit ausgetragen, sondern im Rahmen von konkreten Planungen für eine Direktive, anhand derer der für die Militär-Verwaltung in der amerikanischen Zone zuständige Oberbefehlshaber seine besatzungspolitischen Maßnahmen ergreifen sollte. Die Planungen für diese Anweisung hatten bereits im Frühjahr und Sommer 1944 eingesetzt und erhielten ihre Prägung auch - und gerade - durch Morgenthau und - mehr noch - durch die Tatsache, daß Roosevelt augenscheinlich einem "harten" Frieden für Deutschland das Wort redete. IV.5. Die Direktive CCS 551 ("Pre-Surrender-Directive") Vor allen Dingen im Kriegsministerium und in den Armeestäben machten sich die Verantwortlichen schon frühzeitig Gedanken, welche Weisungen der Armee für den Fall an die Hand zu geben seien, daß die Amerikaner in Deutschland einmarschieren würden. Zwar stand das Diensthandbuch FM 27-5 zur Verfügung, doch enthielt es nur mehr oder weniger abstrakte Formulierungen, die nicht auf die in Deutschland erwartete Lage zugeschnitten waren, wenn auch - wie wir schon gesehen haben322 - die in dem Diensthandbuch im Dezember 1943 vorgenommenen Änderungen eindeutig Deutschland im Visier hatten. Was not tat, war eine Direktive, die den Besatzungsoffizieren zumindest anfänglich und für eine Übergangszeit sagte, welche 322 Vgl. oben 1. Teil II.2.d. 127 Maßnahmen in welchen Bereichen des deutschen Staatswesens vorzunehmen waren. Es ging schließlich darum, einen der hochindustrialisiertesten Staaten der Welt zu verwalten, ein Chaos, Unruhen und Widerstand gegen die Besatzungstruppen zu vermeiden und eine auf längere Sicht angelegte Friedenspolitik vorzubereiten. Um dies alles gewährleisten zu können, benötigte die Armee klare Weisungen. Schon im Dezember 1943 wurden im Kriegsministerium die ersten Untersuchungen über das deutsche Verwaltungssystem angestellt, bis dann am 28. April 1944 eine Direktive des Gemeinsamen Generalstabes der Briten und Amerikaner an den alliierten Oberbefehlshaber in Kuropa, General Eisenhower, erlassen wurde. Eisenhower hatte schon vorher bei den CCS (Combined Chiefs of Staff) nach einer Direktive für die Militärregierung in Deutschland angefragt. Das Kriegsministerium hatte daraufhin die Initiative ergriffen, bei der Erstellung des Entwurfes aber auch Außen-, Finanz- und Marineministerium zu Rate gezogen und divergierende Ansichten mit Großbritannien abgeklärt323. Die Direktive trug das Aktenzeichen CCS 551 und war überschrieben mit "Combined Directive for Military Government in Germany Prior to Defeat or Surrender"324. Ihr AnwendungsZeitraum war somit auf die Besatzungszeit vor der Kapitulation beschränkt. Die Kapitulation war das entscheidende Ereignis, hatte man doch danach keine Feindseligkeiten mehr seitens organisierter deutscher Streitkräfte zu erwarten. Die CCS gingen bei ihrer Direktive von der Annahme aus, daß das deutsche Regierungssystem, die staatlichen und politischen Strukturen sowie die Wirtschaft größtenteils noch in Ordnung seien, und die Anglo-Amerikaner durch eine "indirect rule" ihre Aufgaben als Militärverwaltung würden erfolgreich ausüben können. Über die Eisenhower als 323 324 128 P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 328; F.C. Pogue, The European Theatre of Operations. The Supreme Command. United States Army in World War II, S. 346 ff. Text der Direktive CCS 551 in: H. Holborn, American Military Government - Its Organization and Policies, S. 135 ff.. Zur Entstehung der Direktive vgl. auch E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany 1944-1946, S. 57 ff.. Oberbefehlshaber der alliierten Befugnisse sagte die Direktive: Besatzungstruppen zustehenden "By virtue of your position you are clothed with supreme legislative, executive, and judicial authority and power in the areas occupied by forces under your command. This authority will be broadly construed and includes authority to take all measures deemed by you necessary, desirable and appropiate in relation to the exigencies of military operations and the objectives of a firm military government." Die Combined Chiefs of Staff vergaßen aber nicht, in einem weiteren Satz klarzustellen: "Your rights in Germany prior to unconditional surrender or German defeat will bethose of an occupying power."325 Der eigentlichen Direktive waren noch ein "Political Guide", ein "Financial Guide" und ein "Economic and Relief Guide" für Deutschland beigegeben326. Der "Political Guide" verpflichtete Eisenhower, jeden Kontakt der alliierten Truppen mit deutschen Amtsträgern und der Bevölkerung nachdrücklich zu unterbinden (sog. Non-Fraternization- Befehl). Die Absicht der militärischen Besatzung sei die Unterstützung der militärischen Operationen, Zerstörung des Nazismus-Faschismus und der Nazi-Hierarchie, die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung und die Wiederherstellung normaler Zustände unter der Zivilbevölkerung, soweit diese nicht mit militärischen Operationen in Widerstreit gerieten. Die Direktive enthielt auch bereits eine Aufforderung zur Internierung bestimmter Personengruppen. Als zu verhaftende Einzelperson war nur Adolf Hitler genannt. Dazu gehörten weiter seine 325 326 H. Holborn, ebd., S. 136 Der "Political Guide" lag der Direktive bereits am 28. April 1944 bei, die drei anderen wurden erst am 31. Mai 1944 an Eisenhower übermittelt. Der "Financial Guide" wurde im August 1944 noch einmal überarbeitet, vgl. H. Holborn, ebd., S. 135 Anm. 1. 129 "Hauptnazigefährten" ("chief Nazi associates"), alle Personen, die eines Kriegsverbrechens verdächtigt würden, die Köpfe der Ministerien und andere hohe politische Funktionäre des Reiches und solche Deutschen, die in von Deutschland ehemals besetzten Gebieten hohe politische Stellungen innegehabt hätten. In die Arrestkategorien fielen darüber hinaus die Sicherheitspolizei, einschließlich Gestapo, aber ohne Kriminalpolizei, und der Sicherheitsdienst. Von der SS war in dieser Direktive noch keine Rede. Andere Paragraphen beschäftigten sich mit der Auflösung der NSDAP, Verhinderung der Anwendung diskriminierender NS-Gesetze und der Suspendierung von Straf- und Zivilgerichten in Deutschland. Sie sollten jedoch zum frühestmöglichen Zeitpunkt unter alliierter Überwachung und Kontrolle wieder zugelassen werden. Die Wiedereinsetzung zuvor entfernter Amtsinhaber in der örtlichen Verwaltung wurde in das Ermessen Eisenhowers gestellt. Die gesamte NS-Führung sollte von allen Amtsposten entfernt werden, und kein dauernder Angehöriger des deutschen Generalstabs und der NS-Hierarchie dürfe eine wichtige Regierungs- oder zivile Position bekleiden. Politische Aktivitäten jeder Art sollten nicht zugelassen und alle Kommunikationseinrichtungen wie Presse, Rundfunk, Post, Telefon und andere je nach Notwendigkeit im Interesse der militärischen Sicherheit zensiert werden327. Dem "Economic Relief Guide" merkte man an, daß die wirtschaftspolitischen Akzentverschiebungen vom Dezember 1943 im FM 27-5 auch auf die Direktive CCS 551 durchgeschlagen waren. Sofern praktisch durchführbar und in Übereinstimmung mit den Anforderungen der militärischen Sicherheit sollte in nicht mehr umkämpften Gebieten das System der Produktion, Kontrolle, Sammlung und Verteilung von Nahrungsmitteln und landwirtschaftlichen Produkten beibehalten werden, die Nahrungsmittelfabriken ihren Betrieb fortsetzen und die notwendigen Arbeitskräfte und Transportmöglichkeiten beschafft werden, um eine maximale 327 H. Holborn, American Military Government, S. 136 ff. 130 Produktion sicherzustellen328. Diese Bemühungen sollten jedoch nicht zu dem Zweck geschehen, der deutschen Bevölkerung einen den Kriegsumständen nach angemessenen Lebensstandard zu sichern. Die Direktive CCS 551 fügte vielmehr hinzu: "German food and other supplies will be utilized for the German population to the minimum extent reguired to prevent disease and unrest." Ansonsten sollten auch die Versorgungseinrichtungen wiederhergestellt, ebenso die Kohlengruben erhalten und betrieben werden. Ein Kontrollsystem, das neben der Ein- und Ausfuhr von Gütern auch das Schiffahrtswesen und andere Bereiche überwachen sollte, wurde ebenfalls von den CCS gefordert330. Trotz der Beschränkung auf die Vorkapitulationszeit war die Direktive unverkennbar so zusammengestellt worden, daß sie auch für die Zeit nach der Kapitulation umgewandelt werden konnte zu einer endgültigen politischen Richtlinie. Die Ausmerzung des Nationalsozialismus als Ideologie und seiner Erscheinungsformen in Staat und Gesellschaft war ja bereits in der Atlantik-Charta festgelegt worden, wenn auch die Internierungskategorien in ihrem Umfang und mangelnder Spezifizierung über das vom militärischen Sicherheitsinteresse der Besatzungsmächte gebotene Maß weit hinausgingen. Trotz der Härte und Strenge in Fragen der Entnazifizierung und der Versorgung der Bevölkerung, war doch der Wegweiser in die Zukunft nicht zu verkennen: Eine Industrie mit der Produktion von Gütern, die keine Kriegsverwendung finden konnten, sollte beibehalten werden. Insofern war die wirtschaftspolitische Kernaussage der Direktive noch gemäßigt, was besonders augenscheinlich wird, wenn man sie mit den eben erörterten Zielsetzungen Morgenthaus oder mit den weiter unten noch zu behandelnden 328 329 330 H. Holborn, ebd., S. 143 H. Holborn, ebd. H. Holborn, ebd. 131 Planungen für eine neue Direktive, diesmal für die Zeit nach der Kapitulation gedacht, vergleicht. IV.6. Eisenhower fordert eine Nachkriegs-Direktive für Deutschland a. Möglicher Wegfall der Grundprämissen von CCS 551. Mitte August 1944 kamen General Eisenhower Zweifel, ob die Grundprämissen, von denen die CCS beim Entwurf von CCS 551 ausgegangen waren, überhaupt noch in der Art in Deutschland vorgefunden würden. Am 23. August teilte er den CCS mit, daß die Direktive, unter der er momentan arbeite, veraltet und nicht länger anwendbar sei. Die in der Direktive vorausgesetzten Bedingungen bestünden nicht mehr. Die Fortexistenz einer zentralen deutschen Regierung zum Zeitpunkt der Kapitulation oder der endgültigen militärischen Niederlage erschien Eisenhower zunehmend unwahrscheinlicher. SHAEF hätte in einem solchen Fall nicht mehr nach der Methode der "indirect rule" verfahren können, sondern selbst Verantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und für die Kontrolle des Wirtschaftssystems übernehmen müssen331. Es war die Meinung vieler mit der Nachkriegsplanung befaßter Dienststellen, insbesondere in den militärischen Stäben, daß - wie es Morgenthau ausdrückte - ein Chaos in Deutschland unumgänglich sei ("chaos was inevitable")332. Die nachfolgenden Gespräche, Beratungen, Entwürfe und Ausfertigungen der neuen Direktive waren geprägt und maßgeblich bestimmt durch die Kontroverse um den Morgenthau-Plan und, von besonderer Bedeutung, die Tatsache, daß der Präsident als der eigentliche Entscheidungsträger in der Deutschlandund Besatzungspolitik diesen Plan nicht nur mit seinem politischen Wohlwollen bedachte, sondern gezielt förderte und sich dadurch als der Vertreter einer Deutschland 331 332 132 Vgl. C.F. Pogue, The European Theatre of Operations: The Supreme Command, S. 353 f. E.F. Penrose, Economic Planning for the Peace, S. 246; P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 352 gegenüber strengen und unnachsichtigen Politik zu erkennen gab. Die Entschlossenheit des Präsidenten zu einem harten Vorgehen gegen das geschlagene Deutschland und die allgemeine Stimmung für einen "harten Frieden" waren das psychologische und politische Umfeld, in dem zwangsläufig nur eine politische Planung erfolgreich sein konnte, die sich eben diese Haltung zu eigen machte und in besatzungspolitische Grundsätze umsetzte. Hatte SHAEF bis in den August hinein zumindest noch die Hoffnung, bei einem plötzlichen Zusammenbruch Deutschlands auf der Grundlage des Militärregierungs-Handbuches arbeiten zu können, wurde auch diese Absicht durch die Suspendierung des Handbuches durch Roosevelt zunichte gemacht. Überarbeitung des SHAEF-Handbuches . Wie man sich innerhalb kürzester Zeit auf den unteren Entscheidungsebenen auf die verhärtete Haltung in den politischen Führungspositionen einstellte, zeigt aufschlußreich die weitere Entwicklung des SHAEF-Handbuches333. Da die German Country Unit mittlerweile schon nicht mehr bestand, mußte die Überarbeitung vom G-5-Stab bei SHAEF vorgenommen werden, der seinerseits in der Handbuch-Frage von einem gemeinsamen Komitee für Zivilangelegenheiten der Briten und Amerikaner ("Combined civil Affairs Committee", CCAC) in Washington überprüft wurde. Während in der ursprünglichen Fassung der erste Absatz einer vom alliierten Oberbefehlshaber zu erlassenden Proklamation noch von Deutschland als einem "befreiten" ("liberated") Land sprach, stellte der Gebrauch des Wortes "befreit" in bezug auf das deutsche Volk die Planer vor die ersten Probleme. Sie waren es seit Jahren gewöhnt, zwischen "befreitem" freundlichen und "besetztem" feindlichen Gebiet zu unterscheiden. Das Wort "Besatzer" aber sollte vermieden werden, weil es als Synonym für "Ausbeuter" ("exploiter") galt und die daraus möglicherweise erwachsenden psychologischen Handikaps nicht erwünscht waren. Die b. 333 Zur Entstehung des SHAEF-Handbuches und dessen Suspendierung vgl. oben 1. Teil, IV.l.b.,c.. 133 Antwort fand man dann in dem Satz: "We come as conquerors, but not as oppressors."334 Außerdem sollte nun jede Ausgabe des Handbuches gleich am Anfang eine Warnung enthalten, bestehend aus drei Grundsätzen: Gleich im ersten kam der Roosevelt- Morgenthau'sehe Geist voll zum Durchbruch, der eine Verantwortung der Alliierten für den weiteren Betrieb der Wirtschaft in Deutschland ablehnte. Es hieß dort: "No steps looking toward the economic rehabilitation of Germany are to be undertaken except such as may be immediately necessary in support of 335 military operations." Der zweite Punkt befaßte sich mit den nach Deutschland zu bringenden Hilfslieferungen von alliierter Seite. Sein Inhalt war seit der Revision von FM 27-5 in Washington umstritten, und auch die Briten hatten nichts gegen die Überbetonung der militärischen Notwendigkeit einzuwenden. Punkt zwei lautete: "No relief supplies are to be imported or distributed beyond the minimum necessary to prevent disease and such disorder as might endanger or impede military operations."336 Die Entnazifizierung wurde im letzten Punkt angesprochen. Die Auflösung der NSDAP und der ihr untergeordneten Organisationen war nicht neu. Erstmalig aber wurde die Entlassung "aktiver Nazis" oder von "Nazi-Sympathisanten" aus ihren Ämtern zur Pflicht erhoben, ohne daß Eisenhower - wie in CCS 551 - ein Ermessensspielraum eingeräumt worden wäre und ohne daß eine nähere Definition erklärte, wer damit eigentlich gemeint war. Aus der Washingtoner 334 E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany 1944- 1946, S. 88, der anmerkt, daß das Wort "Eroberer" ("conqueror") aufgrund einer Initiative der Psychological Warfare Division, SHAEF, von einem deutschen Übersetzer dann noch in "siegreiches Heer" umgewandelt wurde. 335 E.F. Ziemke, ebd., S. 89 336 E.F. Ziemke, ebd. 134 Perspektive sah die Handhabung der damit verbundenen Probleme bedeutend leichter aus, als es vor Ort dann tatsächlich der Fall war. In diesem Sinn bestimmte Punkt drei: "Under no circumstances shall active Nazis or ardent sympathizers be retained in office for purposes of administrative convenience or expedi- ency."337 Die Deutschland und das ganze deutsche Volk, nicht nur den Nationalsozialismus und seine Anhänger, betreffende zunehmende Verhärtung der Atmosphäre in den politischen Führungsetagen Washingtons schlug damit auch nachhaltig auf die unteren Planungsebenen durch. Dies galt nicht nur für die Revision des SHAEF-Handbuches, sondern mehr noch für die Erstellung einer Direktive für die Zeit nach der deutschen Kapitulation. IV. 7. Die Entwicklung der ersten Fassung der Besatzungsdirektive JCS 1067 a. Erste Entwürfe in der EAC-Delegation und im Kriegsministerium. Bereits am 12. Juli 1944 entwarf das "Planning Committee" der US-Delegation in der EAC eine "General Directive for Germany". Diese Direktive verpflichtete die drei alliierten Oberbefehlshaber unter anderem, soweit es die militärische Sicherheit und die Durchsetzung der Kapitulations-Bedingungen erlaubten, dem deutschen Volke bei der Errichtung einer effizienten Verwaltung und bei der Entwicklung einer Nationalökonomie behilflich zu sein, die dann ein Minimum an deutscher Versorgung beschaffen und Deutschland in den Stand versetzen werde, einen Maximalbeitrag an Erleichterung, Normalisierung und Reparationen zu erbringen. Soweit durchführbar sollte Deutschland indirekt verwaltet werden und die Amtsträger und sonstigen Bediensteten in der 337 E.F. Ziemke, ebd., S. 90, für den Punkt drei "the first outright plunge into the semantic jungle of denazification" ist. 135 öffentlichen Verwaltung in ihren Funktionen weitermachen. Ihres Amtes enthoben werden sollten nur "aktive Naziführer" und solche andere, unter ihnen Regierungsbedienstete, die als unzuverlässig angesehen würden. Sie sollten ersetzt werden durch kompetente Menschen, die mit der Militärregierung vollständig kooperierten338. Am 6. September 1944 schickte Kriegsminister Stimsons Assistant Secretary, John J. McCloy, an das Außenministerium den Entwurf einer Besatzungsdirektive für die Zeit, die unmittelbar auf die Beendigung des organisierten Widerstands bzw. nach der Niederlage Deutschlands folge. Sie sollte eine bloße Interimsdirektive sein, mit Augenmerk nur auf Deutschland und ohne Einbeziehung grundlegender europa- und weltpolitischer Zusammenhänge. Weite Teile eines Direktiven-Entwurfes zur Wirtschaftspolitik, der einen Tag zuvor im Finanzministerium von dem MorgenthauMitarbeiter William H. Taylor angefertigt worden war339, wurden in das Papier des Kriegsministeriums wörtlich übernommen. Offensichtlich war man unterhalb der Ministerebene(Stimson) gegenüber den Ideen des Finanzministeriums bedeutend aufgeschlossener, was insbesondere auf John J. McCloy zugetroffen haben dürfte, als es der Widerstand Stimsons gegen den Morgenthau-Plan vermuten läßt. Die sich gerade entwickelnde Diskussion um den Morgenthau- Plan ließ noch keine langfristigen und über den rein germanozentrischen Blickwinkel hinausgehenden Perspektiven erkennen. Da sich diese unklare Situation auch bis zum Kriegsende, und noch zwei Jahre darüber hinaus, nicht wesentlich zum besseren veränderte, betrafen die Planungen für Deutschland immer nur die Interimsdirektive und überwogen die negativen und destruktiv-zerstörerischen Akzente alle anderen. Die Direktive, die sich an den alliierten Oberbefehlshaber, General Eisenhower, wandte. 338 339 136 FRUS 1944 I, S. 244 ff. Vgl. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 372 f. drückte diese Tendenz bereits in ihrem zweiten Absatz nachhaltig aus: "Your primary objectives are of short term and military character rather than of a long view governmental policy type. Germany will not be occupied for the purpose of liberation but as a defeated enemy nation. The clear fact of German military defeat and the undesirability of the results of aggression must be appreciated by all levels of the German population. The German people must bear the invitable consequences of their own acts. Your occupation and administration will be just but firm and distant."340 In der beigefügten "Politischen Direktive" hatte das Kriegsministerium die Arrest-Kategorien, verglichen mit CCS 551, noch erweitert: Auch prominente Nationalsozialisten, die wichtige Stellungen und Schlüsselpositionen auf Reichsund Gauebene in öffentlichen und Wirtschaftsorganisationen bekleideten, die in Unternehmen und anderen Organisationen, an denen die Regierung ein erhebliches finanzielles Interesse habe, in der Industrie, dem Finanz-, Erziehungsund Gerichtswesen, bei der Presse und anderen Nachrichten und Propaganda verbreitenden Institutionen beschäftigt waren, sollten neben den Richtern und Staatsanwälten des Volksgerichtshofes interniert werden. Hinzu kamen noch die Angehörigen der Sicherheits- und politischen Polizei (Gestapo und SD waren ja schon in CCS 551 genannt worden) und alle hohen Polizeipräsidenten und sonstigen hohen Polizeiführer341. In wörtlicher Übereinstimmung mit dem dritten Punkt der revidierten Handbuch-Fassung wurde Eisenhower die Entfernung "aktiver Nazis" und "eifriger Sympathisanten" zur unumgehbaren Pflicht gemacht. Ansonsten aber blieb es seinem eigenen Gutdünken überlassen, ob den Zielen der Militärregierung besser gedient sei durch die Ernennung von Offizieren der Besatzungstruppen oder durch die Verwendung der Dienste Deutscher342. 340 341 342 FRUS Quebec 1944, S. 110 f. FRUS Quebec 1944, S. 112 f. FRUS Quebec 1944, S. 113 137 Die "Wirtschafts-Direktive" atmete auch bereits den neuen Geist in Washington. Eisenhower sollte die Kontrolle übernehmen über die bestehenden industriellen, landwirtschaftlichen und gemeinnützigen Nachrichtenund Transporteinrichtungen, Versorgungs- und sonstigen Dienste zu dem Zweck, die unmittelbare Einstellung der Produktion, des Erwerbs und der Entwicklung von Kriegsgerät einzustellen. Außerdem sollte dadurch die Herstellung und das Aufrechterhalten von Gütern und Dienstleistungen gewährleistet werden. Dieser zweite Zweck wurde jedoch nicht verfolgt, um der Bevölkerung im Besatzungsgebiet, vor allem der Zivilbevölkerung, Unterstützung zu gewähren, sondern um Epidemien, ernsthafte Erkrankungen und schwerwiegende bürgerliche Unruhen und Aufruhr zu verhüten oder zu mildern, die - und das war das allein Ausschlaggebende - die Besatzungstruppen und die Ziele der Besatzung gefährden könnten. Darüber hinaus versprach man sich Güter für die Fortsetzung des Krieges gegen Japan und für die Versorgung und Belieferung der alliierten Nationen343. Daß der Feind nicht nur die nationalsozialistische Regierung oder der Staat Deutsches Reich war, sondern das ganze deutsche Volk, jeder einzeln und alle gemeinschaftlich, zeigte sich ganz kraß und drastisch in der Direktive über Hilfsmaßnahmen ("Relief Directive"). Eisenhower wurde auferlegt, maximalen Gebrauch von den Vorräten, Beständen und verfügbaren Hilfsquellen zu machen, um die notwendige Einfuhr aus dem Ausland niedrig zu halten. Wie in den nachfolgenden Absätzen deutlich werden wird, verfolgte das Kriegsministerium das Ziel, aus Deutschland soviel herauszupressen wie nur irgend möglich, gleichzeitig aber die Situation nicht so kritisch werden zu lassen, daß ein amerikanisches Eingreifen durch Nahrungsmittel-Importe erforderlich würde. Die Interimsdirektive bestimmte: 343 138 FRUS Quebec 1944, S. 118 "2. The scale of relief to be provided will in no event exceed the minimum quantity of food, fuel, medical, sanitary and agreed essential supplies necessary to maintain the health and working capacity of the civilian population, to preserve public order, to develop local resources in order to lighten the burden on the Allied armies, and to accomplish the objectives of the occupation. 3. You will provide for importation of civilian supplies into Germany only to the extent that critical shortages of any essential items threaten clear and imminent interference with the policies set forth in paragraph 2 of this directive. 4. You will untertake measures necessary for the control, prevention and treatment of epidemie and other diseases and the promulgation of such medical and sanitation measures, including emergency shelter, as will preserve the state of public health and protect the occupying forces."344 Soviel der vierte Absatz auch für die Deutschen in Aussicht stellte, so wenig war er doch wert angesichts der Bestimmung in Absatz zwei, daß die Bevölkerung nur mit der minimalsten Menge an medizinischer und sanitärer Ausstattung versorgt werden sollte. Ein Reduzieren und bewußtes Niedrighalten auf dem geringsten nur denkbaren Lebens- und Überlebensniveau war ganz zweifellos eine Strafmaßnahme, die das ganze Volk treffen sollte, nicht nur ein paar einzelne. Die gesamte Bevölkerung sollte diesmal die Schrecken und das Elend des Krieges zu spüren bekommen. So hatte es Roosevelt gefordert und so setzten es die Planer im Kriegsministerium auch in der Direktive um. In diesem Denken und in diesen Plänen kam die These von der kollektiven Schuld des deutschen Volkes zum Ausdruck. In die gleiche Richtung ging auch das schon in der Direktive CCS 551 und in der revidierten Fassung der Dienstvorschrift FM 27-5 festgeschriebene FraternisierungsVerbot, das in der Folgezeit in keinem Direktivenentwurf mehr fehlte. 344 FRUS Quebec 1944, S. 119 f. 139 Konnte man diesem Verbot in Zeiten militärischer Auseinandersetzungen noch einen gewissen Sinn zuerkennen, so war es nach der endgültigen und unwiderruflichen Niederlage der einen Seite nur noch eine Schikanemaßnahme, die ein ganzes Volk in seinem Innersten treffen und ihm seinen minderen Wert gegenüber dem Besatzer vor Augen führen sollte. Die militärische Niederwerfung der feindlichen Armeen sollte durch die persönliche Diskriminierung und moralische Unterwerfung jedes einzelnen bis zum Exzeß gesteigert werden. Die Planungen für den Lebensstandard der Deutschen und das Verbot des Fraternisierens dokumentieren unmißverständlich, daß der Krieg nicht gegen den Nationalsozialismus, seine Repräsentanten und seine Anhänger geführt wurde, sondern daß mit zunehmender Kriegszeit und hysterie das ganze deutsche Volk unterschiedslos mit dem Nationalsozialismus, insbesondere seinen Auswüchsen, gleichgesetzt, moralisch abqualifiziert und nur noch mit einer subalternen Stellung bedacht wurde. Auf einer Sitzung am 17. September 1944 konzentrierte sich das Finanzministerium besonders darauf, die EntnazifizierungsBestimmungen im Entwurf des Kriegsministeriums noch zu verschärfen, um nur ja keine Schlupflöcher offenzuhalten und um den Ermessensspielraum der Offiziere vor Ort bei Internierungen aufgrund der vorgegebenen Kategorien einzuengen. In früheren Vorschlägen war General Eisenhower die alleinige Entscheidungsbefugnis zuerkannt worden, nach eigenem Belieben bestimmte Arrest-Kategorien unbeachtet zu lassen. Nun drängte das Finanzministerium auf einen Passus, der Eisenhower verpflichten sollte, erst in Washington um eine Erlaubnis zur Außerachtlassung dieser Personengruppen zu ersuchen345. a. Interims-Direktive JCS 1067, 22. September 1944. Als am 22. September 1944, eine Woche nach der Konferenz von Quebec, das Außen-, das Kriegs- und das Finanzministerium der InterimsDirektive ihre Zustimmung erteilten, enthielt 345 140 P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 373 f. sie neben den zwischen Kriegs- und Finanzministerium schon zwei Wochen vorher vereinbarten einschneidenden Wirtschaftskontrollmaßnahmen, den rigorosen Aussagen zur Güterverteilung in Deutschland und dem vom Finanzministerium am 17. September verlangten Passus auch noch eine erweiterte Internierungsliste’”. in die Arrestkategorie fielen nun zusätzlich alle NSDAP- Ortsgruppenleiter, die Offiziere und Unteroffiziere der Waffen-SS und alle Mitglieder anderer Zweige der SS sowie alle Beamte der Polizei und der SA mit einem (nicht näher definierten) hohen Rang. Sollten nach dem Entwurf des War Department vom 6. September 1944 nur "prominente Nazis" in wichtigen und Schlüsselpositionen in den dort näher genannten staatlichen und privaten Einrichtungen interniert werden, so erweiterte die Direktive vom 22. September diesen Kreis auch auf "Nazi-Sympathisanten". Um den mit der Verhaftung betrauten Offizieren in diesen schier unüberschaubaren Arrestkategorien das Auffinden der betreffenden Personen zu erleichtern, wurde gleichzeitig - gegen alle rechtsstaatlichen Grundsätze der Beweislast - bestimmt, es könne ganz allgemein mangels gegenteiliger Beweise angenommen werden, daß alle Personen, die solche Stellungen innehätten, Nazis oder Nazi-Sympathisanten seien347. Diese willkürliche Ausdehnung der zu internierenden Personengruppen war ebenfalls auf Anregung des Finanzministeriums erfolgt, ohne daß von Kriegs- oder Außenministerium Einspruch eingelegt worden wäre348. Im Gegenteil: Als im Dezember 1944 das Außenministerium im Rahmen einer Revision der gesamten Direktive doch noch einen Vorstoß wagte, um die ausufernden Arrestkategorien zu beschränken, lehnte das Kriegsministerium ohne jegliche Kompromißbereitschaft ab. Grund für diese Haltung war nicht die Tatsache, daß man im Kriegsministerium etwa von der Sache selbst überzeugt gewesen wäre, sondern Rücksicht auf 346 347 348 Text der am 22.09.1944 verabschiedeten Interims-Direktive in: FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 133 ff. Vgl. FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 135 f. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 374; L. Niethammer, Entnazifizierung in Bayern, S. 62 f. 141 das Finanzministerium, dem irgendwelche Änderungen nicht gefallen würden349. Gleiches galt auch für die Entlassungskategorien. Waren davon bisher nur "aktive Nazis" betroffen, so sollten nach der Direktive vom 22. September "alle Mitglieder der Nazi- Partei und eifrigen Verfechter des Nazismus" aus ihren Regierungsstellen (auch auf Landes-, Kreis- und Ortsebene) und von allen Schlüsselstellungen der Industrie, des Bankwesens, der Erziehung, der Rechtsprechung und aus anderen öffentlichen Diensten entfernt werden. Ausnahmen aus verwaltungsmäßigen Zweckdienlichkeits- und Nützlichkeitsgründen wurden ausdrücklich nicht zugelassen. Eisenhower selbst oblag die Entscheidung, ob er die Lücken durch Offiziere der Militärregierung oder durch die Inanspruchnahme vom alliierten Sicherheitsdienst bereits entlasteter Deutscher ausfüllen wollte350. Wie durch Heranziehen von Militärregierungsoffizieren die zweiffellos durch die "Säuberung" entstehenden riesigen personellen und administrativen Probleme - angesichts von nur ca. 2000 zu diesem Zweck ausgebildeten Offizieren - bewältigt werden sollten, wurde dabei unberücksichtigt gelassen. Als das State Department auch in den Entlassungskategorien Modifikationen vorschlug, blockte das War Department ebenfalls351, und die Joint Chiefs of Staff behaupteten, diese Kategorien reflektierten die Ansicht auch der anderen Regierungsstellen und stimmten überein mit Erwägungen der militärischen Sicherheit352. Die Internierungsund Entlassungsvorschriften der Interimsdirektive vom 22. September 1944 erfuhren deshalb auch in der Folgezeit keine moderatere Gestaltung. Auch das Außenministerium hatte ja ursprünglich diesen Kategorien zugestimmt, und die späteren Wünsche zur Entschärfung der Bestimmungen fanden im Kriegs- und Finanzministerium kein Gehör. Unabhängig von allen anderen Planungsbereichen hatte 349 350 351 352 142 FRUS FRUS FRUS FRUS 1944 X, S. 420 Malta und Jalta (dt.), S. 137 1944 I, S. 420 1944 I, S. 375 man in der Entnazifizierung einen kleinsten gemeinsamen Nenner gefunden, der allerdings bei seiner Weitläufigkeit den größten Schaden in Deutschland anzurichten geeignet war. Die Entnazifizierung war zum "fetischisierten Hauptziel antifaschistischer Reform in der US- Deutschlandpolitik" (L. Niethammer)353 geworden. Die eigentlich naheliegende Überlegung, wie man denn den anfallenden Mengen an Internierten, zu denen noch Millionen von Kriegsgefangenen kamen, verwaltungstechnisch Herr werden und was danach mit ihnen geschehen sollte, wurde nicht angestellt. Bereits Ende August 1944 hatte der deutsche Emigrant Hajo Holborn im Office of Strategie Services, War Department, die Zahl der am Kriegsende und danach in Deutschland zu internierenden Personen auf über 278.000 veranschlagt. Ungefähr 200.000 Internierte sollten aus den Reihen der Allgemeinen SS, der Gestapo und des SD kommen. Die Aufstellung der zu arrestierenden Personengruppen umfaßte in Holborns Planung auch bereits die Ortsgruppenleiter der NSDAP, jedoch noch nicht die führenden Persönlichkeiten der privatwirtschaftlichen Einrichtungen und die Offiziere und Unteroffiziere der WaffenSS354. Auf der Grundlage der Internierungsbestimmung in der Direktive vom 22. September 1944 dürfte die Anzahl der zu internierenden Personen weit über 300.000 gelegen haben - dies konnte mit militärischen Sicherheitsinteressen der Besatzungstruppen wohl kaum noch gerechtfertigt werden. Die Interimsdirektive befaßte sich erstmalig auch mit dem deutschen Offizierskorps, das nicht nur für das Finanzministerium ein Hort des Militarismus zu sein schien, ähnlich wie die niemals näher definierten "Junker". Von der Auflösung des deutschen Offizierskorps als Institution versprachen sich die Autoren der Direktive einen bedeutsamen Beitrag zur "totalen Zerstörung des deutschen Militarismus". In der Direktive hieß es dazu weiter: 353 354 L. Niethammer, Entnazifizierung in Bayern, S. 62 H. Holborn, Office of Strategie Services, an Gen. Hilldring, mit Anhang ("List of Nazis to be arrested"), 31.08.1944; RG 165 CAD 014 Germany (1) (7-10-42) Sec. 8 143 "Alle Generalstabsoffiziere, die nicht als Kriegsgefangene inhaftiert wurden, sind zu verhaften und festzuhalten bis zum Eingang weiterer Informationen, wie mit ihnen zu verfahren ist."355 In diesem Satz waren zwei Dinge bereits andeutungsweise erkennbar, denen bei den nachfolgenden Planungen ein immer größeres Gewicht zufiel: Zum einen, daß offensichtlich nicht alle Generalstabsoffiziere als Kriegsgefangene behandelt werden sollten, wie es nach der Genfer Konvention von 1929 die Pflicht der amerikanischen Streitkräfte gewesen wäre. Zum anderen, daß für die Generalstabsoffiziere eine "Sonderbehandlung" ins Auge gefaßt wurde, über die man im September 1944 entweder noch nichts sagen wollte oder - was aufgrund der allgemein undurchsichtigen Planungssituation näher liegt - noch gar nichts Genaues sagen konnte. b. Britische Einwände gegen JCS 1067. Die Direktive wurde mit Roosevelt abgeklärt und am 27. September über das Außenministerium an den amerikanischen Botschafter in London, Winant, übermittelt, ohne daß dieser sie jedoch an die EAC weiterleiten sollte. Die amerikanischen Joint Chiefs of Staff (JCS) empfahlen das Dokument auch der Aufmerksamkeit der amerikanisch-britischen Combined Chiefs of Staff (CCS), um auch für die Zeit nach der deutschen Niederlage oder Kapitulation eine gemeinsame Direktive zu besitzen. Auf diesem Weg erhielt die Direktive die Aktenbezeichnung JCS 1067356. Die Briten reagierten jedoch alles andere als erfreut auf die amerikanische Weisung. Aus grundsätzlichen Erwägungen heraus wünschte das britische Kriegskabinett nicht, die Russen mit einer kombinierten und vereinbarten britisch-amerikanischen Politik zu behelligen. Außerdem glaubte es, daß alle Nachkriegsangelegenheiten vor die EAC gehörten. Und falls man dort in der verbleibenden Zeit keine Einigung erzielte, könnte man mit der Direktive CCS 551 Weiterarbeiten. In jedem Fall aber sei die amerikanische Direktive, verglichen mit den detaillierten 355 356 144 FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 136 P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 376 Anweisungen der Briten, zu vage und in einigen Dingen fehlerhaft. Der britische General Macready, von dem John J. McCloy diese Information erhielt, übte darüber hinaus auch Kritik an einigen markanten Stellen der Direktive JCS 1067. Über den Plan, die Offiziere und Unteroffiziere der Waffen- SS zu internieren, meinte der Brite, daß " ... the Waffen-SS should not be arrested - the Waffen-SS were primarily military figures and not security police and that London felt they should not be treated differently than the Wehrmacht."3B7 Die Amerikaner wollten die Waffen-SS jedoch nicht in erster Linie aus Straf- oder Sicherheitszwecken internieren, sondern: "Our idea of having them arrested was to discredit them more than anything else."(J.J. McCloy)358 Weitere Einwände erhoben die Briten gegen die geplanten Schulschließungen, die Arrestierung bestimmter Offiziere und die direkte Kontrolle Deutschlands durch eine viel zu geringe Anzahl an Militärregierungs-Offizieren. Auch mit der vorgesehenen Versorgung Deutschlands erklärten sie sich nicht einverstanden. Während in der Direktive CCS 551 der kommandierende General noch autorisiert worden war, solche Versorgungsmaßnahmen durchzuführen, die notwendig waren, um Unruhen und Krankheiten zu verhindern, sollte das nach JCS 1067 nur für "ernsthafte" Unruhen und Krankheiten gelten. In London hielt man diese Änderung für unbegründet und die Unterscheidung von "ernsthaften" und "nicht ernsthaften" Unruhen und Krankheiten für nicht durchführbar. Überhaupt sei die ganze amerikanische "Hände-weg-Politik" ("hands-off policy") geeignet, ein Chaos in Deutschland hervorzurufen, für das sich die Amerikaner nach britischer Einschätzung jedoch nicht zuständig fühlten, und zu dessen Verhinderung 357 358 J.J. McCloy, "Memorandum for Colonel Chanler", 12.10.1944; RG 107 ASW 370.8 Germany J.J. McCloy, "Memorandum for Colonel Chanler", 12.10.1944; ebd. 145 sie keinerlei Aktivitäten beabsichtigten. McCloy faßte den britischen Standpunkt gegen die amerikanische Deutschland- und Besatzungspolitik, wie sie sich in JCS 106/ manifestiert hatte, so zusammen: "Their thinking was along the line that chaos in Germany was apt to produce chaos in Europe and that it would result in greater complications and difficulties than we were seeking to avoid by a hands-off policy. Moreover, they thought it impractical to suggest that chaos could be tolerated if we were occupying the country - armies were bound to bring about order and quiet; chaos is the negation of occupation."3S9 Die Briten hatten stattdessen in London seit geraumer Zeit eigene Richtlinien für die Besatzungszeit in Deutschland aufgestellt, die - gemessen an JCS 1067 - umfassender und in den meisten Sachbereichen auch konstruktiver und realitätsbezogener waren360. Folgerichtig verweigerten die britischen CCS-Repräsentanten am 3. Oktober 1944 dem amerikanischen Antrag, die Direktive als gemeinsame britisch-amerikanische Weisung an Eisenhower zu schicken, ihre Zustimmung361. Ohne britisches Einverständnis hätte die Direktive JCS 1067 lediglich in der US-Besatzungszone Gebrauch finden können; eine gemeinsame anglo- amerikanische, ja alliierte Politik gegenüber Deutschland erschien immer unwahrscheinlicher. IV.8. Die erste Revision der Besatzungsdirektive JCS 1067 In Washington war man in den folgenden Herbst- und Wintermonaten 1944/45 eilfertig bemüht, JCS 1067 einer Revision zu unterziehen, die ihre Vorlage, Diskussion und vielleicht sogar Annahme in der EAC ermöglichen sollte. Es zeigte sich jedoch schon nach kurzer Zeit, daß die 359 360 361 J.J. McCloy, "Memorandum for Colonel Chanler", 12.10.1944, ebd.; zu den britischen Bedenken vgl. A. Tyrell, Großbritannien und die Deutschlandplanung der Alliierten 1941- 1945, S. 290 ff.. Vgl. dazu A. Tyrell, ebd., S. 293 ff. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 376 Gegensätze in den Ministerien durch das gemeinsame Papier vom 22. September 1944 nur notdürftig überbrückt worden waren. JCS 1067 auch nur in Teilbereichen zu modifizieren, sie insbesondere gemäßigter zu formulieren und mit längerfristigen Zielsetzungen zu versehen, war ein schier aussichtslos erscheinendes Unterfangen solange es auf interministerieller Basis vonstatten ging und Roosevelt keine entscheidenden Akzente setzen wollte. Vor allem dem Finanzministerium war sehr daran gelegen, an der Direktive in ihrer bisherigen Form festzuhalten, hatten doch seine Vorstellungen dort erstmals und zunächst für alle Beteiligten bindend ihren Niederschlag als offizielle amerikanische Deutschlandpolitik gefunden. Zur Koordinierung der anstehenden und Deutschland betreffenden Fragen wurde am 1. Dezember 1944 erneut ein Komitee berufen, bestehend aus den Unterstaatssekretären von Außen-, Kriegsund Marineministerium, ohne Beteiligung des Finanzministeriums. Der Ausschuß arbeitete unter dem Namen "State-War-Navy Coordinating Committee" (SWNCC). Dort einigte man sich am 27. Dezember vorläufig auf einen Entwurf, dessen finanzpolitischer Teil vor einer endgültigen Beschlußfassung noch dem Finanzminister eingereicht wurde362. Da bis zur nächsten Sitzung von Morgenthau noch keine Stellungnahme eingegangen war, beschlossen die SWNCC-Mitglieder am 6. Januar 1945, die von ihnen überarbeitete und gebilligte Fassung, unter Zurückstellung des finanzpolitischen Teils, an Botschafter Winant nach London zu senden, um es den EAC-Delegierten als amerikanischen Vorschlag zu unterbreiten363. Grundlegende Änderungen zur ursprünglichen Direktive waren jedoch nicht zu erkennen. Das lag daran, daß das Kriegsministerium, in dem sich Stimson mittlerweile fast gänzlich aus Enttäuschung über die amerikanische Deutschlandpolitik von dieser zurückgezogen und seinem Mitarbeiter, John J. McCloy, das Feld überlassen hatte, in 362 363 P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 4 02 FRUS 1945 III, S. 378; Text der revidierten Fassung von JCS 1067 vom 6.01.1945 ebd., S. 378 ff. 147 den zentralen Fragen den Positionen Morgenthaus sehr nahe stand, zumindest was die Ziele anbetraf, weniger in den Gründen. Im Kriegsministerium war man sich der Schwere der Aufgabe bewußt, die eine Verantwortung der Besatzungsarmee für die Aufrechterhaltung der Wirtschaft wie für das gesamte Leben und Auskommen der Bevölkerung in der amerikanischen Besatzungszone mit sich bringen mußte. Deshalb neigte man seit dem entsprechenden Hinweis Eisenhowers im August 1944 dazu, sich bei der Besetzung Deutschlands ganz auf die Bedürfnisse der eigenen Besatzungsarmee zu konzentrieren, um sich - abgesehen von den repressiven Maßnahmen, die man eigenverantwortlich ergreifen wollte - von allen anderen unangenehmen, mit Komplikationen und Schwierigkeiten verbundenen Aufgaben einer Besatzungsmacht freizusprechen und sich der damit verbundenen Verantwortung zu entziehen. Dazu gehörte insbesondere die Zuständigkeit für die Instandhaltung und den weiteren Betrieb der Wirtschaft in Deutschland mit dem Ziel, Chaos und Unterversorgung in der Bevölkerung zu vermeiden. Diese einseitige Fixierung auf die Interessen der Besatzungsmacht hatte ihre Festlegung bereits klar im Papier vom 22. September gefunden und wurde auch im Entwurf vom 6. Januar 1945 aufrechterhalten. Gleiches galt für die Entnazifizierungs-Vorschriften. Für das Finanzministerium war der "automatische Arrest" der erste Schritt auf dem Weg zu Kriegsverbrecherprozessen und die Internierung selbst schon so etwas wie eine Strafund Sühneleistung, während das Kriegsministerium die Internierung als ein Verwaltungsmittel ansah, um unerwünschte Personen aus dem Verkehr zu ziehen364. Trotz dieser unterschiedlichen Ausgangspositionen unterstützte das Kriegsministerium die Bemühungen des Finanzministeriums, die Internierungs-Kategorien in alle Bereiche der deutschen Gesellschaft auszudehnen und auch in der Pyramide der NaziHierarchie immer tiefer anzusetzen. Im Kriegsministerium sah man die Pflicht zur massenhaften Internierung deshalb mit der Zeit immer weniger als Bürde, P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 391 denn als eine scheinbar unumgängliche Notwendigkeit an365. In dem Papier vom 6. Januar 1945 wurden die zu inhaftierenden leitenden Beamten und Inhaber hoher politischer Ämter erstmals so weit gefaßt, daß auf unterster Ebene auch alle Bürgermeister in den Städten und auf dem Land, sowie Amtsträger mit entsprechendem Rang, davon betroffen waren366. Alles in allem hatte sich die Direktive vom 6. Januar nicht allzu weit von ihrer Vorläuferin entfernt. Die uneinsichtige Haltung des War Department führte letztendlich dazu, daß die Direktive in ihrer grundsätzlichen Aussage und in ihrer Substanz die gleiche geblieben war. Besonders deutlich wurde der Einfluß Morgenthaus in dem vom Finanzministerium überarbeiteten finanzpolitischen Teil der Direktive, der am 12. Februar beendet wurde und die Direktive JCS 1067 in ihrer revidierten Fassung vervollständigte367. Ganz überraschend war es nun der amerikanische Botschafter in London, Winant, der sich weigerte, die überarbeitete Direktive in der EAC vorzulegen. Er hatte vom wirtschaftspolitischen Teil den Eindruck, jede Zone solle als separate wirtschaftliche Einheit behandelt werden. Alle anderen EAC-Delegationen hatten in den vorangegangenen Monaten aber immer wieder Wert darauf gelegt, Deutschland als wirtschaftliche Einheit zu verwalten und die Zonengrenzen nicht als Wirtschaftsgrenzen anzusehen 368. Zwar versuchte das State Department, Winant vom Gegenteil zu überzeugen, indem es auf den prinzipiellen Vorrang von Kontrollrats-Entscheidungen gegenüber Entscheidungen der einzelnen Zonenoberbefehlshaber hinwies369. Winant hatte jedoch in Gesprächen mit führenden Offizieren der militärischen Planungsstellen in London den Eindruck 365 366 367 368 369 P.Y. Hammond, ebd., S. 402 Vgl. FRUS 1945 III, S. 381 f. Morgenthau Diary (Germany), S. 935 ff.; P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 405 FRUS 1945 III, S. 396 f. FRUS 1945 III, S. 398 f. 149 gewonnen, diese wollten die amerikanische Zone in Deutschland als abgetrennte und eigenständige Einheit verwalten370. Durch Winants Zurückweisung von JCS 1067 wurde die ohnehin fragliche Chance auf eine gemeinsame alliierte Deutschlandpolitik, zumindest für eine Phase des Übergangs, noch geringer. Neue Impulse erwarteten die nationalen Planer in Washington und London von der Konferenz der drei Regierungschefs Roosevelt, Churchill und Stalin in Jalta. IV.9. Die Konferenz von Jalta und die diesbezüglichen Vorarbeiten des Außenministeriums Vorbereitende Papiere des Außenministeriums. Von Jalta erhoffte sich Stettinius, der am 1. Dezember 1944 den kranken und den an ihn gestellten Anforderungen schon lange nicht mehr gewachsenen Cordell Hull als Außenminister abgelöst hatte, in den noch immer streitigen Planungsbereichen eine den Vorstellungen des State Department entgegenkommende graduelle Verschiebung der Gewichte. Zu diesem Zweck ließ er in seinem Ministerium detaillierte Papiere zur Behandlung Deutschlands ausarbeiten, die er Präsident Roosevelt noch vor Konferenzbeginn vorlegte371. a. Dabei handelte es sich einmal um ein Papier zur generellen Behandlung Deutschlands sowie um zwei weitere zur Wirtschaftsund Reparationspolitik. Das hervorstechende Merkmal aller drei Papiere war die überaus starke Betonung einer langfristigen Politik gegenüber Deutschland mit dem Ziel, einer eigenen demokratischen Entwicklung Gelegenheit zur Entfaltung zu geben. Die Einflußnahme der Besatzungsmächte sollte sich auf Korrekturmaßnahmen beschränken, insbesondere im Erziehungssystem, sobald eine "Säuberung" des Personals und der Lehrmittel beendet worden sei372. 370 371 372 FRUS 1945 III, S. 405 Texte in FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 167 ff. Vgl. FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 171 f. Dennoch enthielten die Vorschläge eine ähnlich kurzsichtige und "harte" Deutschlandpolitik wie sie auch bereits in den vorangegangenen Direktiven ihren sichtbaren Ausdruck gefunden hatte. Die diesbezüglichen Vorhaben waren ganz offensichtlich noch immer an der bekannt harten und unnachgiebigen Haltung Roosevelts gegenüber Deutschland orientiert, hatte doch der Präsident jedermann unmißverständlich wissen lassen, die Deutschen müßten diesmal erfahren, daß sie geschlagen seien, und lernen, daß die Deutschen Hilters Schuld teilten373. Zu den sicherheitspolitischen Aufgaben der Militärregierung in der Zeit unmittelbar nach Einstellung des organisierten Widerstands zählte das Außenministerium unter anderem die Demobilisierung und Auflösung der deutschen Streitkräfte einschließlich der halbmilitärischen Organisationen, Auflösung und verbot aller militärischen und halbmilitärischen Dienststellen, Beschlagnahme und Zerstörung aller deutschen Waffen, Munition und Kriegsgeräte und das Verbot ihrer Herstellung, Zerstörung von Industrieanlagen und Maschinen, die nicht zu friedlichem Gebrauch umgewandelt werden könnten, Demontage der Luftfahrtindustrie und Verbot der Herstellung von Luftfahrzeugen374. Zu den politischen Maßnahmen gehörten insbesondere diejenigen zur Zerstörung des nationalsozialistischen Systems, wie Auflösung der NSDAP und der ihr angeschlossenen und von ihr überwachten Organe, Abschaffung nationalsozialistischer Gesetze und Einrichtungen und die Entfernung aktiver Nazis aus dem öffentlichen und quasiöffentlichen Dienst und aus wichtigen Positionen in der Privatwirtschaft. Wer zu inhaftieren und zu bestrafen sei, wurde nicht näher ausgeführt. Es war nur ganz allgemein die Rede von "hauptsächlich politischen Missetätern und Kriegsverbrechern"375. Gleichzeitig sprach sich das State Department für Reparationsleistungen in Form von Zwangsarbeit aus, die 373 374 375 deutsche Vgl. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 409 FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 169 FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 170 151 wahrscheinlich besonders von der Sowjetregierung gewünscht würden. Es sah, wie es sich ausdrückte, keinen zwingenden Grund, sich solchen Forderungen zu widersetzen, solange sie sich in angemessenen Grenzen hielten und bei der Aushebung der Arbeitskräfte ein Unterschied zwischen vormals aktiven Nazis und politisch passiven Deutschen gemacht werde. Für letztere müsse hinsichtlich ihrer Behandlung ein Mindeststandard und eine verhältnismäßig kurze Dienstzeit vorgesehen werden376. Zur ersten Gruppe rechnete das State Department insbesondere die SS, ohne zwischen Waffen-SS und Allgemeiner SS zu unterscheiden, und ohne die britischen Einwände, bei der Waffen-SS handelte es sich lediglich um einen der Wehrmacht ähnlichen Truppenteil, gebührend zu berücksichtigen377. Wenn schon für den "normalen", d.h. völlig unbelasteten deutschen Zwangsarbeiter nur ein Mindeststandard gelten sollte, wird offensichtlich, welches Schicksal das State Department den sogenannten "aktiven Nazis" und Mitgliedern von "Naziorganisationen wie der SS"378 zugedacht hatte - ohne Anhörung des Einzelnen, Feststellung individueller juristischer Schuld oder gar einer Gerichtsverhandlung. Als Endziel bezeichnete das des politischen Papier die Wiederaufbaus Errichtung eines Deutschlands demokratischen Systems, die abhängig sei von einem erträglichen Lebensstandard und der Mäßigung der noch vorherrschenden ultra-nationalistischen Mentalität379. Dieser Zielsetzung widersprach jedoch der Plan für die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern ganz erheblich. Den erhöhten Lebensstandard sollten sich die Deutschen durch den Beweis demokratischer Lebensformen erst noch verdienen. Vorerst seien sie auf das Allernotwendigste zu beschränken. Daß ein von alliierter Seite auferlegtes Leiden eines ganzen Volkes einer demokratischen Entwicklung kontraproduktiv sein könnte, 376 377 378 379 152 FRUS Vgl. Vgl. FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 183 FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 170 FRUS Malta und Jalta (dt.),ebd. Malta und Jalta (dt.), S. 174 nicht förderlich, sondern wurde dabei nicht beachtet. Der entsprechende Absatz in dem Papier des State Department lautete: "Im Hinblick auf die Behandlung der deutschen Bevölkerung sollten von den Besatzungsbehörden keinerlei Schritte unternommen werden, um einen höheren Lebensstandard zu schaffen, als er zur Verhütung von Krankheiten und Unruhen erforderlich ist. Eine Übereinkunft in bezug auf eine einheitliche quantitative Definition dieses Standards und der Maßnahmen, die die Siegermächte notfalls zu ergreifen bereit sind, um dieses Minimum zu gewährleisten, sollte angestrebt werden. Dieses vereinbarte Minimum sollte dann erhöht werden, wenn man übereinstimmt, daß die politischen Tendenzen in Deutschland eine gewisse Lockerung rechtfertigen; den Bedürfnissen der befreiten Völker ist in jedem Fall Vorrang zu gewähren."380 Die in JCS 1067 niedergelegte Politik des "Hände weg" lehnte das US-Außenministerium weiterhin ab. Vielmehr empfahl es, mit Briten und Sowjets eine Übereinkunft zu erzielen über die Übernahme der Verantwortung zur Lenkung und Umorientierung des deutschen Wirtschaftslebens. Es sei gänzlich unmöglich, daß eine Politik des "Hände weg" von allen Großmächten akzeptiert und eingehalten werde. Deshalb müsse man bereit sein, in der ersten Zeit der Besatzung alle möglichen Schritte zu unternehmen, um die Entwicklung einer chaotischen, unhaltbaren wirtschaftlichen Lage zu vermeiden. Das sei auch eine Voraussetzung für die Ausübung wirksamer wirtschaftlicher Kontrollen. Darüber hinaus sollte ein Herstellungsverbot ergehen für Land- und Seekriegsausrüstungen. Alle Flugzeugtypen und die Spezialanlagen für ihre Herstellung sollten zerstört werden. Außerdem sollte ein Herstellungsverbot für eine Auswahl industrieller Schlüsselerzeugnisse (synthetisches Benzin und Gummi, bestimmte Werkzeugmaschinen und Präzisionsgeräte), und es sollten Exportverbote oder -beschränkungen für Metalle, Metallerzeugnisse und Chemikalien 380 FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 179 153 in Erwägung gezogen werden. Die verbliebene deutsche Industrie sollte auf Friedensproduktion umgestellt werden, insbesondere auf die Produktion von Reparationsgütern."381 Das State Department ordnete die Reparationspolitik der Sicherheitspolitik und den repressiven wirtschaftlichen Maßnahmen unter, wie es auch schon Morgenthau getan hatte. Auf keinen Fall dürften Sicherheits- und Wirtschaftsmaßnahmen geändert oder abgeschwächt werden, um Deutschland in die Lage zu versetzen, größere Reparationen zu leisten. Neben die schon oben angesprochene Zwangsarbeit sollten als weitere Reparationsform Güter aus der laufenden Produktion treten. Falls große Teile der deutschen Industrie für immer demontiert werden sollten, müsse das Hauptgewicht der Reparationsleistungen notwendigerweise mehr auf der Ablieferung der bestehenden deutschen Anlagen als des laufenden Ausstoßes liegen, wodurch der Gesamtumfang der Reparationsleistungen aber verhältnismäßig gering sein werde. Um Transferschwierigkeiten zu vermeiden, sollten Reparationen vorwiegend "in Naturalien", d.h. eher in Waren und Dienstleistungen als in Devisen bezahlt werden. Damit sich der normale Handel schnell wieder erhole, dürfe das Reparationsprogramm jedoch von nur kurzer Dauer sein, möglicherweise beschränkt auf fünf Jahre, keinesfalls mehr als zehn382. Zu Restitutionsleistungen merkte das Papier an, Deutschland solle grundsätzlich die uneingeschränkte Verpflichtung auferlegt werden, identifizierbares gestohlenes Eigentum zu ersetzen. Geplündertes Eigentum sollte durch eine Wiedererstattungskommission an die Regierung zurückgegeben werden, deren Gerichtsbarkeit der Ort der früheren Lage des Eigentums unterstehe, nicht an die einzelnen ehemaligen Eigentümer383. Ein völkerrechtliches Novum stellte der nächste Absatz dar, in dem es hieß: 381 382 383 154 FRUS Malta und Jalta FRUS Malta und Jalta FRUS Malta und Jalta (dt.), S 179 . 182 (dt.), s. (dt.), s. 183 "Jegliches Eigentum, welches während der deutschen Besatzungszeit nach Deutschland gebracht wurde, sollte als zwangsweise entfernt betrachtet werden und folglich als geplündertes Eigentum behandelt werden." Dies bedeutete, daß durch die Wiedererstattung nicht begangenes Unrecht und eine unrechtmäßige Eigentumsverlagerung rückgängig gemacht werden sollten, sondern selbst ordnungsgemäß erworbene und bezahlte Güter, z.B. aus Frankreich, als "geplündert" angesehen wurden und zurückerstattet werden mußten385. Die Ergebnisse der Krim-Konferenz. Jalta wurde jedoch, entgegen aller damit verbundenen Hoffnung, kein Markstein für eine substantielle Deutschlandpolitik der Alliierten. Keine der drei Mächte war in der Lage, Vorschläge für eine umfassende kurzwie langfristige Deutschlandpolitik zu unterbreiten, die auch nur eine annähernde Aussicht auf Annahme gehabt hätten. So begnügte man sich auf der Krim damit, Einzelprobleme zu beraten und wenn möglich auch zu entscheiden. Die EAC-Protokolle über die Zoneneinteilung und den Kontrollrat fanden die Zustimmung der drei Staatsoberhäupter386, die Teilungsfrage wurde beraten und zur weiteren Erörterung an ein dafür extra geschaffenes Komitee verwiesen387. b. Besonderen Raum nahm die Reparationsfrage ein. Die Sowjets, die sich in diesem Punkt anders als die amerikanische Delegation intensiv vorbereitet hatten, forderten Reparationen im Wert von wenigstens zehn Milliarden Dollar. Der Plan zielte auf deutsche Sachgüter und Dienstleistungen 384 385 FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 183 So wurden von den Franzosen nach dem deutschen Zusammenbruch unter dem Titel "Restitutionen" selbst Güter aus der französischen Zone abtransportiert, die noch aus Geschäftsbeziehungen aus der Zeit vor 1939 stammten, vgl. K.- D. Henke, Politik der Widersprüche - Zur Charakteristik der französischen Militärregierung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, VfZG 1982, S. 500 ff., insb. S. 520 ff.. 386 Vgl. den Bericht über die Krimkonferenz in: W. Cornides/H. Volle, Um den Frieden mit Deutschland, S. 54 ff. 387 Vgl. dazu unten 2. Teil, VI.1. 155 ab und war eine Verkoppelung von sicherheitspolitischen und reparationspolitischen Motiven. Insgesamt sollte innerhalb der ersten beiden Jahre der Besatzung 80 Prozent der deutschen Schwerindustrie demontiert und ins Ausland geschafft werden, während die restlichen 20 Prozent zur Deckung der inländischen Bedürfnisse Deutschlands ausreichen würden. Außerdem wollten die Sowjets alle diejenigen Industriezweige demontiert wissen, die nach ihrer Auffassung militärischen Zwecken dienten. Darüber hinaus sollte Deutschland auch Reparationen aus der laufenden Güterproduktion leisten388. Die Konferenzteilnehmer einigten sich schließlich auf die Annahme einer die aufbrechenden Gegensätze zwischen den Briten und Sowjets nur mühsam überbrückenden Formulierung im Abschlußkommunique. Eine feste Reparationssumme wurde nicht genannt. Es wurde jedoch grundsätzlich festgelegt, daß Deutschland in größtmöglichem Umfang verpflichtet werde, Ersatz für den verursachten Schaden zu leisten. Alles weitere wurde der neu gegründeten Moskauer Reparationskommission übergeben, die die Frage des Umfangs und der Art und Weise der Wiedergutmachung behandeln sollte. In einem zusätzlichen Geheimabkommen sprachen sich die drei Regierungschefs dafür aus, daß Deutschland die Reparationen unter anderem in Form von Warenlieferungen und - von besonderer Bedeutung - durch die Verwendung deutscher Arbeitskräfte erbringen solle389 IV. 10. Das Memorandum des State Department vom 10. März 1945 Als Roosevelt am 28. Februar von der Krim nach Washington zurückkam, übertrug er seinem Außenminister die Verantwortung für die Ausführung der in Jalta gefaßten Beschlüsse mit Ausnahme der militärischen Angelegenheiten. Andere Regierungsstellen sollten nur insoweit hinzugezogen 388 389 156 . Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber Deutschland 1941-1945, S. 119 ff. O. Nübel, ebd., S. 125; W. Cornides/H. Volle, Um den Frieden mit Deutschland, S. 55, 57 werden, als ihre jeweiligen Sachfelder berührt waren390. Stettinius erkannte die Möglichkeit, auf der Basis dieses Auftrags die bisherige Deutschlandplanung, soweit sie im Außenministerium auf Ablehnung gestoßen war, in eine ihm gemäße Richtung zu beeinflussen. Schon am 10. März 1945 ließ er Roosevelt eine neue Fassung einer Direktive zur Behandlung Deutschlands zukommen391. Anders als die vor der Krim-Konferenz an Roosevelt übergebenen Papiere enthielt der neue Entwurf des State Department keinerlei langfristige Zielsetzungen und konzentrierte sich, wie schon JCS 1067, auf die erste Phase nach der Kapitulation oder Niederlage. Den bei weitem umfassendsten Teil bildete die wirtschaftliche Kontrolle Deutschlands, lag doch in diesem Bereich der Schwerpunkt der Meinungsverschiedenheiten. Gleich zu Beginn des wirtschaftspolitischen Abschnitts hatten die Planer in Stettinius' Ministerium der Kritik Winants an der letzten Fassung von JCS 1067 Rechnung getragen, indem sie feststellten, daß bis zu einer endgültigen Entscheidung über Grenzänderungen, Deutschland, wie es am 1. Januar 1938 existierte, als wirtschaftliche Einheit zu verwalten und zu kontrollieren sei mit Ausnahme von Ostpreußen und Oberschlesien. Repressive Eingriffe in die deutsche Industrie sollten sich vor allem auf die Kriegsgüterproduktion beziehen, die zu stoppen und für die Zukunft zu verhindern sei. Dies entsprach ebenso den vor Jalta gemachten Vorschlägen wie das Verbot der Produktion und des Beibehaltens von Produktionsanlagen für Flugzeuge, synthetisches Benzin und Gummi sowie Leichtmetalle. Um die Metall-, Maschinenund Chemische Industrie in anderen Ländern zu fördern und zu entwickeln, sollte der Export konkurrierender deutscher Produkte für eine erhebliche Zeit unterdrückt werden392. 390 391 392 FRUS 1945 III, S. 433 Text des Entwurfs des Außenministeriums: FRUS 1945 III, S. 434 ff.; Morgenthau Diary (Germany), S. 953 ff. FRUS 1945 III, S. 436, 438 157 Übernommen aus den vorangegangenen Direktiven-Entwürfen wurde unter anderem die "disease and unrest"-Klausel, wenngleich im Entwurf des State Department gesprochen wurde von "disorder and disease", was aber im Ergebnis keinen Unterschied gemacht haben dürfte. Diese Gefahren im Interesse der Besatzungsmacht zu verhüten, war die Aufgabe des Militärgouverneurs, der dafür einen Mindeststandard an Lebensumständen für das deutsche Volk bereitzustellen hatte, wozu neben Nahrungsmitteln auch Unterkünfte, Kleidung und medizinische Versorgung gehörten393. Die Reparationsverpflichtungen müßten so sein, daß Deutschland sich ihrer innerhalb eines Zeitraumes von zehn Jahren entledigen könne394. Die Entnazifizierungs-Bestimmungen des State Department waren in vielen Teilen moderater als es bisher in JCS 1067 zu lesen war. Arrest und Bestrafung bezogen sich lediglich "nationalsozialistische politische Übeltäter" ("Nazi auf political malefactors") und Kriegsverbrecher. Auch die aus ihren Ämtern und Positionen - unter anderem auch von beherrschenden Stellungen in Industrie, Handel und Finanzwesen - zu entfernenden Personengruppen wurden nur recht allgemein bestimmt, so daß den Ausführenden ein gewisser Entscheidungsspielraum gelassen wurde. Zu Reparationsarbeiten Deutsche sollten außerhalb sich Deutschlands vornehmlich aus den heranzuziehende Reihen aktiver Nationalsozialisten und aus NS-Organisationen rekrutieren, wobei ausdrücklich die SS und die Gestapo genannt wurden395. Gerade der letzte Punkt war durch den entsprechenden Beschluß der drei Regierungschefs in Jalta in den kommenden Debatten in Washington von besonderer Schwere. Reparationsarbeit mußte zwangsläufig Sklavenarbeit heißen. Konnten die politisch Verantwortlichen das noch vertreten und mit ihrem eigenen Selbstverständnis vereinbaren? Die diesbezüglichen Planungen waren zwar nicht neu, traten aber durch den Beschluß von Jalta nun erstmals 393 394 395 158 FRUS 1945 III, S. 436 FRUS 1945 III, S. 437 FRUS 1945 III, S. 435, 437 in ein Stadium ein, in dem eine definitive Entscheidung von amerikanischer Seite nicht mehr zu umgehen sein würde. Zunächst stimmte Roosevelt der Vorlage des Außenministers ohne irgendwelche Anmerkungen oder Einschränkungen in der für ihn typischen Art mit "OK FDR" zu und gab sie an Stettinius zurück396. Nicht weniger typisch war, daß er schon wenige Tage danach, als sich der Widerstand von Finanz- und Kriegsministerium andeutete, einen Rückzieher auf der ganzen Linie machte und Stimson zu verstehen gab, er könne sich an das Dokument nicht erinnern und habe es nach seinem Kenntnisstand auch nicht gelesen . IV. 11. Dia Reaktionen in Kriegs- und Finanzministerium- gemeinsames Memorandum vom 23. März 1945 a. Widerstand gegen das State Department Memorandum. Morgenthau und McCloy, der in Deutschlandfragen die Richtung des War Departments anstelle des resignierten Stimson bestimmte, gingen gemeinsam, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, gegen das Papier vom 10. März vor. Der grundlegende Meinungsunterschied entzündete sich an der Frage, welcher Spielraum den Tätigkeiten der alliierten Militärregierung zu gewähren sei und inwieweit überhaupt ein Bedürfnis nach einer alliierten Vereinbarung über die Behandlung Deutschlands bestehe. Während das Außenministerium eine möglichst breite alliierte Einigung über Deutschland und ein aktives und gegebenenfalls zentrales Eingreifen der Zonenkommandeure zur Aufrechterhaltung der Friedenswirtschaft herbeiführen wollte, widersetzten sich Finanzund Kriegsministerium diesem Ansinnen. Beide hatten kein Interesse daran, den amerikanischen Zonenkommandeur auf eine bestimmte Politik festzulegen und ihn auch noch für die deutsche Wirtschaft verantwortlich zu machen. Das Finanzministerium erhoffte sich davon ein Chaos in Deutschland, das Kriegsministerium hingegen wollte die militärischen Stellen nicht zu lange 396 397 FRUS 1945 III, S. 433, Anm. 43 P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 418 159 mit zu viel politischen Dingen beschäftigt wissen und bevorzugte deshalb die vollkommene Autorität des Zonenkommandeurs, selbst über die zu treffenden Entscheidungen (unter militärischen Gesichtspunkten) bestimmen zu können. Dementsprechend sollte jede Zone als eigene Einheit verwaltet werden und die Besatzungstruppen fast ausschließlich nur mit ein paar einfachen Aufgaben befaßt sein, wie mit der Entnazifizierung und vornehmlich der Entwaffnung. Von fast allem anderen sollten sie die Finger lassen, um sich so schnell wie möglich zurückziehen zu können, und die zukünftige Entwicklung Deutschlands den Deutschen überlassen. Im State Department bezeichnete man dieses Konzept als "zerschlagen und wegrennen" ("smash-andrun")398. Im Finanzund im Kriegsministerium wurden daraufhin Denkschriften angefertigt und zirkuliert, um den eigenen Vorstellungen Nachdruck zu geben399. In einer Besprechung mit Roosevelt am 22. März 1945 legte dieser nun doch einmal so etwas wie eigene Vorstellungen zur Besatzungspolitik in Deutschland auf den Tisch. Er distanzierte sich ausdrücklich von dem Papier vom 10. März, konnte aber nicht umhin zuzugeben, daß lenkende Eingriffe in die Volkswirtschaft notwendig seien, um die Ziele der amerikanischen Besatzungspolitik zu erreichen. Von einer vollständigen Zerstörung der deutschen Industrie wollte er nichts mehr wissen. Die Kompetenzen des Kontrollrats und der einzelnen Zonenkommandeure sollten genauer bestimmt werden. McCloy hatte den Eindruck, Roosevelt suche einen Mittelweg zwischen den ursprünglichen Plänen Morgenthaus und den Vorschlägen des Außenministeriums vom 10. März400. Die Ergebnisse des Gesprächs mit Roosevelt wurden vom War Department zusammengefaßt und nach geringen Änderungen durch Finanz- und Außenministerium von Roosevelt am 23. März 1945 genehmigt401. Es blieb die letzte offizielle 398 399 400 401 160 Vgl. FRUS 1945 III, S. 457 Vgl. FRUS 1945 III, S. 460 ff.; Morgenthau Diary (Germany), S. 1001 ff.; P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 418 ff. Morgenthau Diary (Germany), S. 1070 ff.; P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 420 Text dieses Papiers: FRUS 1945 III, s. 471 ff.; vgl. auch Äußerung Roosevelts zur Besatzungspolitik in Deutschland. Drei Wochen später starb der Präsident. Inhalt der gemeinsamen Denkschrift vom 23. März 1945. Die Denkschrift vom 23. März sollte in der EAC bekannt gemacht werden und gleichzeitig als Grundlage dienen für Direktiven an den kommandierenden General der Vereinigten Staaten in Deutschland. Die Autorität des Kontrollrates im Hinblick auf die Formulierung der Politik, die Deutschland als Ganzes betreffe, stehe an erster Stelle, und die dort vereinbarten politischen Maßnahmen sollten in jeder Zone durch den dortigen Kommandeur ausgeführt werden. Eigene Entscheidungsbefugnisse in Übereinstimmung mit den an ihn ergangenen Direktiven wurden dem Zonenkommandeur nur für den Fall zugestanden, daß eine gemeinsame Politik nicht vereinbart sei, und sie nur Angelegenheiten beträfen, die ausschließlich die eigene Zone angingen. Nachdrücklich wurde auf das Ziel der Dezentralisierung der politischen Struktur in Deutschland und der Entwicklung lokaler Verantwortlichkeiten hingewiesen. Dezentralisiert werden sollte außerdem die deutsche Wirtschaft. Ausnahmen von diesem Grundsatz, und damit eine zentrale Kontrolle, dürften nur in ein paar wenigen, genau bezeichneten Gebieten zugelassen werden. Kontrollen sollten der deutschen Wirtschaft nur insoweit auferlegt werden, wie es notwendig sei, um das Programm der industriellen Entwaffnung und Entmilitarisierung, Reparationen und die Versorgung befreiter Gebiete auszuführen und die Produktion und Beibehaltung von Gütern und Dienstleistungen zu gewährleisten, die verlangt würden, um die Bedürfnisse der Besatzungstruppen und nach Deutschland verschleppter Personen ("Displaced Persons") zu befriedigen. Herstellung und Aufrechterhaltung von Gütern und Dienstleistungen sollten darüber hinaus, aber bezeichnenderweise an letzter Stelle genannt, dazu dienen, eine Hungersnot oder solche Krankheiten und zivile Unruhen zu verhindern, die die Besatzungstruppen gefährden könnten. Keinesfalls aber dürften Maßnahmen ergriffen werden, auch nicht in a. Morgenthau Diary (Germany), S. 1115 ff. 161 Ausführung des Reparationsprogramms, die zu einer Unterstützung des grundlegenden Lebensstandards in Deutschland führen würden, der höher sei als der in irgendeinem der Nachbarländer. Die Verantwortung für die deutsche Wirtschaft, auch für die Kontrollen, sollte Deutschen übertragen werden. Dadurch sollte dem deutschen Volk klargemacht werden, daß es selbst die Verantwortung für den Zusammenbruch der Wirtschaft trage402. Dies war angesichts der durch den Krieg herbeigeführten Zerstörungen und der geplanten Demontagen quasi ein Todesurteil für die deutsche Industrie, die nur sich selbst überlassen und ohne Stützung durch die Alliierten unmöglich überleben konnte. Auf diese Art und Weise hätte man von amerikanischer Seite ihre Zerstörung zwar nicht eigenhändig vorgenommen, durch tatenloses Zusehen aber letztendlich das gleiche Ziel erreicht. Wie auf diesem Boden eine Erneuerung und Rückführung der deutschen Wirtschaft auf den internationalen Markt vonstatten gehen konnte, wie es den Plänen des Außenministeriums ja eigentlich entsprach, blieb eine ungelöste Frage. Daß Chaos, Hunger und eine zerschlagene Wirtschaft in den amerikanischen Überlegungen eine feste Größe waren, die man gar nicht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen gedachte, sondern vielmehr als eine angemessene "Strafe" für die Deutschen ansah, zeigte ein Absatz des Memorandums vom 23. März, in dem es hieß: "Germany's ruthless warfare and fanatical Nazi resistance have destroyed German economy and made chaos and suffering inevitable. The Germans cannot escape responsibility for what they have brought upon themselves."403 Damit war gerade in der zentralen Streitfrage, der Behandlung der deutschen Wirtschaft, das Außenministerium erneut unterlegen. In den Bereichen Auflösung von NSDAP und untergeordneten Organisationen, Aufhebung von NS-Gesetzen, 402 403 162 FRUS 1945 III, S. 471 f. FRUS 1945 III, S. 471 Kontrolle des Erziehungswesens stimmten die Ministerien ohnehin überein, und die Arrest- und Entlassungskategorien wurden derart vage formuliert, daß es auch hier zu keinen Meinungsdifferenzen kam404. IV.12. Letzte Revision von JCS 1067 In Washington ging man nun daran, die im Memorandum vom 23. März niedergelegten grundsätzlichen Aussagen in die Direktive JCS 1067 einzupassen. Zu diesem Zweck hatte Roosevelt auf Anregung von Stettinius ein "Informal Policy Committee on Germany" (IPCOG) zusammengestellt, das unterteilt war in Unterausschüsse für politische, finanzielle und wirtschaftliche Angelegenheiten405. Das Ergebnis war eine insgesamt 52 Absätze umfassende Direktive, die am 11. Mai 1945 vom neuen amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman gebilligt und drei Tage später als dritte offizielle Version von JCS 1067 an den amerikanischen Oberbefehlshaber, General Eisenhower, gesandt wurde406. Der Versuch, das Memorandum vom 23. März in der EAC zum Gegenstand von Verhandlungen zu machen und in diesem Gremium gemeinsame Besatzungsrichtlinien zu erarbeiten, scheiterte letztlich daran, daß den Delegierten nicht ausreichend Zeit blieb, die amerikanischen Vorschläge und die von den Briten vorgelegten Neufassungen bis zur Potsdamer Konferenz und der nachfolgenden Auflösung der EAC hinreichend ausführlich zu erörtern407. Damit blieb die Interims-Direktive nur für den amerikanischen Oberbefehlshaber für dessen Vorgehen in der amerikanischen Zone bindend. Briten und Sowjets - nach Potsdam auch die Franzosen - gingen nach eigenen Plänen vor; einer gemeinsamen Politik über den alliierten Kontrollrat war ebenfalls wenig Erfolg beschieden. 404 405 406 407 FRUS 1945 III, S. 472 f. Über die Arbeit des IPCOG vgl. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 422 ff.. P.Y. Hammond, ebd., S. 427 Vgl. A. Tyrell, Großbritannien und die Deutschlandplanung der Alliierten, S. 325 ff. 163 Inhalt der revidierten Fassung. Das Ergebnis der amerikanischen Besatzungsplanung war ein äußerst negatives Dokument, das den maßgeblichen Einfluß Morgenthau'schen Gedankenguts nicht verbergen konnte. In dem Abschnitt "Grundlegende Ziele der Militärregierung in Deutschland" von JCS 1067 stand als Weisung an den kommandierenden General der amerikanischen Besatzungstruppen wie schon in der Denkschrift vom 23. März zu lesen: a. "Es muß den Deutschen klargemacht werden, daß Deutschlands rücksichtslose Kriegführung und der fanatische Widerstand der Nazis die deutsche Wirtschaft zerstört und Chaos und Leiden unvermeidlich gemacht haben, und daß sie nicht der Verantwortung für das entgehen können, was sie selbst auf sich geladen haben." Der dann folgende Satz kann gleichsam als Motto der Direktive, als Ausdruck des ihr zugrundeliegenden Geistes und Wegweiser für die Tendenz der geplanten - und weitestgehend in den ersten beiden Nachkriegsjahren durchgeführten - US-Besatzungspolitik. in Deutschland gelten: "Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat."408 . Als alliierte Besatzungsziele wurden aufgeführt, Deutschland daran zu hindern, je wieder eine Bedrohung des Weltfriedens zu werden, die Abwicklung des Reparationsund Restitutionsprogramms, Nothilfe für die durch den Nazi- Angriff verwüsteten Länder sowie die Betreuung und Rückführung der Kriegsgefangenen und Verschleppten der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen409. 408 409 164 Dt. Text der Direktive JCS 1067 in W. Cornides/H. Volle, Um den Frieden mit Deutschland, S. 58 ff.; vgl. Originaltext u.a. auch FRUS 1945 III, S. 484 ff., 510 ff.; Morgenthau Diary (Germany), S. 1286 ff. W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 60 Es wurde der Grundsatz ausgegeben, daß der deutschen Wirtschaft in dem Maße Kontrollen auferlegt werden könnten, wie sie erforderlich seien, um die vorstehend genannten Ziele zu erreichen und soweit sie zum Schutz der Sicherheit und zur Befriedigung des Bedarfs der Besatzungs- streitkräfte, zur Sicherung der Produktion und Aufrechterhaltung von Lieferungen und Dienstleistungen notwendig seien, um Hungersnot oder Krankheiten und Unruhen, die eine Gefährdung dieser Streitkräfte darstellen würden, vorzubeugen410. Weiterhin hieß es in JCS 1067: "Sie werden bei der Durchführung des Reparationsprogramms oder anderweitig nichts unternehmen, was geeignet wäre, die grundlegenden Lebensbedingungen in Deutschland oder in Ihrer Zone auf einem höheren Stand zu halten, als in irgendeinem benachbarten Mitgliedstaat der Vereinten Nationen."411 Das bedeutete unter anderem für die Wirtschaft in der amerikanischen Zone eine "Hände-weg"-Politik soweit es um eine positive und fördernde Einflußnahme zur Erhaltung und Stärkung ging, während Eingriffe in die Substanz der Industrie durch Demontagen und Zerstörungen befürwortet wurden. Die deutsche Wirtschaft sollte so verwaltet und kontrolliert werden, daß die genannten Hauptziele erreicht würden. Soweit es zur Erreichung dieser Ziele notwendig sei, seien auch Wirtschaftskontrollen einzuführen. Danach hieß es: "Abgesehen von den für diese Zwecke erforderlichen Maßnahmen werden Sie keine Schritte unternehmen, die (a) zur wirtschaftlichen Wiederaufrichtung Deutschlands führen könnten oder (b) geeignet sind, die deutsche Wirtschaft zu erhalten oder zu stärken."412 410 411 412 W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 60 f. W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 61, 66 W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 65 165 An diesem Abschnitt zeigt sich, daß die Bemühungen de:; Außenministeriums aus dem Frühjahr 1945, den US- Oberbefehlshaber zu einem konstruktiven wirtschaftspolitischen Vorgehen zu verpflichten, dem einhelligen Widerstand von Kriegs- und Finanzministerium zum Opfer gefallen waren. Die Wirtschaft insgesamt, vorneweg die Industrie, durch Kriegseinwirkungen beschädigt und durch nachfolgende Demontagen vollends ausgeblutet, sollte sich selbst überlassen bleiben. Das mußte für Deutschland dem Morgenthau-Plan ähnliche Folgen nach sich ziehen. Wie Deutschland unter diesen Prämissen Reparationen und Hilfsgüter liefern sollte, ohne dabei selbst zu kollabieren, war eine nicht zu beantwortende Frage. Denn nur von der eigenen landwirtschaftlichen Erzeugung, die freilich auf einen Höchststand gebracht werden sollte413, konnten die Deutschen unmöglich überleben. Unter dem Punkt "Entnazifizierung" wurde all jenes aufgezählt, worüber in Washington bereits seit Monaten Einverständnis bestand: Auflösung der NSDAP, ihrer Gliederungen, angeschlossenen Verbände, untergeordneten Organisationen und aller öffentlichen Nazi-Einrichtungen, die als Werkzeuge der Parteiherrschaft gegründet worden waren; Aufhebung der Gesetze, die den politischen Aufbau des Nationalsozialismus und die Grundlage für das Hitler- Regime schaffen sollten, und aller Gesetze, Erlasse und Verordnungen, die eine unterschiedliche Behandlung aufgrund von Rassezugehörigkeit, Nationalität, Glaubensbekenntnis und politischer Meinung anordneten. Sodann folgte eine ausufernde Liste derer, die aus ihren öffentlichen Ämtern und aus wichtigen Stellungen in halbamtlichen und privaten Unternehmungen entfernt und ausgeschlossen werden sollten. Dazu gehörten alle Mitglieder der Partei, die nicht nur nominell in der Partei tätig gewesen seien, alle, die den Nazismus oder Militarismus aktiv unterstüzt hätten, sowie alle die Personen, die den alliierten Zielen feindlich gegenüberstünden. Die auf diese Weise zu säubernden Einrichtungen umfaßten quasi alle staatlichen und 413 166 W. cornides/H. Volle, ebd., s. 66 gesellschaftlichen Bereiche: Organisationen des Bürgerstandes, des Wirtschaftslebens und der Arbeiterschaft, Körperschaften und andere Organisationen, an denen die deutsche Regierung oder Unterabteilungen ein überwiegend finanzielles Interesse habe, Industrie, Handel, Landwirtschaft und Finanz, Erziehung und Presse sowie Verlagsanstalten und andere der Verbreitung von Nachrichten und Propaganda dienende Stellen414. Dieser Katalog war eine Neuauflage der Kategorien, die schon in der ursprünglichen Direktive vom 22. September 1944 enthalten gewesen waren. Gleiches galt für die Internierungskategorien. Von ihnen sollten laut JCS 1067 "als Kriegsverbrecher verdächtige Personen und Verhaftungen im Interesse der Sicherheit" erfaßt werden. Zur ersten Gruppe zählten Adolf Hitler, seine "HauptNazi-Komplizen", andere Kriegsverbrecher und alle die Personen, die an der Planung oder Durchführung von Nazi-Unternehmungen beteiligt gewesen seien, die mit Greueltaten oder Kriegsverbrechen in Verbindung gestanden oder zu solchen geführt hätten. Zur zweiten Gruppe gehörten alle diejenigen Personen, die die Erreichung der Besatzungsziele gefährden würden, wenn man sie in Freiheit ließe415. Eine Liste der in diese Kategorie Fallenden, die dem entsprechenden Abschnitt von JCS 1067 anhing, wurde noch Jahre danach von den Amerikanern nicht veröffentlicht, da sie befürchteten, einige der immer noch Gesuchten könnten dadurch gewarnt werden und sich ihrer Verhaftung entziehen416. Aus einer späteren Veröffentlichung wissen wir, daß diese Liste deckungsgleich war mit der in der September-Direktive von 1944, also auf dem Höhepunkt der Morgenthau-Erfolge, enthaltenen417. Weiterhin verpflichtete JCS 1067 den Oberbefehlshaber, alle außerordentlichen Gerichtshöfe aufzulösen und alle Straf-, Zivilund Verwaltungsgerichte zu schließen. Sie dürften ihre Tätigkeit erst wieder aufnehmen, wenn alle Spuren des 414 415 416 417 W. Cornides/H. Volle, W. Cornides/H. Volle, W. Cornides/H. Volle, Vgl. Morgenthau Diary ebd., S. 61 ebd., S. 62 ebd., S. 63 (Germany), S. 1291 f.. 167 Nazismus und das Nazi-Personal entfernt seien. Allo pädagogischen Einrichtungen in der amerikanischen Zone seien zu schließen und erst nach ihrer Säuberung wieder zu öffnen418. Die Auszahlung von Militärpensionen, -einkünften und -Unterstützungen sei ebenso zu verbieten wie die Auszahlung aller öffentlichen und privaten Pensionen oder anderer Einkünfte oder Unterstützungen, die aufgrund der Mitgliedschaft oder Dienstleistungen für die NSDAP, ihre Gliederungen, angeschlossenen Verbände oder untergeordneten Organisationen gewährt würden, oder an eine Person, die zu internieren sei. Kredite von irgendeiner ausländischen Person oder Regierung dürften Deutschland oder einzelne deutsche Staatsangehörige nicht erhalten, es sei denn, der Kontrollrat erteile dazu in besonderen Notfällen seine Genemigung419. Bewertung der revidierten Fassung. Die Direktive JCS 1067 war, wie selbst Kriegsminister Stimson feststellte (aber erst 1947), "bedauerlich negativ" ("a painfully negative document")420. Sie "reflektierte in einem großen Maß eine Philosophie von Quarantäne und Rache" ("... reflected in large measure a philosophy of quarantine and revenge ...")421. Der amerikanische Völkerrechtler und Historiker Alfred M. de Zayas charakterisiert die Direktive folgendermaßen: b. "Die Weisung JCS 1067 war also ... eine Strafmaßnahme, die den wirtschaftlichen Rückschritt in Deutschland befördern und die Wiederherstellung des ’status quo ante' verhindern sollte. Während diese Direktive die amerikanischen Behörden anwies, darüber zu wachen, daß sich der deutsche Lebensstandard nicht über den seiner Nachbarn hob, versäumte sie jedoch, einen Mechanismus zu entwerfen, nach dem der Lebensstandard der verschiedenen in Betracht kommenden Länder zu messen und zu vergleichen gewesen wäre. Deshalb nahmen die alliierten Befehlshaber im besetzten 418 419 420 421 168 W. Cornides/H. Volle, Um den Frieden mit Deutschland, S. 63 f. W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 71, 73 Stimson and Bundy, On Active Service in Peace and War, S. 582 H. Zink, The United States in Germany 1944-1955, S. 92 Deutschland schlicht an, daß der Lebensstandard in den anderen europäischen Ländern immer noch niedriger als der deutsche sei, und verhinderten private Initiativen, die viele Deutsche, vor allem die verelendeten Vertriebenen, vor Hungertod und Krankheit hätten retten können." JCS 1067 war in seiner abschließenden Fassung nicht so sehr ein Produkt Morgenthaus, wie häufig angemerkt worden ist423. Das Papier war vielmehr in seinen allermeisten Punkten - sieht man einmal vom wirtschaftspolitischen Konzept ab - das Ergebnis einer gleichgerichteten, der gleichen Interessenlage entspringenden und den gleichen Zielen dienenden Deutschlandpolitik der drei zuständigen Ministerien, jeweils ausgerichtet am wirklichen oder auch vermeintlichen Willen des "spiritus rector" Franklin D. Roosevelt, dessen - trotz aller argumentativer Mäander - bekannt "harte" Deutschlandplanung sein Nachfolger Harry Truman zunächst unbeirrt fortsetzte. In den meisten Fragen mußte Morgenthau sich gar nicht durchsetzen, weil er gar keinen Widerstand zu befürchten hatte. Dazu gehört exemplarisch das Problem des deutschen Lebensstandards, über dessen Niedrighaltung es im Grunde zwischen allen Ministerien keine Differenzen gab. Viele weitere Maßnahmen, die man als für eine "harte" Haltung signifikant bezeichnen kann (z.B. die überspannten und formalistischen Internierungs- und Entlassungskategorien, keine Übernahme der Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Volkswirtschaft, exzessive Kontroll- und Überwachungstätigkeiten in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens etc.) stammten aus dem Kriegsministerium, entsprachen Morgenthaus Plänen (zumindest liefen sie ihnen nicht entgegen und ließen sich gut miteinander harmonisieren) und stießen im Außenministerium auf keinen Widerspruch, der so durchdacht, in sich differenziert und entsprechend artikuliert worden wäre, daß er bei Roosevelt langfristigen Erfolg hätte haben können. Diese Einsichten 422 423 A.M. de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, S. 150 Vgl. nur R. Murphy, Diplomat unter Kriegern, S. 330; J.P. Warburg, Deutschland - Brücke oder Schlachtfeld, S. 20 169 exkulpieren nicht Morgenthau, sie belasten vielmehr die anderen Minister, subalterne Planer und nicht zuletzt natürlich Roosevelt selbst424. Nicht durchzusetzen vermochte sich Morgenthau in der Streitfrage einer Agrarisierung Deutschlands. Es war jedoch ein offensichtlicher Erfolg für ihn (und das War Department), daß für die Wirtschaftspolitik der Grundsatz des "Hände weg" gelten sollte. Dies konnte nur Chaos, Elend und einen totalen Zusammenbruch der deutschen Volkswirtschaft bedeuten. Die Agrarisierung wäre von ganz alleine gekommen, nicht von dritter Seite aufgezwungen, sondern als das zwangsläufige Produkt der "Hände weg"- Politik. Die Rechtfertigung der Amerikaner für diese Zustände war in JCS 1067 bereits angelegt: Die Deutschen seien an diesen Umständen ja schließlich selbst schuld und müßten sich dies alles selbst zuschreiben. So spielte das Kriegsministerium, die volkswirtschaftlichen Pflichten einer Besatzungsmacht negierend und in Überbetonung angeblicher militärischer Sicherheitsinteressen, dem Finanzministerium - bewußt oder unbewußt - in die Hände. Das feine Gleichgewicht zwischen den humanen Pflichten einer Besatzungsmacht gegenüber der Bevölkerung auf feindlichem Gebiet und den eigenen militärischen Sicherheitsinteressen geriet in eine vollkommene Schieflage zugunsten der letzteren. An die Stelle der "militärischen Notwendigkeit", die in Ausnahmefällen zur Einschränkung der Fürsorge für die Bevölkerung führen konnte (aber nur solange überhaupt noch Feindseligkeiten von beiden Seiten vonstatten gingen), trat in der amerikanischen Planung für die Zeit nach der Kapitulation oder vollständigen militärischen Niederlage Deutschlands die "Verwirklichung der Besatzungsziele". Der Verfolgung dieser Ziele wurde im Verhältnis zum Wohlergehen der deutschen Bevölkerung absolute Priorität eingeräumt, soweit nur ein nicht näher 424 170 Daß JCS 1067 nicht so sehr auf den Einfluß Morgenthaus beruhte, sondern auch den Ansichten anderer Persönlichkeiten entsprach, hat zuletzt W. Krieger, General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik 1945-1949, S. 38 ff., 49 ff. betont. bestimmter und nicht weiter verifizierbarer Mindeststandard garantiert wäre. Daß die Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907 eine derartige Abwägung zwischen dem Wohlergehen der Bevölkerung und politischen Besatzungszielen nicht kennt, wurde in der Planung übergangen. IV.13. Reparationsplanungen nach Jalta Aus den Planungen für die Besatzungsdirektive war ein Thema nach der Jalta-Konferenz ausgeklammert worden: Inhalt und Grenzen der von Deutschland zu verlangenden Reparationen. Auf der Krim hatten sich die drei Regierungschefs auf die Berufung einer Reparationskommission geeinigt, die auch ab März 1945 ständig in Moskau konferierte. Die Instruktionen für die amerikanische Delegation wurden im Informal Policy Committee beraten425. Breiten Raum nahm in den in diesem interministeriellen Organ geführten Gesprächen die Frage nach der Verwendung von deutschen Zwangsarbeitern in der Sowjetunion und anderswo außerhalb Deutschlands ein. Der geheime Beschluß von Jalta, Deutsche als Zwangsarbeiter auszunutzen und dies alles als Reparationsleistung zu betrachten, ließ dieses Thema auch im Informal Policy Committee zum Tagesordnungspunkt werden. Zwangsarbeit war über die Jahre immer wieder ins Gespräch gekommen, ohne allerdings jemals in Einzelheiten ausformuliert worden zu sein. Dennoch bestand in den politischen Etagen und zunehmend auch in der Bevölkerung ein grundsätzliches Einvernehmen über die Heranziehung deutscher Zwangsarbeiter zu Wiederaufbautätigkeiten im Ausland nach der militärischen Niederwerfung Deutschlands. Eine Differenzierung wurde schon in einem Memorandum im November 1944 gemacht: Die Reparationsarbeit solle zum einen von aktiven oder ehemals aktiven Nazis und zum anderen von politisch passiven Deutschen erbracht werden. Die Auswahl von "Nazi-Arbeitskräften" sei aber primär gar kein Reparations-Problem, sondern werde aus Bestrafungs- und Sicherheitsgründen vorgenommen. Als weitere Motive für das 425 Vgl. die umfassende Darstellung bei O. Nübel: Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber Deutschland, 1941- 1945, S. 140 ff. 171 Verlangen nach Reparationsarbeitern wurden Wiederaufbauzwecke in von deutschen Truppen zerstörten Gebieten und Vergeltung gegen Deutschland aufgeführt. Im letzteren Sinn hieß es in der Denkschrift: "Retribution against Germany as a whole. There is a widespread belief that the German people as a whole cannot escape responsibility for the criminal acts of the Nazi regime. The concept of reparation in general is, of course, a reflection of this view. Given this premise, not only is the use of labor for reparation purposes quite proper, but the selection of such labor from the general population acquires considerable moral justification."426 Die Briten unternahmen Ende Februar 1945 durch ihren Delegationsleiter William Strang einen Versuch, in der EAC gemeinsame Festlegungen auf die Verwendung deutscher Zwangsarbeiter und deren Behandlung zu erreichen, blieben jedoch erfolglos427. In Washington kristallisierte sich bis Ende April die Ansicht heraus, Reparationsarbeiter nicht wahllos aus der Bevölkerung zu rekrutieren, sondern vornehmlich Angehörige von SS, Gestapo, Offiziere und Unteroffiziere der Wehrmacht und solche Personen zu verwenden, die an der Finanzierung und am Aufbau der Nazi- Maschinerie mitgewirkt hatten. Lediglich bei den Wehrmacht- Soldaten hatten die Planer im Kriegsministerium wegen der entgegenstehenden Vorschriften der Genfer Konvention noch Bedenken428. Gegen jegliche Art von Zwangsarbeit wandte sich in einer Sitzung am 1. Mai 1945 vehement der Leiter der Foreign 426 "Memorandum # 3 Labor Services as a Form of German Reparation", 22.11.1944, RL, I. Lubin Papers, Box Nr. 107 Reparations-Labor 427 Memorandum der britischen Delegation, "Use of German Labour by the Allies after the surrender of Germany", 27.02.1945; RL, I. Lubin Papers, Box Nr. 107 Reparations-Labor Col. G.A. Brownell, War Dep., Office of the Assistant Seer, of War, "Memorandum for Mr. McCloy", "Subject: Plan for exaction of reparation from Germany", 27.04.1945; RG 107 ASW 370.8 Germany [Reparations-] 428 172 Economic Administration (FEA), Leo Crowley429. Er vermochte sich jedoch nicht durchzusetzen. Zu schwer wog die Tatsache, daß die Regierungschefs sich in Jalta auf Zwangsarbeit als Reparationsform verständigt hatten. Hinzu kam der Druck der Öffentlichkeit, die, einer Meinungsumfrage zufolge, sich zu 71 Prozent dafür ausgesprochen hatte, Rußland drei oder vier Millionen Deutsche zum Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen430. Die Vertreter der beteiligten Ministerien einigten sich schließlich, zur Zwangsarbeit einen mehr oder weniger fest umrissenen Personenkreis zu verpflichten, den sie für bestrafenswert hielten: Dazu gehörten Kriegsverbrecher, Mitglieder der Gestapo, der SS und des Sicherheitsdienstes der SS, die leitende Spitze der SA sowie führende Mitarbeiter, Förderer oder Angehörige der Partei und ihrer ausführenden Organe431. Um etwaigen rechtlichen Einwänden gegen die geplante Überstellung an andere Länder, vorrangig die Sowjetunion und Frankreich, von vornherein begegnen zu können, wurde das entsprechende Papier noch Robert H. Jackson vorgelegt, der damals Leiter des Ausschusses für Kriegsverbrechen war und kurz darauf zum Hauptankläger in Nürnberg bestellt wurde432. Er legte in seinem Antwortschreiben vom 14. Mai Wert darauf, daß Kriegsverbrecher nur dann zu Zwangsarbeiten herangezogen werden dürften, wenn sie verurteilt worden seien, und auch nur für den im Urteil genannten Zeitraum und zu den dort genannten Bedingungen. Zu den anderen Personengruppen wollte Jackson sich nicht äußern, weil sie nicht in seinen Kompetenzbereich 429 Vgl. Morgenthau Diary (Germany), S. 1343 f.; vgl. zusammenfassend: "Telephone conversation with Colonel Brownell and Colonel Gerhardt", 02.05.1945; RG 107 ASW 370.8 Germany [ Reparations-] 430 431 Morgenthau Diary (Germany), S. 1348, 1405 Morgenthau Diary (Germany), S. 1406, 1410; vgl. auch den vorangegangenen Entwurf: "Working Party Draft Statement on Labor Reparations", 02.05.1945; RG 107 ASW 370.8 Germany [ Reparations]; Zusammenfassung der Diskussion bei O. Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber Deutschland 19411945, S. 155 ff.. Morgenthau Diary (Germany), S. 1414 432 173 fielen433. Dennoch konnte er nicht umhin, seine eigene Meinung quasi als Privatperson - scharf formuliert auszudrücken: "I think the plan to impress great numbers of laborers into foreign service, which means herding them into concentration camps, will largely destroy the moral position of the United States in this war. ... What the world needs is not to turn one crowd out of concentration camps and put another crowd in, but to end the concentration camp idea."434 Aber auch gegenteilige Äußerungen wurden laut. Ebenfalls am 14. Mai schickte G. Harrison Dorr, Mitarbeiter im Kriegsministerium und ein alter Freund Stimsons, John J. McCloy eine Denkschrift, in der er sich gegen die Beschränkung auf die zu bestrafenden Personengruppen aussprach. Seiner Meinung nach sollte das ganze deutsche Volk zum Wiederaufbau verwüsteter Gegenden verpflichtet sein: "If reparations for devastation occasioned by an unjustified war is conceived of as an obligation of the German people acting through the present governmental authority rather than merely a personal obligation of individuals who may have participated in specific crimes, or have been members of particularly vicious organizational groups, then the selection of individuals to perform this national service of reparation, it may be argued, no more 435 involves the issue of slave labor..." Von diesem Begründungsversuch versprach Dorr sich also eine Vermeidung des Wortes "Sklavenarbeit". Hätte die ganze Angelegenheit aber erst einmal einen anderen Namen, so hoffte Dorr offenbar, würde es gelingen, auch größere 433 434 435 174 FRUS 1945 III, S. 1216 f.; Morgenthau Diary (Germany), S. 1279 f., 1487 f. FRUS 1945 III, S. 1217 G.H. Dorr, "Memorandum for Mr. John J. McCloy", "Subject:Compulsory Labor in Reparations", S. 4 f., 14.05.1945; RG 107 ASW 370.8 Germany [-Reparations-] Zahlen an Wiederaufbauarbeitern aus der deutschen Bevölkerung zu selektieren. Ähnlich wurde die Angelegenheit auch im Finanzministerium gesehen. Dort konzentrierte man sich jedoch zunächst darauf, die Äußerung von Jackson aus der Welt zu bekommen. In Jackson sah man eine Gefahr für das ganze Reparationsarbeiter-Programm436. Die entscheidende Sitzung des Informal Policy Committee fand dann am 18. Mai unter Hinzuziehung von Robert Jackson statt. Morgenthau widersetzte sich lange einem Vermittlungsvorschlag McCloys. Er war der Ansicht, Arbeitsleistungen seien die einzigen Reparationen, auf die man zukünftig überhaupt rechnen könne437, und wollte sich deshalb mit einer Eingrenzung des Arbeitskräftepotentials nicht abfinden. Erst nach einem persönlichen Gespräch mit McCloy stimmte er dessen Vorschlag zu. Zu Zwangsarbeit sollten danach nur noch rechtmäßig verurteilte Kriegsverbrecher herangezogen werden einschließlich der Mitglieder solcher Organisationen, die in einem juristischen Verfahren als kriminell in Zwecksetzung oder Tätigkeiten überführt würden438. Dieser Beschluß im Informal Policy Committee diente der amerikanischen Delegation bei den Moskauer Reparationsverhandlungen als offizielle amerikanische Stellungnahme. Eine Absprache mit den Briten hatte vorher nicht stattgefunden. Am 27. Mai 1945 ließ der britische Außenminister Eden über seine Botschaft in Washington beim Stellvertretenden Kriegsminister, John J. McCloy, nach dem Stand der Dinge in dieser Angelegenheit fragen. In einer beigefügten Denkschrift sprachen die Briten sich gegen jegliche Beschränkung der Personenkreise aus, aus denen die benötigten Arbeitskräfte kommen sollten, wenngleich sie selbst bemerkten, für die eigenen Bedürfnisse wahrscheinlich nur deutsche Kriegsgefangene heranzuziehen. Eine Auswahl, wie sie die Organisations-Klausel im 436 437 438 Morgenthau Diary Morgenthau Diary Morgenthau Diary 1224 (Germany), S. 1490 (Germany), S. 1495 (Germany), S. 1502, vgl. FRUS 1945 III, S. 175 amerikanischen Beschluß vorsah, aus den deutschen Kriegsgefangenen zu treffen, hielten die Briten für praktisch kaum durchführbar. Außerdem würden es viele Länder bevorzugen, nicht mit Arbeitskolonnen verkehren zu müssen, die gänzlich aus aktiven Ex-Nazis gebildet seien. Um zumindest einen Mindeststandard an Nahrungsmitteln, Unterkunft, medizinischer Versorgung, Arbeit, Bezahlung und Dienstzeit festzulegen, sollten alle Länder, die Gebrauch von diesen Arbeitern machten, eine Deklaration mit den entsprechenden Bedingungen unterzeichnen439. McCloy hatte bereits ein paar Tage vorher von dem engen Roosevelt-Vertrauten und Richter am Obersten Gerichtshof, Felix Frankfurter, eine Denkschrift zur Zwangsarbeiter- Problematik erhalten, die Frankfurter wohl selbst nicht verfaßt hatte, die aber dennoch bei McCloy einen großen Eindruck hinterließ. Der Autor stellte nicht in Abrede, daß Deutschland in irgendeiner Form die Zerstörungen beseitigen müsse, hielt Zwangsarbeit allerdings für eine denkbar schlechte Lösung, ja für eine Gefahr für die Zivilisation. Ihm schwebte dagegen eine internationale Kommission mit deutscher Beteiligung vor, die den Arbeitseinsatz der von den Deutschen gestellten Kräfte überwachen und entsprechende Arbeits- und Lebensbedingungen garantieren sollte. Auch für eine angemessene Bezahlung und Versorgung der Familienangehörigen müsse wie bei einem Soldaten an der Front gesorgt werden440. Zu den Zwangsarbeiter-Plänen führte der Kritiker aus: "But the anarchic way in which the business is proceeding is very apt to bring back to this world the institution of human slavery, which took centuries of bloody struggle to eliminate. 439 440 176 R. Makins, Brit. Botschaft, Wash., an J.J. McCloy, "Memorandum: The Use of German Labour as Reparation", 27.05.1945, RG 107 ASW 370.8 Germany [-Policy for the Treatment of Germany-] J.J. McCloy an F. Frankfurter, 14.06.1945, mit undatierter Abschrift der Denkschrift als Anlage; RG 107 ASW (General Correspondence) 383.6 Enemy Pow in America-Labor If the governments of various countries can help themselves to whatever prisoners are on hand and transport them into their interiors, without responsibility to anyone, slavery has already been started. ... we can well imagine, what information could be obtained about several million German prisoners working the interior of Poland, Russia, Yugoslavia or for that matter in the French mines. These individuals would become the victims of irresponsible exploitation. It is no answer to say that the Germans deserve it - which they certainly do -, because I am talking now about the damage to civilization in reinstituting human slavery, and not the suffering of individual Germans. It is also idle to suppose that once slavery is accepted for Germans, it will always remain limited to them, because human freedom is indivisible. If slavery comes back, it comes back as an institution and not as special treatment for Germany."441 Dieses Memorandum schickte McCloy an die Briten mit dem Bemerken, es entspreche seinen eigenen Vorstellungen am besten. Obwohl in der Denkschrift eine Unterscheidung verschiedener Personengruppen nicht vorgenommen worden war, was mit ihrer grundlegenden Aussage auch in keinem Fall vereinbar gewesen wäre, merkte McCloy abschließend an: "On the other hand, I do not see why making members of the SS and Gestapo primarily eligible forsuch labor is a bad one."442 Nicht einverstanden mit dem Sinneswandel zur Zwangsarbeit und den daraus resultierenden Restriktionen bei der Arbeitskräfteauswahl war man in der USGCC. Sie sah das ganze Aufbauprogramm außerhalb Deutschlands dadurch in Frage gestellt. Nun hoffte sie, das Versprechen von drei Mahlzeiten täglich und adäquater Unterbringung werde angesichts der Zustände in Deutschland ausreichen, viele 441 442 McCloy an Frankfurter, 14.06.1945, ebd. J.J. McCloy an R. Makins, Brit. Botschaft, Wash., 14.06.1945; RG 107 ASW 370.8 Germany [-Reparations-] 177 Deutsche zur freiwilligen Arbeit außerhalb Deutschlands zu veranlassen443. Der Reparationskommission in Moskau gelang es jedoch nicht, ein gemeinsames Reparationspapier zu erstellen. Zu unterschiedlich waren die jeweiligen Standpunkte, selbst Begriffe wie Reparation, Restitution und Kriegsbeute waren ungeklärt444. Anfang September 1945 nahm der stellvertretende Militärgouverneur in der amerikanischen Zone, General Lucius D. Clay, den Gedanken der selektiven Auslieferung bestimmter Personengruppen erneut auf. Er erwog, deutsche Offiziere, vor allem Generalstabsoffiziere, als Zwangsarbeiter nach Rußland und in andere Länder zu schicken ("... especially General Staff Officers are proper material for labor gangs ...")445. Das USAußenministerium reagierte jedoch mit heftiger Ablehnung; nicht wegen grundsätzlicher Bedenken gegen die damit verbundene "Sklavenarbeit", sondern wegen der Angst, die Sowjets könnten sich die militärischen Fähigkeiten deutscher Offiziere zunutze machen. Dementsprechend hieß es in der Antwort, das State Department "... would not approve the transfer from United States custody of any potentially dangerous German officers, in particular General Staff officers, in case there were any possibilities that the military training and talents of such officers might be utilized by the countries to which such officers were sent." 446 Eine Übergabe zu Zwangsarbeitszwecken wurde auf diese Weise verhindert. Dennoch kam es im Frühjahr und Sommer 1945 zu 443 444 445 446 178 USGCC, Political Div., Memorandum an R. Murphy, "Subject: Commentary on Instructions to U.S. Reparation Delegation", 03.06.1945; RG 260/OMGUS POLAD/458/79 Zum Scheitern der alliierten Reparationsverhandlungen in Moskau vgl. 0. Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber Deutschland 1941-1945, S. 158 ff., 173. R. Murphy an Seer, of State, 04.09.1945; RG 260/OMGUS POLAD/728/35, "Subject: Disposition of Potentially Dangerous Officers of German Armed Forces". Dep. of State on R. Murphy, 22.10.1945; RG 260/OMGUS POLAD/728/35 Überstellungen deutscher Arbeitskräfte durch die Amerikaner an ihre westlichen Verbündeten. Es handelte sich dabei um deutsche Kriegsgefangene, auf deren Schicksal, besonders in Frankreich, noch zurückzukommen sein wird447. IV. 14.______ Praktische _______Schwierigkeiten _______ mit ______ den wlrtschaftspolitischen Prinzipien von JCS 1067 und Änderungen durch das Potsdamer Protokoll General Clays Einschätzung von JCS 1067. General Clay, dem als Stellvertreter Eisenhowers die Durchführung von JCS 1067 oblag, meldete schon unmittelbar, nachdem er die Anweisung zugestellt bekommen hatte, seine Bedenken gegen das Papier an. Was ihm Sorgen bereitete waren jedoch nicht die politischen Bestimmungen, die Verpflichtungen hinsichtlich der hunterttausendfachen Entlassungen und Arrestierungen, sondern allein die wirtschaftspolitischen Auflagen, auf keinen Fall Schritte zum Wiederaufbau oder zur Weiterführung der deutschen Wirtschaft zu unternehmen448. Clay meinte dazu: a. "Wir (sein Finanzberater Lewis Douglas und er selbst, d. Verf.) waren entsetzt nicht wegen der vorgesehenen Strafmaßnahmen, sondern über das Versagen, das in dem Mangel zum Ausdruck kam, die finanziellen und wirtschaftlichen Zustände, denen wir uns gegenübersehen würden, zu erkennen. Wie die anderen grundlegenden Schriftstücke, in denen die alliierte Politik bestimmt wurde, war auch dieses vor der deutschen Kapitulation und ohne Wissen um die Wirklichkeit, die wir vorfinden sollten, aufgesetzt worden" Nach seinem eigenen Bekunden war es Clays vordringliche Sorge, Leben und Arbeitskraft des deutschen Volkes zu erhalten. Deshalb habe er von Anfang an um Lebensmittel gebeten, da er sich nicht habe vorstellen können, daß das 447 Vgl. unten 4. Teil, IV.. 448 Vgl. J.H. Backer, Die deutschen Jahre des Generals Clay - Der Weg zur Bundesrepublik 1945-1949, S. 23 449 L.D. Clay, Entscheidung in Deutschland, S. 33 179 amerikanische Volk wünsche, die Besetzung von Hungersnot und Elend begleitet zu sehen450. Ganz im Gegensatz zu dieser gerade aus deutscher Sicht wünschenswerten Einstellung stand allerdings eine Äußerung, die er im Juni 1945 in einem Schreiben an John J. McCloy machte, und die die Nachwirkungen der Kriegshysterie noch deutlich zu erkennen gab: "I feel that the Germans should suffer from hunger and from cold as I believe such suffering is necessary to make them realize the consequences of a war which they caused. Nevertheless, this type of suffering should not extend to the point where it results in mass starvation and sickness."451 So begab sich auch Clay auf den schmalen Grad, den bereits die amerikanischen Planer aller damit beschäftigten Ministerien betreten hatten, als sie schon Monate vorher dem deutschen Volk ein Leben am Existenzminimum verordnet und die entsprechende Anweisung in JCS 1067 aufgenommen hatten. Daß eine derartige und zielgerichtete Limitierung bei einer unvorhergesehenen und überraschenden Änderung der äußeren Umstände, durch Transportprobleme und das Ausbleiben von Ernteerträgen jederzeit in eine Katastrophe Umschlagen konnte, wurde bei der realitätsfernen Planung übersehen, und selbst Clay glaubte, aus einer (kontrollierten) Not der deutschen Bevölkerung eine Tugend von Einsichtsfähigkeit und Schuldbekenntnis entwickeln zu können. Doch selbst um den minimalsten Überlebensstandard erhalten zu können, waren fördernde Maßnahmen und Einwirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft unumgänglich. JCS 1067 aber enthielt ein striktes Verbot solcher Aktivitäten. 450 451 L.D. Clay, ebd., S. 295; den Mangel an Nahrungsmitteln und die nur sehr geringe amerikanische Unterstützung führte er auf den weltweiten Getreidemangel zurück, vgl. ebd., S. 296 f.. J.E. Smith (Hg.), The Papers of General Lucius D. Clay, Germany 1945-1949, 2 Bde., S. 42 Teil-Änderungen in JCS 1067 durch das Potsdamer Abkommen. Eine eminente Verbesserung trat in dieser Frage durch das Potsdamer Protokoll ein. Truman, Churchill (der noch während der Konferenz von seinem Nachfolger Attlee abgelöst wurde) und Stalin nahmen Abstand von der Politik des "Hände weg" in Wirtschaftsangelegenheiten, wie sie das amerikanische Kriegsministerium in der monatelangen Kooperation mit dem Finanzministerium mit Erfolg vertreten hatte. Nun sollte eine alliierte Kontrolle über das deutsche Wirtschaftsleben errichtet werden, wenn auch in engen Grenzen. Zweck der Kontrollen sollte es unter anderem sein, Warenproduktion und Dienstleistungen zu sichern, die wesentlich seien für die Erhaltung eines mittleren Lebensstandards in Deutschland, der den mittleren Lebensstandard der europäischen Länder nicht übersteige452. Das war ein erheblicher Fortschritt gegenüber den Strafbestimmungen in JCS 1067. Der Initiator war vermutlich das State Department453, das in der Vorbereitung auf die Potsdamer Konferenz dem neuen Präsidenten von JCS 1067 in mancher Hinsicht abweichende Empfehlungen unterbreitet hatte454. b. Bereits eine Woche nach der Veröffentlichung des Potsdamer Protokolls legte Clays Rechtsberater Charles Fahy ein Rechtsgutachten vor, in dem er die Auswirkungen der Beschlüsse von Potsdam auf JCS 1067 untersuchte. Der Kernsatz lautete: "The (Potsdam) Agreement supersedes JCS 1067 to the extent that the Agreement covers matters dealt with in JCS 1067; that is to say, the Agreement shall prevail in all respects in which its provisions are in conflict with JCS 1067. Since, however, the latter has not been rescinded by the United States, its provisions remain effective 452 453 454 Vgl. FRUS Potsdam, II, S. 1484 P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 435 Vgl. E. Deuerlein, Die amerikanischen Vorformulierungen und Vorentscheidungen für die Konferenz von Potsdam, in: DA 1970, S. 337 ff. 181 to the extent not in conflict with the Agreement."455 Zur Begründung führte Fahy an, die Potsdamer Vereinbarung bilde nicht nur eine Abmachung der Oberhäupter seitens ihrer jeweiligen Regierungen, sondern müsse ebenfalls als Politik und Instruktion für die Vereinigten Staaten in der amerikanischen Besatzungszone und in Angelegenheiten, die Deutschland als Ganzes beträfen, für den Repräsentanten der USA im Kontrollrat angesehen werden456. Das amerikanische Außenministerium fertigte später eine ähnliche Interpretation aus457. Das bedeutete juristisch, daß JCS 1067 mit dem Inkrafttreten des Potsdamer Protokolls obsolet geworden war, sofern nicht ausnahmsweise in der amerikanischen Direktive Themen geregelt waren, die in der Potsdamer Erklärung nicht auftauchten. JCS 1067 als Ganzes entfaltete seine Wirksamkeit somit nur vom 14. Mai bis zum 2. August 1945458. Clay schrieb später: "Die wirtschaftlichen und finanziellen Bestimmungen des Potsdamer Abkommens hoben die Verfügungen von JCS 1067 auf, nach denen wir Kontrollen in finanziellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten nicht ausüben durften. ... Jetzt waren wir direkt verpflichtet, eine ausgeglichene Wirtschaft zu entwickeln, die Deutschland auf eigene Füße stellen sollte."459 Der amerikanischen Besatzungsmacht diente deshalb auch über den 2. August hinaus "ihre" Direktive als besatzungspolitische Richtlinie. Das war jedoch nicht weiter problematisch, weil ohnehin der ganz überwiegende Teil der amerikanischen Deutschlanddirektive über den amerikanischen Entwurf zur Gestaltung der Besatzungspolitik in Deutschland, der vor der Konferenz in Berlin 455 J.H. Backer, Priming the German Economy Occupational Policies 1945-1948, S. 27 456 J.H. Backer, ebd. 457 B.R. von Oppen, Documents on Germany, S. 458 J.H. Backer, Priming the German Economy, 459 L.D. Clay, Entscheidung in Deutschland, 182 - American 13 S. 27 S. 57 unterbreitet worden war, auch Eingang in das Potsdamer Protokoll gefunden hatte. Substantielle Veränderungen betrafen neben dem eben erwähnten Lebensstandard und der Wirtschaftskontrolle noch die nunmehr gewährte Erlaubnis zu demokratischer politischer Betätigung und zum Aufbau einer demokratischen Selbstverwaltung. In allen anderen Regelungsbereichen gab es keine wesentlichen Abweichungen von JCS 1067, und wurden Passagen aus ihr und dem amerikanischen Konferenzvorschlag teilweise wörtlich übernommen460. Das ist nicht verwunderlich, bestand doch über die als strafende und säubernde Maßnahmen betrachteten alliierten Tätigkeiten nicht nur in Washington, sondern auch mit London und Moskau grundsätzliches Einvernehmen. Für die Amerikaner erschienen die meisten geplanten Aktivitäten auch in Potsdam noch immer als kurzfristige Interimslösung bis zur eigentlichen langfristigen Planung und alliierten Entscheidung über die in Deutschland einzuschlagende Verfahrensweise. Auch JCS 1067 war noch immer als Interimsdirektive gedacht, beladen - und belastet - mit ganz überwiegend auf Zerstörung und Zerschlagung gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Strukturen gerichteter Anweisungen. Erst nach der erfolgreichen Beendigung dieses Negativprogramms wollte man positive und gestaltende politische Maßnahmen ergreifen, die jedoch wegen Roosevelts "Politik der Verzögerung" und der Rücksichtnahme auf den sowjetrussischen Kriegspartner weder vor Kriegsende noch in den Monaten danach näher beschrieben werden konnten. Lediglich über die "Demokratisierung", als einzige in die Zukunft gerichtete positive Zielvorgabe, waren sich die Alliierten einig, wobei es gleichzeitig auf der Hand liegt, daß die Sowjetunion bei genauerer Ausleuchtung dieses Begriffs etwas anderes darunter verstand als die AngloAmerikaner. Der Sowjetunion kam die negative amerikanische Haltung sehr entgegen, da sie die amerikanischen Vorschläge teilte und sie diese auch als 460 Vgl. P.Y. Hammond, Directives for Germany, S. 430 ff.; W. Krieger, General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik 1945-1949, S. 93 ff. langfristige Lösung des deutschen Problems aus eigenen sicherheits- und wirtschaftspolitischen Überlegungen heraus befürwortete. Die Briten, die sich während des Krieges regelmäßig um eine langfristige Deutschlandplanung bemüht hatten, mußten sich auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner alliierter Deutschlandplanung beschränken, um die großen Meinungsund Weltanschauungsdifferenzen zu überbrücken, die bereits in Jalta offen zu Tage getreten waren und die es in Potsdam notdürftig zu kitten galt. Reparationsbeschlüsse der Potsdamer Konferenz. Den meisten Raum nahm in Potsdam die Frage nach der wirtschafts-, insbesondere reparationspolitischen Behandlung Deutschlands ein. Daß in diesem Bereich die Diskussion so kontrovers geführt wurde wie in keinem anderen, hatte seinen Grund maßgeblich in der Tatsache, daß man diesen zentralen Komplex nicht wie die meisten anderen deutschlandspezifisch angehen und den größten und wirtschaftlich mächtigsten Staat in Mitteleuropa isoliert betrachten konnte. Vielmehr mußten sich die entsprechenden auch kurzfristigen - Weichenstellungen im besetzten Deutschland zwangsläufig auf Europa auswirken und dessen weitere Entwicklung in die eine oder andere Richtung lenken. Dieses Sachgebiet, das war schon in den heftigen Washingtoner Debatten deutlich geworden, konnte man nicht kurzfristig mit rigorosen destruktiven Maßnahmen angehen und auf den Trümmern der deutschen Industrie danach etwas den Alliierten Genehmes aufbauen. Die Frage nach Deutschlands - und damit auch Europas - Zukunft hatte hier offenbar ihren zentralen Punkt. Ein Kenner der Materie hat die Zusammenhänge so beschrieben: c. "Billigte man Deutschland über kurz oder lang eine Möglichkeit zur Rückkehr in den Kreis friedlicher, gleichberechtigter Nationen zu, so setzte das reparationspolitische Mäßigung und die Wahrung eines Minimums volkswirtschaftlicher Produktivkräfte voraus, um der Bevölkerung ein Überleben aus eigener Kraft zu gestatten. Zielte man dagegen auf eine langfristige Schwächung oder die endgültige Beseitigung des Reiches als politischen und wirtschaftlichen Faktor im Kräftespiel Europas ab, so boten sich die umfassendsten Demontagen und hohe Beschlagnahmen aus der laufenden Produktion als geeignetes Instrument an."461 Ganz im Sinne der zweiten Alternative agierten die Sowjetpolitiker. Stalin kam es vor allem auf die nachhaltige ökonomische und damit auch politische Schwächung Deutschlands an. Das konnte seiner bereits in den besetzten östlichen Gebieten praktizierten Hegemonialpolitik nur entgegenkommen. Während die Amerikaner das Prinzip der Vorrangigkeit aufrecht erhielten, demzufolge notwendige Importe nach Deutschland vorrangig aus deutschen Exporten zu finanzieren seien, wodurch die sowjetischen Reparationsforderungen möglicherweise nur eingeschränkt zu befriedigen gewesen wären, war Stalin natürlich primär daran interessiert, so viel Wirtschaftspotential wie nur möglich in Deutschland zu zerschlagen und der Sowjetunion, in vermindertem Umfang auch den anderen vom Krieg betroffenen Staaten, zukommen zu lassen462. Die amerikanischen reparationspolitischen Planungsvorgaben für Potsdam waren, nach dem durch Truman erzwungenen Ausscheiden Morgenthaus aus seinem Amt, vor allem vom neuen Außenminister James F. Byrnes und dem wieder verstärkt deutschlandpolitisches Interesse bekundenden Kriegsminister Stimson geprägt worden. Orientierungsgrundlage für die amerikanische Reparationspolitik bildete dabei in erster Linie das gemeinsame Memorandum vom 23. März 1945, in dem auch die Postulate der Vorrangigkeit und der Verweigerung ausländischer Kredite an Deutschland enthalten waren463. Insbesondere Stimson engagierte sich, um - wie schon in der 461 O. Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber Deutschland 1941-1945, S. 204. 462 Vgl. 0. Nübel, ebd., S. 178 ff. 463 Vgl. FRUS 1945 III, S. 472; 0. Nübel, ebd., S. 182 f. 185 Auseinandersetzung mit Morgenthau die langfristigen europäischen Perspektiven und die zentrale Rolle, die die wirtschaftliche Potenz Deutschlands in dieser Entwicklunq spielen mußte, zu vergegenwärtigen. Deutschland müsse, argumentierte Stimson, seinen produktiven Aufgaben erneut zugeführt werden. Man dürfe dem deutschen Volk nicht die Möglichkeit nehmen, zur Wiederherstellung stabiler Verhältnisse in Europa und in der Welt beizutragen. Er gestand zwar Demontagen und Zerstörungen aus Sicherheitsgründen zu, forderte aber gleichzeitig, daß alle übrigen deutschen Kapazitäten unter angebrachten Sicherheitsvorkehrungen so rasch wie möglich die Produktion wieder aufzunehmen hätten464. Mit diesen in die Zukunft weisenden Gedanken übte Stimson bestimmenden Einfluß auf die amerikanischen Anschauungen in Potsdam aus, was den Konflikt mit den Sowejets unvermeidlich machte. Der letztendlich ausgehandelte Kompromiß kam auf Vorschlag der amerikanischen Delegation zustande und lief dem in den "wirtschaftlichen Grundsätzen" des Protokolls proklamierten Prinzip, Deutschland als eine "wirtschaftliche Einheit" zu verwalten, entgegen. Die Delegationen einigten sich auf ein zonales Entnahmesystem: Sowjetische und polnische Ansprüche seien aus der sowjetischen Zone und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben zu befriedigen; amerikanische, britische und die Ansprüche anderer Länder sollten durch Leistungen aus den westlichen Zonen und ebenfalls Auslandsguthaben gedeckt werden. Zusätzlich sollte die UdSSR im Austausch gegen einen entsprechenden Wert an Nahrungsmitteln und Rohstoffen aus den westlichen Zonen 15 Prozent der verwendungsfähigen und vollständigen industriellen Anlagen sowie weitere 10 Prozent ohne Gegenleistung erhalten465. 464 465 186 FRUS Potsdam II, S. 754 FRUS Potsdam II, S. 586; Text des Protokolls ebd., S. 1485 ff.; A. Fischer (Hrsg.), Teheran, Jalta, Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der "Großen Drei", Dokumente zur Außenpolitik I., S. 397 f.; W. Cornides/H. Volle, Um den Frieden mit Deutschland, S. 78 ff. IV.15. Ursachen und Hintergründe der "harten" Ü8Besatzungspolitik gegenüber Deutschland Am Ende des Kapitels über die amerikanische Besatzungsplanung, ihre Grundzüge, Tendenzen und Entscheidungen, muß auch die Frage gestellt werden nach dem "Warum" gerade dieser Politik, die in der vorangegangenen Untersuchung bereits hin und wieder angeklungen ist, aber immer nur in Beziehung zu der jeweiligen konkreten Situation und Entscheidung gewürdigt werden konnte. Unbeantwortet blieb bislang die Frage nach bestimmten Vorstellungen über Deutschland, die Deutschen und den Nationalsozialismus, nach Weltanschauungen oder Ideologien, nach dem Verständnis von Amerika und amerikanischen Traditionen, die für sich alleine oder in der einen oder anderen gemeinsamen Erscheinung die amerikanische Deutschlandplanung bestimmten. Zwei wesentliche Erkenntnispunkte konnten bereits festgestellt werden: Zum einen die durch Roosevelt initiierte "Politik der Verzögerung", die letztlich dazu führte, daß die amerikanischen Deutschlandpläne nur kurzfristigen Charakter hatten. Zum anderen, daß diese kurzfristige Politik schlagwortartig als "harte" Politik bezeichnet werden muß. Das Begriffspaar von "harter" und "weicher" Deutschland- und Besatzungspolitik hat sich in den USA bereits früh breit gemacht und diente vornehmlich seit der Debatte um den Morgenthau-Plan dazu, die Vertreter einer Gegenposition zu Roosevelt und seinem Finanzminister als Befürworter einer "weichen" Deutschlandpolitik zu brandmarken. Die Reduzierung des vielschichtigen Problems der zukünftigen Behandlung Deutschlands auf dieses plakative Begriffspaar entsprach dem traditionellen amerikanischen Streben nach pointierter Vereinfachung komplexer Sachverhalte, hat aber für die vollständige Erfassung bestimmter Beweggründe keinerlei Erkenntniswert, sondern sorgt lediglich für Verwirrung, wo Klarheit not täte. Denn 187 wie bereits gezeigt worden ist, lag der eigentliche Punkt der Kontroverse, in Washington wie in Jalta und Potsdam, im wirtschaftspolitischen Bereich, bei der Frage nach dem Maß der Entindustrialisierung Deutschlands sowie Art und Umfang der zu leistenden Reparationen. Daneben gaben lediglich noch die Fragen der Teilung Deutschlands und der Behandlung der Kriegsverbrecher zeitweise Anlaß zur Diskussion. In allen anderen Bereichen bestand, von mehr oder weniger kleinen Akzentverschiebungen einmal abgesehen, grundsätzlicher Konsens über eine simplifizierend als "hart" zu bezeichnende Politik. Und in der Wirtschaftsund Reparationsfrage war es durchaus nicht Rücksicht und Nachgiebigkeit gegenüber Deutschland, die Stimson zu seiner von der Mehrheit als "weich" geschmähten Haltung veranlaßte, sondern allein die vernünftige Einsicht in die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge und die zentrale Bedeutung Deutschlands für den Wiederaufbau Europas, so schrieb John J. McCloy Ende Oktober 1944 an General Eisenhower: "Inevitably the Press and others oversimplified the issue into 'hard' and 466 'soft' schools... . " Und Stimson ließ Präsident Roosevelt wissen: "I plead for no 'soft' treatment of Germany. I urge only that we take steps which in the light of history are reasonably adapted to our purpose, namely. the prevention of future wars."467 Die Wirtschafts- und Reparationspolitik ließ sich nicht - wie die anderen Deutschland betreffenden Bereiche - in eine kurz- und eine langfristige Planung trennen, sondern beide waren aufs engste miteinander verbunden: Die langfristigen Entscheidungen waren notwendig bedingt durch die Art der kurzfristigen Maßnahmen auf diesem besonderen Gebiet. So waren es zwei Dinge, die für die Wirtschafts- und 466 467 188 J.J. McCloy an General Eisenhower, 25.10.1944; RG 107 ASW 370.8 Germany FRUS Quebec 1944, S. 485 Reparationskontroverse in Washington verantwortlich waren: Zum einen die Tatsache, Deutschland in dieser Frage nicht isoliert behandeln zu können, zum anderen die mit dieser Frage verbundenen langfristigen Entscheidungen. Aufgrund dessen ist die amerikanische wirtschaftsund reparationspolitische Deutschlandplanung nur bedingt geeignet, um an ihr bestimmte Motivationsstrukturen aufzeigen zu können, die insbesondere für die unmittelbare Deutschlandplanung und -politik charakteristisch waren. Die Konzentration auf die Kontroverse über einen Ausschnitt der Deutschlandplanung läßt nur allzuleicht übersehen, daß der überragende Teil von allen Beteiligten einvernehmlich geregelt wurde und daß diesbezüglich - um die vereinfachte Darstellung letztmalig anzubringen - nur von einer "harten" Politik gesprochen werden kann. Die Ursache für diese Politik lag in mehreren Geistes- und Vorstellungsströmungen begründet. Walter L. Dorn, der den amerikanischen Entscheidungsprozeß selbst miterlebt hat, unterscheidet drei Richtungen in der anglo-amerikanischen Interpretation des Nationalsozialismus, von der jede von sich glaubte und behauptete, eine verantwortbare Einsicht in das Wesen des Nationalsozialismus und die für seine endgültige Ausmerzung wirksamsten Methoden zu haben. Die erste Gruppe vertrat danach eine "Theorie vom verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus" ("outlaw theorie"), und ihre Anhänger verlangten einen Strafprozeß oder eine allgemeine Säuberung auf der Grundlage individueller Verantwortlichkeit nach dem Maß der Beteiligung an den Verbrechen des Nazi-Regimes. Dieser Gruppe sei, so Dorn, mit einer zweiten Gruppe, der neomarxistischen (gebildet vor allem von deutschen Emigranten) gemein gewesen, daß sie noch gewisse Unterscheidungen zwischen Nazis, Nicht-Nazis oder Anti- Nazis in der deutschen Gesellschaft vorgenommen hätten. Diese Neomarxisten hätten im Nationalsozialismus ein gegenrevolutionäres Phänomen gesehen, das Ergebnis von in der kapitalistischen Gesellschaft zwangsläufigen sozialen 189 Spannungen. Hitler sei in einem gewissen Sinn "der Kondottiere der Ruhr-Magnaten und der deutschen Großfinanz, die zusammen ihm zur Macht verhalfen in der Erwartung und auf die Spekulation hin, daß er durch autoritäre Methoden das dreifache Gespenst der Depression, des Sozialismus und der Gewerkschaften austreiben werde", gewesen468. Als dritte Gruppe macht Dorn die "Vansittartisten" aus, Anhänger des britischen Lord Vansittart, die der Meinung waren, eine Unterscheidung zwischen Nationalsozialisten und anderen Deutschen sei gar nicht möglich, und der Nationalsozialismus sei lediglich die letzte Offenbarung einer tiefverwurzelten deutschen Krankheit, die sich seit über einem Jahrhundert entwickelt habe. Die "Vansittartisten" , die in Großbritannien unter dem Etikett "konservativ" firmierten und in den USA mit den Namen Henry Morgenthau und seinem Berater Harry D. White als "kommunistisch" galten, forderten einschneidende Maßnahmen wirtschafts- und machtpolitischer Art, wie sie unter anderem im Morgenthau-Plan ihren Ausdruck fanden469. Auf die Hintergründe und Argumentationsmuster der politischen "Linken" in den USA, die in der Roosevelt-Ära ihre Blütezeit und den meisten politischen Einfluß in der Washingtoner Administration hatte, hat zutreffend Hans- Peter Schwarz hingewiesen470. Für diese Politiker, die nicht nur im Finanzministerium zu finden waren, und eine große Anzahl von Roosevelt nahestehenden Printmedien und Publizisten, war das Deutsche Reich das Reich des Bösen schlechthin. Unter Ausnutzung von heftig geschürten Emotionen übertrug sich dieses antifaschistische Bild 468 W.L. Dorn: Die Debatte Uber die amerikanische Besatzungspolitik für Deutschland (1944-45), in: VfZG 1958, s. 60 ff., insb. 63 f.. Eine eigene Interpretation von "outlaw theory" gibt L. Niethammer: Entnazifizierung in Bayern, S. 34, der meint, ihre Vertreter seien "konservative Exponenten des Finanzkapitals" gewesen, "die im Faschismus ein Phänomen kollektiver Kriminalität" gesehen hätten; die neomarxistische Gruppe versteht er als "sozialdemokratische Faschismusinterpretation". 469 W.L. Dorn, VfZG 1958, S. 64; L. Niethammer, Entnazifizierung in Bayern, S. 41 ff. H.P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 92 ff. 470 190 unschwer auf das ganze deutsche Volk. Einige Publizisten hatten schon während der Kriegszeit nichts unversucht gelassen, um die untrennbare Identität des deutschen Volkes mit der nationalsozialistischen Weltanschauung der amerikanischen Öffentlichkeit vor Augen zu führen471. Das von ihnen geschürte antideutsche Hysteriefeuer verfehlte seine Wirkung nicht. Die Anhänger dieser Theorie bekamen mit zunehmender Kriegszeit, wohl auch bedingt durch das Bekanntwerden nationalsozialistischer Untaten, ein immer größer werdendes Gewicht. Um dem deutschen Volk aus seinem krankhaft kriminellen Zustand - wenn möglich irgendwie herauszuhelfen, mußte man dieses Phänomen erst einmal analysieren, um es anschließend behandeln zu können. Dabei kamen die zu dieser Zeit gerade in Amerika einen deutlichen Aufwärtstrend verzeichnende Sozialpsychologie und die Psychotherapie zu einer unerwarteten Nutzbarmachung. Hans- Peter Schwarz meint dazu: "Ein gerade unter den amerikanischen Intellektuellen jener Dekade stark verbreitetes Denken in sozialpsychologischen Kategorien mag eine der wichtigsten Tendenzen gefördert haben: die Bereitschaft, in den nationalsozialistischen Untaten nur besonders krasse Erscheinungsformen allgemeiner deutscher Charakterzüge und Welthaltungen zu erkennen. 'The German Mind' - das bedeutete: autoritäre Verhaltensweise in allen gesellschaftlichen Rollen, Gewissenlosigkeit und automatischer Gehorsam, Neigung zu Aggression und Sadismus, Dominieren des Todestriebes. Die Reduktion des deutschen Faschismus auf den deutschen Charakter war eine Hauptvoraussetzung für das Kollektivschulddenken, das in der öffentlichen Diskussion ebenso wie in den Ministerien zeitweise den Ton angab."472. Einschätzungen, nach denen die Deutschen von "ernsthafter seelischer Krankheit" ("serious spiritual sickness") befallen seien oder es sich um ein "geistig krankes 471 472 Vgl. die Nachweise bei F.W. Rothenpieler, Der Gedanke einer Kollektivschuld in juristischer Sicht, S. 75 ff. H.P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 92 f. 191 deutsches Volk" ("mentally sick German people") handele473, waren nicht selten. Der einfache amerikanische Bürger konnte sich der Beeinflussung durch die unzähligen, die Deutschen immer wieder als Inkarnation des Bösen schlechthin darstellenden Pressepublikationen nicht entziehen. Er sah den Nationalsozialismus aus der Vogelperspektive seiner Zeitungslektüre und seiner Wochenschauberichte, die die Informationen aus Deutschland nur selektiv und in Konzentration auf die Sensationsmeldungen des Terrors Wiedergaben. Quantität mußte die Qualität der Berichte ersetzen474. So kann es nicht verwundern, daß eine anwachsende und sich gegen Ende des Krieges immer lautstärker gebende veröffentlichte Meinung, unter nachhaltiger Prägung der öffentlichen Meinung, sich immer mehr Gehör verschaffte und mit ihren Klischeehaften Kollektivurteilen über das deutsche Volk, nicht nur den Nationalsozialismus, auch im politischen Lager Anhänger bei den Entscheidungsträgern gewann. Daraus resultierte der Gedanke einer Umerziehung des Volkes und seine Entnazifizierung. Diese ursprünglich von der amerikanischen Linken propagierte Idee wurde auf dem konservativen Flügel auch von denen, die aus ihrem ganzen politischen Selbstverständnis heraus als Vertreter der "antikommunistischen Realpolitik"475 galten, übernommen476. Daß von der amerikanischen Administration nicht der Nationalsozialismus oder die deutsche Regierung als zu bekämpfender und völlig niederzuwerfender Feind angesehen wurde, sondern das deutsche Volk in seiner Gesamtheit, zeigt eine Episode zu Beginn des Jahres 1945. Die Psychological Warfare Division bei SHAEF regte an, als 473 474 475 476 192 K.E. Bungenstab, Umerziehung zur Demokratie? - Reeducation Politik im Bildungswesen 1945-1949, S. 22 Vgl. C.M. Totten, Deutschland - Soll und Haben, Amerikas Deutschlandbild, S. 97 f. So die Begriffsprägung bei H.P. schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 97 ff. K.E. Bungenstab, Umerziehung zur Demokratie? - Reeducation Politik im Bildungswesen 1945-1949, S. 25 Adressaten der in Casablanca von Roosevelt und Churchill gestellten Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation" nur die deutsche Regierung und das Oberkommando der Wehrmacht zu benennen, nicht aber den einzelnen deutschen Soldaten oder Zivilisten. Eine Verlautbarung dieser Ansicht, so meinte die Psychological Warfare Division, könne in Verbindung mit der Bekanntgabe der eigenen Verpflichtung, die Genfer Konvention und die Proklamationen des Alliierten Oberbefehlshabers einzuhalten, der deutschen Propaganda ihre Schärfe nehmen und die Bevölkerung vor und hinter den Linien mit den Alliierten kooperationsbereit machen477. Robert Murphy widersprach diesem Ansinnen heftig. Er wollte keinerlei Versprechungen an das deutsche Volk abgeben. Das widerspreche der Politik der "bedingungslosen Kapitulation". Es gelang ihm, die Chiefs of Staff von SHAEF auf seine Seite zu ziehen. Über das Ergebnis der Sitzung berichtete er dem Außenminister: "Thus it was agreed that the proclamations by the Supreme Commander to the population of German occupied territory ... do not constitute commitments, but are merely expressions of intentions. The Supreme Commander is under no obligation, even visa-vis the population of German territory already occupied by Allied forces, to treat them in accordance with the terms of his proclamations - or, indeed, in any other particular way. He is, on the contrary, free to treat them in any way he chooses, and to change his treatment at any time and without warning, and the Germans of the occupied territory have no rights in the matter." 478 Nicht durchsetzen konnte sich Murphy allerdings bei der Frage, gegen wen sich die "bedingungslose Kapitulation" eigentlich richte. Er meinte, nur das ganze deutsche Volk könne von dieser Forderung betroffen sein, das ganze Volk 477 478 SHAEF, Psychological Warfare Division, Brig. Gen. R.A: McClure an Chief of Staff, "Subject: Psychological Warfare Division Propaganda to Germany", 06.01.1945, RG 2 6 O/OMGUS POLAD/ 32/74 R. Murphy on Seer, of State, "Subject: The Policy of unconditional Surrender", 14.01.1945, RG 26Q/OMGUS POLAD/32/74 193 müsse gegenüber den Alliierten kapitulieren479. Da eine Einigung im Hauptquartier Eisenhowers nicht möglich war, trug Murphy den Streit in Washington vor. Eine Antwort, die offenbar mit Roosevelt abgesprochen war480, übermittelte ihm sein Außenminister Stettinius am 10. April 1945. In ihr wurde Murphys Haltung voll und ganz unterstützt. "The policy of unconditional surrender was meant from the start to apply to the entire German nation, and not merely to the German Government, the High Command, or the Nazi Party. The unconditional surrender itself applies, without exception, to all Germans, individually and collectively, in all respects, including the sense in which the German people may be considered as individual human beings" Durch diese Stellungnahme wurde hinreichend deutlich, wen Washington als Feind ansah: das ganze deutsche Volk. Diesen galt es zu bekämpfen, zu schlagen, ihm mußte der nationalsozialistische Geist, als scheinbarer Ausdruck preußischer Tugenden, entzogen werden. Kriegstreibende Kasten, die man vor allem bei den sogenannten Junkern und dem Militär auszumachen glaubte, waren aus der Gesellschaft zu beseitigen, ihr Einfluß- und Machtpotential (bei den Junkern waren das ihre Ländereien) war restlos zu zerschlagen. Das galt nach Ansicht der Linken auch für die deutsche Großindustrie, der man den Vorwurf machte, Hitler erst an die Macht gebracht zu haben, um davon am Endo selbst zu profitieren. Daß eine so einfach gestrickte Auffassung der komplexen Realität vor und während der Zeit des Dritten Reiches zwar entgegenlief, der breiten Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten aufgrund der scheinbar einleuchtenden und logischen Konsequenzen aber 479 480 481 194 R. Murphy on Secr, of state, 14.01.1945, ebd. Vgl. R.G. O'Connor, Diplomacy for Victory: FDR and Unconditional Surrender, S. 84 FRUS 1945 III, S. 751; vgl. auch die auszugweise Weiterleitung der Nachricht von R. Murphy an Brig. Gen. R.M. McClure, Chief, Psychological Warfare Division, SHAEF, und an Lt. Gen. Sir F. Morgan, Deputy Chief of Staff, 20.04.1945, RG 260/OMGUS POLAD/728/32 entgegenkam, ist noch irgendwo verständlich, auch wenn dadurch die ganze Manipulierbarkeit einer Gesellschaft, selbst wenn sie eine demokratische ist, gezeigt wird. Daß aber auch Politiker und Staatsmänner die historischen Zusammenhänge, insbesondere die Bedeutung des Versailler Friedensvertrages und seine Nachwirkungen, nicht erkennen wollten oder konnten, ist doch etwas überraschend. Der deutsche Nationalökonom Gustav Stolper, während des Dritten Reiches in die USA emigriert, sah darin einen amerikanischen Politikern oftmals eigenen Mangel an "Ehrfurcht vor der Geschichte". Stolper meinte: "Amerikanische Staatsmänner sind davon bedenklich frei, weil sie Geschichte, außer vielleicht die ihres eigenen Landes, einfach nicht kennen. ... Für sie beginnt Geschichte mit dem Tag, an dem ihnen eine Aufgabe zugewiesen wird. Im Hintergrund haben sie nur eine Tapete aus Zeitungsphrasen, nicht mit Fleisch und Blut erfülltes Wissen, keine Erfahrung der treibenden Kräfte und der Kontinuität der Geschichte in Raum und Zeit, in die ihre Handlungen sich einpassen müssen. ... Wir (die Amerikaner, d. Verf.) behandelten Deutschland wie ein Schaustück in einem Experimentierlaboratorium, aber das Deutschland, das wir dem Experiment unterzogen, hat es niemals gegeben. Unser angebliches Versuchsobjekt hatte nichts mit der deutschen Wirklichkeit zu schaffen." 482 Der politischen Linken in den USA gelang es dadurch maßgeblich, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und ihr Deutschlandbild vorherrschend werden zu lassen. Es ist deshalb kein Zufall, daß in den Vereinigten Staaten die Eliminierung gerade solcher gesellschaftlicher Gruppen in Deutschland gefordert wurde, was auch in der Planung und JCS 1067 zum Ausdruck kam, deren Beseitigung auch Moskau zur Durchsetzung der eigenen expansionistischen Bestrebungen, der sozialen Umwälzung in besetzten Ländern und der Installation eines kommunistischen Regimes anstrebte. Während Stalin jedoch konkrete Vorstellungen von 482 G. Stolper, Die deutsche Wirklichkeit, S. 245 195 der sowjetischen Nachkriegspolitik hatte, die sich nicht nur im Zerstören erschöpfte, sondern den schnellen Aufbau sowjetischer Satellitenstaaten zum Ziel hatte, der auch in Deutschland nur mit der Bevölkerung, nicht aber unter Kollektivschuldvorwürfen gegen sie gestaltet werden konnte, war die amerikanisch? Linke weiterhin in ideologischmoralischen Vorstellungen befangen, fernab jeglicher Realitätsbezogenheit. Für sie war der Krieg im Mai 1945 nicht zu Ende. Die Einstellung der Kriegshandlungen versetzte sie lediglich in die Lage, wie gemäßigtere Kreise glaubten, nun ungehindert und in enger Zusammenarbeit mit Rußland die Therapierung des deutschen Volkes in die Tat umsetzen zu können. Erst wenn dieser Therapie Erfolg beschieden sein würde, die Deutschen ihr neugewonnenes Verständnis für Demokratie der amerikanischen Prägung und ihre Einsicht in den verderblichen Charakter des eigenen Volkes klar unter Beweis gestellt hätten, was allein der Beurteilung der Alliierten zu unterliegen hatte, durften sie den Weg zurück in die Gemeinschaft der Völker suchen. Noch radikalere politische Gruppierungen, deren Exponent Morgenthau war, hielten die Deutschen für gar nicht demokratiefähig, für therapieresistent. Nicht kurzfristige Strafe und langfristige Erziehung stand in ihrem Programm, sondern Identität von kurz- und langfristigen Plänen, die sich im rein Negativen mit Straf- und Kontrollmaßnahmen begnügten. Gemäßigte und radikale Kreise stimmten jedoch darin überein, daß ein minimaler Überlebensstandard, das Verbot jeglicher Art menschlicher Kontakte zwischen Besetzern und Bevölkerung (sog. Non-Fraternization), Umerziehung und eine -juristische Schuld zunächst außer acht lassende Bestrafung für die durch Parteimitgliedschaft und entsprechende Aktivitäten gezeigte unmoralische politische Gesinnung angebracht seien. Die Rückwärtsgewandheit der amerikanischen Planung verhinderte die klare und konstruktive Voraussicht auf die offensichtlichen Schwierigkeiten der Zukunft, die sich in den Interessen- und Weltanschauungsgegensätzen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, letztere als Führungsmacht der westlichen demokratischen Staaten, in Jalta und Potsdam bereits unübersehbar abzeichneten und nur durch das erneute Hinauszögern endgültiger gemeinsamer Entscheidungen der Alliierten auf einen späteren Zeitpunkt vertagt werden konnten. Die politische Rechte in den USA, traditionell realitätsnäher und in machtpolitischen statt moralischen Kategorien denkend483, erkannte zwar die kommunistische Gefahr, die aus dem Osten Europas der zerstörten und zu einer Art Konkursmasse verkommenen Mitte des alten Kontinents drohte. Sie war sich auch der bereits klassischen weltgeschichtlichen Rolle Deutschlands als Bollwerk gegen Europa von Osten bedrohende Mächte sowie seiner zentralen ökonomischen Aufgabe für die Prosperität seiner Nachbarstaaten bewußt, konnte diese Einsichten in den politischen Entscheidungsprozeß aber nur schwer oder gar nicht einbringen. Zu übermächtig war die moralischideologische Schule der Linken, zu deutlich äußerte sich Roosevelt selbst in ihrem Sinn, zu viel Gehör schenkte er ihren Anhängern, als daß die ohnehin nur schwach vertretene Gegenposition auch nur den Hauch einer Einflußmöglichkeit gehabt hätte. Vertreter dieser Richtung, der Republikaner Stimson sei namentlich genannt, hielten sich in Anbetracht der unübersehbaren Tendenz der öffentlichen Meinung entweder zurück oder resignierten und verzichteten auf weiteres deutschlandpolitisches Engagement, was besonders auf Stimson zutraf, der sich nach der Debatte um den Morgenthau-Plan erkennbar von diesen Fragen zurückzog und seinem Mitarbeiter John J. McCloy weitgehende Handlungsfreiheit ließ. Ein Kenner der deutschland-politischen Diskussion meinte denn auch: "Anyone who tried to adopt a fairly tolerant attitude toward Germany was suspect."484 483 484 Vgl. H.P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 97 ff., der der "progressiven Linken” die ''realpolitische Schule" gegenüberstellt. John L. Snell, Wartime Origins of the East-West Dilemma over Germany, S. 13 197 Daß eine gemäßigte Einstellung den Deutschen gegenüber night zwangsläufig etwas deutschfreundliches hatte, sondern zumeist Beispiel Stimson - neben humanen Gründen primär das rationale Erfassen historischer Bedingtheiten war, wurde dabei übersehen. Die Simplifizierung des Problems, das Denken in den moralischen Kategorien von Gut und Böse (in das die Sowjetunion aus Notwendigkeiten der Kriegsallianz und zur Vertuschung vorhandener Widersprüche auf der Seite der progressiven "Guten" einbezogen wurde) feierte einen großartigen Triumph über jegliche Art weltpolitischer Intelligenz. Der amerikanische Diplomat und Zeitzeuge George F. Kennan hat die Problematik dieser Denkweise und ihre gefährliche massenpsychologische Auswirkung auf den Punkt gebracht: "In the emotional world of an aroused democracy evil had always to be singular, never plural. To admit the complex and contradictory nature of error would be to admit the complex and contradictory nature of truth, as error's complement; and this was intolerable, for if there were two ways of looking at a thing, then the whole structure of war spirit fell to the ground, then the struggle had to be regarded as a tragedy, with muddled beginnings and probably a muddled end, rather than as a simple heroic encounter between good and evil; and it had to be fought, then, not in blind, righteous anger but rather in a spirit of sadness and humility at the fact that western man could involve himself in a predicament so unhappy, so tragic, so infinitly self-destructive."485 Aber gerade das Bewußtsein, im alleinigen Besitz von Erkenntnis, Wahrheit und - vor allem - moralischer Rechtfertigung zu sein, führte zu der paradoxen Situation, daß der so moralisch Gestärkte glaubte, eben diese von ihm mit soviel Euphorie und innerer Überzeugung verteidigten Werte gegenüber demjenigen, der sie nicht teilte oder dem man sie absprach, nicht beachten zu müssen. Das "Böse" hatte nur Pflichten, keine Rechte oder moralische 485 198 G.F. Kennan, Soviet - American Relations, Bd. II (1958), s. 9 Ansprüche. Beim "Guten" war es umgekehrt. Diese Methode konnte jedoch nur gelingen, wenn der "böse" Feind aus der Abstraktheit der Begriffe "Deutschland" (als Staatsgebilde) oder "Nationalsozialismus" (als Ideologie, Gesellschaftsordnung oder Regierungsform) herausgelöst und gleichsam "personalisiert" wurde, um ihn in Beziehung zu setzen zum faßbareren und der menschlichen Vorstellungskraft eher zugänglichen Begriff von "dem/den Deutschen". Durch eben diesen Kunstgriff wurde die eigentlich heterogene Masse "deutsches Volk" zum Inbegriff all jener Merkmale, die der Nationalsozialismus symbolisierte oder die man - aus dem Ausland besehen - für solche hielt, und erschien weithin als monolithisches Gebilde, dem Nationalsozialismus nicht nur willen- und bedingungslos ergeben, sondern diesen verkörpernd. Mit dieser Verschiebung des Feindbegriffes ging notwendig eine zweite Änderung einher: Der Feind war keine "relative" Erscheinung mehr, der zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten bilateralen oder weltpolitischen Situation andere nationale Interessen vertrat und sich zu ihrer Durchsetzung des verwerflichen Mittels des Krieges bedient hatte, sondern wurde zum "absoluten" Feind, von dem immer eine latente Kriegsgefahr und möglicher Weltenbrand ausging, und der auch in der Zukunft die friedliebenden Völker der Welt beängstigen würde, legte man ihm nicht ein für allemal das Handwerk durch eine vernichtende, Kompromisse und Verhandlungen nicht zulassende militärische und politische Niederwerfung, bedingungslose Kapitulation genannt, und die anschließende umfassende Bestrafung, Säuberung und Kontrolle der Gesellschaft, Vernichtung der machtund wirtschaftspolitischen Potenz und internationale Überwachung der verbliebenen Strukturen und Ressourcen. Die fortdauernde Isolierung - Roosevelt sprach bekanntlich von "Quarantäne", damit sich friedliebende Nationen nicht infizierten - war bei dieser Betrachtungsweise unumgänglich, und erst der Nachweis reuevoller und tiefgehender demokratischer Genesung konnte auf lange Sicht gesehen eine Rückkehr - für manchen amerikanischen 199 Beobachter sogar die erstmalige Aufnahme - in die Gemeinschaft friedliebender Völker sicherstellen. Dabei darf man ein tragendes und antreibendes, traditionell amerikanisches Motivationselement nicht übersehen: den in der amerikanischen Gesellschaft tief verwurzelten Fortschrittsglauben, die Entwicklung hin zu einer schon von Woodrow Wilson beschworenen ”one world". Wilsons Vierzehn Punkte, Roosevelts "Vier Freiheiten" und die Atlantik- Charta waren Meilensteine auf dem Weg zu einer besseren Welt. Zwar wurden in allen drei Erklärungen die Feindstaaten nicht ausgeschlossen von diesen Perspektiven (sondern teilweise sogar ausdrücklich einbezogen) , doch führte die Verabsolutierung des Feindbegriffes auch hier schnell zur Geduldigkeit des Papiers und der Faktizität des Gegenteils. Die besondere amerikanische Problematik hat Günter Moltmann anschaulich geschildert: "Der vergangene Krieg wurde von Amerika als Kreuzzug propagiert. Die Vorstellung, daß Amerika kämpft, um das Ideal einer Weltfriedensordnung im Sinne der AtlantikCharta zu verwirklichen, beruhte weithin auf fester Überzeugung. Hierin liegt etwas vom traditionellen amerikanischen Fortschrittsglauben, von dem Geiste Wilsons, der das Prinzip der "balance of power" ersetzen wollte durch das Prinzip der "community of power", und vom Geist des Völkerbundes, des Kellogg-Paktes und der Vereinten Nationen, die alle in Amerika ihren Ursprung hatten. All diese Konzeptionen haben eines gemeinsam: sie versagen vor dem Druchbruch dämonischer Mächte in der geschichtlichen Entwicklung, weil sie deren Existenz nicht begreifen können. Widerstrebende Mächte, die sich bei der Verwirklichung der fortschrittlichen idealistischen Konzeption als störend erweisen, werden zunächst mit moralischen und rechtlichen Argumenten verurteilt. Ist zu ihrer Niederringung aber wie im Falle Deutschland ein Weltkrieg und der Einsatz von Millionen von Menschenleben erforderlich, dann ist die Enttäuschung überaus groß und der Gedanke an eine radikale Strafmaßnahme vernichtenden Ausmaßes nicht sehr fern; dann kann sich zeigen, wie schnell der Übergang vollzogen ist vom Glauben an die Verwirklichung einer Idee zum Durchbruch eines gefährlichen Fanatismus. Dämonische Kräfte auf der einen Seite wecken dämonische Kräfte auf der Gegenseite." 4 8 6 . Das angebliche historische Determiniertsein einer globalen Evolution hin zu einem Zustand dauernden Weltfriedens, aufbauend auf den Grundsätzen von Freiheit, Gleichheit und innerstaatlicher Demokratie sowie - von zunehmender Wichtigkeit in den USA - eines erdumfassenden schrankenlosen wirtschaftlichen Multilateralismus', machte es aus der amerikanischen Perspektive notwendig, alles diese Entwicklung Störende oder sie Aufhaltende zu bekämpfen, um den zwangsläufigen historischen Prozeß weiter vorantreiben zu können. Wenn Moltmann meint, in der amerikanischen Deutschlandplanung habe sich "nicht nur das Verantwortungsbewußtsein um die Zukunft der Menschheit" widergespiegelt, "sondern auch der Geist der Rachsucht und Vergeltung"487, so bedarf das vor diesem Hintergrund der Ergänzung. Denn Rache und Vergeltung sind Handlungsformen, die an ein vorangegangenes, nicht notwendigerweise unrechtmäßiges Geschehen anknüpfen, und es fragt sich deshalb, welches Verhalten auf deutscher Seite für die Amerikaner den entsprechenden Bezugspunkt bildete. Nach dem soeben Erörterten bleibt festzuhalten, daß es sich dabei eigentlich allein um das eigenmächtige und willkürliche Ausbrechen aus der geschichtlichen Gesetzmäßigkeit handeln konnte, eine Tatsache, die die Gesetzmäßigkeit der erhofften und prophezeiten Entwicklung selbst in Frage stellte. Das Überleben, ja vielleicht sogar der Erfolg autoritärer und totalitärer Gesellschaftssysteme mußte ernste Zweifel an dieser Gesetzmäßigkeit aufkommen lassen. Diese Gegenentwicklung war der Anknüpfungspunkt für Haßund Rachegefühle, sie galt es mit revolutionären Mitteln zu stoppen und die historisch determinierte Weltordnung 486 487 G. Moltmann, Der Morgenthau-Plan als historisches Problem, in: Wehrwissenschaftl. Rundschau (V), 1955, S. 15 ff, 32 G. Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 1 201 wiederherzustellen. Daß die kommunistische Sowjetunion auch als totalitäre, der Gesetzmäßigkeit nicht entsprechende Erscheinung hätte aufgefaßt werden müssen, wurde zunächst durch den Hinweis auf die Kriegsallianz umgangen, in der sich laut Roosevelt ja die "friedliebenden" Nationen zusammengeschlossen hatten, sowie der weitverbreitete Glaube, bei dem in der Sowjetunion existierenden Gesellschaftssystem handele es sich um eine Ordnung, die sich der Demokratie westlicher Form nach dem Krieg immer stärker annähern werde. 2. TEIL: "UNCONDITIONAL SURRENDER" - VOM EINER POLITISCHEN FORDERUNG ZU EINEM NEUEN STAATS- UND VÖLKERRECHTLICHEN INSTITUT? Die mit der politischen Besatzungsplanung zwangsläufig einhergehende Frage war die nach der völkerrechtlichen Zulässigkeit all dieser Maßnahmen. Gerade die Rechte und Pflichten einer Besatzungsmacht auf feindlichem Gebiet hatten schon 1899 und 1907 auf den beiden Haager Konferenzen in den Artikeln 42 bis 56 der Haager Landkriegsordnung (HLKO) eine recht detaillierte Regelung erfahren, und es konnte keinen ernstzunehmenden Zweifel an ihrer Gültigkeit und Anwendbarkeit bei der alliierten Okkupation Deutschlands geben. Würden aber diese Regeln ausreichen, um die alliierten Kriegsziele in einem völkerrechtlich zulässigen Rahmen durchführen zu können? Oder, wenn dies nicht möglich sein sollte, konnte man durch ganz gezielte Maßnahmen den völkerrechtlichen Schutz für die Bevölkerung, ihr Eigentum, ihre Freiheit und ihre sonstigen Rechte, und für die politischen und staatlichen Strukturen in Deutschland irgendwie ausschalten? Und gegebenenfalls wie: durch Zerschlagung des deutschen Staates als politische und rechtliche Einheit oder durch Übertragung innerstaalicher Befugnisse auf die alliierten Machthaber durch eine vertragliche Abmachung ? Die Aufgabe, vor die sich die alliierten Völkerrechtler bei ihrer Planung gestellt sahen, war eine völlig neue, in der modernen Kriegshistorie einmalige: durch militärische Operationen und politische Entscheidungen eine Lage herbeizuführen, in der der besiegte Feind nicht nur militärisch wehrlos, sondern auch rechtlos sein würde, in der aus dem völkerrechtlichen Subjekt ein Objekt willkürlicher, d.h. rechtlich nicht überprüfbarer Maßnahmen würde. Präzedenzfälle dafür zu finden, mußte schwerfallen, ebenso wie die rechtliche Konstruktion und Begründung einer solchen Situation. Dabei kam den angloamerikanischen Planern jedoch ein schon anachronistischer und plötzlich scheinbar wieder 203 \ modern gewordener Begriff zur Hilfe: die Forderung bedingungsloser Kapitulation ("unconditional surrender"). nach I. Die frühe amerikanische "Unconditional Surrender"-Planung 1.1. Planungen des Subcommittee on Political Problems Die ersten Planungen, wie das Ende des Krieges mit Deutschland zu gestalten sei, erfolgten im Subcommittee on Political Problems bereits im Frühjahr 1942. Unter dem Vorsitz von Sumner Welles wurden die mit dem Waffenstillstand 1918 gemachten Erfahrungen aufbereitet1. Sollte man sich auch diesmal mit einem Waffenstillstand zufriedengeben oder sollte man weiterkämpfen bis zu irgendeiner Form von politischer oder militärischer Kapitulation Deutschlands? Norman H. Davies, Mitglied des Komitees, der als Finanzberater von Präsident Wilson und der amerikanischen Delegation bei der Pariser Friedenskonferenz 1919 gewesen war, meinte, die Deutschen würden niemals wieder den Fehler begehen, einen Waffenstillstandsvertrag zu unterzeichnen: "This time the war must go to the point of unconditional surrender, which would mean that the army itself must surrender"2 . Damit wollte Davis verhindern, daß (ähnlich wie schon 1918) der Waffenstillstand von politischer Seite gezeichnet würde und die militärischen Führer ohne Verantwortung für dieses Ergebnis blieben. Adolf A. Berle hielt hingegen noch an der Vorstellung von einem Waffenstillstand fest. Dieser müßte unterschrieben werden entweder von der existierenden Regierung, von einer neuen Regierung oder von den Streitkräften3. Letztlich war man jedoch im Komitee der 1 2 3 204 Dokumente zur Deutschlandpolitik, I. Reihe, Band 2, 11. August 1941 bis 31. Dezember 1942, Amerikanische Deutschlandpolitik, bearbeitet von M.-L. Goldbach; hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, S. 198 ff. Dokumente zur Deutschlandpolitik, 1/2, S. 199 Dokumente zur Deutschlandpolitik, 1/2, S. 199 Auffassung, daß zwischen Waffenstillstand und Kapitulation ein so großer Unterschied gar nicht bestehe: "A German armistice or surrender,didn't make much difference whether contemplated a negotiated armistice an uncondtional surrender.”4 it we or Was den kleinen Unterschied anbetraf zwischen beiden Möglichkeiten der Beendigung von Feindseligkeiten, sah ihn Davis darin, daß das eine " a negotiated cessation of hostilities" (Waffenstillstand), das andere "an imposed cessation of hostilities" (bedingungslose Kapitulation) sei5. In den folgenden Monaten wurden vor allem von General George V. strong, der auch Mitglied des "Advisory Committee on Post-War Foreign Policy" war, mehrere Arbeitspapiere erstellt für das "Subcommittee on Security Problems" über die Bedingungen einer deutschen Kapitulation oder eines Waffenstillstands zunächst nur gegenüber den USA®, später auch gegenüber den Vereinten Nationen7. Diese Arbeitspapiere enthielten Bestimmungen, wie sie üblicherweise auch in Waffenstillstandsverträgen enthalten sind; sie waren insbesondere rein militärischer Natur. Am 23. Juli 1942 erstellte das Subcommittee on Security Problems einen Zwischenbericht über die Kapitulationsbedingungen für Deutschland. Dort hieß es: "1. On the assumption that the victory of the United Nations will be conclusive, unconditional surrender, rather than an armistice, should be sought from Germany. 2. The negotiation of the terms of surrender with the German High Command and the enforcement of the terms upon Germany should be conducted entirely by the appropriate United Nations military organs and officers."8 4 5 6 7 8 So die unwidersprochene Formulierung von J. Bowman, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 201 Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 252; Sitzung vom 6. Mai 1942 Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 265 ff. Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 521 ff. Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 433 und die Wiederholungen in den Zwischenberichten vom 13.8.1942 und 22.10.1942, S. 474 und 570 205 Obwohl damit deutlich zwischen einer bedingungslosen Kapitulation und einem Waffenstillstand unterschieden wurde, und ersterer absolute Priorität eingeräumt wurde, waren beide in ihrer praktischen Auswirkung für das Besatzungsregime in Deutschland nicht sehr weit voneinander entfernt, zumal auch die Kapitulation als militärische Vereinbarung gedacht war. Sie unterschieden sich lediglich darin, daß üblicherweise in einem Waffenstillstand, wenn man ihn sich als Vereinbarung denkt, die einem Verständigungsfrieden den Weg ebnen soll, die Bestimmungen in einer gewissen Weise ausgehandelt werden (wenngleich dies nicht begriffsnotwendig für einen "Waffenstillstand" ist) , die Alliierten im Zweiten Weltkrieg jedoch, allen voran die Amerikaner, von vornherein nur für einen Diktatfrieden gegenüber den Achsenmächten im allgemeinen, Deutschland im besonderen, zu haben waren. Einem solchen Diktatfrieden mußte als Vorstadium die völlige militärische Niederlage vorausgehen, ohne irgendwelche Zugeständnisse. Den vermeintlichen "Fehler", den die Amerikaner glaubten am Ende des Ersten Weltkrieges gemacht zu haben, als die Deutschen auf der Grundlage von Wilsons Vierzehn Punkten in den Waffenstillstand einwilligten, wollten sie nun nicht wiederholen. Bedingungen sollten den Deutschen diesmal nicht zugestanden werden, die Anerkennung der militärischen Niederlage mußte "bedingungslos" sein. Dieser Zusammenhang wurde schon im Mai 1942 mehr als deutlich. Das Protokoll der Sitzung des Subcommittee on Security Problems vermerkt: "Mr. Long (B. Long, zu dieser Zeit Abteilungsleiter im US-Außenministerium und Mitglied des Advisory Committee on Post-War Foreign Policy, d. Verf.) remarked that we are fighting this war because we did not have an unconditional surrender at the end of the last one. To this there was also general agreement." 9 Noch keine Intention hatten die amerikanischen Planer damals, eine "bedingungslose Kapitulation" in irgendeiner 9 206 Dokumente zur Deutschlandpolitik, 1/2, S. 252 Form als Instrument zur Ausschaltung der völkerrechtlichen Bindungen und Pflichten der Okkupanten auf besetztem deutschen Gebiet zu verwenden. Das geht eindeutig aus einem Arbeitspapier des Subcommittee on Security Problems vom 27. Juli 1942 hervor, das den Titel trug: "Preliminary Plan for the Occupation of Germany". Die dort gemachten Ausführungen gehen von der Annahme aus, daß das Ende der Feindseligkeiten sich entweder als das Ergebnis einer bedingungslosen Kapitulation Deutschlands oder als das Resultat eines Waffenstillstandes darstelle. Auch ein Waffenstillstand, obwohl der Form nach eine Vereinbarung, sei dem Inhalt nach einer derartigen Kapitulation gleich ("... is in substance equivalent to such surrender")10. Desweiteren wurde zwischen einer Anfangsphase ("Initial Period") und einer danach folgenden zweiten Phase ("Second Period") der alliierten Besatzungsherrschaft in Deutschland unterschieden. Hinsichtlich der völkerrechtlichen Machtbefugnisse der Alliierten in der Anfangsphase der Besatzung hält das Arbeitspapier fest: "During the initial period, the occupying forces will possess all the powers of a military occupant under the laws of war. Martial law will prevail."11 Weiter hieß es in dem Arbeitspapier, die Besatzungsregierung werde in Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht nur eine eingeschränkte gesetzgeberische Befugnis ("limited law-making authority") besitzen. So sei der Militärgouverneur ermächtigt, Verordnungen zu erlassen in einem Umfang, der notwendig sei, um die Sicherheit und den Unterhalt der Besatzungstruppen zu gewährleisten, wodurch alle gegenteiligen Bestimmungen automatisch suspendiert würden. In Ausübung dieser Befugnis werde der Militärgouverneur so schnell wie möglich alle Gesetzgebung aufheben, in der Na- zigrundsätze verkörpert seien. Ansonsten sollte das deutsche Rechtssystem, öffentlichund privatrechtlich, im allgemeinen in Kraft bleiben. Auch deutsche Beamte sollten 10 11 Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 437 Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 439 f 207 ihren Dienst, unter alliierter Oberaufsicht und Weisungsgebundenheit, weiter ausüben, sofern sie kein Sicherheitsrisiko für die Besatzungstruppen darstellten. Deutsche Zivil- und Strafgerichte sollten ihre Tätigkeit weiterführen und ebenfalls allgemeiner Kontrolle unterliegen12. Erst in der zweiten Phase des Besatzungsregimes, in der der Militärgouverneur durch eine "Internationale Zivilkommission" abgelöst werden sollte, sollte auch das Kriegsrecht an so vielen Orten wie möglich fallengelassen werden (ohne daß in dem Arbeitspapier zum Ausdruck gekommen wäre, wie ein solches Ergebnis rechtstechnisch erreicht werden könnte). Der Internationalen Kommission sollte dann jedoch die Befugnis zukommen, das Kriegsrecht von neuem für wirksam zu erklären und Notfallaktionen ("emergency action") durch die Militärbefehlshaber anzuordnen oder zu genehmigen, wann immer diese notwendig seien. Die Befugnisse der Besatzungsregierung während dieser zweiten Besatzungsperiode wären in jeder Hinsicht identisch mit den Befugnissen während der ersten Besatzungsphase. Gleichwohl werde jedoch von der Kommission erwartet, "so far as was consistent with the purposes and efficiency of the occupation, to relax the strictness with which certain of these powers were interpreted and enforced".13 Daß die "bedingungslose Kapitulation" Deutschlands keineswegs das Ergebnis von Verhandlungen sein durfte, machte das Subcommittee on Security Problems in seiner Sitzung am 2. Oktober 1942 deutlich. Die möglichen Umschreibungen "Kapitulations-Abkommen" ("convention of surrender") oder "Kapitulations-Vereinbarung" ("agreement of surrender") wurden abgelehnt, da beide einen Verhandlungsvorgang enthielten, der mit dem Konzept von "bedingungsloser Kapitulation" nicht vereinbar sei. Die Kommission einigte sich auf Vorschlag von Norman Davis schließlich darauf, von "Übergabebedingungen" ("terms of surrender") zu sprechen. 12 13 208 Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 440 Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2. S. 441 Die bereits vorliegenden terminologisch umgestaltet14. 1. Entwürfe wurden entsprechend 2. Roosevelt bekennt sich zum Prinzip der "bedingungslosen Kapitulation" Die Planungen des Subcommittee on Security Problems zur "bedingungslosen Kapitulation" blieben jedoch nicht nur komiteeintern , sondern wurden bereits frühzeitig dem amerikanischen Präsidenten mitgeteilt. Norman H. Davis, mit Roosevelt bereits seit langer Zeit befreundet, berichtete dem Unterausschuß am 20. Mai 1942, daß er die Tätigkeiten des Ausschusses mit dem Präsidenten diskutiert und mit ihm Übereinstimmung erzielt habe über die Methode der Beendigung des Konflikts mit den Hauptachsenmächten.15 Mehrere Monate später, aber noch vor der Konferenz von Casablanca, orientierte Roosevelt auch erstmals einen Nichtamerikaner mit seinen Vorstellungen vom Kriegsende und der Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation". Gegenüber dem Ministerpräsidenten der polnischen Exilregierung, General Wla- dyslaw Sikorski, sagte Roosevelt, nachdem er den Polen Ostpreußen verheißen hatte ("That's right. East Prussia must be yours..."): "We do not intend to finish this war by an armistice or treaty. Germany must surrender unconditionally. We must dismember her and she must go in quarantine for a long period, perhaps thirty years. We have radically to uproot Hitlerism and build peace on its ruins."16 Diese Feststellung war sicherlich mehr als eine situationsbedingte Geste an den polnischen Gesprächspartner, für den eine solche Äußerung zweifellos große Bedeutung hatte. Am Verhandlungstisch nach Kriegsende würde für die Deutschen kein Stuhl reserviert sein, nur für die Alliierten. Verhandlungen würden nicht mit Deutschland 14 15 16 Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 518 Raymond G. O'Connor, Diplomacy for Victory - FDR and Unconditional Surrender, S.37 Dokumente zur Deutschlandpolitik, I/2, S. 714 geführt werden, sondern Uber Deutschland. Die polnischen Aussichten, als "Aggressions-Opfer" reichlich territorial entschädigt zu werden, mußten durch eine derartige alliierte Politik eminent steigen. Die Ankündigung Roosevelts war jedoch mehr als das. Sie war bereits die - zu diesem Zeitpunkt noch inoffizielle - Festlegung der amerikanischen Deutschlandpolitik auf das Prinzip der "tabula rasa", in dem Verhandlungen nichts, die politische Macht aber alles bedeutete. Roosevelts nächster Schritt war die Information der amerikanischen Generalstabschefs (Joint Chiefs of Staff) über diese politische Entscheidung. Am 7. Januar 1943 bezeich- nete er diesen gegenüber die "bedingungslose Kapitulation" als das geeignete Ziel alliierter Kriegsanstrengungen ("the proper aim of Allied war effort")17. Ein Widerspruch seitens der Generalstabschefs erfolgte nicht, obwohl es sich bei diesem Komplex zunächst um eine Frage militärischer Zweckmäßigkeit und Effizienz gehandelt hätte und den Militärs berechtigte Zweifel hätten kommen müssen, ob eine solche Forderung nicht den Krieg unnötig verlängern mußte. Alfred Vagts meint, die Generäle seien vermeintlich "in einer amerikanischen Tradition befangen" gewesen18. Obwohl er den Hintergrund dieser "Tradition" nicht näher ausleuchtet, ist doch klar, was er meint: eine unreflektierte Anerkennung des Primats der Politik, selbst wenn dadurch zutiefst militärische Sachverhalte politisiert und der Entscheidung der militärisch Zuständigen entzogen werden. Es ist aber auch nicht auszuschließen, daß die Vereinigten Generalstabschefs der Forderung Roosevelts durchaus aufgeschlossen und wohlwollend gegenüberstanden, hatte sich doch schon in den Beratungen des Subcommittee ein Militär, General Strong, durch die Abfassung von Kapitulationsplänen federführend hervorgetan. Es ist vielleicht bezeichnend, daß die einzige bekannte Stellungnahme eines amerikanischen Soldaten zu dieser Zeit gegen Roosevelts Forderungen von einem vergleichsweise 17 18 210 A. Vagts, Unconditional Surrender - vor und nach 1941, in: VfZG 1959, S. 294 A. Vagts, ebd. jungen General erhoben wurde. Auf der Sitzung der Joint Chiefs of Staff war es General A.C. Wedemeyer, der sich gegen dieses Prinzip aussprach, ohne damit allerdings Erfolg zu haben. Vermutlich hat Generalstabschef George C. Marshall bereits direkt nach dem Treffen der JCS mit Roosevelt entschieden, die ganze Sache sei damit abgeschlossen und eine Diskussion auf JCS-Ebene sei nicht weiter nützlich19. Roosevelt jedenfalls brauchte nun Widerstand in den eigenen Reihen nicht mehr zu fürchten. Außenminister Cordell Hull meinte zwar später in seinen Memoiren, er und verschiedene seiner Beamten hätten sich grundsätzlich gegen dieses Prinzip der "bedingungslosen Kapitulation" gewendet("basically opposed the principle"), weil dieses Prinzip eine Verlängerung des Krieges aufgrund des härteren Widerstandes der Achsenmächte bedeuten würde, und nach Kriegsende die Alliierten zur Übernahme der Verwaltungsaufgaben in den eroberten Ländern gezwungen wären, ohne dafür ausreichend vorbereitet zu sein20. Dies vermag allerdings nicht sonderlich zu überzeugen, war doch gerade Cordell Hull am Ende des Ersten Weltkrieges einer von denen gewesen, die sich gegen eine Verständigung und für eine vernichtende Niederlage Deutschlands ausgesprochen hatten21. Seine politische Vision als Wilsonianer von der "one world" hatte keinen Platz für Staaten und Nationen, die nach seiner Ansicht diesem globalen Einigungsprozeß entgegenstanden und deren totale Niederlage als Grundvoraussetzung für dieses hochgestellte imaginäre Ziel angesehen wurde. 19 20 21 A.E. Campbell, Franklin Roosevelt and Unconditional Surrender, in: R.Langhorne (Hrsg.), Diplomacy and Intelligence during the Second World War, Essays in honour of F.H. Hinsley, S. 219 ff., 224; auf die Rolle Gerneral Marshalls in dieser Frage weist auch A. Vagts, S. 294, hin. Hull, Memoirs, S. 1570 Hull, Memoirs, S. 97 : "How can you negotiate any question with scoundrels and villains, with assassins and freebooters, with highwaymen and desperadoes! They must first either be killed or disarmed, and then let honorable men speak and act for their nation at the peace table". 211 II. Die Konferenz von Casablanca und die politische Forderung nach "Unconditional Surrender" II.1. Die Entstehung der Casablanca-Formel Mit dieser Rückendeckung in Washington konnte Roosevelt beruhigt zur Konferenz mit Premierminister Winston Churchill nach Casablanca reisen, die vom 14. bis zum 24. Januar 1943 stattfand. Wie Roosevelt seinen Vereinigten Generalstabschefs bereits wenige Tage vorher angekündigt hatte22, machte er auf der Konferenz seine geplante Forderung zum Thema eines Gesprächs. Churchill war begeistert. Elliot Roosevelt, der Sohn des Präsidenten, berichtete später, Churchill habe zugestimmt mit den Worten:"Ausgezeichnet! Ich kann mir vorstellen, wie Göbbels und die ganze Gesellschaft toben werden!" Und Roosevelt habe hinzugefügt, das sei gerade das Richtige für die Russen, sie könnten sich gar nichts besseres wünschen als die "bedingungslose Kapitulation"; Stalin könne den Ausdruck selbst erfunden haben23. Die "bedingungslose Kapitulation" war schon vor dem 20. Januar 1943 Gegenstand eines Gesprächs zwischen Roosevelt und Churchill. Am 20. Januar 1943 berichtete der britische Premierminister an sein Kriegskabinett in London, daß für die Pressekonferenz am Ende des Casablanca-Treffens ein Passus vorgesehen sei, in dem von Deutschland und Japan, jedoch nicht von Italien, die "bedingungslose Kapitulation" gefordert werden solle. Auf seiner Sitzung vom gleichen Tag entschied das Kriegskabinett, das Prinzip voll anzuerkennen und es auch auf Italien anzuwenden24. Bereits vor der abschließenden Pressekonferenz war die Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation" somit gemeinsame angloamerikanische Kriegspolitik. 22 23 24 212 Vgl. A.Vagts, VfZG 1959, S. 294 E.Roosevelt, Wie er es sah, S. 151 f., 153, der das Gespräch auf den 23.1.1943 datiert. G. Moltmann, Die Genesis der Unconditional-Surrender- Forderung, Wehrwissenschaftliche Rundschau (VI) 1956, S. 105 ff., 107 f. Auf der Pressekonferenz am Schlußtag der Beratungen wurde die Forderung durch Roosevelt zum ersten Mal öffentlich verkündet, und Churchill stimmte den Ausführungen des amerikanischen Präsidenten ausdrücklich zu25. Roosevelt stützte sich bei seinen Ausführungen auf Notizen, die er bereits vorher angefertigt hatte26 und sagte zu den versammelten Pressevertretern aus aller Welt: "Ich glaube, unser aller Sinnen und Trachten zielte längst auf etwas, das jedoch weder vom Premierminister noch von mir jemals zu Papier gebracht worden ist, und das ist die Entscheidung, daß der Weltfrieden nur durch die totale Elimination der deutschen und japanischen Kriegsmacht herbeigeführt werden kann...Die Elimination der deutschen, japanischen und italienischen Kriegsmacht ist gleichbedeutend mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, Italiens und Japans. Darin liegt eine vernünftige Sicherung des künftigen Friedens in der Welt."27 Dies bedeute aber nicht, so fügte Roosevelt weiter hinzu, die Vernichtung der deutschen, italienischen und japanischen Bevölkerung, sondern nur die Zerstörung der Weltanschauung in diesen Ländern, die auf Eroberung und Unterjochung anderer Völker angelegt sei28. 25 26 27 28 Berichte über die Pressekonferenz finden sich bei: R.E.Sherwood, Roosevelt and Hopkins, S. 566 f., 569 f.; J.L. Chase, Unconditional Surrender Reconsidered,in: Political Science Quarterly 1955, S. 258 ff.; G. Moltmann, Die Genesis der Unconditional-Surrender-Forderung, Wehrwissenschaftliche Rundschau (VI) 1956, S. 105 ff.; Texte der Pressekonferenz vom 24.1.1943 und des offiziellen Kommuniques vom 26.1.1943 in: The Public Papers and Adresses of Franklin D. Roosesvelt (hg. von Samuel I. Rosenman) Bd. 1943, S. 37 ff., 48 ff. R.E.Sherwood, Roosevelt und Hopkins, S. 570 f. The Public Papers an Adresses of Franklin D. Roosevelt, Bd. 1943, S. 37 ff.(39); dt. Text zitiert nach: G. Moltmann, Wehrwiss. Rundschau 1956, S. 106; sprachlich etwas geänderte Übersetzungen auch bei G. Zieger, Alliierte Kriegskonferenzen 1941-1943, S. 98 und M. Arndt, Völkerrechtliche und staatsrechtliche Bedeutung der Berliner-Erklärung vom 5. Juni 1945, Diss. iur., S.6 The Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt, Bd. 1943, S. 37 ff.; G. Zieger, Kriegskonferenzen, S. 98 213 II.2. Das "Neuartige" der Casablanca-Formel Roosevelt und Churchill verkündeten in Casablanca ein Kriegsziel, das - verbunden mit dem Begriff "bedingungslose Kapitulation" zwar zu diesem Zeitpunkt für die Weltöffentlichkeit überraschend kam und neu war, das aber - in anderer Terminologie - schon seit geraumer Zeit ein alliiertes Kriegsziel darstellte. Denn schon auf der Atlantik-Konferenz im August 1941 hatten die beiden als unabdingbare Grundvoraussetzung für die bei diesen Beratungen knapp umrissene Nachkriegsordnung die "endgültige Zerstörung der Nazityrannei" gefordert29, und Umschreibungen, wie sie in der Öffentlichkeit auch schon vorher gefallen waren, lagen auf einer Linie mit der "neuen" Forderung: "The words had indeed not been used in public before, but phrases like fighting on till the total defeat of the enemy, and ending the power to wage aggressive war, had been common enough, and it is hard to see that they implied in practice anything less than unconditional surrender." 30 Die Casablanca-Formel hatte jedoch im Vergleich mit anderen ähnlichen Formulierungen eine Rigorosität und Radikalität, von der es für die Alliierten keinen Weg mehr zurück an den Verhandlungstisch gab. Waren alle anderen Formulierungen vielleicht noch irgendwie auslegungs- und modifikationsfähig, so war es die Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation" nicht mehr. Sie bedeutete Diktat-, nicht Verhandlungsfrieden, sie hatte Deutschland (und daneben insbesondere Japan) bei den Nachkriegsplänen eine reine Objektrolle zugedacht. Daß sich die Forderung nicht nur auf das nationalsozialistische Regime bezog, sondern auf die Deutschen als Volk, machte Roosevelt klar, als er wenige 29 30 Vgl. zur Atlantic-Charta oben 1. Teil, I.2. A.E. Campbell, Franklin Roosevelt and Unconditional Surrender, S. 225; ähnlich auch R.G. O'Connor, Diplomacy for Victory - FDR and Unconditional Surrender, S. 53, der auf die sonst übliche Kriegsbeendigungs-Terminilogie verweist, die in der Substanz ähnlich einer "bedingungslosen Kapitulation" sei. Monate nach dem Treffen in Casablanca, im Mai 1943, dem britischen Premierminister eine Erweiterung des Inhalts der Casablanca-Formel vorschlug, die Churchill allerdings ablehnte. Roosevelt wollte den Briten darauf verpflichten, daß "die Vereinten Nationen niemals mit der Naziregierung, dem deutschen Oberkommando oder sonst einer Organisation oder Gruppe oder Einzelpersonen in Deutschland über einen Waffenstillstand verhandeln würden." 31 Aber auch ohne daß diese Passage zur offiziellen alliierten, zumindest anglo-amerikanischen Politik erhoben wurde, war doch von Anfang an sicher, daß der Casablanca- Formel "der fragwürdige Zug einer kollektiven Diskriminierung eines ganzen Volkes" anhaftete32. Durch diese Formel wurde selbst ein Verständigungsfrieden mit anti-nationalsozialistischen Gruppierungen für den Fall der Überwindung des Regimes vollkommen ausgeschlossen. II. 3. Hintergründe der Casablanca-Formel Es ist vielfach untersucht worden, welche Motive im einzelnen Roosevelt bewogen haben - und daß die Initiative dafür von Roosevelt ausging, bedarf keiner näheren Erläuterung -, die Casablanca-Formel zur zentralen Kriegsforderung zu machen, die an Destruktivität nur noch durch die Forderung nach völliger physischer Vernichtung des Feindes zu überbieten gewesen wäre. Der erste und wohl auch wesentlichste Grund erschließt sich dem Betrachter schon, wenn man die Vorgeschichte der Formel im Subcommittee on Political Problems noch einmal Revue passieren läßt: Die Beendigung des Ersten Weltkrieges durch einen Waffenstillstand auf der Grundlage von Wilsons Vierzehn Punkten mit der anschließenden Versailler Friedenskonferenz wurde als Fehlschlag angesehen, hatte es doch diese Art der Kriegsbeendigung nach amerikanischer 31 32 R.Sherwood, Roosevelt und Hopkins, S. 648 G. Moltmann, Wehrwiss. Rundschau 1956, S. 109 21S Auffassung den Deutschen offensichtlich erlaubt, nach 20 Jahren dort weiterzumachen, wo sie im Ersten Weltkrieg aufgehört hatten, und den "Weltfrieden" erneut zu bedrohen. Bei der Fehlersuche war man in Amerika schnell fündig geworden: Man hatte sich durch die Vierzehn Punkte zu früh gegenüber Deutschland festgelegt und überdies den Deutschen dadurch die Möglichkeit gegeben, vermeintliche Rechtsansprüche geltend zu machen, anstatt schon den Ersten Weltkrieg bis zur "bedingungslosen Kapitulation" Deutschlands durchzufechten, um dann auf den deutschen Trümmern die Vision von einer "Mächtegemeinschaft" ("community of power") zu verwirklichen33. Daß der Fehler von 1918 vielleicht in dem Wortbruch der Sieger gegenüber Deutschland, in der Nichtbeachtung der Vierzehn Punkte, in der Nichtzulassung Deutschlands an den Verhandlungstisch und dem Diktatcharakter dieses Friedensvertrages, also in der politischen Diskriminierung des besiegten Feindes, zu suchen war, fand so gut wie keine Vertreter. Zumindest erhoben sie ihre Stimmen nicht laut, oder ihnen fehlte der notwendige politische Einfluß. Günther Moltmann hat die historischen Erkenntnisse, die man in den Vereinigten Staaten aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges glaubte ziehen zu müssen, treffend umschrieben: "Das Kernübel des Friedens von 1919 war sein Kompromißcharakter. An ihm scheiterte die Rettung des Friedens in Europa und in der Welt... Die Verhandlungsbasis der Vierzehn Punkte hatte einen 'Frieden ohne Sieg' gebracht. Roosevelt nahm sich vor, diesmal klüger zu handeln und den Deutschen keine Gelegenheit zu Rechtsansprüchen zu geben. Die Unconditional-SurrenderForderung kann 33 216 Die Ursächlichkeit der vermeintlichen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg für die Casablanca-Formel wird sehr umfassend und zutreffend analysiert von G. Moltmann, ebd., S. 186 ff.; die Entscheidung am Ende des Ersten Weltkrieges zwischen "bedingungsloser Kapitulation" und einem Waffenstillstand wird von A. Vagts, Unconditional Surrender, VfZG 1959, S. 288 ff., aufgearbeitet, der meint, "1918 war ein Lehrjahr für die amerikanischen Staatsmänner des Zweiten Weltkrieges, die Demokraten wie Hull und Franklin D. Roosevelt, in dessen Gedächtnis..., the phrase stuck"', ebd. , S. 288. nur als logische Konsequenz aus einer solchen Haltung bezeichnet werden."34 "Bedingungslose Kapitulation" versprach völlige Handlungsfreiheit für die alliierten Sieger, die Welt und ganz besonders die Feindstaaten nach dem eigenen Willen gestalten zu können aufgrund der dann vorhandenen absoluten politischen Machtvollkommenheit. Da Roosevelt für eine frühzeitige konkrete Planung der ins Auge zu fassenden Maßnahmen nicht zu gewinnen war ("policy of postponement")35, brachte ihm die Casablanca-Formel auch noch einen zweiten "Vorteil": Der Blick der amerikanischen Öffentlichkeit, aber auch der alliierten Regierungen, sollte auf das Gewinnen des Krieges gerichtet werden, um mit dem Hinweis darauf, erst müsse der Krieg gewonnen werden, erst dann könne man in konkrete Planungen eintreten, eine frühzeitige Diskussion alliierter Kriegsziele zu verhindern36. Roosevelt vertraute auf seine Fähigkeiten, auf einer Nachkriegskonferenz durch Verhandlungsgeschick eine Weltordnung nach seiner Vorstellung zustande bringen zu können. Bei Planungen während des Krieges sah er die Gefahr, die Alliierten könnten sich entzweien und Deutschland mit seinen Verbündeten davon profitieren. Auf das rein negative, destruktive Kriegsziel konnte man die Alliierten noch festlegen. Bei den Vorstellungen der Alliierten von der Friedensordnung der Nachkriegsweit mußten die Gemeinsamkeiten aber wohl aufhören. "Bedingungslose Kapitulation" war somit auch ein vorbeugendes Mittel, das die Festlegung auf Bedingungen sowohl mit den Alliierten als auch gegenüber Deutschland verhindern sollte37. Außerdem konnte dadurch, wenn jeder Alliierte sich zu dieser Formel bekannte, ein Ausscheren des einzelnen aus 34 35 36 37 G. Moltmann, Die Genesis, ebd., S. 185 f.; ähnlich auch J.L. Chase, Political Science Quarterly 1955, S. 278 Vgl. oben 1. Teil S. Welles, Where Are We Heading?, S. 18 f. G. Moltmann, Wehrwiss. Rundschau 1956, S.186 f.; J.L. Chase, Political Science Quarterly 1955, S. 275 217 der Phalanx der Alliierten und der mögliche Abschluß Separatfriedens mit den Achsenmächten unterbunden werden38. eines Roosevelt verfolgte also mit seiner Forderung ganz gezielt einen politischen Zweck, eine vollständige politische Handlungsfreiheit gegenüber Deutschland am Ende der Feindseligkeiten. Daß er der Casablanca-Forderung auch eine juristische Komponente, insbesondere eine völkerrechtliche, zu diesem Zeitpunkt zugemessen hat, ist nicht anzunehmen39. Im Vordergrund stand eindeutig das Verhindernwollen von alliierten Bindungen untereinander und gegenüber Deutschland, wobei Roosevelt offensichtlich nur an rechtliche oder moralische Bindungen aufgrund von Vereinbarungen dachte. Daß die Alliierten auch kraft Gesetzes gebunden waren, nämlich durch die HLKO und die Genfer Konvention, war ihm damals entweder nicht klar oder für ihn nicht von Bedeutung. Es sollte deshalb erst den Planungen auf einer unteren Verwaltungsebene Vorbehalten bleiben, aus dem in Casablanca verkündeten politischen Prinzip auch ein juristisches Prinzip zu entwerfen. III. "Unconditional Surrender" als Versuch, in Deutschland einen völkerrechtsfreien Raum zu schaffen III.l. Das Pollock-Memorandum vom April 1943 Bereits im April 1943 erstellte der Politikwissenschaftler und Deutschlandexperte James K. Pollock, Professor an der Universität Michigan, auf Anfrage des Kriegsministeriums eine Denkschrift mit dem Titel "What does "Unconditional Surrender' mean as applied to Germany"40. In seiner Studie berücksichtigte Pollock neben militärischen auch politische 38 39 40 218 A.E. Campbell, Franklin Roosevelt and Unconditional Surrender, S. 226 f. So auch G. Moltmann, Wehrwiss. Rundschau 1956, S. 108: "In Casablanca wurden keine juristischen Überlegungen angestellt. Roosevelt verkündete ein politisches Prinzip". JCS, "Memorandum Information No. 61", "Note by the Secretaries" (cover note) vom 20.4.1943, "Enclosure: What does 'Unconditional Surrender' mean as applied to Germany", o. D., von J.K. Pollock; RG 218 CCS 384.1 Germany (4-17-43) Faktoren. Als abschreckendes Negativ-Beispiel dafür, wie man einen Krieg nicht beenden dürfe, erschien auch ihm der Erste Weltkrieg. In dem Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen hätten die Amerikaner erfahren, daß die Art und Weise, in der ein großer Krieg beendet werde, auch den Erfolg des nachfolgenden Friedens beeinflusse, wenn es diesen nicht sogar bestimme: "The mistakes of 1918 should not be repeated"41. Bevor der Befehl zur Feuereinstellung erfolge, meinte Pollock, müßten bestimmte militärische Vorbedingungen erfüllt sein. Deutschland müßte diesmal selbst Schlachtfeld werden und Verhandlungen über eine Kapitulation Deutschlands sollten nicht früher erwogen werden, bis sechs von zwölf von ihm näher bezeichnete Städte von den Armeen der Vereinten Nationen eingenommen und die Teilentwaffnung des Feindes verlangt worden sei. Die neue juristische Komponente, die mit einer "bedingungslosen Kapitulation" verbunden werden konnte, formulierte Pollock dann folgendermaßen: "Whoever has legal power at the time in Germany to give political and military orders to the German people and to the German armies must be required in a written document a) to surrender unconditionally; and b) to transfer supreme authority (Oberste Staatsgewalt) to the United Nations Supreme Command. ... It establishes the legal basis for the work of an International Governing Commission... Es sei zu dem Zeitpunkt, in dem die Denkschrift erstellt wurde, zwar noch unsicher, wer diese "Oberste Staatsgewalt" im Moment der deutschen Niederlage innehaben werde, aber... "...the authority will be lodged somewhere and we should not deal with 41 42 J.K. Pollock-Memorandum, ebd., S. 1 J.K. Pollock-Memorandum, ebd., S. 2, 3 219 any person or persons except those possessing the power of control over 43 Germany (Staatsoberhaupt) ". Von einer schnellen Übertragung der "Staatsgewalt" versprach sich Pollock, neben der Schaffung einer Rechtsgrundlage für die Tätigkeiten der vorgeschlagenen Kommission (s.o.), vor allem auch die mögliche Verhinderung revolutionärer Bewegungen in Deutschland. Die "International Governing Commission" wollte er in Berlin einrichten. Sie sollte sich nach der vollständigen Besetzung Deutschlands zusammensetzen aus je einem Repräsentanten der USA, Großbritanniens, der Sowjetunion, der Niederlande und Norwegens. Die Mitglieder der ersten Kommission sollten Militäroffiziere sein. Weitere Vorschläge befaßten sich mit der territorialen und funktionalen Organisation dieser Kommission, die sich über regionale Verwaltungseinrichtungen über ganz Deutschland erstrecken und durch eigene Abteilungen für die unterschiedlichsten Sachbereiche zuständig sein sollte. Die alliierten Truppen sollten nur solange in Deutschland verbleiben, wie es notwendig sei, um die deutsche Zivilbevölkerung zu beeindrucken und die Kommission einzusetzen44. Zu den Aufgaben der Kommission zählte Pollock neben der Verwaltung Deutschlands und der Wiederherstellung einer normalen Regierungstätigkeit die vollständige Entwaffnung Deutschlands und die Überführung der deutschen Streitkräfte in eine Zivilarbeiter-Truppe ("Civilian Labor Force") unter dem Kommando der Vereinten Nationen. Aus diesem Grund und um angeblich durch eine Entlassung entstehendes Durcheinander und Unordnung zu vermeiden, dürfe eine Demobilisierung der deutschen Truppen nicht vor Ablauf eines erheblichen Zeitraums geschehen. Der letzte Abschnitt befaßte sich kurz mit der Aburteilung der Kriegsverbrecher45. In dieser Denkschrift wurde somit, bereits drei Monate nach Erhebung der "bedingungslosen Kapitulation" zu einem K. Pollock-Memorandum, ebd., S. 2 K. Pollock-Memorandum, ebd., S. 3, 4 K. Pollock-Memorandum, ebd., S. 5 offiziellen anglo-amerikanischen Kriegsziel, erstmalig auch die Möglichkeit gesehen, diese Forderung zu einem Instrument zu machen, mit dessen Hilfe den Alliierten umfassende rechtliche Kompetenzen im besetzten Deutschland übertragen werden sollten. Dabei bleiben insbesondere zwei Dinge festzuhalten: Erstens, daß Pollock nur einen einzigen Weg für die Alliierten sah, um für sich bzw. für die einzusetzende Kommission in den Besitz dieser Rechte zu kommen, nämlich durch die schriftliche Übertragung dieser Rechte durch deren Inhaber auf deutscher Seite, das jeweils regierende Staatsoberhaupt. Ob sich Pollock diese Übertragung in Form eines (vielleicht einem Waffenstillstand nachgebildeten) Vertrages oder einer einseitigen Erklärung des Staatsoberhauptes dachte, geht aus seinem Memorandum nicht eindeutig hervor. Klar ist jedoch, daß er einen Weg, der später zu Diskussionen Anlaß gab, als mögliche Rechtsquelle vollständig ausschloß: die einseitige "Übernahme" dieser Befugnisse durch eine alliierte Erklärung. Zweitens, daß der Begriff der "supreme authority" in dieser Denkschrift nachweislich zum ersten Mal im Zusammenhang mit einem Mehr an Rechten für die Besatzer Erwähnung fand und Pollock unter Übertragung von "supreme authority" die Übertragung der "obersten Staatsgewalt" verstand. Dieser Begriff unterlief danach über zwei Jahre hinweg verschiedene Entwicklungen bis er dann als zentraler Begriff auch in der Berliner Erklärung der Alliierten vom 5. Juni 1945 auftauchte. Pollocks auf knapp fünf Seiten niedergeschriebene militärische, politische und juristische Gedanken stießen im Kriegsministerium auf heftigen Widerstand. Die Research and Analysis Branch, Office of Strategie Services, setzte sich in einer Denkschrift Mitte Mai 1943 mit Vehemenz gegen die meisten Vorschläge des Professors aus Michigan zur Wehr. Sie erschienen in vielen Belangen als oberflächlicher und gefährlich vereinfachender Versuch, eine schwierige und komplexe Situation zu handhaben ("...feels that Mr. Pollock's memorandum represents a superficial and dangerously over-simplified attempt to deal with what will 221 at best be an exceedingly complex situation requiring careful study and planning")46. Neben einer umfangreichen Kritik an Pollocks militärischen Vorschlägen, enthielt das Memorandum auch äußerst ablehnende Anmerkungen zu dem Plan, die deutschen Soldaten nach ihrer Entwaffnung in Zwangsarbeitseinheiten zu pressen: "...(Professor Pollock) advises against demobilization and calmly suggests their transformation in a civilian labor force 10 000 000 organized slaves!"47 Hinsichtlich des Kapitulations-Dokumentes machten die Mitarbeiter des Kriegsministeriums auf die Schwierigkeiten aufmerksam, die entstehen könnten, wenn am Ende der Feindseligkeiten eine deutsche Regierung gar nicht mehr bestünde oder nur die HitlerRegierung existiere, mit der die Alliierten aber keinesfalls zu verkehren bereit seien. Eine Ausdehnung der Befugnisse der Besatzer wurde gar nicht für notwendig erachtet - man glaubte mit den üblichen Rechten einer "occupatio bellica" auskommen zu können: "In fact, of course, the victorous Allies will need no better legal support to whatever action they elect to take after unconditional surrender than the laws of belligerent occupation".48 46 47 48 222 W.J. Donovan, Direktor des "Office of Strategic Services", an JCS, 3.6.1943; RG 218 CCS 384.1 Germany (4-17-43) "Memorandum from Research and Analysis Branch, Office of Strategic Services, to Brigadier General William J. Donovan", "Subject: Joint Chiefs of Staff-Memorandum for Information No. 61 - What Does'Unconditional Surrender' mean as Applied to Germany", 11.5.1943, S. 1; RG 218 CCS 384.1 Germany (4-17-43) Research an Analysis Branch-Memorandum vom 11.5.1943; ebd., S. 2 III. 2. Britische Bedenken hinsichtlich der völkerrechtlichen Zulässigkeit bestimmter Besatzungsmaßnahmen Die eminente völkerrechtliche Problematik zukünftiger Besatzungsmaßnahmen der Alliierten in Deutschland wurde den amerikanischen Planern erst im November 1943 durch eine Anfrage des britischen Kriegsministeriums ins Bewußtsein gerufen. In London fragte man sich, zuerst im Außen-, dann im Kriegsministerium, inwieweit die Besatzer befugt wären, in Deutschland Gesetze aufzuheben, insbesondere solche mit nationalsozialistischem Inhalt. Nach Art. 43 HLKO hat der Besatzer in dem besetzten Gebiet "alle von ihm abhängigen Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze." Dieser letzte Halbsatz stellte für die britischen Planer ein rechtliches Hindernis dar, das es zu überwinden galt. Um eine gemeinsame Vorgehensweise in dieser Frage zu erreichen, wandten sie sich an ihre amerikanischen Kollegen49. Die Ausarbeitung einer Antwort auf amerikanischer Seite oblag dem "Office of the Judge Advocate General" im Kriegsministerium. In einer achtseitigen Denkschrift konzentrierte man die britische Anfrage auf deutsche Gesetze, die entweder den Mitgliedern der NSDAP eine privilegierte Stellung verschafften oder den Juden eine untergeordnete Position zuwiesen. Die mögliche Aufhebung auch anderer, politisch-ideologisch neutraler Gesetze wurde ausgeklammert. Der "Judge Advocate General" kam zu dem Ergebnis: 49 War Office (London) an Col. C.E. Ryan, ETOUSA, Nov. 1943; RG 165 CAD 014 Germany (7-10-42) Sec. 3 223 "The occupying power must respect the laws in force concerning public order and safety, unless absolutely prevented. (Hague Regulations, Art. 43; FM 27 - 70, par. 282). It may not make permanent changes in the constitutional or fundemental laws of the occupied country, though in a proper case it may suspend the operation even of such laws. It may change the laws so far as necessary for the safety of its own army and the realization of the purposes of the war. Changes designed to destroy the privileged status of members of the Nazi party and the inferior position of the Jews are within the last category and may lawfully be made".50 Die britische Ungewißheit, ob die Besatzungsmacht diese Gesetze, soweit sie die NSDAP-Mitglieder und die Juden betrafen, nicht nur aufheben, sondern auch rechtmäßig ändern könne, hielt der Judge Advocate General eher für eine theoretische denn eine praktische Frage. Die einzige Garantie der Dauerhaftigkeit solcher Änderungen sei ohnehin nur eine Bestimmung im Friedensvertrag, die von der feindlichen Macht verlange, die Änderungen aufrecht zu halten oder die Einsetzung einer liberalen Regierung, die das aus eigenem Antrieb tue.51 IV. Diskussion in der European Advisory Commission über Form und Inhalt der Kapitulations-Urkunde IV. 1. Amerikanische Vorüberlegungen zur Kapitulations- urkunde Die weitere Erörterung der völkerrechtlichen Probleme bei der Besetzung Deutschlands nach Kriegsende oblag in der Folgezeit vor allem der interalliierten European Advisory 50 Col. A. King, JAGD, Chief, War Plans Division, "Memorandum for The Judge Advocate General", "Subject: Changes in German Law"(SPJGW 1943/18261), 16.12.43, Abs. Nr. 17; Maj. Gen. M.C. Cramer, The Judge Advocate General, an Maj. Gen. J.H. Hilldring, Director, CAD, 21.12.1943; RG 165 CAD 014 Germany (7-10-43) Sec. 3 51 Col. A. King, JAGD, Memorandum vom 16.12.1943, Abs. Nr. 17; ebd. 224 Commission (EAC), deren Gründung im Oktober 1943 auf der Moskauer Außenministerkonferenz beschlossen worden war52. Als im Dezember 1943 das erste Zusammentreffen der Repräsentanten der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und der Sowjetunion in der European Advisory Commission (EAC) in London unmittelbar bevorstand, war es für die Planer im Außen- und im Kriegsministerium an der Zeit, ein Dokument zu entwerfen, das Botschafter Winant als amerikanische Verhandlungsgrundlage nutzen konnte. Funktionsgemäß war es das Außenministerium, das zwar noch keinen ausgefeilten Entwurf einer "bedingungslosen Kapitulation" vorlegte, wohl aber eine Darstellung, welche Regelungspunkte ein solches Dokument beinhalten sollte. Im Hinblick auf die Behandlung Deutschlands unterschied das Papier zwischen den Maßnahmen, die während einer "Waffenstillstand-Phase" ("armisticeperiod") durchzuführen seien (Besetzung, interalliierte Kontrolle, Gemeindeverwaltung, Auflösung der NSDAP, Reparationen, Entwaffnung) und Maßnahmen, die den dauernden Status Deutschlands berühren mußten (Problem der politischen Einheit, demokratische Regierungsform, Dezentralisierung und Grenzen). Die diesbezüglichen Überlegungen waren jedoch zumeist nur in Programmsätze gebettet, ohne schon in irgendeiner Weise konkret zu werden. Aufgegriffen wurde zum ersten Mal nach Pollocks Memorandum vom April 1943 aber wieder der Gedanke, das Kapitulations- Dokument als Ermächtigungs-Instrument und Rechtsquelle für die durchzuführenden Maßnahmen zu nutzen. Zu diesem Zweck sollte das Kapitulations-Dokument nach Ansicht des amerikanischen Außenministeriums bestimmte Prinzipien berücksichtigen: "1. That an instrument be signed which contains an admission of the total defeat of Germany. 52 Zur Vorgeschichte der EAC vgl. B. Kuklick, The Genesis of the European Advisory Commission, in: Journal of Contemporary History 1969, H.4, S. 189 ff. 225 2. That the instrument be signed both by an authorized agent of whatever German Government may exercise power de jure or de facto and by an authorized agent of the military authorities. 3. That the instrument empower the United Nations to exercise all the rights of an occupying power throughout Germany". 53 Der letzte Punkt überrascht etwas, hat der Besatzer während einer kriegerischen Besetzung doch immer die entsprechenden, in der HLKO geregelten Rechte (und Pflichten). Die besondere Nennung erscheint jedoch dann nicht mehr überflüssig, wenn man daran erinnert , daß es für die Amerikaner gar nicht als selbstverständlich galt, im Zeitpunkt der Kapitulation schon das ganze Deutschland besetzt zu halten. Sie mußten damit rechnen, daß es noch Gebiete in Deutschland gab, die noch im Besitz der deutschen Truppen waren. So gesehen hatte diese Klausel durchaus einen Sinn, erstreckte sie doch die Rechte der Alliierten als Besetzer auch auf noch nicht von ihnen besetzte Gebiete. Bei den weiteren Punkten wurde danach unterschieden, zu welchen Maßnahmen die Alliierten eine Ermächtigung benötigten, weil sie diese selbst vornehmen wollten, und Maßnahmen, die die deutsche Regierung vornehmen sollte. Im letzten Fall brauchten die Alliierten keine Ermächtigung, sondern es reichte aus, die deutsche Regierung durch das Kapitulations-Dokument rechtlich zu binden und die Durchführung zu überwachen. Als Ermächtigung sollte die Kapitulationsurkunde dienen für die Regelung der Entlassung der deutschen Streitkräfte und Überwachung der wirtschaftlichen Tätigkeit Deutschlands. Die deutsche Regierung sollte zu folgenden Maßnahmen verpflichtet werden: Auslieferung aller noch in deutschem Gewahrsam befindlicher Kriegsgefangener und sonstiger internierter Angehöriger der Vereinten Nationen, Aufgabe der Konzentrationslager und Auslieferung von als Kriegsverbrecher gesuchten Personen, die fortdauernde Aufrechterhaltung aller Behörden zur Wirtschaftskontrolle 53 226 Department of State,"The Treatment of Germany", o. D.; RG 260/OMGUS AGTS/32/1-4 zusammen mit dem Betriebspersonal, vollständigen Akten und sonstiger Ausstattung zum Zweck späterer Verfügung durch die Vereinten Nationen und die Aushändigung aller von den Vereinten Nationen verlangter Waffen, anderer militärischer und Marinebestände und der Vorräte an Rohmaterialien54. Im Kriegsministerium fanden die Vorschläge allgemeine Zustimmung. Die JCS meinten, es stimme überein mit den Vorstellungen des Kriegsministeriums, daß es sich bei der Kapitulationsurkunde um ein vergleichsweise kurzes Dokument zu handeln habe, das durch Befehle, Proklamationen und Verordnungen der Besatzungsstreitkräfte ausgeführt werde. Lediglich die Bezeichnung der ersten Besatzungszeit nach der Kapitulation als "Waffenstillstands-Phase" stieß bei den JCS auf Widerspruch. Als Ersatz empfahlen sie die Bezeichnung "Nach-Kapitulations-Phase" ("post surrender period")55. Das Wort "Waffenstillstand", so meinten die JCS, bedeute eine zeitlich begrenzte Einstellung der Feindseligkeiten und sei deshalb unangemessen, um einen Zeitraum zu beschreiben, der unmittelbar auf eine totale Kapitulation folge56. Anfang Januar 1943 wurde dann im neu gegründeten Working Security Committee (WSC) ein Memorandum fertiggestellt, das dem amerikanischen EAC-Vertreter in den Verhandlungen über die zu entwerfende Kapitulationsurkunde als Richtschnur dienen sollte. Das Working Security Committee war eigens aus Repräsentanten des Außen-, des Kriegs- und des Marineministeriums zusammengestellt worden, um unter dem Vorsitz von James C. Dunn (Außenministerium) von Washington aus die amerikanische EAC-Delegation in London zu unterstützen.57 Die deutsche Kapitulation sollte in einem kurzen Dokument festgehalten werden, das gleichzeitig eine adäquate Rechtsgrundlage bilden mußte für die von den 54 55 56 57 Dep. of State-Memorandum, ebd., S. 1, 2 JCS,"U.S. Proposal for the Treatement of Germany" ("Enclosure"), "Note by the Secretaries", 18.12.1943; RG 260/OMGUS AGTS/32/1-4 JCS an Secr. of State, o.D., RG 260/OMGUS AGTS/32/1-4 Vgl. Ph.E. Mosely, The Occupation of Germany, in: Foreign Affairs 28, S. 580 ff., insb. 583 ff. 227 Vereinten Nationen geplanten politischen, wirtschaftlichen und Sicherheitskontrollen. Auch Roosevelt sprach sich gegenüber Churchill für eine kurze Kapitulationsurkunde aus, mit dem Hinweis, er sei bemüht, die Dinge so weit wie möglich zu vereinfachen.58 Das WSC-Memorandum legte eindeutig fest, daß sich die von den Alliierten in Deutschland beanspruchten Rechte nicht auf die im Kapitulations-Dokument genannten Maßnahmen beschränken dürften. Vielmehr müsse durch weite und allgemeine Begriffe im Kapitulations-Dokument die Voraussetzung geschaffen werden, um auch andere, dort noch nicht spezifizierte Eingriffe in Deutschland vornehmen zu können. Ohne die Alliierten von vornherein festzulegen, sollte die Urkunde durch allgemeine Formulierungen eine unbeschränkte Generalermächtigung sein. "In general, it is believed that the document of unconditional surrender should be a relatively brief instrument, with full power reserved to implement it by such proclamations, orders and ordinances as the occupation authorities and the Governments which they represent may deem advisable or necessary."59 Daneben wurde es als "wünschenswert" ("desirable") bezeichnet, wenn das Kapitulations-Instrument die deutsche Regierung (rechtlich) binde, egal welche politische Struktur und welches Aussehen sie im Moment der Niederlage habe. Besonderer Wert wurde von seiten des WSC darauf gelegt, daß der- oder diejenigen, die das Kapitulations- Dokument Unterzeichneten, auch im Besitz einer entsprechenden Befugnis ("suitable authority") seien, um die Urkunde sowohl seitens der deutschen Regierung als auch des Oberkommandos der Wehrmacht unterzeichnen zu können. Zusätzlich sollten die höchsten militärischen Führungskräfte auch noch selbst unterschreiben, um sie für die Ausführung der auferlegten Bedingungen verantwortlich 58 59 228 FRUS 1944 I, S. 189 FRUS 1944 I,S. 101 (Memorandum vom 3.1.1944, vgl. auch das WSCMemorandum vom 6.1.1944, ebd., S. 104 ff.) machen zu können und um die Verantwortlichkeit des Deutschen Militärs für die Niederlage zu betonen. Für den Fall, daß die deutsche Regierung noch immer im wesentlichen einen nationalsozialistischen Charakter habe, wurde die Anwesenheit eines nationalsozialistischen Regierungsvertreters bei der Unterzeichnung als wichtig erachtet60. IV.2. Erste Entwürfe der drei EAC-Mitgljeder a. Der britische 70-Punkte-Entwurf. Den ersten Entwurf eines Kapitulations-Dokumentes legten die Briten am 15. Januar 1944 in der EAC vor. Wie Lord Strang seinen Kollegen mitteilte, hatten die Briten sich bei der Wahl des geeigneten Modus zur Beendigung der Feindseligkeiten, da man die genauen Umstände in Deutschland nicht vorhersehen konnte, für einen "hypothetischen" und umfassenden Waffenstillstand ("hypothetical full-dress armistice") entschieden, dessen Inhalt zwischen den Vereinten Nationen zu vereinbaren sei, und der der deutschen Regierung und dem deutschen Volk die Verpflichtung auferlege, an der Durchführung mitzuwirken. Als Alternativen zu dem ausführlichen Waffenstillstand hatte die britische EAC- Delegation einen kurzen Waffenstillstand erwogen, der die Machtbefugnisse ganz allgemein übertragen sollte conferring general powers"), sowie - ohne Waffenstillstand eine Reihe rein militärischer Kapitulationen der örtlichen deutschen Kommandeure, beide Möglichkeiten jedoch zurückgestellt61. Der Grund für diese Entscheidung zugunsten des langen Waffenstillstands dürfte vor allem in dem Bemühen der Briten zu sehen sein, schon während des Krieges die drei führenden alliierten Mächte zu einem Konsens hinsichtlich der Behandlung Deutschlands nach dem Krieg zu bewegen und auf bestimmte, schriftlich fixierte Forderungen festzulegen. Diese Vorgehensweise, die schon zu frühzeitigen Planungen in London über die Gestaltung 60 61 FRUS 1944 I, S. 101 f. FRUS 1944 I, S. 113 229 Nachkriegs-Deutschlands geführt hatte62, fand allerdings weder bei den Amerikanern ("policy of postponement") noch bei den Sowjets Widerhall, die sich ihre politische Verfügungsfreiheit bis nach dem Ende der Feindseligkeiten bewahren wollten. Der von Lord Strang vorgelegte Waffenstillstands-Entwurf enthielt insgesamt 70 Punkte, in denen recht detailliert die von den Alliierten beanspruchten und ihnen zu übertragenden Rechte in allen wichtigen politischen Bereichen aufgeführt waren (viele Punkte begannen mit: "The United Nations will have the right to...") bzw. die "deutschen Autoritäten" ("German authorities")63 verpflichtet wurden, bestimmte Dinge selbst auszuführen. Unterschreiben sollte den Waffenstillstand eine Person, die gleichzeitig das Oberkommando der Wehrmacht repräsentieren und von der deutschen Regierung ordnungsgemäß ermächtigt sein sollte. Neben den Spezialermächtigungen und “Ver pflichtungen enthielt Artikel 59 des Waffenstillstandes aber auch noch eine Art Generalermächtigung. "Without prejudice to any other provisions of the present Instrument, the United Nations shall be entitled to exercice all or any of the powers possessed at the date of the present Instrument, or subsequently acquired, by the German Government, the German Supreme Command and any State, municipal or local Government or authority."64 b. Der amerikanische Entwurf. Es dauerte bis Mitte Februar 1944 bevor 62 63 64 230 auch die amerikanische und die sowjetische EAC- Delegation von ihren Regierungen mit diskutierbaren Kapitulations-Entwürfen ausgerüstet wurden. Das Vgl. A. Tyrell, Großbritannien und die Deutschlandplanung der Alliierten, S. 85 ff. Unter "German authorities" verstanden die Briten die deutsche Regierung, das Oberkommando der Wehrmacht mit allen untergeordneten militärischen Stellen, alle staatlichen und lokalen Regierungen oder Autoritäten sowie alle Behörden und Beamten in Verwaltung und Justiz; vgl. FRUS 1944 I, S. 138. Das lange Waffenstillstands-Dokument: FRUS 1944 I, S. 121-139. amerikanische Papier hatten die JCS entworfen. Neben dem eigentlichen "Instrument and Acknowledgment of Unconditional Surrrender of Germany" versorgten sie den US- Repräsentanten in der EAC, Botschafter Winant, auch noch mit einem Memorandum, das ihm weitere Argumentationshilfen geben sollte65. Die 13 Artikel umfassende Kapitulationsurkunde war ausgesprochen militärisch gehalten, politische Forderungen wurden vollständig ausgespart. Die ursprüngliche Formulierung wandte sich in einzelnen Artikeln nur an das deutsche Oberkommando und legte diesem bestimmte Pflichten auf. Am 25. Februar informierte das USAußenministerium Winant, daß in diesen Artikeln des Entwurfs nach dem Oberkommando auch noch die deutsche Regierung aufzuführen sei66. Ob neben dem Oberkommando auch die deutsche Regierung das Dokument unterschreiben sollte, ging aus dem Papier nicht hervor. Die rechtliche Ermächtigung der Alliierten auf der einen, die Verpflichtungen Deutschlands auf der anderen Seite wurden ebenfalls in den Entwurf aufgenommen: "VII. All German authorities, civil and military, and the German people, will comply with and faithfully execute such duties and conditions as may be imposed by the occupation authorities... IX. The rights, powers and privileges of the Supreme Commander of the Alliied Expeditionary Forces and the Commander in Chief of the Armed Forces of the Union of Soviet Socialist Republics, the Governments of the United States, the United Kingdom, and the Union of Soviet Socialist Republics, arising as a result of the complete conquest and unconditional surrender of Germany, shall be without limitation of any character whatsoever."67 Zur Begründung eines solchen kurzen Kapitulationsdokuments ließen die JCS Winant wissen, daß es nach ihrer Meinung eine Fülle von Vorteilen für die Alliierten enthalte: Es 65 FRUS 1944 I, S. 167 ff 66 67 FRUS 1944 I, S. 168 f. FRUS 1944 I, S. 169 f. 231 lasse keinen Raum für Andeutungen, daß nur eine vorübergehende Aufhebung der Feindseligkeiten geschehen sei, wie sie ein Waffenstillstand enthalte; kein Dokument könne alles enthalten oder alle möglichen Ereignisse vorhersehen; mit einem kurzen Dokument, das breite allgemeine Klauseln enthalte, gebe es keine rechtlichen Hindernisse für eine Vielzahl von Maßnahmen, zu denen die JCS insbesondere auch die Bevölkerungsumsiedlungen zählten; das deutsche Volk habe sich unter dem Nazi-Regime an Befehle aus militärischen oder halbmilitärischen Quellen gewöhnt und sich ihnen unterworfen, woraus die JCS folgerten, daß die Stellung der Kommandeure der alliierten Streitkräfte erheblich geschwächt würde, falls die Direktiven abhängig wären von einer rechtlichen Prüfung und Erörterung vor ihrer allgemeinen Annahme68. Den ausschlaggebenden Vorteil versprachen sich die JCS von der geringen auslegungsfähigen Substanz eines kurzen Dokuments und der damit verbundenen Tatsache, daß die Sieger und Okkupanten mangels konkreter Bestimmungen sich auch nicht der Gefahr aussetzen würden, des Vertragsverstoßes verdächtigt zu werden: "Each covenant of as document necessarily creates a condition of surrender binding in law upon the conquered and the conqueror alike. Each covenant constitutes a subtraction from the powers bestowed upon the victor by the unconditional surrender of the enemy state. There is little room for legal quibbling over a short instrument and the victor cannot be accused of bad faith or a violation of its agreement."69 c. Der sowjetische Entwurf. Der Entwurf, den Fedor T. Gusew für die Sowjetunion der EAC unterbreitete, war ebenfalls inhaltlich knapp gehalten und beschränkte sich auf militärische Angelegenheiten. Der letzte der 20 Artikel beinhaltete die Ermächtigungsklausel, die den Eindruck erwecken mußte, als beabsichtigten die Russen gar nicht 68 69 232 FRUS 1944 I, S. 171 f. FRUS 1944 I, S. 171 selbst, tiefgreifende Eingriffe in Deutschlands politische, wirtschaftliche und soziologische Struktur vorzunehmen, sondern allein durch die deutsche Regierung und das deutsche Oberkommando, die die Kapitulations-Urkunde unterzeichnen sollten, zu handeln: "The Representatives of the Supreme Command of the Allies will present additional requirements on political, economic, military and all other questions connected with the surrender of Germany; and the German Government and the German Supreme Command undertake to carry out these requirements unconditionally."70 Ein Artikel des sowjetischen Entwurfs, der eigentlich nur eine Selbstverständlichtkeit zum Gegenstand hatte, sollte in den folgenden Monaten noch zu erheblichen Auseinandersetzungen in der EAC führen und wäre beinahe noch zum Stolperstein für die Kapitulations-Urkunde geworden. Artikel 2 der sowjetischen Urkunde sah vor, daß die deutschen Streitkräfte, die zum Zeitpunkt der Kapitulation innerhalb Deutschlands in den Grenzen vom 1. Januar 1938 stationiert seien, ihre Waffen und sonstige Ausrüstung komplett zu übergeben hätten. Zu diesen Einheiten zählten die Russen auch die SS, die SA und die Gestapo. Das gesamte "Personal" dieser Einheiten sollte bis zu einer weiteren Entscheidung zu Kriegsgefangenen erklärt werden ("...and the personnel of all these formations and units shall be declared prisoners of war, pending further decisions.")71. Der britische und der amerikanische Entwurf hatten diesbezüglich nichts enthalten; der britische hatte lediglich vorgesehen, daß unter den Begriff "deutsche Streitkräfte" auch SS, SA, Polizei- und sonstige militärische oder paramilitärische Einheiten gehörten72. Für die Sowjetunion war die Sache jedoch nicht ganz so einfach. Da sie die Genfer Konvention von 1929 nie unterzeichnet hatte, bestand für sie an und für sich keine 70 71 72 FRUS 1944 I, S. 173 ff., 179 FRUS 1944 I. S. 174 FRUS 1944 I, S. 138 233 Pflicht, die von ihr in Gewahrsam genommenen deutschen Soldaten nach der Konvention zu behandeln73. Vermutlich versprachen sich die Sowjets von einem solchen Passus, daß er der deutschen Seite die Unterzeichnung des Kapitulations-Dokumentes erleichtern könnte, hatte sich durch die Erklärung der gefangengenommenen deutschen Soldaten zu Kriegsgefangenen die Sowjetunion damit doch selbst der Genfer Konvention unterworfen, um sich aber gleichzeitig einen Widerruf vorzubehalten. Psychologisch hatte dieser Artikel somit durchaus Sinn74. Rechtlich eine neue Situation schaffen konnte er jedoch nur zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Amerika und Großbritannien waren als Unterzeichnerstaaten ohnehin an die Genfer Konvention gebunden und hatten die deutschen Soldaten, die in ihre Hände fielen, entsprechend zu behandeln. Dabei kam es nicht darauf an, ob man die deutschen Soldaten zu Kriegsgefangenen "erklärte", weil sie diesen völkerrechtlich geschützten Status bereits "automatisch" hatten aufgrund ihrer vorangegangenen Stellung als Kombattanten. IV. 3. Differenzen in Washington und in der EAC über die Behandlung deutscher Kriegsgefangener nach der Kapitulation Obwohl Winant zunächst meinte, er sehe keine allzugroßen Unterschiede bei der praktischen Anwendung der drei Entwürfe75, war man insbesondere bei den JCS in Washington ganz anderer Ansicht. Lediglich in zwei Punkten stimmten die drei Londoner Verhandlungspartner von Beginn an überein: erstens in der Prämisse, daß am Tag der Kapitulation noch eine zentrale deutsche Regierung, kompetent zur Unterzeichnung des Dokumentes, existieren werde, und zweitens, daß die Kapitulationsbedingungen den drei alliierten Regierungen eine Machtfülle verleihen müßten, die weit über die Rechte eines Besatzers bei einer normalen militärischen Besetzung 73 74 75 234 FRUS 1944 I, S. 194 Vgl. FRUS 1944 I, S. 197 f., 199 FRUS 1944 I, S. 190 hinausgingen76. Recht unterschiedliche Positionen bezogen die drei Delegationen aber in Fragen der Reichweite und des Inhalts der Kapitulations-Urkunde (wie ihrer Länge und Struktur überhaupt) und der Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen. Daneben gab es noch Differenzen, ob die Urkunde einen Kriegsschuldartikel enthalten sollte (dafür sprachen sich in ihren Entwürfen Großbritannien und die Sowjetunion aus, während die USA aus psychologischen Gründen dagegen waren)77, in wessen Namen die Urkunde von alliierter Seite zu unterzeichnen sei und ob andere Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, soweit sie sich am Krieg beteiligt hatten, ihr Einverständnis mit den in der EAC ausgehandelten Kapitulationsbedingungen geben sollten78. Die in dem britischen und dem sowjetischen Entwurf aufgeworfene Frage der Zoneneinteilung wurde unabhängig vom Kapitulations-Dokument diskutiert. Diese Frage wurde aus der eigentlichen Kapitulationsproblematik ausgeklammert, da man sie als einen Bereich ansah, der zwar einer Vereinbarung der Alliierten bedurfte, zu der man aber keine Vereinbarung mit Deutschland treffen mußte79. a. Amerikanische Einwände gegen den britischen Entwurf. Die ersten ablehnenden Stellungnahmen zum "Waffenstillstands"Entwurf der Briten kamen in Washington aus dem Kriegsministerium. Schon der Begriff "Waffenstillstand" bereitete den Planern in der CAD und bei den JCS Unbehagen. "Bedingungslose Kapitulation" in Form eines Waffenstillstandsvertrages sei ja gerade nicht "bedingungslos", sondern schaffe Bedingungen, an die dann auch die Alliierten gebunden seien. Statt der gewünschten unbegrenzten Machtvollkommenheit hätten sie sich erneut an Bedingungen gebunden: "Being so detailed, the document would be subject to strict construction, leading to limitations on our authority...Unconditional surrender 76 77 78 79 Vgl. auch Lord Strang, Home and Abroad, S. 209; FRUS 1944 I, S. 190 Vgl. FRUS 1944 I, S. 121, 174 Lord Strang, Home and Abroad, S. 212 Vgl. FRUS 1944 I, S. 191 235 must be just that, a surrender to the victor of the territory, the people, the Government, and resources, to do with as we will."80 Nur der amerikanische und der sowjetische Entwurf seien wirklich eine "bedingungslose Kapitulation", der britische Entwurf jedoch nicht, ließ das US-Außenministerium seinen Botschafter in London wissen81. a. Das US-Außenministerium wendet sich gegen die Behandlung deutscher Soldaten als Kriegsgefangene - Denkschrift vom 4. März 1944. Aber auch mit dem sowjetischen Entwurf konnten sich die Amerikaner nicht uneingeschränkt einverstanden erklären. Die Angehörigen der deutschen Streitkräfte zu Kriegsgefangenen zu erklären, paßte nicht ins amerikanische Konzept. Das USAußenministerium meinte, es sei in diesem Zusammenhang von Interesse, festzustellen, ob die Sowjetunion beabsichtige, die deutschen Kriegsgefangenen nach den Bestimmungen der Genfer Konvention zu behandeln, und falls nicht, welche Art der Behandlung sie sich ansonsten vorstelle82. Amerikaner und Briten waren sich einig, daß sie die Verantwortung für die kapitulierenden deutschen Truppen nicht übernehmen wollten. Ihrer Verpflichtung, die Kriegsgefangenen gemäß der Genfer Konvention mit Nahrungsmitteln, Unterkünften, Bekleidung und medizinischer Betreuung zu versorgen, entsprechend dem Standard der eigenen, alliierten Truppen, wollten sie sich entziehen. Sie rechneten mit einer Kriegsgefangenenzahl zwischen drei und sechs Millionen und, wie der britische EAC-Vertreter Lord Strang berichtet, hielten es für praktisch unmöglich, den angespannten Hilfsquellen diese zusätzliche Belastung aufzubürden ("...it would be a practical impossibility for 80 81 82 236 CAD, "Memorandum: Subject: 'Draft German Armistice', submitted by the British", 11.1.1944; RG 165 CAD 014 Germany (7-10-42) Sec. 3; vgl. auch das CAD-Papier "A Comparison of the British Draft German Armistice and the American Provisions for Imposition Upon Germany at Time of Surrender", 15.2.1944, RG 165 CAD 014 Germany (7-10-42) Sec. 4 FRUS 1944 I, S. 195 FRUS 1944 I, S. 191 the British and American Commands to place this additional burdon upon their strained resources.")83. Eine Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen nach den Bestimmungen der Genfer Konvention wäre nach Strangs Darstellung einem "Verwöhnen" gleichgekommen, das angesichts der Bedürfnisse der Bevölkerung in den ehemals von Deutschland besetzten Gebieten politisch nicht opportun erschien ("... it would have been politically out of the question to pamper Germans in this way when their victims, the liberated populations of our Allies, were in desperate want.")84. Um einem Widerspruch zwischen den völkerrechtlichen Pflichten der Alliierten und deren politischen Zielsetzungen zu entgehen, hatte man sich in den USA und Großbritannien entschieden, die deutschen Truppen gar nicht zu Kriegsgefangenen zu "erklären". Waren sie keine Kriegsgefangenen, so die anglo-amerikanische Logik, dann konnte auch die Genfer Konvention auf sie keine Anwendung finden, und sie hätten der uneingeschränkten alliierten Verfügungsgewalt, ja Willkür, unterlegen, ohne selbst irgendwelche Rechte für sich beanspruchen zu können. Das US-Außenministerium ließ am 4. März 1944 ein Memorandum zirkulieren, in dem diese Position nachhaltig vertreten wurde. Üblicherweise, so führte die Denkschrift aus, sei der Begriff "Kriegsgefangener" immer nur auf Personen anwendbar gewesen, die auf dem Schlachtfeld gefangengenommen worden seien oder im Verlauf des Gefechtes kapituliert hätten, nicht aber auf Soldaten, die im Zeitpunkt der Kapitulation aufgäben: "It would impose an exceptional procedure to regard as prisoners of war the entire armed forces of a nation sololy as the result of surrender."85 83 84 85 Lord Strang, Home and Abroad, S. 211 Lord Strang, ebd. State Dep., Memorandum, "Comment on the Proposal to Declare all Surrendered German Forces Prisoners of War", 4.3.1944, Abs. Nr. l; RG 260/OMGUS AGTS/88/9 237 Letztere fielen erst dann unter den Schutz der Genfer Konvention und des Haager Abkommens, falls sie zu "Kriegsgefangenen erklärt" würden. Eine solche Erklärung würde den Vereinten Nationen eine enorme Last und Kosten auferlegen aufgrund der Notwendigkeit, Millionen kräftiger Deutscher in Lagern oder Wohnräumen zu versorgen, gemäß den völkerrechtlichen Bestimmungen, und nicht, wie es die Sowjets vorgeschlagen hatten, in einer von den Repräsentanten des Oberkommandos der Alliierten anzuordnenden Art und Weise86 Dadurch würde das "Recht" ("legal right") der Vereinten Nationen, mit ihnen (wie auch immer) zu verfahren, in hohem Grade eingeschränkt. Wenn aber eine solche Bestimmung nicht getroffen würde, könnten die Vorschriften der "bedingungslosen Kapitulation" von den Deutschen verlangen, was immer die Vereinten Nationen mit ihnen beabsichtigten ("If no such stipulation were made, the terms of unconditional surrender, not being thus limited, could require of German persons whatever the United Nations might desire of them")87. Die Verfasser des Memorandums verschlossen allerdings ihre Augen auch nicht vor den möglichen politischen Konsequenzen einer solchen Haltung: möglicherweise wachsende Schwierigkeiten mit der Demobilisierung, größere Zahl benötigter Besatzungstruppen, die Frage nach der Verwendung solcher Personen für Wiederaufbau- und Reparationszwecke innerhalb und außerhalb Deutschlands und die mögliche Behinderung der Bemühungen der Vereinten Nationen, in Deutschland die Fähigkeit wiederherzustellen, die eigene Bevölkerung selbst zu versorgen und damit die Last der Unterstützung zu verringern88. Trotz des Erkennens der möglicherweise schlimmen Folgen eines solchen Vorgehens, den kapitulierenden deutschen Streitkräften den Schutz des Völkerrechts nicht zukommen zu lassen, entschieden die Planer des Außenministeriums sich gegen das Völkerrecht: 86 87 88 238 State Dep., Memorandum v. 4.3.1944, Abs. Nr.2; ebd. State Dep., Memorandum v. 4.3.1944, Abs. Nr. 3; ebd. State Dep., Memorandum v. 4.3.1944, Abs. Nr. 4; ebd. "In general, it would appear that the freedom of action of the United Nations and the achievement of the purposes of the Soviet Union itself (whatever they may be) would be better served by the omission of this stipulation."89 Ausgehend von der fraglichen Rechtskonstruktion, daß die Soldaten, die sich im Rahmen einer allgemeinen Kapitulation ergeben, ohnehin keine "Kriegsgefangenen" seien und für sie deshalb per se kein völkerrechtlicher Schutz bestehe, bedeutete das, daß sie mangels einer ausdrücklichen Zuerkennung des "Kriegsgefangenen-Status" ohne jeglichen Rechtsschutz und der willkürlichen Verfügungsgewalt der einzelnen Alliierten ausgesetzt gewesen wären. b. Der Judge Advocate völkerrechtlichen Schutz General, deutscher US-Army, beharrt Kriegsgefangener auf dem nach der Kapitulation - Denkschrift vom 15. März 1944. Diese Behandlung stellte allerdings ein völkerrechtliches Novum dar. Niemals zuvor hatte ein kriegführender Staat sich angemaßt, die Truppen des Gegners zu Kriegsgefangenen zu "erklären" bzw. ihnen diesen Status abzusprechen. Der Kriegsgefangenen-Status ist vielmehr eine Rechtsstellung, die der Disposition des Gewahrsamsstaates entzogen ist und die regelmäßig erst durch die ordnungsgemäße Rückführung des Kriegsgefangenen in sein Heimatland erlischt. Auf diese eindeutige Rechtslage wies am 15. März 1944 der im Pentagon für Rechtsfragen zuständige Judge Advocate General, US Army, den Direktor der CAD mit Nachdruck hin: " When no provision is made for the demobilization of surrendering forces they automatically, by operation of law, become prisoners of war, with all the rights attaching to that status. If a properly authorized capitulation were consummated, this principle would apply to all German troops and individuals who have assisted them. If the unconditional surrender of the German armed forces, including formations and units of the S.S., the S.A. and the 89 State Dep., Memorandum v. 4.3.1944, Abs. Nr. 4, ebd. 239 Gestapo they would all automatically become prisoners of war. There is, however, no legal objection to the capitulation expressly stating that all individuals surrendered are to be prisoners of war. It would be merely declaratory of their status without such an express statement, but would make doubly clear the intend as regards the members of the S.S., the S.A., and the Gestapo with reference to whom argument might otherwise arise. ..., the proposal of the U.S.S.R., if followed, would be without legal effect whether included or not. However, if such groups as the S.S., the S.A. , and the Gestapo were not specifically surrendered in the capitulation any attempt thereafter to include them by interpretation of its terms might well result in serious disagreement. What is intended to be implied in the statement in the Comment of the Departement of State officials, that the terms of unconditional surrender could require of German individuals, •whatever' the United Nations might desire to them, is not understood. The statement, in terms, is so broad as to be susceptible of misconstruction. Collective punishment, enslavement, or reprisals against such prisoners of war would be prohibited. If the individuals involved were not set at liberty forthwith, treaty provisions and the customary rules of international law concerning prisoners of war would apply to them irrespective of the presence or absence of any statement that they were to be 'prisoners of war'."90 Das war eine eindeutige, abgewogene und völkerrechtlich fundierte Aussage des Judge Advocate General. Sie steckte den Gestaltungsspielraum der Alliierten gegenüber den deutschen Kriegsgefangenen klar ab. Entweder nahm man schon in das Kapitulations-Dokument Bestimmungen über die Demobilisierung der deutschen Truppen auf, und das hieß nach Art. 75 der Genfer Konvention "Heimschaffung" der Kriegsgefangenen, oder man hatte die Pflichten der 90 240 J.M. Weir, Brig. Gen., Acting the Judge Advocate General, an Maj. Gen. J.H. Hilldring, Direktor CAD, SPJGW 1944/905-S, 15.3.1944; RG 165, CAD 014 Germany (7-10-42) Sec. 4 Gewahrssamsmacht zu beachten und die Gefangenen nach der Genfer Konvention zu behandeln. c. Der Judge Advocate General, US-Navy, wendet sich ebenfalls gegen das Außenministerium - Denkschrift vom 24 . März 1944 . Diese Einschätzung teilte auch der Judge Advocate General, US Navy (Marineministerium), der sich wenige Tage danach, am 24. März 1944, zu Wort meldete. Er ließ keinen Zweifel daran, daß sowohl die SS- als auch die SA-Einheiten als wesentlicher Bestandteil der Streitkräfte in die gleiche Kategorie einzureihen seien wie die "Reichswehr" (damit meinte der J.A.G., US Navy, natürlich die "Wehrmacht"). Etwas differenzierter müsse man lediglich die Gestapo sehen. Soweit Gestapo-Angehörige mit den Truppen an der Front oder an der Besetzung eroberter Gebiete beteiligt gewesen seien, seien sie eindeutig "Hilfstruppen" ("auxiliaries") und damit Kriegsgefangene. Bei anderen, deren Aktivitäten nicht in Beziehung zu denen der Streitkräfte gestanden hätten und die weit ab von der Front tätig gewesen seien, wollte sich der J.A.G., US Navy, nicht festlegen91. Die Rechtsauffassung des State Department, Kriegsgefangene seien nur solche Personen, die im Laufe der Feindseligkeiten gefangengenommen worden seien, wurde vom J.A.G., US Navy, entschieden bestritten: "We cannot agree that the term 'prisoner of war' has usually been applied to persons captured in the field of battle or surrendering in the course of combat, but not to those who surrendered at time of capitulation. There are a number of cases where surrendering troops were made prisoners of war under the terms of capitulation. If the terms of capitulation do not provide otherwise, troops surrendering automatically become prisoners of war."92 91 T.L. Gatch, J.A.G., US Navy, an "Chief of Naval Operations", Memorandum, "Subject: Status of German Armed Forces after Surrender", 24.3.1944, Abs. Nr. II. b.; RG 2 6 O/OMGUS AGTS//88/9 92 J.A.G., US Navy, Memorandum v. 24.3.1944, Abs. Nr. III. 1.; ebd. 241 Der sowjetische Vorschlag, deutsche Kriegsgefangene zu Reparations- und Rekonstruktionszwecken zurückzuhalten und über ihre Entlassung und Rückführung keine weiteren Festlegungen zu treffen, sondern dies allein von den späteren Vereinbarungen der Alliierten abhängig zu machen, wurde unter Hinweis auf Art. 75 der Genfer Konvention als völkerrechtswidrig verworfen: "This, in our opinion, is not legal under the terms of the Geneva Convention. ... It is a general principle that prisoners of war shall be released as soon as possible after the cessation of hostilities."93 Auch das Ansinnen des Außenministeriums, wenn man die deutschen Truppen nicht zu Kriegsgefangenen erkläre, mit ihnen nach eigenem Belieben verfahren zu können, stieß auf heftigen Widerspruch des J.A.G., US Navy, weil der Wortlaut in der Aussage des Außenministeriums einer weiten Auslegung Raum gebe, der selbst die Versklavung der Bevölkerung nicht ausschließe: "It is not clear what is meant by this statement. The implications are very broad. It might be implied that unconditional surrender would permit of the enslavement of the population."94 Soweit aber könne noch nicht einmal eine "bedingungslose Kapitulation" gehen, meinte der J.A.G.. Auch eine Kapitulation, und sei sie noch so "bedingungslos", mußte Grenzen haben. In ihr eine Ermächtigung zu willkürlichem Handeln der Sieger zu sehen, kam für den J.A.G. nicht in Betracht. "There exists no right, as a result of unconditional surrender, for the United Nations to 'require of German persons whatever the United Nations might 93 94 242 J.A.G., US Navy, Memorandum v. 24.3.1944, Abs. Nr. Ili. 1.; ebd. J.A.G., US Navy, Memorandum v. 24.3.1944, Abs. Nr. III. 3.; ebd. require of them'. Without explanation of what is intended, we are in disagreement with the implications of the statement." Für die Kontrolle der Kriegsgefangenen könne dabei nichts anderes gelten als für die Kontrolle der Tätigkeit der Zivilisten95. Um die erdrückende Opposition rechtskundiger Stellen im amerikanischen Kriegsministerium gegen das Papier des Außenministeriums vom 4. März 1944 noch zu vervollständigen, sei nun auch noch das Ergebnis einer in der "Judge Advocate Section" von USFET gefertigten Untersuchung wiedergegeben, die unter Auswertung der eindeutigen völkerrechtlichen Literatur und der nicht weniger klaren Bestimmungen im amerikanischen FM 27-10 (Rules of Land Warfare) zustande kam: "From a careful study of available authorities, the following conclusions may be deduced: a. Whether or not military personnel of the unsuccessful belligerent upon capitulation should be allowed all the rights and privileges of ordinary prisoners of war should be expressed in the instrument of capitulation; b. If the instrument of capitulation is silent on this point, the personnel of the surrendering army become ordinary prisoners of war, with all the privileges and rights granted by the Convention; c. Since the troops of the capitulating army are captured or held because of the war, they should be treated as ordinary prisoners of war (pars. 70 and 248, FM 2710)."96 95 J.A.G., US Navy, Memorandum v. 24.3.1944, Abs. Nr. III. 3.; ebd. 96 Col. M. Gray, JAGD, "Memorandum for Brigadier General C.W. Wickersham", "Subject: Rights of Prisoners of War", 23.3.1944, Abs. Nr. 4; RG 26Q/OMGUS AGTS/88/9 243 In den zentralen Planungsstellen in Washington und London war man jedoch nicht gewillt, die völkerrechtlichen Bedenken im War- und Navy-Department zu berücksichtigen. Die Vorstellung, freie Hand in Deutschland und bei der Behandlung der Deutschen haben zu können, wenn man dafür eine nur einigermaßen glaubhafte juristische Begründung finden konnte, war zu verlockend, als daß man so ohne weiteres bereit gewesen wäre, die bereits auf dem Verhandlungstisch der EAC liegenden Papiere wieder in die Schublade zu packen. IV. 4. Britische und sowjetische Überlegungen zum Kriegsgefangenen-Status deutscher Soldaten a. Sitzung des "Post-Hostilities Committee" am 27. März 1944. Am 27. März 1944 beschäftigte sich das britische "PostHostilities Committee" mit dem sowjetischen KriegsgefangenenVorschlag. In dieser Sitzung wurden die politischen Leitsätze aufgezeigt, an denen sich Lord Strang und die britische EACDelegation fortan orientierten. Bereits einen Tag später wurde auch Winant davon in Kenntnis gesetzt. Die britischen Leitsätze lauteten: "Bedingungslose Kapitulation" Deutschlands werde den Alliierten eine "beispiellose Macht" ("unprecedented power") verleihen. "Bedingungslose Kapitulation" werde bedeuten, daß sich die gesamte deutsche Bevölkerung, zivile und militärische, der vollständigen Kontrolle durch die Alliierten unterwerfe. Der "Kriegsgefangenen-Status", so wie ihn die Genfer Konvention festlege, sei unter einer "bedingungslosen Kapitulation" nicht länger anwendbar. Der sowjetische Vorschlag, die deutschen Streitkräfte zu Kriegsgefangenen zu erklären, sei deshalb rein nominell und habe nicht die Bedeutung, wie sie die Genfer Konvention bestimme. Die Alliierten seien dann berechtigt, deutschen Autoritäten zu befehlen, die Bezahlung, Bekleidung, Ernährung und Unterbringung des "deutschen Personals", das dem sowjetischen Vorschlag entsprechend zu "Kriegsgefangenen" erklärt werde, fortzusetzen. Das Komitee empfahl deshalb der britischen Vorschlag positiv zu betrachten97. Regierung, den sowjetischen Jb. Informelles Gespräch zwischen Strang und Gusew am 4. April 1944. Um dem sowjetischen Botschafter die Ansicht der Briten über deren Vorschlag mitzuteilen, rief Lord Strang am Nachmittag des 4. April Gusew an98. Strang versicherte Gusew, die Briten stimmten mit den Sowjets überein soweit es den Zweck des sowjetischen Vorschlags betreffe, deutsche Kriegsgefangene für Wiederaufbauund Reparationsarbeit zu verwenden. Die Briten hielten es jedoch für möglich, dieses Ziel auch zu erreichen, ohne das Personal der deutschen Streitkräfte zu Kriegsgefangenen erklären zu müssen. So könnten in den Kapitulations-Bestimmungen Vorkehrungen getroffen werden für eine ordentliche Auflösung ("orderly disbandment") der deutschen Streitkräfte in einer Weise, wie sie die Alliierten anordneten. Die Bestimmungen könnten den Alliierten die notwendige umfassende Macht zur Kontrolle des Personals der Streitkräfte geben und von Deutschland verlangen, sofern die Alliierten dies entschieden, Arbeitskräfte für Reparationen zur Verfügung zu stellen. Auch könnten die Bestimmungen der Kapitulation den Alliierten die Macht verleihen, unter anderem den Umfang der (Nahrungsmittel-) Rationen, der Bekleidung, des Standortes und des Grades der Bestrafung selbst festzulegen. Um diese Ziele zu erreichen, sei es nach britischer Auffassung nicht notwendig, die deutschen Streitkräfte zu Kriegsgefangenen zu machen. Eine solche Erklärung bringe darüber hinaus auch schwerwiegende Nachteile mit sich. An erster Stelle nannte Strang, daß das Wort "Kriegsgefangener" einen genauen Begriffsinhalt im Völkerrecht habe, wie er in der Kriegsgefangenen-Konvention niedergelegt sei. Es werde aber offensichtlich "physisch" 97 98 Col. T.W.Hammond, jr., EAC-US Delegation, "Memorandum for Ambassador Winant", "Subject: Prisoners of War (British attitude)", 28.3.1944; RG 260/OMGUS AGTS/88/9 Die folgenden Ausführungen zu der Unterredung zwischen Gusew und Strang basieren auf dem von Strang angefertigten GesprächsProtokoll "Record of Conversation with M. Gousev on 4th April, about the Soviet proposal to declare personnel of the German armed forces prisoners of war", 4.4.1944; RG 260/OMGUS AGTS/88/9 245 nicht möglich sein, allen deutschen Streitkräften die Wohltaten, auf die die Kriegsgefangenen ein Anrecht hätten, zu gewähren. Andererseits sei es für die Briten aber schwierig, sich von der Genfer Konvention aus allgemeinen moralischen oder politischen Gründen stillschweigend oder ausdrücklich zu entfernen. Da es aber nach britischer Auffassung juristisch möglich sei, sich von den Deutschen einen Verzicht ("waiver") auf ihre Rechte aus der Konvention zu sichern, sei es unklug, sich selbst dem Vorwurf der Abwendung von der Konvention auszusetzen, auf deren Unversehrtheit sie größten Wert legten. Wenn man sich ohne Notwendigkeit besonders anstrenge, den Begriff "Kriegsgefangene" in den Kapitulations-Bestimmungen zu verwenden, könne die Öffentlichkeit fragen, ob die Gefangenen in vollkommener Übereinstimmung mit der Konvention behandelt worden seien, und wenn die Briten antworten müßten, wie es der Fall sein werde, daß das nicht geschehen sei, werde die Öffentlichkeit weiter fragen, warum man diese ernste Verpflichtung mißachtet habe. Auch wenn man darauf eine juristische Antwort hätte, würden die Briten sicherlich in eine politische und moralische Verlegenheit geraten. Außerdem sei man dann in der unangenehmen Lage, den Kriegsgefangenen zwei unterschiedliche Behandlungen zu geben. Diejenigen, die während der Feindseligkeiten gefangengenommen würden, würden in Übereinstimmung mit der Konvention behandelt werden, während denjenigen, die nach der deutschen Kapitulation sich ergäben, diese Behandlung nicht zuteil würde. Um allen diesen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, machte Strang einen neuen Vorschlag. Danach sollte in das KapitulationsDokument ein Passus aufgenommen werden, demzufolge das "Personal der deutschen Streitkräfte", nach ihrer Kapitulation und Entwaffnung, der Autorität der Repräsentanten des Oberkommandos der Alliierten unterstellt würden, den von diesen angeordneten Bedingungen unterworfen seien und allen von diesen ausgegebenen Direktiven zu gehorchen hätten. Von "Kriegsgefangenen" sollte im Kapitulations-Dokument keine Rede mehr sein. Es sei aber die britische Absicht, ließ Strang seinen Gesprächspartner wissen, sie trotzdem, soweit es irgendwie möglich erscheine, so zu behandeln, als seien sie Kriegsgefangene. Gusew antwortete Strang, daß auch die sowjetische Regierung die Grundsätze der Genfer Konvention akzeptiere, und es sei ihre Absicht, diese Grundsätze mit solchen Modifikationen zu befolgen, wie es die Art des Falles erforderlich mache. Einen Vorteil des sowjetischen Vorschlags sah Gusew darin, daß er dem "Personal der deutschen Streitkräfte" einen definitiven Status gebe. Inwieweit die Sowjets im April 1944 überhaupt bereit waren, nicht nur allgemeine Grundsätze der Genfer Konvention auf die deutschen Kriegsgefangenen anzuwenden, sondern die eindeutigen Vorschriften auch konkret zu erfüllen, blieb jedoch weiterhin unklar. Gusew deutete im Gespräch mit Strang bereits ein "Hintertürchen" an, das es den Russen nach deren Ansicht jederzeit erlaubte, trotz der Anerkennung der Genfer Konvention hinsichtlich der deutschen Kriegsgefangenen in der Praxis dann doch wieder von diesem eigenen Postulat abzuweichen. Die Deutschen hätten in ihrer Behandlung sowjetischer Gefangener die KriegsgefangenenKonvention flagrant verletzt. Das gleiche gelte für die Behandlung der Zivilisten. Die sowjetische Regierung betrachte sich deshalb in dieser Hinsicht weder in einer juristischen noch in einer moralischen Verpflichtung gegenüber den Deutschen. Diese Aussage Gusews bestätigte die Vermutung, daß die Aufnahme der Kriegsgefangenen-Klausel in die Kapitulations-Urkunde von sowjetischer Seite vor allem als ein Propaganda-Trick gedacht war, um eine schnellere Kapitulation möglich zu machen, weil die deutschen Unterhändler nach dieser Klausel davon hätten ausgehen können, die deutschen Soldaten würden als Kriegsgefangene nach der Genfer Konvention behandelt. Gusew sagte Strang eine Prüfung des britischen Gegenvorschlags zu. 247 c. Die US-Delegationen schwenkt auf den britischen Kurs ein. Um den russischen Vorstellungen etwas entgegen zu kommen, gleichzeitig aber den gewünschten politischen Handlungsspielraum nicht aufzugeben, schwenkte auch die amerikanische EAC-Delegation auf den britischen Vorschlag ein. General Wickersham, militärischer Berater von Botschafter Winant, legte diesem am 7. April den amerikanischen Entwurf einer Kriegsgefangenen-Klausel vor. In seiner Substanz war der Passus mit dem britischen Entwurf weitgehend deckungsgleich: Die gesamten deutschen Streitkräfte (einschließlich SS, SA und Gestapo) sollten sich selbst entwaffnen und ihre Waffen an die örtlichen alliierten Kommandeure übergeben. Weiter sollte es in der Klausel heißen: "Demobilization and disbandment of such forces shall be carried out in accordance with provisions to be laid down by the Allied Representatives. Individuals or units of the German forces may be designated to be held as prisoners of war by the Commanding Officers of the respective United States, British or Soviet Forces."99 In einer politischen Vereinbarung, die keine Aufnahme ins Kapitulations-Dokument zu finden brauche, sollten die drei Regierungen festlegen, daß die Grundsätze der Genfer Konvention beachtet würden und Anwendung hinsichtlich derer fänden, die man zu Kriegsgefangenen erklärt habe100. Die Sowjets ließen sich zunächst jedoch weder durch den britischen noch durch den amerikanischen Entwurf von ihrer eigenen Linie abbringen. Gusew teilte Strang am 15. April mit, er könne keine der beiden angebotenen Alternativen akzeptieren. Die sowjetische Regierung messe ihrem eigenen 99 100 248 Brig. Gen. C.W. Wickersham,"Memorandum for Ambassador Winant", "Subject: Disposal of Personnel of German Armed Forces", 7.4.1944, Abs. Nr. 8; RG 260/OMGUS AGTS/88/9 C.W. Wickersham, Memorandum v. 7.4.1944, Abs. Nr. 7; ebd.; wie eine solche politische Vereinbarung möglicherweise aussehen konnte, zeigte Wickersham in seinem "Memorandum for Ambassador Winant", "Subject: European Advisory Commission", 11.4.1944; RG 260/OMGUS AGTS/88/9 Vorschlag höchste Bedeutung bei, um dadurch in unmißverständlicher Form die vollständige Niederlage der deutschen Streitkräfte zu demonstrieren. Jegliche diesbezügliche Divergenz der drei Kommandeure bei der Erklärung von deutschen Soldaten zu Kriegsgefangenen, wie das die Amerikaner wollten, sei ein schlechter Präzedenzfall und werde den Deutschen den Weg öffnen, unterschiedliche Einstellungen gegenüber den Alliierten anzunehmen101. Auf die Frage Strangs, was denn mit den Angehörigen der deutschen Streitkräfte weiter geschehen solle, wenn sie, wie es der Plan der Sowjetunion vorsah, zu Kriegsgefangenen erklärt worden seien, meinte Gusew, daß eine solche Erklärung lediglich eine "AnfangsMaßnahme" ("initial measure") sei, und es obliege den Alliierten zu entscheiden, wie lange sie diesen Status beibehalten dürften102. Da die Russen bis dahin noch niemals genauere Auskunft darüber gegeben hatten, wozu sie die deutschen Kriegsgefangenen im einzelnen verwenden wollten, versuchte Strang den sowjetischen Botschafter dazu zu bringen, doch erst einmal den Plan für die Behandlung der Deutschen in sowjetischer Hand offenzulegen, um danach zu entscheiden, wie der Passus im Kapitulations-Dokument zu formulieren sei. Doch auch das lehnte Gusew ab103. IV. 5. Die drei EAC-Deleaationen Kriegsgefangenen-Klausel einigen sich über die In einem informellen Gespräch der drei Delegationen am 4. Mai präsentierten die Sowjets doch noch eine abgeänderte Klausel. Die neue Klausel sah vor, das deutsche StreitkräftePersonal werde nach dem Ermessen der Militärkommandeure als Kriegsgefangene angesehen oder dazu erklärt, vorbehaltlich weiterer Entscheidungen, und sie sollten solchen Bedingungen und Weisungen unterworfen sein, 101 102 103 W.Strang, "Record of a Conversation with M. Gousev at the Soviet Embassy on April 15th, 1944; RG 260/OMGUS AGTS/88/9 W. Strang, Bericht v. 15.4.1944; ebd. W. Strang, Bericht v. 15.4.1944; ebd. 249 wie sie die Repräsentanten des Oberkommandos festlegten. Die Amerikaner konstatierten zutreffend, daß das im wesentlichen mit dem übereinstimmte, was sie bereits vorgeschlagen hatten104. Die endgültige Fassung der Kriegsgefangenen-Klausel war nun nur noch eine Formulierungsfrage, keine der inhaltlichen Substanz. In Artikel 2. b. des Kapitulations-Entwurfes vom 25. Juli 1944 hieß es: "The personnel of the formations and units of all the forces referred to in paragraph (a) above105 shall, at the discretion of the Commander-in-Chief of the Armed Forces of the Allied States concerned, be declared to be prisoners of war, pending further decisions, and shall be subject to such conditons and directions as may be prescribed by the Allied 106 Representatives." Um über Tragweite und Aussage dieses Artikels bei den Alliierten Regierungen keine Zweifel und differierende Auffassungen aufkommen zu lassen, beschloß die EAC noch eine zusätzliche Empfehlung an die alliierten Regierungen, wie dieser Artikel zu verstehen sei: "Under Article 2 (b) of the draft Instrument of Surrender of Germany, there is no obligation on any of the three Allied Powers to declare all or any part of the personnel of the German armed forces prisoners of war: it is their right. Such a decision may or may not be taken, depending on the discretion of the respective Commanders-in-Chief. Prisoners of war so declared will be treated in accordance with the standards of international law."107 Das Beispiel der Kriegsgefangenen-Klausel zeigt sehr deutlich, wie die alliierten politischen Planer aus Gründen der politischen Zweckmäßigkeit Uber die eindeutigen 104 105 106 107 250 USFET an War Dep., 5.5.1944; RG 165 CAD 014 Germany (7-10-42) Sec. 5 Dort wurden einschränkungslos auch SS, SA und Gestapo genannt. FRUS 1944 I, S. 257 FRUS 1944 I, S. 256 völkerrechtlichen Aussagen ihrer Kollegen, insbesondere der Judge Advocate Generals, hinweggingen, und sie völkerrechtliche Prinzipien der politischen Absicht unterwarfen, sobald beide zu Antagonismen wurden. Wo das Recht nicht imstande war der Politik zu dienen, dort mußte es durch fragwürdige Konstruktionen außer Kraft gesetzt werden, um dem Primat der Politik einschränkungslos zum Erfolg zu verhelfen. IV. 6. EAC-Beratungen über Struktur und Länge der Kapitulations-Urkunde und den Inhalt der Ermächtigungs- klausel Neben dem Inhalt der Kriegsgefangenen-Klausel war vor allem die Struktur und die Länge der Kapitulations-Urkunde zwischen den drei EAC-Delegationen umstritten. Alle drei stimmten zwar darin überein, daß die Urkunde eine Ermächtigung der Alliierten enthalten müsse, damit auch besatzungspolitische Maßnahmen rechtlich abgesichert wären, die ansonsten Völkerrechtsverstöße darstellen würden. Zu diesem Zweck sah der britische Entwurf neben militärischen auch detaillierte politische und wirtschaftliche Klauseln vor, in denen den Alliierten spezifische Befugnisse zugestanden werden sollten. Der sowjetischen Delegation kam es mit ihrem kurzen Entwurf primär darauf an, die militärische Kapitulation so schnell wie irgend möglich herbeizuführen. Sie verzichtete deshalb bewußt auf politische und wirtschaftliche Vorschriften, da sie befürchtete, dadurch die Kapitulation der deutschen Streitkräfte nur hinauszuzögern. Neben den spezifisch militärischen Artikeln enthielt der sowjetische Entwurf deshalb nur noch eine Ermächtigungsklausel. Der amerikanische Vorschlag bevorzugte ebenfalls ein kurzes Dokument, legte aber besonderes Gewicht auf die Übernahme der größtmöglichen (und das hieß für die Amerikaner: der unbeschränkten) Machtbefugnisse im militärischen, ökonomischen und politischen Bereich. Die diesbezüglichen 13 Artikel des amerikanischen Entwurfs waren ebenfalls vorrangig militärischer Natur mit einer General- 251 ermächtigungsklausel. Konkrete Forderungen an Deutschland sollten erst nach der Unterzeichnung der Kapitulations- Urkunde in Form einer Generalproklamation und von drei Generalbefehlen mit militärischem, wirtschaftlichem und politischem Inhalt gestellt werden108. Das italienische Beispiel hatte es den militärischen Führern in Washington ratsam erscheinen lassen, auf einer kurzen Urkunde zu bestehen109. Die britischen und russischen Bedenken gegen den amerikanischen Entwurf richteten sich unter anderem gegen die in Artikel 9 enthaltene Generalermächtigung. Winant teilte dem State Department am 24. Februar 1944 mit: "They (Sowjets und Briten, d. Verf.) say paragraph nine could be misinterpreted as opening way for new dictatorship having no sanctions, and as now worded would make no allowances for recognition of such power restrictions as foreigners' ordinary rights through international law, or for any governmental restraints of general moral nature."110 Die Delegationen kamen sich aber recht schnell in dieser Frage näher. Bereits in einem informellen Gespräch der drei Delegationsleiter in Gusews Privatbüro am 7. März 1944 beharrte Strang nicht mehr auf dem britischen Entwurf, sondern machte Zugeständnisse. Da sowohl Amerikaner als auch die Sowjets ein kurzes Kapitulations-Dokument bevorzugten, sprachen sich auch die Briten für diese Lösung aus, jedoch unter dem Vorbehalt, daß in der Proklamation 108 Einen kurzen Überblick über die Unterschiede der drei Entwürfe gibt W. Strang, Home and Abroad, S. 209 f.; vgl. auch H.-G. Kowalski, Die "European Advisory Commission" als Instrument alliierter Deutschlandplanung 1943-1945, in: VfZG 1971, S. 270 ff. 109 110 FRUS 1944 I, S. 195 Winant an Secr, of State, 24.2.1944; RG 165 CAD 014 Germany (710-42) Sec. 4; weitere sowjetische Bedenken werden auch wiedergegeben in dem Schreiben Winants an Secr. of State v. 21.2.1944, demzufolge die Sowjets nur militärische Bestimmungen in die Urkunde aufnehmen wollten, um z.B. durch die vollständige Entwaffnung der deutschen Streitkräfte den "myth of invincibility" zu zerstören; RG 165 CAD 014 Germany (7-10-42) Sec. 4 252 und den Befehlen das enthalten sein müsste, was im britischen Entwurf stehe. Winant teilte Strang daraufhin mit, er glaube, daß seine Regierung dem zustimmen werde. Auch Gusew war damit einverstanden und ergänzte, die neue Aussage Strangs sei mehr als ein Zugeständnis, sie sei ein Beitrag zu einem generellen Übereinkommen. Strang regte an, die Amerikaner und Sowjets sollten ihre Entwürfe zu einem Kompromiß in Form eines kurzen Dokumentes verarbeiten, die Briten behielten sich jedoch etwaige Kommentare ebenso vor wie die Möglichkeit, dem noch auszuarbeitenden Kompromiß noch ein oder zwei Klauseln hinzuzufügen111. Auch in einem damit in Zusammenhang stehenden Punkt erzielten die drei Delegationen im März 1944 noch Übereinstimmung. Während Winant ursprünglich davon ausging, die drei Generalbefehle sollten den Deutschen vor der Unterzeichnung der Kapitulation gezeigt und erst danach gleichzeitig mit der Proklamation und dem Kapitulations- Dokument in Deutschland veröffentlicht werden112, teilte ihm General Wickersham mit, dies sei nicht der Fall113. Auch Außenminister Cordell Hull sprach sich, wie die Sowjetunion, gegen ein solches Vorgehen aus. Er wünschte jeden Hinweis zu vermeiden, daß diese Dokumente irgendeine vertragliche Beziehung mit deutschen Autoritäten enthalten könnten114. Die Kritik der Sowjetunion am amerikanischen Entwurf, er sei im militärischen Bereich inadäquat und in anderen Bereichen zu weitgehend115, ließ Hull nicht gelten. Er glaube nicht, ließ er Winant wissen, daß die gegenwärtigen deutschen Führer gewillter seien, eine im wesentlichen militärische Kapitulation zu unterzeichnen, wie es der sowjetische Entwurf vorsah, als die amerikanischen Bestimmungen zu akzeptieren. Man könne annehmen, daß die Deutschen in jedem Fall mit harten Bedingungen rechneten 111 112 113 114 115 FRUS FRUS FRUS FRUS Vgl. 1944 I S. , S. 1944 I , S. 1944 I , s. 1944 I W. Strang, , 197; 194 198 210 200 Home 210 253 und nur dann kapitulierten, wenn sie keine andere Wahl mehr hätten116. Bei der Entscheidung zwischen der Ermächtigungsklausel des amerikanischen und des sowjetischen Entwurfs sprach sich Hull nachdrücklich für den eigenen Vorschlag aus. Nur durch die amerikanische Klausel könnten später rechtliche Auseinandersetzungen hinsichtlich der Rechte und Machtbefugnisse der Sieger verhindert werden. Man komme dadurch einer Wiederholung der nach dem Ersten Weltkrieg geäußerten Kritik zuvor, die Sieger hätten die Härte der WaffenstillstandBedingungen verschärft, nachdem Deutschland unfähig geworden sei, die Feindseligkeiten wieder aufzunehmen. Bei Artikel 20 des sowjetischen Entwurfes, der Ermächtigungsklausel, befürchtete Hull, er könnte so interpretiert werden, als würden den Alliierten dadurch ernsthafte Beschränkungen in ihrer Gestaltungsfreiheit in Deutschland auferlegt, da die noch zu stellenden zusätzlichen Forderungen beschränkt seien auf Fragen, die im Zusammenhang mit der Kapitulation stünden und von der deutschen Regierung und dem deutschen Oberkommando auszuführen seien117. Beides ging Hull offensichtlich nicht weit genug. Inhaltlich war die Klausel der Sowjets zu stark interpretationsfähig, und die Auferlegung der Pflicht zur Ausführung der alliierten Befehle auf deutsche Behörden, ganz im Sinne einer "indirect rule", hätte so verstanden werden können, als ob die Alliierten selbst und unmittelbar durch eigene Behörden nicht handeln wollten oder handeln dürften. Nur die amerikanische Formel, davon war Hull überzeugt, würde die Alliierten vor diesen als Nachteil empfundenen Auslegungsmöglichkeiten bewahren. "These articles (in dem amerikanischen Entwurf,d. Verf.) would establish an incontestable recognition of our right to take all measures deemed appropriate for the control and reorganization of Germany and for the punishment of war criminals."118 116 117 118 254 FRUS 1944 I, S. 200 FRUS 1944 I, ebd. FRUS 1944 I, ebd. Diese Ansicht teilten auch die JCS, die sich im April 1944 nochmals entschieden für das kurze Kapitulations-Dokument aussprachen und ebenso wie Hull meinten, diese Urkunde müsse unter anderem enthalten: "... such other broad and general language as may be deemed necessary to reserve absolute authority, without limitation or condition of any character whatsoever, over the German Government, territory, people and resources, including power to completely disarm, demobilize and demilitarize Germany and to take such other action to implement the surrender terms as the three Governments may at any time deem necessary or advisable without consultation or agreement with the Germans." Die JCS waren aber durchaus bereit, in der konkreten Fassung von dem ursprünglichen amerikanischen Entwurf abzuweichen, sofern nur die Substanz aufrechterhalten werde119. Die Ausarbeitung eines amerikanisch-sowjetischen Kompromisses stellte die Delegation, sieht man einmal von der Kriegsgefangenen-Klausel ab, vor keine allzugroßen Schwierigkeiten. Ausgearbeitet wurde eine 14 Artikel umfassende militärische Urkunde, versehen mit einer Generalermächtigung, wie sie den amerikanischen Wünschen entsprach, die von Repräsentanten der deutschen Regierung und des Oberkommandos der Wehrmacht gezeichnet werden sollte120. Auch die britische EAC-Delegation hatte keine Vorbehalte mehr121. Am 25. Juli 1944 wurde in der EAC das neu gestaltete Kapitulations-Dokument angenommen. Es bestand im wesentlichen aus drei Teilen: Den ersten Teil bildete die Präambel, die eine Anerkennung der vollständigen Niederlage der deutschen Streitkräfte zu Land, zu See und in der Luft enthielt. Im zweiten Teil erschienen mehrere militärische Artikel, die neben der Einstellung der Feindseligkeiten 119 120 121 FRUS 1944 I, S. 210 FRUS 1944 I, S. 256 ff. FRUS 1944 I, S. 225 255 durch Deutschland (und der Kriegsgefangenen-Klausel) noch Bestimmungen Uber die Entwaffnung, die Entlassung alliierter Kriegsgefangener, die Instandhaltung und Aushändigung deutschen Kriegsgerätes und ähnliche Dinge vorsahen. Den dritten Teil stellte die Generalermächtigung dar, die in Artikel 12 folgendermaßen lautete: "(a) The United States of America, the United Kingdom and the Soviet Socialist Republics shall possess supreme authority with respect to Germany. In the exercise of such authority they will take such steps, including the complete disarmament and demilitarization of Germany, as they deem requisite for future peace and security. (b) The Allied Representatives will present additional political, administrative, economic, financial, military and other requirements arising from the surrender of Germany. The Allied Representatives, or persons or agencies duly designated to act on their authority, will issue proclamations, orders, ordinances and instructions for the purpose of laying down such additional requirements and of giving effect to the other provisions of the present Instrument. The German Government, the German High Command, all German authorities and the German people shall carry out unconditionally the requirements of the Allied Representatives and shall fully comply with all such proclamations, orders, _ ordinances and instructions."122 An dieser Ermächtigungs-Klausel fallen zwei Dinge besonders ins Auge. Zum einen die "Wiederentdeckung" des Begriffs "supreme authoritly", zum anderen die Länge und Wortwahl, die - entgegen den amerikanischen Vorgaben - eine einschränkende Interpretation durchaus zugelassen hätten. Der von gebrauchte James K. Terminus Pollock von der in diesem "supreme Zusammenhang authority", Pollock die "oberste Staatsgewalt" in Deutschland 122 256 FRUS 1944 I, S. 260 erstmals unter der verstanden hatte, hatte nun doch noch den Weg in die Kapitulations-Urkunde gefunden. Das Wort "authority" bietet jedoch bekanntermaßen eine Vielzahl von Übersetzungsmöglichkeiten ins Deutsche. In welchem Sinn die EAC dieses Wort verwenden wollte, ist nicht ersichtlich, da eine offizielle deutsche Übersetzung nicht existiert. Im US- Außenministerium wurde aber im "Office of European Affairs" eine inoffizielle Fassung erstellt: "Supreme authority with respect to Germany" wurde dort übersetzt mit "oberste Machtbefugnis hinsichtlich Deutschlands"123. Nachdem die Repräsentanten der drei Alliierten in der EAC das Kapitulations-Dokument am 25. Juli 1944 beschlossen hatten, bedurfte es noch der Zustimmung der drei Regierungen. Roosevelt stimmte bereits Anfang August zu, die sowjetische Regierung zwei Wochen später124. Lediglich die britische Regierung schien Bedenken bekommen zu haben. Ihre Annahme des EAC-Vorschlags geschah nur bedingt. Grundsätzlich war sie für den Entwurf, meinte aber, daß Änderungen mit Rücksicht auf die Sichtweisen der anderen Alliierten noch möglich sein sollten. Insbesondere die Franzosen sollten dadurch begünstigt werden, ihre eventuell vom Entwurf abweichenden Vorstellungen noch einbringen zu können125. Daraufhin zogen auch die Russen ihre zuvor ohne Einschränkungen erteilte Zustimmung zurück und behielten sich nun das Recht vor, für den Fall des Auftretens wichtiger neuer Umstände, ebenfalls entsprechende Änderungen im Kapitulations-Dokument einzufügen126. Da das mühsam erarbeitete Dokument nun wieder zu scheitern drohte, suchte US-Botschafter Winant in Gesprächen mit Gusew und Strang den Entwurf zu retten. Wenn schon das erste in der EAC entstandene Dokument nicht die ungeteilte und vorbehaltlose Zustimmung der drei Regierungen erhielt, 123 124 125 126 Dep. of State, Office of European Affairs, Division of Central European Affairs, "Memorandum for Colonel Allen", 28.8.1944, "German Translation of the Unconditional Surrender of Germany", Art. 12; RG 165 CAD 014 Germany (7-10-42) Sec. 8 FRUS 1944 I, S. 265, 276 FRUS 1944 I, S. 329 f. FRUS 1944 I, S. 338 257 dann war das zweifellos auch ein schlechtes Omen für die anderen im Entstehen befindlichen Dokumente. Hinant gelang es schließlich, zunächst das Vereinigte Königreich127 und danach auch die Sowjetunion128 zur uneingeschränkten Annahme des EAC-Vorschlags zur "bedingungslosen Kapitulation" zu bewegen. V. Diskussion in Washington über die möglichen völkerrechtlichen Auswirkungen einer "bedingungslosen Kapitulation" Keine Erörterungen stellte die EAC über die Frage an, wie denn eine "bedingungslose Kapitulation" in das völkerrechtliche Instrumentarium zur Kriegsbeendigung paßte, oder ob es sich vielleicht sogar um eine neue Art der Kriegsbeendigung handelte. Welche Auswirkungen konnte eine "bedingungslose Kapitulation" völkerrechtlich über die Übertragung der "supreme authority” hinaus haben? Die Position der Briten war bereits in den EACVerhandlungen deutlich geworden. Sie verstanden unter "bedingungsloser Kapitulation" nichts anderes als einen Waffenstillstand, in dem die Reichsregierung und das Oberkommando der Wehrmacht alle ihre staatsrechtlichen Befugnisse auf die Alliierten übertragen sollten. An dieser völkerrechtlichen Einschätzung änderte sich auch nichts durch den Verzicht auf das Wort "Waffenstillstand" im von der EAC verabschiedeten Kapitulations-Dokument. Die Auffassung der USA war da schon undurchsichtiger. Schon frühzeitig hatten die Planungsstäbe, vor allem die JCS, den Begriff "Waffenstillstand" kategorisch abgelehnt. "Bedingungslose Kapitulation" sollte etwas anderes sein, etwas Beispielloses in der neueren Geschichte. V.1. Das Chanler-Memorandum vom Februar 1944 Mit den möglichen völkerrechtlichen Auswirkungen "bedingungslosen Kapitulation" beschäftigte sich im Februar 127 128 258 FRUS 1944 I, S. 415 FRUS 1944 I, S. 415, 422 einer 1944 erstmals ein hoher Mitarbeiter der Abteilung für Zivilangelegenheiten (CAD) im US-Kriegsministerium, Oberstleutnant William C. Chanler129. Er mußte konstatieren, daß in den amerikanischen Planungsstäben über die völkerrechtlichen Konsequenzen "erhebliche Verwirrung" ("considerable confusion") existiere. Mit seiner Denkschrift wollte er den Versuch einer Klärung dieses Problems machen. Da für die Amerikaner weder ein formloses Einstellen der Feindseligkeiten noch ein Waffenstillstand wie 1918 annehmbar schien, hatte für Chanler "bedingungslose Kapitulation" nur einen Sinn: "While no definition of these words will be found in text books on international law, it would seem that they could have but one meaning: that Germany achnowledges her total and final defeat and throws herself upon the mercy of the Allies."130 Was aber bedeutete diese politische Situation völkerrechtlich? Konnte man darin schon eine "Debellatio" sehen oder war es zumindest eine Situation, die zu einer "Debellatio" führen konnte? Es mache keinen Unterschied, stellte Chanler fest, ob die Militärbefehlshaber mit allen ihren Truppen kapitulierten oder ob dies durch die anerkannte Regierung geschehe, die die Niederlage bekenne und allen militärischen Kommandeuren befehle, zu kapitulieren, was von diesen dann auch getan werde. In jedem Fall sei der Krieg dann auf Dauer und endgültig beendet. Die eroberte Nation habe nicht mehr die Kraft, weiterhin Widerstand zu leisten und sei vollkommen abhängig von der Gnade der Eroberer131. Diese Situation hatte nach Chanlers Ansicht aber noch nicht unmittelbar eine "Debellatio" zur Folge. Diese könne aber herbeigeführt werden durch eine einseitige Erklärung der Annexion oder 129 130 131 W.C. Chanler, Memorandum, "Subject: The Consequences of Unconditional Surrender under International Law", 12.2.1944 ; RL Ch. Fahy Papers, Box Nr. 65 W.C. Chanler, Memorandum v. 12.2.1944, Abs. Nr. 4, ebd. W.C. Chanler, Memorandum v. 12.2.1944, Abs. Nr. 5, 6; ebd. 259 Teilung Deutschlands, wofür kein Vertrag oder Vereinbarung welcher Art auch immer notwendig sei. Nach Annexion oder Teilung spiele das Völkerrecht für das Verhältnis der Eroberer zu den Eroberten keine Rolle mehr. Der annektierende Staat oder der aus einer Teilung hervorgegangene neue Staat werde der rechtmäßige Souverän und habe die gleiche absolute und umfassende Herrschaft über die Personen, das Eigentum und das Gebiet des eroberten Landes wie innerhalb der eigenen Grenzen auch ("... the annexing state, or in the event of partitioning, the newly created state becomes the legitimate sovereign and has the same absolute and complete dominion over the persons, property and territory of the conquered country as it has within its own boundaries.")132. Chanler folgerte daraus, daß sowohl ein genau ausgearbeiteter Waffenstillstandsvertrag wie auch jede andere Vereinbarung, die die Rechte und Befugnisse der Deutschen und der Alliierten Mächte bis zu einer endgültigen Regelung festsetze, überflüssig sei. Allein notwendig sei ein schlichtes und weitgefaßtes Dokument, das von den Deutschen unterzeichnet werde und in dem sie ihre vollständige Niederlage und bedingungslose Kapitulation zugäben. Alles weitere sollte dann durch die Alliierten in Form von Proklamationen und Befehlen geregelt werden. Statt von "postarmistice-period" müsse man von "post-surrenderperiod" sprechen133. Was die Rechte der Besatzungsmächte in dieser "NachKapitulations-Phase" anbetraf, sah Chanler keine allzugroßen Probleme auf die Alliierten zukommen. "The rights of an occupying power under international law are sufficiently broad to make unnecessary a decision whether they are binding."134 Lediglich in der Änderung von Gesetzen in Deutschland und im Gebrauch von deutschen Hilfsquellen im Krieg gegen Japan 132 133 134 260 W.C. Chanler, Memorandum v. 12.2.1944, Abs. Nr. 7; ebd. W.C. Chanler, Memorandum v. 12.2.1944, Abs. Nr. 8; ebd. W.c. Chanler, Memorandum v. 12.2.1944, Abs. Nr. 9; ebd. mochten nach Chanlers Einschätzung rechtliche Probleme stecken. Alle für Kriegszwecke eingezogenen Sachen würden Deutschland als ein Teil der Reparationen in einer abschließenden Regelung ("final settlement") auferlegt werden. Die Alliierten seien aber nicht bereit, mit ihren Maßnahmen bis zu dieser abschließenden Regelung zu warten. Wenn irgendwelche Einwände gegen diese Maßnahmen erhoben und sie als Verstoß gegen die Haager Konvention bezeichnet würden, dann müsse die Antwort lauten, daß diese ganzen Handlungen in dem Moment Rechtskraft erlangten, wenn man den abschließenden Schritt, z.B. in der Art eines Friedensvertrages, vornehme. Das Argument, daß dann bis zur endgültigen Vollziehung des Friedensvertrages in einer Interimszeit die Rechte des Eroberers aber begrenzt seien, hielt er für rein theoretisch135. Chanler meinte: "Whatever rights it may take would become legal and valid at the time of the final consummation of the peace treaty o r D e c l a r a t i o n of Partitition."136 Daneben führte Chanler als weiteren möglichen Grund für eine Nichtgeltung der HLKO ins Feld, diese binde einen Eroberer nach einer totalen und endgültigen Niederlage des Widersachers nicht länger. Das grundlegende Konzept der HLKO sei, daß die Besetzung nur vorübergehend und unsicher sei. Das Element der Unsicherheit fehle jedoch nun und es erscheine ihm unlogisch, den Eroberer einzuschränken, der die Existenz des eroberten Staates vernichten könne, nun aber daran gehindert sein solle, weniger drastische Schritte durchzuführen, während er noch entscheide, welche endgültige Regelung er vornehmen wolle137. Chanlers scheinbar logische Schlußfolgerung war: "Such a rule would result in forcing the hand of the conqueror to exercise his rights to the fullest extent at once - a result which would clearly be 135 136 137 W.C. Chanler, ebd. W.C. Chanler, W.C. Chanler, Memorandum Memorandum Memorandum V . V . V . 12.2.1944, Abs. Nr. 9, 15 ff.; 12.2.1944, Abs. Nr. 17 ; ebd. ; , 19; ebd 12.2.1944, Abs. Nr. 12 , 261 contrary to the underlying philosophy and trend of international law."138 V.2- Das Jessup-Memorandum vom Juni 1944 Da Chanler von seinen eigenen völkerrechtlichen Überlegungen aber offensichtlich selbst nicht ganz überzeugt war, bat er den ihm befreundeten Professor für Völkerrecht Philip C. Jessup, stellvertretender Leiter der Marineschule für Militärregierung und Verwaltung, Columbia Universität in New York, ein Gutachten über die Folgen der "bedingungslosen Kapitulation" zu erstellen. Jessup legte sein 24-seitiges Memorandum im Juni 1944 vor. Er unternahm es darin, den völkerrechtlichen Konsequenzen der "bedingungslosen Kapitulation" durch eine auch etymologische Untersuchung auf die Spur zu kommen139. Da Jessups Ausführungen für das Verständnis des Begriffes und der Auswirkungen von "bedingungsloser Kapitulation" äußerst aufschlußreich sind, werden sie im folgenden kurz referiert: Die dem Jessup-Gutachten zugrunde liegenden Fragen waren (1.) was ist "bedingungslose Kapitulation", (2.) wie wird sie angefertigt und angenommen, und (3.) welches sind ihre rechtlichen Folgen? (1.) In modernen Kriegen wurde es normal, die Feindseligkeiten durch einen Waffenstillstand zu beenden, dem ein Friedensvertrag nachfolgte. Es ist deshalb schwierig, Präzendenzfälle für eine "bedingungslose Kapitulation" zu finden. Die Haager Konventionen verwenden diesen Begriff nicht, da es sich dabei weder um eine Kapitulation im Sinne von Art. 35 HLKO noch um einen 138 139 262 W.C. Chanler, Memorandum v. 12.2.1944, Abs. Nr. 19; ebd. "Informal Memorandum Prepared in June 1944, at Suggestion of Colonel Chanler, by Professor Philip C. Jessup, Deputy Chief, Naval School of Military Government&Administration, Columbia University, New York, N.Y.", "Subject: The Nature and Consequences of Unconditional Surrender under International Law"; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat, RL Ch. Fahy Papers, Box Nr. 65 Waffenstillstand gemäß Art. 39 HLKO handelt. Denn die Kapitulation in der HLKO ist eine vertragliche Vereinbarung über die Kapitulation von Teilen der feindlichen Streitkräfte, nicht über die totale Unterwerfung des Feindstaates. Auch der Waffenstillstand ist eine vertragliche Vereinbarung, die vorsehen kann, daß bestimmte Waffen, Schiffe, Truppenteile oder ähnliches zu übergeben sind. Es konnte jedoch kein Beispiel dafür gefunden werden, in dem ein Waffenstillstand die vollständige Übergabe und Unterwerfung der unterlegenen Macht angeordnet hätte. Allerdings ist kein prinzipieller Grund ersichtlich, warum ein Waffenstillstand nicht auch die Übergabe aller Waffen, aller Schiffe, aller militärischer Befestigungen und aller Truppen des Verlierers festlegen sollte. Seinem Charakter nach ist ein Waffenstillstand aber letzten Endes doch eine Vereinbarung, vorgesehen für einen vorübergehenden, einen Interimszustand, die die Aussetzung der Kämpfe beinhaltet und spezifiziert und nach vorne auf den Abschluß eines Friedensvertrages schaut. Aufgrund der Tatsache, daß der Waffenstillstand selbst eine vertragliche Abmachung ist, anerkennt er die Fortexistenz der besiegten Macht als Staat, mit der Fähigkeit, Verträge zu schließen und auszuführen. "Bedingungslose Kapitulation" im wörtlichen Sinn ist das, was Grotius eine "reine Unterwerfung" nennt, die den Kapitulierenden zu einem Untertanen macht, und demjenigen, dem gegenüber die Kapitulation erfolgt, die Staatsgewalt (Souveränität) Uber den Unterworfenen verleiht. Grotius folgert, der Sieger habe absolute Macht und alle Rechte, mit dem Besiegten nach Belieben zu verfahren, daß aber ein unbegrenzter Gebrauch nicht klug wäre. Die meisten älteren und viele der neuen völkerrechtlichen Autoren betrachten "bedingungslose Kapitulation" als eine besondere Situation, welche sie üblicherweise im Zusammenhang mit der Kriegsbeendigung diskutieren. Einer spricht von "deditio" als der mit "bedingungsloser Kapitulation" identischen Praxis der Römer. Er denkt dabei 263 an eine Situation, in der die Niederlage so vollkommen ist, daß keine Gelegenheit für einen Waffenstillstand oder eine andere vertragliche Abmachung mehr besteht. Der Besiegte wird entweder ausgelöscht oder ist zu aufgebraucht, als sich vollständig aufgeben und in die Gnade des Siegers begeben zu können. In einer weniger extremen Form ist es vielleicht das, was mit dem Terminus "Debellatio" gemeint ist. Sie liegt dann vor, wenn der feindliche Staat niedergekämpft und unterworfen wird. Es stehen sich dann nicht mehr länger zwei Staaten Angesicht in Angesicht gegenüber. Der Krieg wird beendet durch die Auslöschung der politischen Existenz eines der beiden Gegner. Verschiedene Autoren betonen, daß "Debellatio" und "Conquest" nicht identisch sind. Davon zu unterscheiden ist auch der Begriff der "Subjugation". "Conquest" ist lediglich eine Voraussetzung von "Debellatio", reicht aber allein noch nicht aus, um die juristische Lage herzustellen, die man als "Debellatio" bezeichnet. Erst der Wille (animus) und der Besitz führen (nach Strupp) zu dieser Situation. Der Wille muß dahin gehen, den Gegner ganz und gar zu vernichten. In Verbindung mit der tatsächlichen Zurückhaltung des Territoriums (Besitz) entsteht dann die juristische Situation, in der der Eroberer sich das feindliche Land selbst aneignen kann und dadurch den Krieg beendet. Wesentlich ist, daß die Souveränität des Feindstaates nicht mehr länger ausgeübt werden kann, daß die völkerrechtliche Person, mit der Fähigkeit Rechtshandlungen vorzunehmen, verschwunden ist. Dieser letzte Schritt der Annexion wird auch "Subjugation" genannt140. (2.) Das Nichtvorhandensein moderner Präzedenzfälle führt zu der Feststellung, daß es keine traditionelle Form oder Formel einer "bedingungslosen Kapitulation" gibt. In seiner einfachsten Form ist das Kapitulations-Dokument die bloße Wiedergabe einer Tatsache, nämlich der Tatsache der vollkommenen Niederlage und die Anerkennung dieser 140 Ph.C. Jessup, Memorandum v. Juni 1944, Abs. Nr. 4-9; ebd. 264 Niederlage, wodurch sich der Besiegte ganz in die Hände des Siegers begibt. Es bleibt dem Sieger überlassen, mögliche Einzelheiten der "bedingungslosen Kapitulation" in die Urkunde aufzunehmen. Es wäre für den Eroberer zweckdienlich, vom Kapitulierenden zu verlangen, die Kapitulation in einem geschriebenen Dokument auszudrücken, das dann in einer Heise unterzeichnet wird, die den Staat bindet. In geeigneten Fällen mag es notwendig sein, sowohl die Unterschrift der höchsten zivilen oder Verfassungsautorität und der höchsten militärischen Autorität zu erhalten. Es ist kein Grund ersichtlich, warum der Eroberer nicht genau festlegen sollte, wessen Unterschrift er wünscht, um sicher zu gehen, daß die Kapitulation von allen einflußreichen Gruppen im Staat des Unterlegenen mitgetragen wird. Es bleibt dem Sieger überlassen, eine Anmerkung auf dem Dokument zu machen, daß er die Kapitulation akzeptiert. Eine Unterschrift ist aber nicht notwendig. Selbst wenn die Annahme auf dem Kapitulations-Dokument notiert wird, wird dieses dadurch noch nicht zu einem Vertrag oder Abkommen. Eine "bedingungslose Kapitulation", wie hier beschrieben, ist eine Vereinbarung im juristischen Sinn. Der Eroberer verspricht nichts. Ob der Eroberte etwas zusichert, hängt davon ab, ob er über die Anerkennung der vollständigen Niederlage hinaus noch weitere Aussagen in der Urkunde abgibt, die die Form von Versprechungen des kapitulierenden Staates haben. Diese sind dann aber nur Zusätze und nichts, was der Kapitulation selbst innewohnt. Eine "bedingungslose Kapitulation" kann aber auch, wenn der Eroberer das wünscht, in ein einseitiges oder zweiseitiges Abkommen eingefügt werden. Ist das Abkommen nur die Registrierung einer abgeschlossenen Tatsache, werden die Rechtsnatur oder Folgen dieser Tatsache nicht durch die Aufnahme in das Abkommen bestimmt, weil dieselbe Wirkung auch dann eintreten würde, wenn die vollständige Niederlage nur mündlich erklärt wird. Obwohl eine in ein Abkommen aufgenommene "bedingungslose Kapitulation" die vollständige 265 Unterwerfung und die rechtlichen Folgen dieser Unterwerfung nicht ändert, muß ein solches Abkommen mit großer Sorgfalt erstellt werden, um ein unerwartetes und unerwünschtes rechtliches Resultat zu verhindern. Wird das Abkommen nachlässig verfaßt, könnte es Wirkungen haben wie ein üblicher Friedensvertrag und alle die Rechtsquellen absorbieren, auf die der Sieger angewiesen ist. In anderen Worten: Der Sieger würde seine unbeschränkte Macht verlieren, die aus einer "Debellatio" resultiert, und hätte nur noch die Befugnisse, die sich aus dem Abkommen herleiten. Darüber hinaus könnte die Anerkennung des besiegten Feindes als Vertragspartner mißverstanden werden, als stelle dies die Leugnung der vollständigen Zerstörung dar, die eine "Debellatio" ins Auge faßt. Diese Bemerkungen führen zu der Schlußfolgerung, daß die Lage eindeutiger ist, wenn die Form eines Abkommens gänzlich vermieden wird141. (3.) Der Hauptpunkt bei der Frage nach den rechtlichen Folgen einer "bedingungslosen Kapitulation" ist, ob darin die Beendigung des Krieges zu sehen ist, und - wenn dem so sein sollte - ob dieses Resultat automatisch und notwendigerweise eintritt oder ob es abhängig ist von verschiedenen Umständen. In diesem Zusammenhang ist es erforderlich, noch etwas näher auf den Begriff der "Debellatio" einzugehen. Es erscheint wohl begründet, daß, um eine Beendigung des Krieges im Sinne einer "Subjugation" herbeizuführen, eine tatsächliche Situation und eine Absicht Zusammentreffen müssen. Fraglich ist, worauf diese Absicht gerichtet sein muß. Betont wird die Annexion des feindlichen Gebietes als ein wesentliches Charakteristikum einer "Subjugation”. Autoren legten in früheren Zeiten Wert auf die totale Vernichtung der besiegten Feinde. Es scheint, als ob das Merkmal der Annexion des feindlichen Gebietes sich vor allem auf den Nachweis der Intention der Auslöschung des besiegten Feindstaates bezieht, denn als separate wirkliche 141 Ph.C. Jessup, Memorandum v. Juni 1944, Abs. Nr. 10-12; ebd. 266 Bedingung. Sicher kann es keinen klareren Beweis für die Absicht zur Vernichtung des feindlichen Staates geben, als ihn zu annektieren und ihn dem Staatskörper des Siegers einzuverleiben. Internationale Juristen, die diese Situation analysiert haben, scheinen trotzdem als letztes Erfordernis daran zu denken, daß der Sieger die eindeutige Absicht haben muß, so zu handeln, daß ein Wiederausbruch der Feindseligkeiten unmöglich gemacht wird. Eine "Subjugation" unterscheidet sich von einer kriegerischen Besetzung dadurch, daß das grundlegende Charakteristikum der letzteren die Widerruflichkeit oder Unsicherheit der Situation ist. Strupp verlangt deshalb den Nachweis des Willens (animus) des Siegers, seinen Gegner ganz und gar zu vernichten, bevor er eine "Subjugation" annimmt. In der römischen Praxis war "deditio" oder "bedingungslose Kapitulation" eine von "Conquest" und Aneignung von Territorium zu trennende Kategorie. Das hier in der Diskussion stehende Problem ist die Beendigung des Krieges, nicht die Fehlerfreiheit eines Titels (Souveränität), der durch "Conquest" plus Annexion oder "Subjugation" erlangt wurde. Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Tatbestandsmerkmale einer "subjugation", die eine Beendigung des Krieges bringen sollen, verbunden werden müssen mit Fragen der Rechtsnachfolge in Territorien, um adäquat die Frage der Kriegsbeendigung zu handhaben. Angesichts einer traurigen Fülle historischer Präzedenzfälle, in denen die Sieger nur zu begierig danach trachteten, sich den besiegten Staat einzuverleiben oder ihn aufzuteilen, fühlten Autoren des Völkerrechts sich nicht generell veranlaßt, sich mit einer Lage zu befassen, in der der Sieger die Klugheit besaß, mit einem hilflosen Feind richtig zu verkehren, der bedingungslos kapituliert hatte. Demnach ist das Willens-Element bei einer "bedingungslosen Kapitulation", um eine Kriegsbeendigung zu gewährleisten, in der eindeutigen Absicht des Siegers zu sehen, von diesem Moment an nicht weiterzumachen als ein Kriegführender, der 267 sich vorbereitet, einen Friedensvertrag zu schließen, sondern als einer, der aufgrund der Wirkung der Kapitulation das Recht besitzt, über den Besiegten zu verfügen wie er es wünscht, ohne Bezug auf die Rechte und Befugnisse, die dem Status des Kriegführenden innewohnen. Die Ablehnung des Siegers, sein Recht zur Annexion des Gebietes des besiegten Staates auszuüben, mag es zwar schwieriger machen zu entscheiden, ob der Krieg wirklich zu Ende ist, aber es verursacht kein absolutes rechtliches Hindernis. Es kann Vorkommen, daß die Bestimmung über den Tag des Kriegsendes nicht vorgenommen wird, bevor einige Zeit nach der Kapitulation vergangen ist. In diesem Fall ist aus dem Verhalten des Siegers auf seine Intention zu schließen: Hält er sich weiter an die HLKO, behandelt er die kapitulierenden Armeen als Kriegsgefangene, und trifft er Vorbereitungen für den Friedensvertrag, kann das ein Hinweis darauf sein, daß er keine Absicht hatte, den Krieg zu beenden. Einiges kann man auch ableiten aus der Form oder den Bestimmungen der KapitulationsUrkunde. Ist sie abgefaßt in der Ausdrucksweise eines Vertrages, besonders eines Vollzugs-Vertrages, ist das ein Beweis für die Anerkennung des Feindes als Macht mit der Fähigkeit, Verträge zu schließen, und legt die Analogie zu einem Waffenstillstand nahe, der ein Vorspiel für einen Friedensvertrag ist. Es ist klar, daß es eine Kapitulation geben kann, die weder in einer "Debellatio" noch in einer Beendigung des Krieges resultiert. Keine Schwierigkeiten bei der Sicherung des Resultats bringt es mit sich, wenn die "bedingungslose Kapitulation" den Krieg nicht beenden würde. Schwierig ist es eher in dem umgekehrten Fall, in dem man die erforderliche Absicht zu zeigen wünscht, ohne aber soweit zu gehen, Deutschland als Staat zu vernichten. Der einfachste und klarste Weg wäre eine Erklärung zum Zeitpunkt des Erhalts der "bedingungslosen Kapitulation", daß der Kriegszustand fortbesteht. Ist dies die Absicht, könnte noch hinzugefügt werden, die Alliierten würden bis zu ihrer einseitigen Entscheidung hinsichtlich der Zukunft Deutschlands anfangen mit einer vollständigen kriegerischen Besetzung des deutschen Territoriums. Es liegt somit in der Macht der siegreichen Staaten, ob eine "bedingungslose Kapitulation" in einer Beendigung des Krieges resultiert oder nicht. Was bleibt, ist eine politische Frage, welches Ergebnis man herbeiführen will142. Professor Jessup hatte damit den völkerrechtlichen Rahmen abgesteckt, in dem die Alliierten ihre Gestaltungswünsche entfalten konnten. Erst die Rückblende in die Praxis der Römerzeit erlaubte ihm auch den Zugang zu dem Begriff "bedingungslose Kapitulation". Sie war für ihn ein dritter Weg, mit dessen Hilfe die sonst nur mögliche Alternative von "Conquest" und "Debellatio" umgangen werden konnte. Inhaltlich würde sie eine Übertragung der Rechte des Unterzeichnenden auf die Sieger zum Gegenstand haben, selbst wenn das im Wortlaut der Urkunde nicht deutlich gesagt werde. Diese Absicht deckte sich insoweit auch mit dem Urkundenentwurf der EAC, der ja auch die Übertragung entsprechender Rechte von dessen Inhaber auf die Sieger vorsah, ausgedrückt in dem Begriff "supreme authority". Eine entsprechende Mitwirkungshandlung von seiten einer deutschen Regierung oder des Oberkommandos der Wehrmacht war dafür aber zwingend erforderlich. Als einseitige Gestaltungsmöglichkeiten hatten die Alliierten nur die Wahl zwischen dem Festhalten an dem durch die vollständige militärische Niederlage herbeigeführten Zustand der "Conquest", mit der Bindung an das Besatzungsvölkerrecht, und der Zerschlagung des deutschen Staates durch eine dahingehende Willensäußerung. 142 Es folgt nun noch eine kurze Auflistung möglicher rechtlicher Folgen bei den einzelnen Entscheidungen, Ph.C. Jessup, Memorandum v. Juni 1944, Abs. Nr. 13-23, ebd. 269 V.3. Chanlers Kritik am EAC-Kapitulations-Dokument Mit dem EAC-Entwurf zur "bedingungslosen Kapitulation" war Chanler in weiten Teilen nicht einverstanden. Er störte sich vor allem an der Sprache, die nach seinem Empfinden der Kapitulation einen vertraglichen Charakter verleihen würde. Die Kritik Chanlers galt unter anderem der Fassung des Artikels 13, in dem stand, daß die Kapitulations-Urkunde ("instrument") unmittelbar nach der Unterzeichnung in Kraft trete. Er schlug vor, statt von der "Urkunde" ("instrument") davon zu sprechen, daß die "Anordnungen" ("instructions") nach der Unterzeichnung wirksam würden143. Chanler erklärte dazu: "The objection to the language is that it permits the Germans later to claim that they only surrendered on the basis of these 'terms' (i.e., 'conditions') and that we are therefore limited to the powers reserved in the instrument itself. While these powers may be very broad, it nevertheless opens the door to argument and no doubt the Germans will be able to claim that in various respects we had violated the 'terms' of the 'Armistice' as they did after the last war. All this is removed if the 'contractual' features of the document are eliminated."144 Einen weiteren Kritikpunkt bildete die Festlegung in Artikel 1, Deutschland stelle die Feindseligkeiten überall ein, und die deutsche Regierung sowie das deutsche Oberkommando würden entsprechende Anweisungen an die Streitkräfte erlassen, die sich unter ihrer Kontrolle befänden, die Feindseligkeiten zu einem bestimmten, von den Alliierten festzusetzenden Zeitpunkt einzustellen. Dies erinnerte 143 144 270 W.C. Chanler, "Memorandum for General Hilldring", "Subject: Unconditional Surrender Terms for Germany - Latest Draft", 21.06.1944, Abs. Nr. 1-4; RG 165 CAD 014 Germany (7-10-42) Sec. 7 W.C. Chanler, Memorandum v. 21.06.1944, Abs.Nr. 5, ebd. Chanler zu sehr an die diesbezüglichen Bestimmungen des Waffenstillstands von 1918. Der einzige Grund für eine solche Formulierung sei, daß, wie in einem normalen WaffenstillstandsVertrag üblich, beide Seiten eine vorübergehende Suspendierung der Auseinandersetzungen vereinbarten. Die Umstände seien von der Situation am Ende des Zweiten Weltkrieges aber grundverschieden. Die alleinige Bedeutung von "bedingungsloser Kapitulation" sei, daß eine Seite ihre Waffen endgültig ("finally") niederlege und sich der Gnade des Gegners unterwerfe. Die Einstellung der Feindseligkeiten sei nun nicht mehr nur vorübergehend, sondern unwiderruflich. Chanler schlug deshalb vor, die Urkunde so zu verfassen, daß in dem Moment, in dem die Alliierten die "bedingungslose Kapitulation" akzeptierten, die Deutschen allen ihren Kommandeuren im Feld zu befehlen hätten, mit den Kriegshandlungen aufzuhören und sich den ihnen gegenüberstehenden Kommandeuren bedingungslos zu ergeben145. Abschließend ging Chanler noch einmal auf die rechtlichen Folgen einer "bedingungslosen Kapitulation" ein. Sein Fazit: "As a matter of International Law an 'unconditional surrender' can be accomplished with equal legal effect if all military commanders surrender unconditionally to the opposing forces without the necessity of any other document whatever. Accordingly, this procedure .. . would in fact strengthen the United States position, that this is an unconditional surrender and not an armistice agreement. In fact, if this change is made, it matters very little what language is used in the rest of the document."146. Chanler konnte sich mit seinen Vorstellungen von einer "bedingungslosen Kapitulation" im Sommer 1944 jedoch noch kein Gehör verschaffen. Erst die Entwicklung der militärischen Lage in Europa zu Beginn des nächsten Jahres, 145 146 W.C. Chanler, Memorandum v. 21.06.1944, Abs.Nr. 6-10; ebd. W.C. Chanler, Memorandum v. 21.06.1944, Abs.Nr. 11; ebd. 271 die anhaltende Sorge, ob am Ende der Kämpfe wirklich noch eine zur Unterschrift bereite deutsche Regierung vorgefunden würde, und die damit verbundenen Abänderungs- Bemühungen in eine einseitige Erklärung der Alliierten, gaben Chanlers politischen und juristischen Überlegungen ein erneutes Betätigungsfeld. V.4. Britische Überlegungen zur "bedingungslosen Kapitulation" Eine neue Runde intensiver und über mehrere Monate hinweg anhaltender Diskussion völkerrechtlicher Fragen im Hinblick auf die bevorstehende Besetzung Deutschlands wurde Mitte Dezember 1944 eingeläutet. Anlaß war eine Studie des britischen Teils der Kontroll-Kommission für Deutschland, die sich mit der rechtlichen Zulässigkeit der Säuberung deutscher Organisationen von Nationalsozialisten befaßte147. In dieser Studie wurden verschiedene Situationen gedanklich durchgespielt. Die grundlegende Unterscheidung war die zwischen dem Zeitraum vor der in Aussicht genommenen Kapitulation und dem Zeitraum danach. Hinsichtlich des zweiten Zeitraumes wurde zudem die Frage aufgeworfen, wie es sich rechtlich auswirke, wenn die Kapitulations-Urkunde von der deutschen Regierung unterzeichnet oder aber eine einseitige Erklärung der Alliierten mit dem Inhalt der Kapitulationsurkunde erlassen werde, für den Fall, daß eine deutsche Regierung nicht mehr vorhanden oder nicht gewillt sei, die Urkunde zu unterzeichnen. Für die Okkupations-Phase vor der Kapitulation wurde die Anwendbarkeit der HLKO anerkannt. Allerdings nur mit Einschränkungen. Die Entwicklung der Wirtschaftspolitik seit Ende des Ersten Weltkrieges, so war in der Studie zu 147 272 Control Commission for Germany, British Element, "Study on Legal Aspects of Purge of Nazis from German Organisations", v. Brig. Andrew Clark, Chief Legal Division, 16.12.1944, RG 260/OMGUS AGTS/89/2; 44-45/22/1 lesen, habe sich auch auf die HLKO, vor allem Art. 43, ausgewirkt: "The Hague Regulations ... represent a partial codification of rules which had developed under the "laissezfaire" economic system of the nineteenth century. They do not envisage many of the problems which arise in the complex modern industrial state. The characteristics of totalitarian economics and totalitarian warfare were unknown to the framers of the Regulations."148 Die Tendenz seit dem Ersten Weltkrieg sei es gewesen, so glaubte der Verfasser dieser Studie erkannt zu haben, daß die staatliche Kontrolle Uber die private Industrie größer geworden sei, und die öffentliche Meinung neige immer stärker dazu, Tätigkeiten als sozial, national oder staatlich anzusehen, die früher klassische private Tätigkeiten gewesen seien. Der Stellenwert von Finanzund Industrieunternehmen sei in einer modernen Gesellschaft derart wichtig, daß der Okkupant zweifelsfrei ermächtigt sei, Maßnahmen zu ergreifen, die das Funktionieren solcher Unternehmen sicherstellten, um dadurch ernsten Problemen durch Arbeitslosigkeit in dem besetzten Gebiet, einer damit einhergehenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung, aber auch einer möglichen Verknappung lebenswichtiger Güter entgegenzutreten. "These considerations furnish and argument for a broader interpretation of the Hague Regulations, and in particular Article 43."149 Daraus wurde gefolgert, in allen jenen Fällen, in denen deutsche Amtspersonen ("administrative authorities") unter deutschem Recht die Befugnis zur Kontrolle bestimmter deutscher Geschäftsbetriebe zustehe, könnte die Besatzungsmacht diesen Personen befehlen, diese Befugnisse im Interesse von Sicherheit und Ordnung auszuüben. Diese 148 149 Clark-Studie, 16.12.1944, S. 1; ebd. Clark-Studie, 16.12.1944, S. 2; ebd. 273 weite Interpretation von Artikel 43 HLKO unter Hinweis auf die angeblichen Änderungen im wirtschaftspolitischen Bereich erlaube es nun, Nationalsozialisten auch in der Privatwirtschaft aus ihren Ämtern entfernen zu lassen150. Von weit größerem Interesse als die Ausführungen zur VorKapitulations-Phase sind jedoch die Überlegungen zur rechtlichen Lage nach der Kapitulation. Auf noch recht sicherem völkerrechtlichen Parkett bewegte sich die Studie bei der Annahme, die Kapitulations-Urkunde werde von der zuständigen deutschen Regierung ("competent German Government") unterschrieben: "In that case, the rules of international law and in particular the Hague Conventions would apply only in so far as they had not been modified by the terms of the instrument of surrender signed by the German Government."151 Die Bestimmungen des Entwurfs für die bedingungslose Kapitulation seien so weit, daß durch sie alle Beschränkungen, die dem Okkupanten durch die Haager Regeln auferlegt seien, beseitigt würden. Hinsichtlich der daraus resultierenden rechtlichen Stellung der Besatzungsmächte in Deutschland wurde die Argumentation jedoch äußerst gewagt: "The effect of article 12 of the proposed instrument of surrender, if accepted by the German Government, would be to rest in the three Powers the de facto government of Germany while allowing the de jure sovereignty to subsist nominally in the German Government."152 Die Maßnahmen zur Säuberung des deutschen Lebens von nationalsozialistischer Beeinflussung ("... to purge German life of Nazi influence ...") stellten dann rechtlich keine 150 151 152 274 Clark-Studie, 16.12.1944, ebd. Clark-Studie, 16.12.1944, ebd. Clark-Studie, 16.12.1944, ebd. Schwierigkeiten dar, sondern seien bloß eine Sache der Politik und der Zweckmäßigkeit. Eingriffe in die Privatwirtschaft, beim Personal wie auch in die Organisationsstruktur, seien dann zulässig. Noch größere Begründungsschwierigkeiten mußten sich ergeben für den Fall, daß eine deutsche Regierung entweder nicht vorhanden, nicht fähig oder aber nicht willens sein würde, das Kapitulations-Dokument zu unterzeichnen. Würde eine einseitige Erklärung der Siegermächte, in der sie die "supreme authority with respect to Germany including all the powers possessed by the German Government, the High Command and any state, municipal or local government authority" übernehmen würden, auch zu einer Loslösung von den Schranken der HLKO führen? Eine solche Erklärung, so die Studie, laufe auf eine Übernahme der Regierung hinaus, sowohl de facto als auch de jure, und bewirke die Zerstörung Deutschlands als unabhängiger Staat. Tatsächlich handele es sich dann um eine Übernahme der Souveränität. Dies entspreche allerdings nicht der Intention der britischen Regierung: "It is understood, however, that H.M. Government have decided that the Allies will NOT assume sovereignty over Germany and have been advised that the declaration in its proposed form does NOT amount to an assumption of sovereignty. Die Studie kam deshalb für den Fall einer bloßen alliierten Erklärung der bedingungslosen Kapitulation zu dem Ergebnis: "If this contention is correct then the declaration cannot operate to extend the rights and powers of the Allies as occupants and the position remains the same as in the presurrender period."154 153 154 Clark-Studie, 16.12.1944, S. 4; ebd. Clark-Studie, 16.12.1944, ebd. 275 V.5. Washington ohne jegliche völkerrechtliche Konzeption a. Erste amerikanische Reaktionen. Eine erste kurze Reaktion auf diese britischen Überlegungen erfolgte auf amerikanischer Seite bereits am 20. Dezember. Colonel John M. Raymond, Chef der Legal Advice Branch (USGCC, Legal Division) hatte sie ausgearbeitet155. Mit den britischen Ausführungen zur Vor-Kapitulations-Phase erklärte er sich einverstanden. Seine Begründung legte jedoch mehr Wert auf den Gesichtspunkt der Sicherheit. Die Besatzungsmächte seien befugt, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um für die Sicherheit ihrer Truppen zu sorgen und um zu ihrer Unterstützung und Leistungsfähigkeit beizutragen. Unter Hinweis auf die amerikanischen "Rules of Land Warfare" (FM 27-10) führte Raymond aus, die Besatzungsmacht "will naturally alter or of a political nature as privileges and all laws welfare and safety of his suspend all laws well as political which affect the command." Das Funktionieren der Industrie ohne Störung, Sabotage oder Drosselungen sei unentbehrlich, um die Ablenkung der Truppen für die Überwachung dieser Arbeit zu vermeiden. Zur Erreichung dieses Ziels sei deshalb auch die Entfernung von Nationalsozialisten zulässig156. Während er ansonsten der britischen Studie weitgehend zustimmte, meldete Colonel Raymond aber Bedenken an in bezug auf das Ergebnis für den Fall, daß die Kapitulationsurkunde nicht von der deutschen Regierung unterzeichnet werde. Er meinte: "... the mere fact that the Allies may have decided not to assume sovereignty of Germany would not, in the case of conquest, alter their right to assume 155 Col. John M. Raymond, USGCC, Legal Division, Legal Advice Branch, an Director, Legal Division. "Subject: Comments on Opinion of Brig. Clark with respect to Legal Aspects of Purge Of Nazis", 20.12.1944, RG 260/OMGUS 44-45/22/1; AGTS/89/2; POLAD/826/34 156 Raymond-Memorandum, 20.12.1944, Abs. Nr. 1; ebd. 276 such attributes of sovereignty as they might desire." Für die Beantwortung der damit verbundenen politischen und rechtlichen Fragen benötige man aber weitere Informationen157. Um eine Klärung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der nach dem Inhaber der Souveränität im besetzten Deutschland, auf höherer Ebene vornehmen zu lassen, wandte sich die Legal Division am 23. Dezember 1944 an den Direktor der Political Division, Robert Murphy158. Dieser sollte die Angelegenheit in Washington zur Sprache bringen. Unmittelbar nach den Weihnachtsfeiertagen, am 27. Dezember 1944, schickte Murphy von London aus einen Brief an den Außenminister in Washington, in dem er die Problematik noch einmal umriß159. Im Anhang zu diesem Brief befanden sich die seit Mitte Dezember entstandenen Studien der Briten und Amerikaner. Murphy hoffte, das Außenministerium habe sich bereits mit diesen Dingen befaßt. Er wäre dankbar, ließ er den Außenminister wissen, wenn man ihn über die Ergebnisse informieren würde. Aber auch in London blieb man in der Folgezeit nicht untätig. Ab Mitte Januar 1945 tauschten die Legal Division, die Political Division und das Büro des Acting Deputy der US- Gruppe im Kontrollrat mehrere Denkschriften aus160. Grundlage für die Diskussion bildete das Jessup-Memorandum vom Juni 1944, das im Januar 1945 von der Civil Affairs Division über SHAEF auch bis zur USGCC nach London gelangt war, dort vervielfältigt und verbreitet wurde. Die in Professor 157 158 159 160 Raymond-Memorandum, 20.12.1944, Abs. Nr. 2; ebd. Lt. Col. John. B. Marsh, Acting Director, Legal Division, an Director Political Division, 23.12.1944, RG 260/OMGUS 4445/22/1; AGTS/89/2; POLAD/826/34 R. Murphy an Secr. of State, "Subject: Legal Status of the Allied Occupation of Germany", 27.12.1944; RG 260/OMGUS AGTS/89/2; POLAD/826/34 Vgl. das Schreiben R. Murphys an den US-Außenminister vom 29.01.1945, "Subject: Legal Status of Allied Occupation of Germany" und die in Anlage beigefügten und durchnummerierten Memoranden, RG 260/OMGUS POLAD/732/26. 277 Jessups Denkschrift zum Schluß aufgeworfenen Fragen161 mußten als noch nicht entschieden angesehen werden, stellte der Direktor der Legal Division USGCC, Colonel John B. Marsh, in seinem Memorandum vom 20. Januar 1945 fest162. Eine klare und eindeutige Antwort auf die völkerrechtlichen Fragen traute er sich angesichts der unsicheren politischen Entscheidungslage in Washington zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu: "It seems important ... to be aware that the supreme authority to be asserted on behalf of the Allied Governments after the surrender or defeat of Germany must be construed, and limited in its exercise, to conform to the legal status of the occupation and that this has not as yet been determined by our government. Until such determination the question as to whether the occupying powers will have authority greater than a 'military occupant' under international law ... 163 cannot be answered." Bis zu einer verbindlichen Klarstellung von höherer Stelle wollten andere jedoch nicht warten. Die Vorstellung, Besatzungspolitik in Deutschland ohne Rücksicht auf rechtliche Schranken, und somit willkürlich, ausüben zu können, erschien zu verlockend. Warum sollte man sich da noch Gedanken über juristische Feinheiten machen? Ihren Ausdruck fand diese Haltung in einem Memorandum vom 22. Januar, das von Oberstleutnant Henry Carter erstellt wurde164. Nach seiner Meinung sollte allein schon die vorgesehene und geplante faktische Machtausübung der Besatzungsmächte in Deutschland, im Zusammenhang mit der "bedingungslosen Kapitulation" (wobei er dieser jedoch keine eigenständige Bedeutung beimaß), Zustände schaffen, von denen er voraus 161 162 163 164 278 Vgl. oben 2. Teil, V.2. Col. John B. Marsh, Director, Legal Division, USGCC; "Subject: Legal Status of Occupation", 20.01.1945, RG 260/OMGUS POLAD/732/26 - Memorandum No. 1 Marsh-Memorandum, 20.1.1945, Abs. Nr. 4; ebd. Lt. Col. Henry Carter an Gen. Milburn, 22.01.45, "Subject: Legal Status of Occupation", RG 260/OMGUS POLAD/732/26 schauend behauptete, "it would seem to me that there will be a prima facie case of 'debellation'."165 Auf jeden Fall aber sollten die Planungsstäbe bei ihren Überlegungen schon einmal davon ausgehen, in Deutschland alle Freiheiten zu haben, ohne daß die Frage, wie dies rechtstechnisch zu erreichen sei, auch nur im Ansatz geklärt gewesen wäre. Henry Carter meinte in seinem Memorandum dazu: "As a matter of planning it would appear preferable to proceed on the basis of unlimited authority to impose our will, rather than upon the limited basis accorded a mere occupant - otherwise we shall find our policies restricted by such provisions as the Hague Regulations ..."166 Solche Beschränkungen mußten aber nach fast einhelliger amerikanischer Ansicht vermieden werden. Deshalb unterstützte auch die Political Division den Vorschlag Carters, zumindest für Planungszwecke ("for planning purposes") davon auszugehen, daß man in Deutschland "unlimited authority" haben werde167. Ansonsten wollten aber Murphy und seine Mitarbeiter in der Political Division den in Washington oder eventuell in der EAC zu fällenden Entscheidungen nicht vorgreifen. Obwohl sie sich damit selbst eine gewisse Zurückhaltung auferlegte, konnte es sich aber auch die Political Division in ihrem Memorandum vom 24. Januar 1945 nicht versagen, abschließend doch noch die mit der "bedingungslosen Kapitulation" verbundenen eigenen Erwartungen zu artikulieren: "However, it is to be noted that it is the understanding of the Division that unconditional surrender contemplates the waiver by Germany of all of her 165 166 167 Carter-Memorandum, 22.1.1945, Abs. Nr. 3; ebd. Carter-Memorandum, 22.1.1945, Abs. Nr. 4; ebd. Political Division an Gen. Milburn, "Subject: Legal Status of Occupation", 24.01.1945; RG 260/OMGUS POLAD/732/26 279 rights under international treaties, conventions, protocols, or agreements and in the absence of the acceptance of such terms through the actual occupation of Germany by the Allied Powers, the same de facto situation would prevail."168 Diese Einschätzung der aus der bedingungslosen Kapitulation sich ergebenden völkerrechtlichen Lage, ohne auch nur ein Wort zu den damit verbundenen rechtstechnischen Problemen gesagt zu haben, teilte Botschafter Murphy am 25. Januar 1945 in einem Telegramm über die amerikanische Botschaft in London auch dem amerikanischen Außenministerium mit169, US- GCC mache weiter "on the assumption of unlimited authority (free?) of all international rights as well as sovereignty through the waiver by Germany under unconditional surrender, in planning administrative measures for Germany."170 War die rechtliche Lage für den Fall, daß sich eine deutsche Regierung bereitfinden würde, das Kapitulationsdokument zu zeichnen, noch recht einfach und klar, so ergaben sich doch scheinbar unlösbare Schwierigkeiten für den Fall, daß es, aus welchen Gründen auch immer, nicht zu einer vertraglichen Übertragung der gewünschten Rechte und Befugnisse kommen würde. Vor allem für die letzte Konstellation wünschte Murphy sich klärende Hinweise aus dem State Department. b. Völkerrechtliche Stellungnahme des US-Außenministeriums . Bereits am 3. Februar 1945 hatte das Außenministerium ein Antwortschreiben an Murphy fertiggestellt. Die darin enthaltenen Feststellungen waren eindeutig und rechtlich konsequent. Für die politischen Planungsstellen aber, die sich schon längst darauf eingestellt hatten, in einem rechtlichen Vakuum in Deutschland Politik nach eigenem Gutdünken und ohne Rücksicht auf rechtliche Restriktionen betreiben 168 169 170 280 Political Division an Gen. Milburn, 24.01.1945, ebd. American Embassy, London, an Secretary of State, 25.01.1945, RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat American Embassy, 25.1.1945, ebd. zu können, war die Rechtsauffassung des Außenministeriums ein Schuß vor den Bug. Es wurde zwar in diesem Entwurf dem Okkupanten zugestanden, er könne auch dann vollständige Autorität über Deutschland und innerhalb Deutschlands beanspruchen ("occupying powers can ... assume full authority over and within Germany"), wenn es aufgrund des Nichtmehrvorhandenseins einer zuständigen deutschen Persönlichkeit ("competent German authority") nicht zu einer Unterzeichnung des Kapitulations-Dokumentes komme171. Diese Autorität war aber lediglich die eines militärischen Besetzers, was auch im weiteren Wortlaut des Entwurfes deutlich wurde: "The authority of the military occupant is supreme for all purposes necessary for his safety and the attainment of his legitimate objectives. The exercise of such authority does not have the effect of changing the sovereignty of the country, but during the time of such occupation the local sovereign is deprived of the power to exercise rights as such sovereign. The relinquishment of power to the occupant and the act of depriving the local sovereign of power result directly from the action of the occupying power in obtaining actual control of the occupied territory." Keine Aussage fand sich zu dem Hinweis Murphys, im Falle der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde durch die zuständige deutsche Autorität gehe man davon aus, in Deutschland die Souveränität zu übernehmen. Das Außenministerium wußte offensichtlich selbst nicht, und hatte sich bis dahin wohl auch noch keine Gedanken darüber gemacht, welche rechtlichen Folgen mit einer vertraglich vereinbarten Kapitulation verbunden sein würden. Sollte sich aber keine für die Unterzeichnung zuständige deutsche Stelle finden, insbesondere keine Regierung mehr vorhanden oder nicht gewillt sein, die Unterschrift unter dieses Ermächtigungsdokument der Alliierten zu setzen, dann war 171 172 Entwurf des Schreibens vom 03.02.1945 ohne konkrete Angabe des Verfassers in RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat Entwurf v. 3.2.1945; ebd. 281 die Rechtslage für das Außenministerium klar: Mangels einer wirksamen Übertragung aller der deutschen Regierung zustehenden Rechte wären die Okkupanten an das Völkerrecht gebunden und hätten sich in dessen Grenzen zu bewegen. Dies wäre eine klassische "occupatio bellica". Nur Maßnahmen aus Sicherheitsgründen oder um - völkerrechtlich - zulässige Ziele zu verfolgen, wären ohne Bruch des Völkerrechts möglich. c. Heftiger Protest aus der Civil Affairs Division. Dieses Ergebnis lief allen bisherigen Planungen zuwider. Protest aus anderen Abteilungen konnte nicht ausbleiben, war vielmehr nur eine Frage der Zeit. Schon am 6. Februar reagierte Colonel William Chanler in der Civil Affairs Division im Pentagon. Mit Bestürzung kommentierte er in einem Memorandum das ihm zugeleitete Schreiben des Außenministeriums an Murphy: "In so far as our legal position in the event that the instrument (der bedingungslosen Kapitulation, d. Verf.) is not signed is concerned, you will note that all they are saying is that we will be in the position of a military occupant in time of war - that is to say, subject to all of the conventions ..."173 Das aber war für Chanler völlig undenkbar. Eine Selbstbeschränkung bei Planung und späterer Durchführung der besatzungspolitischen Maßnahmen konnte und wollte er nicht akzeptieren. Das Völkerrecht hatte vielmehr zu weichen, mit oder ohne Unterzeichneter Kapitulation. Aufgabe der mit völkerrechtlichen Fragen befaßten Planer sollte es nun sein, eine "saubere" Begründung für dieses gewagte Unterfangen zu liefern. Chanler wurde für die folgenden sechs Monate zum Motor, aber auch mit seinen eigenen völkerrechtlichen Vorstellungen zum Dreh und Angelpunkt dieser "Begründungs-Suche" in der CAD und auch darüber hinaus. 173 282 W.C. Chanler, "Memorandum for Colonel Cutter", 06.02.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat V.6. Völkerrechtlicher Disput innerhalb der Civil Affairs Division Nachdem die ersten Überlegungen zu dem "Wie" der Beseitigung des Völkerrechts (das "Ob" stand eigentlich nie ernsthaft zur Debatte) bereits im Februar (Memorandum Chanlers)174 und Juni 1944 (Memorandum Jessups)175 zu Papier gebracht worden waren, hatte es bis Ende 1944 dabei sein Bewenden gehabt. Erst im Januar 1945 wurde die Frage in der CAD erneut aktuell. Grundlage des neuerlichen Gedankenaustausches bildeten immer noch die beiden Denkschriften von 1944. Das britische Memorandum vom 16. Dezember 1944 hatte bis dahin die CAD noch nicht erreicht. a. Memorandum von Mark D. Howe vom 8. Januar 1945. Kritik an der Annahme Chanlers in seinem Februar-Memorandum, "bedingungslose Kapitulation" bedeute die Zerstörung des deutschen Staates "as a legal unity", äußerte am 8. Januar 1945 Mark D. Howe, Oberstleutnant in der CAD176. Seine Untersuchung der Thesen Chanlers geschah im Hinblick auf die möglichen politischen Vorund Nachteile, die die Zerstörung des deutschen Staates haben würde. Zu rechtstechnischen Fragen, wie insbesondere der, ob "bedingungslose Kapitulation" wirklich die von Chanler angenommene Rechtsfolge nach sich ziehen würde, äußerte er sich nicht. Schon allein aus politischen Gründen riet er Chanler von dessen These ab: " By terminating the war, by giving us authority to destroy the German State, and annex all of her territories your theory creates problems which are, in my mind, so serious that they outweigh the advantages which the theory unquestionably possesses."177 174 175 176 177 Vgl. 2. Teil, V.l. Vgl. 2. Teil, V.2. M.D. Howe, "Memorandum for the Deputy Director, Civil Affairs Division", "Subject: Consequences of Unconditional Surrender", 08.01.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat Howe-Memorandum, 8.1.1945, Abs. Nr. 5; ebd. 283 Der große Vorteil der Theorie sei zweifellos, daß die Alliierten dadurch unbegrenzte Befugnis über Deutschland ("unlimited authority over Germany") erhielten, und sich ihre Rechte auch auf die Annektierung, Teilung und die vollständige Unterwerfung des (deutschen) Volkes ("complete subjugation of the people") erstrecke. Dann werde aber eine Erklärung notwendig, in der die Alliierten deutlich zu machen hätten, in welchem Ausmaß sie ihre Befugnisse ausüben wollten. Howe nahm an, die vollständige Annektierung Deutschlands sei "out of the question" und eine vollständige Teilung sei nicht erwünscht. Eine Erklärung über das Fortbestehen des Staates sei dann unentbehrlich, ebenso wie dazu, ob die Alliierten gemeinsam oder auch nur einer von ihnen Souveränität beanspruchten über das ganze oder einen Teil des besetzten Gebietes. Solche Fragen könnten nicht lange unentschieden bleiben, zumal wenn das Durcheinander einer dreigeteilten Kontrolle noch überlagert werde von den Unklarheiten des Völkerrechts. Zur Anwendbarkeit des Haager Abkommens meinte Howe, es erscheine ihm ... "... that if we publicly announce, as I believe we must, that we are not annexing German territory, that we do not claim sovereignty, and that we still recognize the existence of the German State a strong argument can be made that the general standards of the convention are as binding upon us as they would be if the war continued into the post-surrender period."178 Nach Howes Ansicht bedeutete "bedingungslose Kapitulation" das Anheben eines im wesentlichen militärischen Problems auf die Regierungsebene, wo dieses Problem aber nicht hingehöre. Denn erst dadurch entständen die großen Schwierigkeiten für die Militärregierung in Deutschland. Howe sprach sich deshalb für eine rein militärische Kapitulation aus. Bedingungslose Kapitulation sei dann die Anerkennung von seiten des deutschen Oberkommandos der Wehrmacht gegenüber 178 284 Howe-Memorandum, 8.1.1945, Abs. Nr. 4; ebd. der höchsten militärischen Autorität der Vereinten Nationen, daß die deutschen Streitkräfte entscheidend geschlagen ("conclusively defeated") seien. "If we destroy the resistance of German armed forces by the capitulation of those forces we are in a position to assert as much authority over the German government, the German State, and the German people as we may choose to exercise ... An effective victory over the armed forces of Germany, acknowledged by them to be complete and final, will in fact give the commanders of our forces all the power which they need to conduct a forceful military government of Germany."179 Dies mochte von einem reinen machtpolitischen Standpunkt aus durchaus zutreffend sein. Welche machtpolitischen Möglichkeiten konnte ein Volk, dessen Armeen gerade kapituliert hatten, den siegreichen Mächten gegenüber schon haben? Völkerrechtsverstöße durch die Alliierten wurden von Howe somit bewußt in Kauf genommen. Entscheidend war nicht, daß man das Völkerrecht laufend verletzen würde, sondern zu verhindern, daß irgendwer durch seine Auslegung des Völkerrechts die alliierten Bemühungen behindere: "Through that government they (die Alliierten, d. Verf.) will be able to achieve the essential political objectives of the United Nations, if we do not permit a narrow interpretation of International Law to hamper them."180 b. Memorandum von William Chanler vom 13. Januar 1945. Am 13. Januar 1945 nahm auch William Chanler seine Überlegungen vom Februar 1944 wieder auf, um sie fortzuentwickeln. In seinem Memorandum fragte er nach den rechtlichen Konsequenzen, die eine "bedingungslose Kapitulation" habe181. Dabei unterschied Chanler zunächst drei Möglichkeiten der Beendigung der Feindseligkeiten: 179 180 181 Howe-Memorandum, 8.1.1945, Abs. Nr. 6, 7; ebd. Howe-Memorandum, 8.1.1945, Abs. Nr. 7; ebd. Col. W. Chanler, Memorandum, "Subject: Legal Consequences of Unconditional Surrender", 13.01.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany Surrender or Defeat 285 - Eine rein tatsächliche Einstellung der Feindseligkeiten auf beiden Seiten ohne Waffenstillstands- oder Friedensvertrag. In diesem Fall sei der Krieg erst dann beendet, wenn später die normalen Beziehungen zwischen den früheren Kriegführenden wiederaufgenommen würden. Das herkömmliche Verfahren eines Waffenstillstandes, aufgrund dessen die Feindseligkeiten eingestellt würden. - Das völlige Kriegführenden Besiegen durch oder den Erobern anderen, ("conquest") gefolgt von des einen Maßnahmen hinsichtlich des zukünftigen Schicksals der eroberten Nation, wie sie der Eroberer festlege.182 Unter welche dieser Kategorien war aber nun eine "bedingungslose Kapitulation" einzuordnen? Chanler, wie vor ihm auch schon Philip Jessup, tendierte dahin, sie als gleichbedeutend zu Eroberung ("conquest") anzusehen: "That ist to say, one party continues to fight until the other gives up and throws itself upon the mercy of the conqueror." Anschließend habe der Eroberer mehrere Handlungsalternativen: Die erste sei, mit der besiegten Nation ("vanquished na- tion") einen Waffenstillstand abzuschließen. Unter den dann gegebenen Umständen könnte der Sieger alle Bedingungen diktieren, deren Annahme er sich wünsche. Die Beziehungen zwischen Sieger und Besiegtem seien dann vertraglicher Art und basierten auf den Bestimmungen des aufgezwungenen Waffenstillstands. Ein solches Verfahren entsprach in etwa dem, was die Briten sich vorstellten. Die Amerikaner hatten sich solchen Planungen aber von Anfang an widersetzt. Die Gründe waren zum einen die Sorge vor dem, wie Chanler es ausdrückte, "unumgänglichen Gezänk" ("inevitable bickering") über die Auslegung eines solchen Vertrages und das Ausmaß der dadurch verliehenen Machtbefugnisse. Die in Italien gemachten Erfahrungen wirkten abschreckend. Aber auch die Vorgänge nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 182 Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 1; ebd. 286 waren in amerikanischen Köpfen noch immer präsent. Chanlers zweiter Einwand gegen einen Waffenstillstand war außerdem, daß dadurch aus einer "bedingungslosen Kapitulation" ein "Waffenstillstand unter Bedingungen" ("conditional armistice") werde. Angenommen, den Deutschen werde erlaubt, das Dokument vor der Unterzeichnung zu lesen, dann seien die Deutschen später in der Lage, jede der enthaltenen Bestimmungen in einer Weise auszulegen, die ihnen am vorteilhaftesten sei und zu erklären, daß, hätten sie von der ihnen nun aufgezwungenen unterschiedlichen Auslegung gewußt, sie das Dokument niemals unterzeichnet hätten. Ein solches Verfahren versetze sie dann in die gleiche Situation wie 1918, "they could claim that whatever action was taken was in violation of the terms of surrender. This is particularly true in the event of partition. The present instrument is designedly evasive on this point ..."183 Die zweite Handlungsalternative sah Chanler darin, die deutsche Regierung zur Unterzeichnung der "bedingungslosen Kapitulation", unter Anerkennung der vollständigen und endgültigen Niederlage, zu zwingen. Ein solches Vorgehen, wie es die EAC-Urkunde vorsah, statte die Alliierten mit allen Machtbefugnissen über Deutschland aus. Fraglich waren jedoch die daraus für den deutschen Staat resultierenden rechtlichen Folgen. Schon Jessup hatte in seinem Juni- Memorandum von 1944 auf die Möglichkeit verwiesen, daß man in einer solchen Vorgehensweise durchaus die Zerstörung des deutschen Staates als Rechtssubjekt sehen könnte184. Chanler teilte diese Ansicht, machte aber in seinem Memorandum vom 13. Januar politische Bedenken gegen dieses Ergebnis geltend. Während üblicherweise mit der bloßen Einstellung der Feindseligkeiten der Kriegszustand selbst noch nicht endet, mußte die Zerschlagung des deutschen Staates aber zwangsläufig auch das Ende des Kriegszustandes 183 184 Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 3; ebd. Vgl. oben 2. Teil, V.2. 287 bedeuten. Die sich daraus ergebenden Folgen erschienen Chanler als zu schwerwiegend, als daß man sie als "Preis" für die Nichtmehr-Existenz des deutschen Staates hätte hinnehmen können. "This would involve serious consequences: the termination of the state of war might require the repatriation of prisoners, would affect our position in regard to neutrals, and, under American constitutional law, might, at least in so far as the European theater is concerned, terminate the President's war powers."185 Aufgrund der möglichen nachteiligen Folgen mußte für Chanler auch dieses "Modell" einer "bedingungslosen Kapitulation", das zu diesem Zeitpunkt aber noch voll und ganz der alliierten Beschlußlage in Form der EAC-Urkunde vom 25. Juli 1944 entsprach, aus den weiteren Planungen ausschei- den. Als dritte und letzte Gestaltungsmöglichkeit der "bedingungslosen Kapitulation" blieb für Chanler die wenige Tage zuvor von Mark D. Howe vorgeschlagene rein militärische Kapitulation aller deutschen Luft-, See- und Landstreitkräfte übrig. Anders als Howe machte sich Chanler nun auch Gedanken über die rechtlichen Konsequenzen einer bedingungslosen militärischen Kapitulation: "Its legal effect would be no different than if the Allies fought until every member of the German armed forces was either killed or captured." Dies würde bedeuten: Eroberung ("conquest"). Auf dieser Grundlage der "Conquest" hätten die Eroberer dann verschiedene Möglichkeiten der Gestaltung ihrer Besatzungsherrschaft im besetzten Deutschland: zum einen, am weitreichendsten, die Herbeiführung einer "Debellatio" durch Annektierung oder Teilung Deutschlands und damit zwangsläufig verbundener Vernichtung des deutschen Staates, zum anderen aber auch kleinere Schritte zu unternehmen, wie der Abschluß eines Waffenstillstandsvertrages mit einer deutschen Regierung, 185 Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 5; ebd. 288 oder die völlige Besetzung Deutschlands ohne irgendeine formale Vereinbarung, beschränkt auf die Rechte, die einem Okkupanten auf besetztem feindlichen Gebiet in Kriegszeiten zustehen. Dieser letzte Heg erschien Chanler in seinem Memorandum als der empfehlenswerteste, erlaubte er doch, bis zu einer endgültigen Entscheidung der Siegermächte über die Behandlung Deutschlands alles in der Schwebe zu halten. Nur ein Umstand bereitete Chanler noch Kopfzerbrechen: Bei einer solchen Entwicklung befinde man sich aber voraussichtlich, so Chanler, bis zum Abschluß eines Friedensvertrages oder eines anderen formal endgültigen Frieden noch im Kriegszustand, die Alliierten seien dann auch weiterhin, für die Zeit nach einer solchen militärischen Kapitulation, in ihrer Behandlung Deutschlands und der Deutschen durch die Haager und Genfer Konventionen eingeschränkt186. Es galt nun für Chanler, eine Argumentation zu finden, die die amerikanische Planung aus diesem Dilemma herausbringen würde. Vor derselben Hürde befand sich zur selben Zeit auch das amerikanische Außenministerium, das eine Antwort für Botschafter Murphy zu formulieren hatte, dem es jedoch nicht gelang, die Notwendigkeit der Beachtung der Haager Landkriegsordnung argumentativ zu entkräften, wie das Antwortschreiben an Murphy zeigte187. Als ungleich einfallsreicher erwies sich da schon William Chanler in der Abteilung für Zivilangelegenheiten (CAD) des Kriegsministeriums. In seinem Memorandum vom 13. Januar 1945 führte er aus: "So far as the provisions of the Hague Convention restrict the power of an occupant in time of war to change the form of government, or the laws of the occupied country are concerned, it would seem that these provisions could be disregarded on the ground that the 186 Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 5 f.; ebd. 187 Vgl. 2. Teil, V.5.b. 289 Germans having engaged in an unlawful war in violation of its treaty obligations, both under the Kellogg Pact and under the various nonaggression Pacts with Czechoslovakia, Poland, Russia, etc., had forfeited its position as lawful belligerent and therefore was not entitled to the benefits of protection under the Hague 188 Convention." Darüber hinaus bot er auch noch einen zweiten Begründungsversuch an, den er selbst als "sound legal argument" bezeichnete: Nach "Conquest", aber vor der eigentlichen "Subjugation", seien die Vorschriften der Haager Konvention schon allein deshalb nicht anwendbar, da die ihr zugrundeliegende Idee im besetzten Gebiet nicht mehr gegeben sei: Grundlage der HLKO sei der Gedanke, daß die Besetzung, während der Krieg fortgesetzt werde, lediglich vorübergehend und mit ungewissem Ausgang sei. Die meisten HLKOVorschriften seien entworfen worden, um zu verhindern, daß ein solcher vorübergehender Besetzer Maßnahmen ergreife, die das Land auf Dauer beeinträchtigten. Sei aber erst einmal "Conquest" eingetreten, fänden diese Gesichtspunkte keine Anwendbarkeit mehr. Anhand dieser Überlegungen kam Chanler zu dem Ergebnis, die Alliierten könnten ohne weiteres weitreichende Maßnahmen bei der Behandlung Deutschlands und des deutschen Volkes ergreifen, "without too serious concern regarding the specific provisions of the Hague Convention."189 Etwas anders schätzte Chanler jedoch die Situation hinsichtlich der Anwendung der Genfer Konvention auf die deutschen Kriegsgefangenen ein. Er bezeichnete es als äußerst unklug, die deutschen Kriegsgefangenen nicht nach der Kriegsgefangenenkonvention von 1929 zu behandeln, da dies den Japanern als Verbündeten Deutschlands als Vorwand für Repressalien gegen amerikanische Kriegsgefangene dienen könnte. Weiterhin, so Chanler, sei es auch im eigenen Interesse der Briten und Amerikaner, die Genfer Konvention zu 188 189 290 Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 6; ebd. Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 6 ff.; ebd. befolgen, für den Fall, daß in zukünftigen Kriegen auch die eigenen Soldaten vom Gegner als Kriegsgefangene genommen würden. Andererseits, das wußte auch Chanler, mußte es bei einer solchen Haltung natürlich zu rechtlichen Schwierigkeiten kommen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Vorschlag, deutsche Soldaten und Offiziere als Arbeits-Bataillone zu verwenden, "without giving them the benefit of the Geneva Convention. So far as privates and noncommissioned officers are concerned, the issue arises primarily from the requirements of the Geneva Convention 190 regarding their food and pay." So weit davon deutsche Offiziere betroffen wären, dürften sie keinesfalls zu Arbeitsleistungen herangezogen werden. Dies sollte jedoch nicht gelten für SS-Offiziere und Mitglieder der Junker' military caste", bei denen Chanler sich dafür aussprach, sie als "Anstifter eines illegalen Krieges" ("instigators of an unlawful war") anzuklagen und sie zu Leistungen in Arbeits-Bataillonen zu verurteilen, "either as punishment or in pursuance of a general program to 'demilitarize' Germany". Chanler war der Meinung, eine Entmilitarisierung Deutschlands sei so lange unmöglich, wie entweder die SS-Offiziere oder die "professional German Junkers", von denen er aber nicht sagte, wen er darunter verstand, sich weiter in Freiheit befänden. Von dieser Handhabung versprach er sich die Möglichkeit, sie aus der KriegsgefangenenKlassifizierung herauszunehmen (" ... to take them out of the classification of 'prisoners of war'"). Soweit die Mannschaften betroffen wären, hielt es Chanler für die "beste Lösung", die Kriegsgefangenen aus ihrem völkerrechtlich abgesicherten Status zu "entlassen" ("... to discharge them as prisoners of war ..."), um aus diesen dann Arbeits-Bataillone zu bilden, mit denen man die von 190 Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 8; ebd. 291 deutschen Truppen zerstörten Gegenden wieder aufbauen wollte191. Der Gedanke, daß der Kriegsgefangenen-Status eine völkerrechtliche Stellung darstellt, die nicht zur Disposition des Gewahrsamsstaates steht, scheint Chanler 192 nicht gekommen zu sein192. Chanlers Memorandum vom 13. Januar 1945 war, obwohl sich der Krieg bereits mit großen Schritten seinem Ende näherte, einer der ersten Versuche eines Angehörigen einer der Planungsbehörden der amerikanischen Regierung, konkret: des Kriegsministeriums, die völkerrechtliche Situation im zu besetzenden Deutschland unter Ausnutzung der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation bei Abwägung unterschiedlicher Gestaltungsmöglichkeiten rechtskonstruktiv zu erfassen. Dabei geriet er allerdings in eine Zwickmühle: Die Anwendung des EAC-Ermächtigungsdokumentes vom 25. Juli 1944 bedeutete nach seiner Einschätzung die Zerschlagung des deutschen Staates, der Gebrauch einer rein militärischen Kapitulation hätte die weitere Bindung an die HLKO und Genfer Konvention zur Folge gehabt, das Aufzwingen eines Waffenstillstandsvertrages hätte aus der bedingungslosen Kapitulation einen Waffenstillstand mit bestimmtem, auslegungsfähigem Inhalt gemacht. Keines dieser drei Ergebnisse paßte ins politische Konzept der amerikanischen Planungsgruppen. Jede dieser Folgen wollte man umgehen und dennoch an das Völkerrecht nicht gebunden sein. a. Memorandum von Mark D. Howe vom 13. Januar 1945. Zeitgleich mit William Chanler legte auch Mark D. Howe, fünf Tage nach seiner ersten Denkschrift, ein neues Memorandum vor, in dem er sich wie Chanler mit den möglichen rechtlichen Folgen einer bedingungslosen Kapitulation beschäftigte193. Das EACKapitulations-Dokument spielte auch bei Howes Überlegungen, wie schon bei Chanler, keine zentrale Rolle. Vielmehr stand die Frage im Vordergrund, welche 191 192 193 292 Chanler-Memorandum, 13.1.1945, S. 8 f.; ebd. Vgl. dazu aber die eindeutigen Aussagen des Judge Advocate General, oben, 2. Teil, IV.3.c.-d. Mark D. Howe, Memorandum, "Subject: Legal Consequences of Unconditional Surrender", 13.01.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany Surrender or Defeat staats- und völkerrechtlichen Konsequenzen die bedingungslose Kapitulation möglicherweise auslösen werde, wobei er unter bedingungsloser Kapitulation, ähnlich wie Jessup und Chanler, die vollständige militärische Niederwerfung des Gegners und die Besetzung dessen Territoriums verstand, ohne daß es auf die Unterzeichnung irgendeines entsprechenden Dokumentes von militärischer oder politischer deutscher Seite angekommen wäre. Auch Howe sah sich vor die Frage gestellt, ob diese Situation völkerrechtlich lediglich als "Conquest" oder aber schon als "Subjugation" zu erfassen sei. "Subjugation" und "Debellatio" waren für ihn dabei identische Begriffe, die denselben rechtlichen Zustand, nämlich die Zerstörung des deutschen Staates bedeuteten. Die Antwort lag für Howe vor allem im politischen Wollen der Alliierten begründet, und in deren Bereitschaft, ihre rechtsgestaltenden Möglichkeiten wahrzunehmen: "... it must be remembered that at all times the victors are the masters of the situation. Though they may initially prefer to say that the result of unconditional surrender is mere conquest, the conqueror in occupation has the power and right to turn the conquest into subjugation at any time when that course seems desirable."194 Howe machte sich in seinem Memorandum erneut dafür stark, eine militärische Kapitulation einer auf Regierungsebene vorzuziehen. Er versprach sich davon, etwaige rechtliche Unklarheiten auf ein Minimum zu beschränken. Wie Chanler sah auch Howe die Gefahr, daß eine Kapitulationserklärung der deutschen Regierung rechtlich als "Subjugation" aufgefaßt werden müsste, mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Eine militärische Kapitulation würde demgegenüber lediglich zu "Conquest" führen und den Alliierten die Entscheidung Vorbehalten, durch entsprechende Proklamationen eine "Subjugation" herbeizuführen195. Auch bei der Abwägung der mit "Conquest" oder "Subjugation" verbundenen politi- 194 195 Howe-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 5; ebd. Howe-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 9; ebd. 293 sehen Vor- und Nachteile gelangte Howe zu einer Bevorzugung einer zunächst rein militärischen Niederwerfung des deutschen Gegners. Selbst den "Vorteil", im Fall einer "Subjugation" nicht an die HLKO und an die Genfer Konvention gebunden zu sein, glaubte er aufgrund der vielen weitreichenden Konsequenzen einer "Subjugation", die auch Chanler bereits aufgefallen waren, vernachlässigen zu können. Die aus amerikanischer Sicht sich als "Nachteil" darstellende Bindung an das Völkerrecht bei einer bloßen "Conquest" versuchte auch Howe unter Hinweis auf den Briand-Kellogg-Pakt zu umgehen: "It seems scarcely possible, however, that the Allied authorities will feel that a nation which by waging a war of aggression violated the Kellogg-Pact and became an unlawful belligerent is entitled to be protected against all departures from the provisions of the Hague Rules."196 Wo die Rechtsfolge einer Nichtbindung an die HLKO und andere Völkerrechtssätze in diesem Pakt ausgesprochen worden wäre, wußte allerdings auch Howe nicht zu sagen. Für ihn war allein wichtig, daß dieses vermeintliche Argument es erlaubte, die Ziele der Alliierten rücksichts- und schrankenlos durchzuführen. Die schwierigen Fragen könnten auf keinen Fall gelöst werden, indem man einfach auf das geschriebene Recht verweise. Was das bedeuten würde, machte er an illustrativen Beispielen deutlich: "The problem of whether Germans should be compelled to clear the minefields laid by them in France, the question of whether forced labor in Russia is to be required of Germans - these are matters which must in any case be decided without substantial reliance upon the Hague Rules."197 Dies konnte nur eines bedeuten: Rechtlosigkeit der deutschen Soldaten und Zivilisten, zwischen denen Howe offensichtlich nicht unterschied, und ihre völkerrechtswidrige 196 197 294 Howe-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 11; ebd. Howe-Memorandum, 13.1.1945, ebd. Verwendung (unter anderen wegen Verstoß gegen Artikel 32 GK, gefährliche Arbeiten) im Minenräumdienst und in Zwangsarbeitseinheiten. Eine strikte Befolgung der HLKO war für Howe "most impolitic and inadvisable" und stoße nach seiner Überzeugung bei Russen und Franzosen auf wenig Verständnis198. V. 7. Erörterung der völkerrechtlichen Problematik mit anderen Ministerien Bei der Abwägung zwischen einer "Conquest" und einer "Subjugation" stützte auch eine realpolitische Einschätzung der am Ende der Feindseligkeiten möglicherweise vorzufindenden Lage die Ansicht, es werde sich dabei lediglich um "Con- quest" handeln. Die amerikanischen Planer, ähnlich denen in der EAC, gingen seit der Jahreswende 1944/45 und fortschreitender Kriegsentwicklung mit schon absehbarem Ende zunehmend von der Annahme aus, daß dann womöglich eine deutsche Regierung gar nicht mehr vorhanden sei, folglich auch die Machtbefugnisse, die eigentlich durch die entsprechende schriftliche Erklärung von der deutschen Regierung auf die Alliierten übertragen werden sollten (um dadurch vielleicht sogar eine "Subjugation" herbeizuführen), diesen dann nicht zur Verfügung stehen würden199. a. Memorandum von William Malkin vom 18. Januar 1945. Die erste ausführliche Auseinandersetzung mit den bei einer solchen Konstellation auftauchenden Fragen stammt vom Rechtsberater des britischen Foreign Office, Herbert William Malkin. In seinem Memorandum vom 18. Januar 1945200 198 199 Howe-Memorandum, 13.1.1945, ebd. Vgl. den Entwurf eines Memorandums von Col. W. M. Chanler, "Subject: Legal Consequences of Unconditional Surrender", 15.01.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat, in dem Chanler erneut das Problem anschnitt, daß dann das Völkerrecht in Form der HLKO und der Genfer Konvention weiterhin anwendbar wäre. Anders als in seinem zwei Tage vorher erstellten Memorandum machte er sich diesmal für keine spezifische "Lösung" stark, auch nicht für die über den Briand-Kellogg-Pakt. 200 H.W. Malkin, "Memorandum on the Position if there is no 'Instrument of Surrender'", 18.01.1945; RG 107 ASW 387.4 295 setzte sich Malkin gezielt mit der These seines Landsmannes Andrew Clark vom 16. Dezember 1944201 auseinander, daß die einseitige Erklärung seitens der Alliierten, man übernehme die "supreme authority" mit allen Befugnissen der deutschen Regierung, des Oberkommandos der Wehrmacht und aller anderen staatlichen oder örtlichen Einrichtungen, die Zerstörung des deutschen Staates und die (ungewollte) Übernahme der Souveränität durch die Alliierten bedeute. Wenn man nur die Wahl habe, so Malkin, zwischen Übernahme der Souveränität über Deutschland einerseits oder aber der Bindung an die Rechte, die einem Besetzer unter dem Kriegsvölkerrecht zuständen, andererseits, dann sei die Lage "plainly a very serious one". Denn Souveränität über Deutschland sei nur dadurch zu erreichen, indem man Deutschland annektiere. Das aber bedeute zwangsläufig, daß Deutschland nicht nur aufhöre als unabhängiger Staat zu existieren, sondern daß auf dem ganzen zu Deutschland zählenden Territorium nirgendwo mehr ein unabhängiger Staat bestehe, abgesehen von Österreich, das man als eigenständigen Staat wiederherzustellen gedachte. Malkin stellte dazu fest: "Such a position certainly would not correspondend with the intentions and desires of the Allies. It has never, so far as I knew, been suggested that one result of our victory is to be the disappearance of German independence; partitition is no doubt a possibility, but this would be a partitition into several independent sovereign states."202 Malkins Ansatz für einen eigenen Lösungsversuch bestand darin, das "Entweder - Oder", das zwischen "Conquest" und 201 202 296 Germany - Surrender or Defeat; RG 260/OMGUS AGTS/89/4, POLAD/728/32; RL Ch. Fahy Papers, Box Nr. 65; Ein Überblick über die völkerrechtliche Planung der Briten findet sich in F.S.V. Donnison, Civil Affairs and Military Government: N.W. Europe 1944-46, S. 130 ff. Demnach war das Malkin-Memorandum vom 18. Januar 1945 die Grundlage für die Einschätzung der völkerrechtlichen Lage durch die britische Regierung. Eine Diskussion ähnlich der in Washington scheint es in London nicht gegeben zu haben. Vgl. oben 2. Teil, V.4. Malkin-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 2; ebd. "Debellatio" ("Subjugation") besteht und das jeweils ganz konkrete Rechtsfolgen nach sich zieht, nicht anzuerkennen. Er suchte einen Mittelweg ("halfway house"), der es den Alliierten erlauben sollte, die Vorteile von "Conquest" (keine Zerstörung Deutschlands als selbständiger Staat) und "Debellatio" (keine Bindung an die völkerrechtlichen Besatzungsnormen) zu genießen und gleichzeitig den Nachteilen von "Conquest" (Bindung an das Völkerrecht) und "Debellatio" (Zerstörung des deutschen Staates) aus dem Weg zu gehen; eine "Rosinentheorie" war zu entwerfen, ein besatzungsrechtliches Novum zu schaffen. Während Clark davon ausgegangen war, daß die Alliierten die Souveränität in Deutschland nicht nur ausübten, sondern auch deren Inhaber seien, unterschied Malkin grundsätzlich zwischen Souveränitäts-Inhaberschaft und SouveränitätsAusübung hinsichtlich einzelner oder sogar aller mit der Souveränität verbundener Rechte. Im Regelfall würden solche Rechte selbstverständlich vom Inhaber der Souveränität ausgeübt. Es gebe aber auch bestimmte Fälle, in denen die Souveränität über ein Gebiet bei einem Staat liege, während die aus dieser Souveränität resultierenden Rechte von einem anderen Staat ausgeübt würden203. Auch sei eine solche Konstellation ähnlich dem üblichen Fall einer "occupatio bellica", bei der der Staat, dem das besetzte Gebiet gehöre, an der Ausübung dieser Souveränität gehindert sei, während nach Artikel 43 HLKO "the authority of legitimate power has actually passed into the hands of the occupant". Zur Ausübung dieser Autorität sei aber eine Übernahme der Souveränität nicht notwendig204. Wenn schon die Souveränität, wie auch die Ausübung der Souveränitätsrechte Uber Deutschland, durch einen einseitigen Akt der Annektierung von den Alliierten erworben werden 203 204 Als Beispiele eines solchen Auseinanderfallens der SouveränitätsInhaberschaft und -Ausübung führte Malkin die britische Verwaltung auf Zypern von 1878 bis 1914 an und den Status von Hong Kong, Malkin-Memorandum, Abs. Nr. 3; ebd. Malkin-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 5; ebd. 297 könnte, was auch Clark zugestanden hatte, dann, so meinte Malkin, könne er keinen logischen Grund sehen, "why the latter without the former could not be acquired unilaterally; the greater must surely include the less"205. Dieser auf den ersten Blick so verblüffend einfache und scheinbar einleuchtende Gedanke, das "argumentum a maiore ad minus", daß die Alliierten, wenn sie schon das ganze Deutschland annektieren dürften, erst recht berechtigt seien, geringfügigere Eingriffe vorzunehmen, also unter anderem auch die Souveränität oder einzelne Souveränitätsrechte ohne Rücksicht auf das Völkerrecht ausüben zu können, ging jedoch an der Tatsache vorbei, daß zwischen Souveränitätsübernahme durch Annexion eines Gebietes und Souveränitätsübernahme bzw. bloße Ausübung von Souveränitätsrechten ohne Gebietsanschluß kein Verhältnis des "Mehr-oder-Weniger" besteht, sondern zwischen einer durch die Annektierung herbeigeführten "Subjugation" und einer "occupatio bellica" das Verhältnis des "Entweder- Oder" herrscht. Grundlage der "Rosinentheorie" Malkins war somit eine Verkennung rechtlicher Tatsachen. Diese Theorie erschien den Planern nicht nur im britischen Außenministerium, sondern auch in den amerikanischen Stäben und Abteilungen aufgrund ihrer vordergründigen Plausibilität und der mit ihr verbundenen politischen Zweckerreichung jedoch als vermeintlich so überzeugend, daß ihr in den Köpfen dieser Leute, wie auch in den von diesen verfaßten Memoranden, noch ein langes Leben sicher war. Malkin scheint von seiner Argumentation jedoch selbst nicht besonders angetan gewesen zu sein. Er sah es nämlich als notwendig an, noch eine weitere These in den Raum zu stellen. Die Fähigkeit des Völkerrechts, sich unter veränderten Umständen zu wandeln und weiterzuentwickeln, wurde von Malkin noch zusätzlich ins Feld geführt. Auch im Fall Deutschlands, so glaubte er vorausschauend sagen zu können, werde sich eine Lage ergeben, mit der das Völkerrecht erstmalig zu tun habe: 205 Malkin-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 7; ebd. 298 "A large first-class power has been completely defeated, and its territory overrun. Its government has dissappeared, and there is no prospect of one being established for a very considerable period. If the country is not to sink into anarchy and chaos the victorious Allies must assume its government, because nobody else is in a 206 position to do so." Es sei deshalb im allgemeinen Interesse, und nicht zuletzt auch in dem des deutschen Volkes, wenn die Alliierten die Verwaltung des Landes übernähmen. Und indem sie das täten, "they must exercise practically the whole of the sovereign rights of the German Government"207. Malkin kam vor diesem Hintergrund zu dem Ergebnis: "I consider, therefore, that the Allies would be justified in assuming the exercise of all the powers of the German Government which are necessary for the task before them, and that if they did so it would in due course be recognized that there had been a development of international law to meet a new situation."208 Das, was Malkin dabei unter "Entwicklung im Völkerrecht" in Anbetracht einer angeblich neuen, vorher niemals dagewesenen Okkupationslage verstand, war bei Licht betrachtet jedoch nichts anderes als die Situation, die immer dann existiert, wenn ein Kriegführender auf das Gebiet des anderen eindringt und diesem dadurch die Möglichkeit nimmt, in diesem Gebiet seine Souveränitätsrechte auszuüben. Gerade dies war und ist der typische Fall, in dem die HLKO zur Anwendung gelangt und insbesondere dem Besatzer ausreichende Befugnisse erteilt, um für Ruhe und Ordnung in diesem Territorium zu sorgen, indem er geeignete Maßnahmen gegen eine mögliche Anarchie und gegen Chaos ergreift. Der einzige Unterschied zwischen einer solchen "occupatio bellica" und der von Malkin 206 207 208 Malkin-Memorandum, 13.1.1945, ebd. Malkin-Memorandum, 13.1.1945, ebd. Malkin-Memorandum, 13.1.1945, ebd. 299 prophezeiten Lage war der, daß bei einer kriegerischen Besetzung jederzeit die zumindest theoretische Möglichkeit besteht, daß der eigentliche Souverän das besetzte Gebiet zurückerobert. Diese Entwicklung war jedoch nach der vollständigen militärischen Niederwerfung des Gegners und der Nichtmehrexistenz einer deutschen Regierung nicht mehr zu erwarten. Um für den Fall der einseitigen Erklärung einer Übernahme der "supreme authority with respect to Germany" keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß dies nicht die Zerstörung Deutschlands als Staatsgebilde zur Folge habe, machte Malkin außerdem den Vorschlag, in diese Erklärung einen Passus aufzunehmen, demnach die Alliierten "did not propose to annex Germany or destroy its existence as an independent sovereign state". Der konkrete Wortlaut sei davon abhängig, welche Entscheidung zur möglichen Teilung Deutschlands getroffen werde. Unter allen Umständen sei es aber notwendig, alle Machtbefugnisse der deutschen Regierung zu übernehmen ("... to assume all the powers of the German Government"). 209 William Chanler wendet sich an John J. McCloy. Am 3. Februar 1945 informierte Chanler erstmalig John J. McCloy über den bisherigen Stand der vorangegangenen Überlegungen und Entscheidungen zur Gestaltung der völkerrechtlichen Situation in Deutschland, eine, wie Chanler sich ausdrückte, "fundamental question of policy"210. Er mußte dem für die Deutschland- und Besatzungsfragen zuständigen Unterstaatssekretär im Kriegsministerium eingestehen, daß bis dahin noch keinerlei Klärung der möglichen völkerrechtlichen Konsequenzen vorgenommen wurde, weder in den amerikanischen Behörden und schon gar nicht bei der EAC. Denn schon in der Frage, welche Funktion dem EACKapitulationsentwurf zukomme, hatte sich in der EAC keine Übereinstimmung erzielen lassen. Während die Briten dieses a. 209 210 300 Malkin-Memorandum, 13.1.1945, Abs. Nr. 11, ebd. W. Chanler, "Memorandum for Mr. McCloy: Subject: Legal Consequences of Unconditional Surrender", 03.02.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany surrender or Defeat Dokument als das entscheidende ansahen, durch dessen Inhalt, nach Unterzeichnung durch die deutsche Regierung, die Rechte der Alliierten in Deutschland nicht nur über die HLKO hinaus spezifisch erweitert, sondern gleichzeitig auch begrenzt werden sollten, kam es für die Amerikaner nur auf den Kapitulationsvorgang an sich an, von dem sie sich (gedacht als "Conquest" oder "Subjugation") die Grundlage für eine nicht limitierte Machtfülle versprachen. In der Einschätzung der zukünftigen Rechtslage in Deutschland durch die USGCC, die Murphy nach Washington weitergeleitet hatte , machte Chanler gegenüber McCloy den Einfluß der britischen Hartnäckigkeit ("British insistence") aus, die noch immer darauf beharrten, daß die alliierten Befugnisse nur auf einem vertraglichen Ursprung beruhen könnten ("... upon a contractual source of authority"). "They (die Briten, d. Verf.) appear to be relying upon the language of the instrument of surrender itself as constituting a 'waiver'. This gives rise to a serious question as to whether that language is appropiate to accomplish such a purpose. It would seem better to adhere to the U.S. position that our authority arises by operation of law, from the fact of surrender, and to omit any reliance upon a theory of 'waiver'. This further illustrate the necessity of obtaining a clarification of the legal basis of the U.S. position."211 Weder die Theorie, bedingungslose Kapitulation führe zu einer "Conquest", noch die Annahme einer dadurch herbeigeführten "Subjugation", so teilte Chanler McCloy weiter mit, seien völlig zufriedenstellend ("... entirely satisfactory"). Chanler mußte jedoch zugeben, daß das traditionelle Völkerrecht zwischen diesen beiden Situationen keinen Mittelweg kennt: "The two situations ... 211 Chanler-Memorandum, 3.2.1945, Abs. Nr. 9; ebd. 301 appear to be the only two for which there is existing legal authority"212. Da diese Schlußfolgerung jedoch politisch nicht akzeptierbar schien, bot Chanler gegenüber McCloy die von William Malkin ins Spiel gebrachte Theorie und den Briand- Kellogg-Pakt als mögliche Lösungsversuche an. Dabei gab Chanler der "Malkin-Theorie" absoluten Vorrang: Nach der Kapitulation, so führte Chanler aus, müsse eine Erklärung durch die Alliierten abgegeben werden, mit dem Inhalt, daß Deutschland ein erobertes Land sei und die Eroberer deshalb alle Macht hätten, die Existenz als Staat zu beenden, daß sie einen solch drastischen Schritt jedoch nicht beabsichtigten. Eine solche Erklärung könnte dann eine Rechtslage hervorbringen, derzufolge die Alliierten "could take all necessary steps for the purposes indicated, without regard to limitations of International Law or conventions". Daß dies ein völkerrechtliches Novum darstellte, war Chanler vollkommen bewußt: "It is true that there is no precedent for such a proposal ...", aber die ganze Situation sei ohne Vorbild213, womit er seinen Vorschlag zu untermauern suchte. Um etwaigen Einwänden von vornherein zu begegnen, plädierte er für Schranken, die sich die Alliierten bei ihrer Tätigkeit im besetzten Deutschland selbst setzen sollten. Die Rechtmäßigkeit alliierter Maßnahmen sei nicht zuerst an bestimmten Präzedenzfällen zu messen, sondern daran, ob sie vernünftig ("reasonable") seien und vom Gewissen der Menschheit ("conscience of mankind") unterstützt würden. Aber auch bei der von ihm verfochtenen generellen Unanwendbarkeit des Haager Abkommens stellte er eine - freiwillige - Befolgung einzelner Bestimmungen anheim: "It (das Haager Abkommen, d. Verf.) is generally inapplicable, and in any 212 213 302 Chanler-Memorandum, 3.2.1945, Abs. Nr. 10 (C.);ebd. Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd. event, many of its provisions can be generally complied with."214 Nur als eine Art "Hilfsbegründung", nach der "Malkin- Theorie", wollte Chanler die Berufung auf den Briand- Kellogg-Pakt verstehen. Er machte den Vorschlag, Deutschland wegen des Verstoßes gegen diesen Pakt und die verschiedenen Nichtangriffspakte mit seinen Nachbarn nicht mehr als "rechtmäßigen Kriegführenden" ("lawful belligerent") anzusehen, wodurch es keinen Anspruch mehr habe auf den Schutz durch internationale Abkommen. In der Tat könne man dadurch einen "wertvollen Präzedenzfall" ("valuable precedent") schaffen für den künftigen Frieden in der Welt, falls die Alliierten sich auf den Standpunkt stellten, Deutschland zu besetzen "as a punitive measure, both to punish her for her lawless acts of aggression and to prevent their repetition"215. Die Vermischung politischer und völkerrechtlicher Positionen, die in diesen Begründungsversuchen auffällt, mußte fast zwangsläufig zur Niederlage des Völkerrechts führen. Ersetzt werden sollte dieses Korrektiv der Machtausübung in internationalen Beziehungen nach Chanlers Vorstellung von vagen moralischen Prinzipien und einer lockeren, nicht rechtlichen, sondern auch lediglich moralischen Bindung an die eine oder andere Vorschrift der HLKO, die den politischen Zielsetzungen ohnehin nicht im Weg gestanden hätten. Ganz und gar problematisch wurde Chanlers Argumentation im Hinblick auf die Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen. Selbst wenn seine Theorie einwandfrei sei, so müsse doch alles vermieden werden, was nach der deutschen Kapitulation von Japan als Grund für Repressalien angeführt werden könnte. Deshalb schlug er vor, den Kriegsgefangenen nicht per se ihren völkerrechtlich geschützten Status abzusprechen, sondern sie einfach nach ihrer erfolgten Repatriierung, also nach Verlust des Kriegsgefangenen- 214 215 Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd. Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd. 303 Status, dazu zu bestimmen, als Zwangsarbeiter tätig zu sein. "This could probably be accomplished by some such device as repatriating the prisoners and thereafter directing that, as a part of Germany's reparations, or, as a part of the program of demilitarization, certain members of the German armed forces, to be selected by the Allies, will be formed into labor batallions to reconstruct areas devastated by the Germans ..."216 Wie sehr bei Chanler mittlerweile völkerrechtliche Grundsätze und politische Zielsetzungen der Alliierten vermischt und undurchschaubar geworden waren, zeigt seine Begründung für diese Verpflichtung zur Zwangsarbeit: "This could be justified on the ground that their presence in Germany would keep alive the German militaristic philosophy which it is our purpose to destroy."217 Wo zur Begründung solch tiefgreifender Eingriffe in die persönliche Freiheit des einzelnen eine fundierte völkerrechtliche Rechtfertigung notwendig gewesen wäre, zog sich Chanler mit dem banalen Hinweis auf eines der politischen Kriegsziele der Alliierten aus der Affäre. Beim deutschen Offizierskorps hielt er es für möglich, daß es komplett für schuldig befunden werde, zu einem Aggressionskrieg angestiftet zu haben. "They could then be 218 sentenced as a body to serve in labor batallions." Auch bei der Bezahlung und Ernährung der in den Arbeitsbataillonen eingesetzten deutschen Kriegsgefangenen219 schlug Chanler Modifikationen vor. Es erschien 216 217 218 219 304 Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd. Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd. Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd. Obwohl Chanler die Kriegsgefangenen zunächst repatriieren wollte, um dadurch den Anforderungen der Genfer Konvention bei der erst danach erfolgenden Zwangsarbeitsverpflichtung zu entgehen, sprach er dennoch auch hinsichtlich dieser Personen im weiteren immer noch von "Kriegsgefangenen". ihm zweifelhaft, ob die Länder, die deutsche Zwangsarbeiter erhalten sollten, gewillt seien, diese in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention bei der Bezahlung und Ernährung zu behandeln. Bezahlung sei aber nicht ein so großes Problem wie es auf den ersten Blick erscheine, da man mit alliiertem Militärgeld entlohnen und diese Beträge dann Deutschland als Teil der verlangten Reparationen auferlegen könne. Die Vorschrift der Genfer Konvention, wonach die Kriegsgefangenen ebenso verpflegt werden müßten wie die Soldaten des Gewahrsamsstaates, sei aufgrund der unvermeidbaren Lebensmittelknappheit eine sehr ernste Frage. Chanlers knappe und aufschlußreiche Antwort lautete: "However, it would seem that the intermediate step of repatriation would meet the problem."220 Damit konnte nur gemeint sein: Aufgrund der zwischenzeitlichen Repatriierung würden die deutschen Soldaten ihren Kriegsgefangenenstatus verlieren und eine Verpflegung nach den Anforderungen der Genfer Konvention sich erübrigen. Über einen vielleicht auch aus moralischen Gründen zu gewährleistenden Mindeststandard machte Chanler keine Angaben. c. Memorandum des Finanzministeriums. Anfang Februar 1945 schaltete sich auch Finanzminister Henry Morgenthau jr. ein. In seinem Auftrag hatte Joseph O'Connell vier Tage vorher eine Denkschrift erstellt, die dann in sprachlich leicht veränderter, inhaltlich aber gleichgebliebener Form John J. McCloy zugestellt wurde221. Schon der Ansatzpunkt dieses Memorandums war, verglichen mit den bis dahin erstellten, ein gänzlich anderer. Berührungspunkte gab es zum Teil mit dem Malkin-Memorandum. Den Verfasser interessierte nicht das, was in den Völkerrechts-Normen 220 221 Chanler-Memorandum, 3.2.1945, ebd. "Memorandum from Mr. O'Connell, General Counsel of the Treasury Department, to the Secretary of the Treasury", 30.01.1945, RG 165 CAD 014 Germany (07-10-42) (1) Sec. 11; das endgültige Memorandum hat keine Überschrift und kein Datum, befindet sich in RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat. 305 positiv zum Ausdruck kam, sondern vielmehr die gesetzlichen Lücken ("... there are numerous loopholes with respect to those areas which are covered in a general way"), die er besonders im Völkerrecht ausmachte. Selbst bestehende Rechtssätze sollten nicht ohne weiteres Anwendung finden, sondern erst nach einer Überprüfung des Ursprungs dieser Norm und der Vertretbarkeit des Ergebnisses der Normanwendung vor dem Hintergrund allgemeiner Gerechtigkeits- und Moralitätserwägungen: "A proper approach in applying an existing rule entails a careful examination of its origin to see whether it was intended to cover the immediate situation, whether the result makes sense in the light of presentday realities, and whether the end accomplished is consistent with justice and morality. ... If the application of a rule to a new type of problem would not meet with the same approval, then the application of the rule would be 222 improper." An dessen Stelle sollten dann, so die Vorstellung O'Connells, die notwendigen Entscheidungen in einer Art und Weise getroffen werden, die in Übereinstimmung sei mit den "ethical, moral and humane principles recognized by civilized men". Die Verantwortlichkeit der Vereinten Nationen bewertete er in diesem Zusammenhang sehr hoch, aber nicht bezüglich der Umsetzung des Völkerrechts, sondern zur Verwirklichung der alliierten Kriegsziele: "The responsibility of the United Nations in this respect is a heavy one. It must not be discharged with primary emphasis on the technical construction of obsolete rules of conduct, but, on the contrary, it must be discharged with due regard to achieving the goals for which this war is being fought."223 Die Nichtanwendbarkeit des Völkerrechts im Falle Deutschlands versuchte O'Connell mit zwei unterschiedlichen 222 223 306 Treasury-Memorandum, 30.1.1945, S. 3; ebd. Treasury-Memorandum, 30.1.1945, S. 9; ebd. Argumentationsmustern zu belegen. Er ging zunächst von der Feststellung aus, daß der Sieger im Regelfall seine Ziele, für deren Durchsetzung er den Krieg geführt hatte, dem Verlierer unter Druck, militärisch oder politisch, in den Waffenstillstands- oder Friedensvertrag diktiere, ohne daß dies zur Unwirksamkeit des Vertrages führte. Der zweite mögliche Heg, den die Sieger beschreiten könnten, sei die Annektierung Deutschlands. Da eine Annexion Deutschlands und die damit verbundene Zerschlagung als Staatsgebilde aber politisch nicht erwünscht war, blieb lediglich der Weg Uber einen Waffenstillstands- oder Friedensvertrag. Dies setzte jedoch voraus, daß dann überhaupt noch eine deutsche - zur Unterschrift bereite - Regierung existierte. Das erschien den Planern aber als zunehmend unwahrscheinlich. Den Ausweg aus dieser prekären Lage suchte O'Connell durch die besondere Be- und Überbetonung der Machtvollkommenheit des Siegers zu erreichen. Die bisherige völkerrechtliche Auffassung, daß die beiderseitigen Rechte und Pflichten von Siegern und Besiegten aus einem Waffenstillstands- bzw. Friedensvertrag sich gerade aus dem Vertragscharakter dieser Dokumente ergibt, und daß die vom Sieger in solchen Fällen regelmäßig verwendeten Zwangsmittel diesen Vertrag, anders als im innerstaatlichen Recht, in seiner Wirksamkeit unberührt lassen, wurde von O'Connell ins Gegenteil verkehrt: Das allein entscheidende sollte die Machtvollkommenheit des Siegers sein, der gegenüber die Vertragsqualität von Waffenstillstand und Friedensvertrag für O'Connell lediglich als - nicht zu berücksichtigender Formalismus erschien. War die rechtliche Bedeutung der Anwendung von Zwangsmitteln bisher nur darin gesehen worden, daß ihnen im Hinblick auf die Wirksamkeit des Vertrages gerade keine Bedeutung zukam, so erhielten sie bei O'Connell eine Art rechtserzeugende Wirkung: "... the historical methods of achieving war aims are obviously not legal limits but only manifestations of the general rule that legitimate war objectives can be attained through the 307 imposition upon the defeated nation approbiate terms and punishments.”224 of Keine Ausführungen machte O'Connell darüber, woraus sich die "Rechtmäßigkeit" der Kriegsziele ("legitimate war objectives") ergab, wenn nicht aus ihrer Kongruenz mit dem Völkerrecht. Das aber wollte er durch seinen Schluß von der Faktizität alliierter Machtausübung auf deren Normativität ausschalten. Eine andere Rechtsordnung, an der sich die Rechtmäßigkeit von Kriegszielen bestimmen läßt, gibt es jedoch in internationalen Beziehungen neben dem Völkerrecht nicht. Seine äußerst fragwürdige Argumentation führte O'Connell zu dem Ergebnis: "There is, therefore, nothing in international law that would prohibit the use of military occupation, or any other measures, to impose appropiate terms and punishments on Germany in order to prevent further aggressions against peace-loving nations."225 O'Connells zweites Argumentationsmuster befaßte sich mit den deutschen Vertragsverletzungen gegenüber dem Briand- Kellogg-Pakt und dem Haager Abkommen. Auch hätten die Deutschen sich keine Mühe gegeben, um mit einem Grad an Kriegsführung übereinzustimmen, der in der öffentlichen Meinung der ganzen Welt Zustimmung finde. "Accordingly, they have lost the right to be treated as belligerents, they have established grounds for retaliation and they are not in a position to contest, or even discuss, the measures which will be taken by the United Nations."226 Das einzige, worauf die Deutschen überhaupt noch Anspruch hätten, sei eine "menschliche Behandlung". Die Amerikaner müßten deshalb lediglich "observe those moral principles which are the foundation of our own civilization." Gewöhnlich sei dies eine einfache Angelegenheit, da der 224 225 226 308 Treasury-Memorandum, 30.1.1945, S. I4;ebd. Treasury-Memorandum, 30.1.1945, ebd. Treasury-Memorandum, 30.1.1945, ebd. durchschnittliche Amerikaner es gewohnt sei, Entscheidungen zu treffen, bei denen er diese Grundsätze bedenke. Es seien aber auch neue Situationen wahrscheinlich, bei denen nur schwer herauszufinden sei, was die Moralität in diesem Fall fordere. Der sichere Weg sei dann das Vertrauen in die Erklärungen der Führer der Regierungen der Vereinten Nationen. Deren Äußerungen verkörperten im allgemeinen die öffentliche Meinung, wie sie sich in der Regierungsplanung und -tätigkeit herauskristallisiere. Die Moral sollte somit die Rolle spielen, die eigentlich dem Völkerrecht zugedacht war: nämlich Schranken aufzustellen, um eine willkürliche Machtausübung zu verhindern. "Since moral principles are in essence the Standards of conduct accepted by the great bulk of civilized peoples, it would be impossible to find a more accurate source. — The Problem is one of conscience not of law."227 Im folgenden versuchte O'Connell, dieses Ergebnis zu belegen. Weil der Briand-Kellogg-Pakt in seinem Wortlaut nicht einen einzigen Hinweis darauf enthält, daß ein Staat, der gegen diesen Vertrag verstößt, seine ganzen oder auch nur einen Teil seiner Rechte verliert, befaßte sich das Memorandum diesbezüglich vor allem mit der Wiedergabe einseitig ausgewählter Stimmen politischer Autoritäten der USA und von Rechtstheoretikern der neuen, universalistischen Schule. Insbesondere die Rechtfertigungen des Zerstörerhandels im September 1940 und des Leih-Pachtabkommens ein Jahr später (mit ihren neutralitätsgefährdenden und -verletzenden Auswirkungen) durch Präsident Roosevelt und die Minister Hull und Stimson wurden von O'Connell auch dafür als Beweis angeführt, wie eine Nation, die einen Krieg im Gegensatz zu den Bestimmungen des Briand-KelloggPaktes betreibe, ihre Rechte als Kriegführende verwirke. Eine ähnlich große Wirkung trete auch hinsichtlich der Tätigkeiten der Vereinten Nationen während der Besetzung Deutschlands ein. 227 Treasury-Memorandum, 30.1.1945, S. 16; ebd. 309 "He need not be blind followers of ancient precedents in our treatment of the defeated aggressor. He are not required to give cognizance to legalistic arguments that this or that 'right' of Germany is being violated. On the contrary, the United Nations are free to exercise their joint ingenity in the formulation of a plan that will insure the world against any repetition of the Nazi outrages, and there will be no legal obstacles to overcome in order to execute the plan. Germany by attempting to dominate the whole earth has forfeited all ,legal' rights and can only claim what will be freely accorded without request the observance of humane principles in the application of appropriate terms and punishments."228 Nichts zeigt die zunehmende Politisierung dieser eigentlich völkerrechtlichen Diskussion deutlicher, als die Ausführungen des amerikanischen Finanzministeriums. Die möglichen völkerrechtlichen Ergebnisse wurden von O'Connell nicht nur, was durchaus erlaubt ist, auf ihre Übereinstimmung mit den alliierten Kriegszielen hinterfragt, sondern diese politischen Ziele selbst und vage moralische Begriffe sollten das kurzerhand für nicht mehr zeitgemäß erklärte Besatzungsvölkerrecht ersetzen und damit dem Prozeß der völkerrechtlichen Ergebnisfindung nachhaltig im von den Alliierten gewünschten Sinn beeinflussen. Waren aber dadurch die politischen Ziele schon zu den Leitlinien dieses Prozesses geworden, dann konnte am Ende als scheinbar "rechtliche" Konsequenz immer nur stehen: Die Durchführung des Kriegszieles ist völkerrechtlich erlaubt, ja mehr noch, vielleicht sogar erforderlich. V. 8. Bemühungen das "State-War-Navy-Coordinating Commitees" um eine klare völkerrechtliche Stellungnahme Murphys Anfragen an das US-Außenministerium vom Dezember 1944 und Januar 1945 hatten in den amerikanischen Ministerien, die sich mit der Besatzungsplanung befaßten, 228 Treasury-Memorandum, 30.1.1945, S. 23 f.; ebd. 310 zwar einen erregten Meinungsaustausch ausgelöst. Eine einheitliche Auffassung hatte sich währenddessen allerdings nicht gebildet. Vielmehr war die Lage nun noch verworrener als vorher geworden. Hatte bis Ende 1944 die EAC- Kapitulations-Urkunde vom 25. Juli 1944 als das entscheidende Dokument gegolten, das es ermöglichen sollte, durch die Generalklausel mit der Bestimmung der Übernahme der "supreme authority" hinsichtlich Deutschlands alle benötigten Befugnisse durch diese Vereinbarung mit der deutschen Regierung derivativ zu erwerben, so waren mittlerweile eine Fülle neuer Schwierigkeiten aufgetaucht: Das Vorhandensein einer deutschen Regierung bei Einstellung der militärischen Feindseligkeiten erschien nun plötzlich gar nicht mehr so sicher, die möglichen rechtlichen Folgen einer Kapitulation auf Regierungsebene, durch Vereinbarung mit einer deutschen Regierung oder einseitiger alliierter Erklärung, waren politisch höchst unerwünscht, die militärische Niederwerfung allein, ohne oder lediglich mit einer rein militärischen Kapitulation, stattete die Alliierten nicht mit der rechtlichen Machtvollkommenheit aus, die sie zur rechtmäßigen Durchführung ihrer Kriegsund Friedensziele benötigten. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht weiter, daß man sich im Außenministerium mit einer Antwort an Murphy zeit ließ, zumal der erste Entwurf eines Antwortschreibens die heftige Kritik Colonel Chanlers in der CAD hervorgerufen hatte229. Am 10. Februar ließ Murphy in einem Brief an Außenminister Stettinius noch einmal die Notwendigkeit einer baldigen und abschließenden Klärung der aufgeworfenen Fragen anklingen: "There is a continuously expressed doubt in the minds of the legal staff as to the character of the Allied occupation of Germany ..."230 229 230 Vgl. oben, 2. Teil, V.5.C. R. Murphy an Secr. of State, "Subject: German Treason and Nationality Laws", London, 10.02.1945, RG 260/OMGUS POLAD/730/56 311 Erste Antwortentwürfe für Murphy. Am 15. Februar formulierte das SWNCC einen Antwortentwurf an Murphy. Ein gleichlautender Entwurf datiert außerdem vom 17. Februar231. Murphy sollte nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß er nicht die britische, sondern allein die amerikanische Rechtsauffassung von bedingungsloser Kapitulation in London zu vertreten habe. Nicht der Vertragscharakter dieses Dokumentes mit einem Verzicht ("waiver") der deutschen Regierung in Form einer bilateralen Abmachung sei maßgeblich, sondern die bloße Tatsache bedingungsloser Kapitulation. a. "The terms of the surrender instrument are unilateral directions to the Germans. They are not bilateral or contractual undertakings under international law, the Allies will be in the position of 'conquerors'. They need not rely on any 'waiver' by Germany, but on the fact that she will be a conquered nation. This legal position will be taken whether the surrender instrument is signed on behalf of a German government or whether fighting continues until the cessation of all organized resistance. In either event, Allied powers arise from the fact of conquest.'"232 Auf der Grundlage von "conquest" habe man die Möglichkeit, durch einseitige Erklärung Deutschland zu annektieren, zu teilen oder zu zerschlagen. Es sei deshalb die Auffassung der Vereinigten Staaten, daß die Alliierten völkerrechtlich auch befugt seien, durch eine entsprechende Erklärung auch weniger drastische Schritte unmittelbar nach der Niederlage oder Kapitulation vorzunehmen, ohne Deutschland als Staat zu zerschlagen, ohne die deutsche Souveränität zu 231 SWNCC, Advice to U.S. Representative in E.A.C. on Legal Consequences of Unconditional Surrender", 15.02.1945 ("Draft"), "Enclosure - Draft Cable to be Dispatched by State Department to Mr. Murphy"; SWNCC, "Advice to U.S. Representative in E.A.C. on Legal Consequences of Unconditional Surrender", 17.02.1945 ("Draft"), "Enclosure - Draft Cable to be Dispatched by State Department to Mr. Murphy", beide Dokumente: RG 107 387.4 ASW Germany - Surrender or Defeat 232 "Enclosure", Abs. Nr. 1; ebd. 312 übernehmen und ohne den formellen Kriegszustand zu beenden. Dieses Resultat solle durch eine Proklamation Nr. 1 erreicht werden. Während der Besetzung Deutschlands habe der Kontrollrat alle für die Durchführung der alliierten Vorhaben notwendigen Rechtsbefugnisse "regardless of any limitations contained in international conventions or other principles of international law ...". Die Vorschriften dieser Konventionen sollten als "hilfreiche Ratgeber" ("helpful guides") Beachtung finden, wo immer sie den alliierten Zielen nicht widersprächen. Abschließend sollte Murphy aufgefordert werden, sich alle Mühe zu geben, um von den Briten, Russen und Franzosen Zustimmung für die amerikanische Position zu erzielen233. Sowohl das SWNCC-Papier vom 15. als auch das vom 17. Februar 1945 rekurrierten, wie es auch im Antwortentwurf deutlich wurde, auf die "Malkintheorie"234. Daneben fand auch noch die bis dahin einzig und allein vom amerikanischen Völkerrechtler Feilchenfeld 1942 vertretene Auffassung Berücksichtigung, die HLKO sei nur so lange anwendbar in besetztem feindlichen Gebiet, wie sich die beiden Armeen der Kriegführenden gegenüberständen und ein Waffenstillstands- oder Friedensvertrag noch nicht abgeschlossen worden sei235. Keine ausdrückliche Erwähnung fand der BriandKellogg-Pakt. Es wurde lediglich kurz angesprochen, die Deutschen hätten den Krieg unter Verstoß gegen die feierlichsten Vertragspflichten ("... in violation of the most solemn treaty obligations...") initiiert und bei seiner Durchführung das Kriegsrecht flagrant verletzt. Sie befänden sich deshalb "in no Position to assert legal technicalities. They do not come before the court of public opinion with clean hands."236. Es wurde erwogen, den momentanen Krieg und die zukünftige Besetzung Deutschlands als eine "Sanktion" anzusehen, um 233 234 235 236 "Enclosure", Abs. Nr. 6; ebd. Jeweils Abs. Nr. 10; ebd. Jeweils Abs. Nr. 11 f., ebd., Feilchenfeld, The Economic International Law of Belligerent Occupation, 1942, par. 16 SWNCC-Papier vom 15.02.1945, Abs. Nr. 16; SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 20; ebd. 313 einen "rechtlosen Aggressor" ("lawless aggressor") und Vertragsbrecher zu bestrafen und zu kontrollieren. Um auch ganz sicher zu gehen, daß die ins Auge gefaßten Maßnahmen völkerrechtlich nicht zu Beanstandungen führen würden, wurde zudem die Möglichkeit ins Auge gefaßt, in einem endgültigen Vertrag die bereits vorgenommenen Eingriffe von Deutschland genehmigen zu lassen ("Germany could be made to ratify all actions taken, if that is deemed desirable")237. Im SWNCC war man sich durchaus bewußt, wie weit man sich mit solchen Überlegungen von der bisherigen völkerrechtlichen Praxis entfernte. Man rechnete deshalb auch mit scharfen Protesten aus den Reihen der Völkerrechtler. Das kam auch im Papier vom 17. Februar zum Ausdruck: "To take the position that the conventions are not binding at all after total defeat or unconditional surrender would undoubtedly give rise to strong protests from the international law bar. For their writings unanimously assert that the conventions are binding until peace is declared. From a public relations standpoint, therefore, it would seem unwise to take such a position unless absolutely necessary." 238 Eine öffentliche Diskussion, ob die Vereinten Nationen in Deutschland anerkannte Grundsätze des Völkerrechts verletzten, würde bedauerliche Konsequenzen haben ("... would have most unfortunate consequences"), sowohl unmittelbar wie auch in der Zukunft. Eine solche Debatte könnte "schreckliche Folgen" ("disastrous consequences") für die alliierten Kriegsgefangenen in japanischer Hand und für die immer noch von Japan besetzten und mit Amerika befreundeten Länder haben239. 237 238 239 314 SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. SWNCC-Papier vom SWNCC-Papier vom 15.02.1945, Abs. Nr. 16; SWNCC-Papier vom Nr. 20; ebd, 17.02.1945, Abs. Nr. 14; ebd. 17.02.1945, Abs. Nr. 14; ebd. Um diesen Schwierigkeiten und Gefahren aus dem Weg zu gehen, war sich das SWNCC am 17. Februar einig, daß die extreme Ansicht, das Völkerrecht habe überhaupt keine Bindungskraft mehr für die Alliierten, vermieden werden müsse. Eine solche weitreichende Position wurde als gar nicht notwendig erachtet. Für die Durchführung der alliierten Langzeitpolitik gegenüber Deutschland sei es vielmehr ausreichend, das Völkerrecht nur insoweit als für die Alliierten nicht rechtlich bindend anzusehen, wie es der politischen Zielsetzungen widerspreche. Die langfristigen politischen Ziele "can be done without violating more than a part of the conventions"240. Die geeignete Verfahrensweise bestand für das SWNCC darin, zum Zeitpunkt einer Kapitulation oder der rein faktischen endgültigen Niederlage bekannt zu geben, Deutschland sei ein erobertes Land, in dem die Alliierten berechtigt seien und die Macht dazu hätten, es nach ihrem Willen zu behandeln. Es sei ihre Absicht, sofort mit Schritten langfristiger Natur zu beginnen, die sie für die Durchführung ihrer erklärten Kriegsziele für notwendig erachteten: die Vernichtung von Nazismus und deutschem Militarismus mit dem Ziel, daß Deutschland nie wieder zu einer Bedrohung des Weltfriedens werde, die Wiedergutmachung des von Deutschland verursachten Schadens und die erfolgreiche Weiterführung des Krieges gegen Japan241. Von einer solchen allgemeinen Formulierung ohne konkret faßbaren Inhalt erhoffte sich das SWNCC eine Ruhigstellung etwaiger kritischer Stimmen im In- und Ausland. Wer mochte die Notwendigkeit, diese Ziele zu verfolgen, schon ernsthaft anzweifeln, ohne sich nicht dem Verdacht der Komplizenschaft mit dem nationalsozialistischen Deutschland auszusetzen? Der Zwang des politischen Konsenses mußte stärker wirken als die individuelle Überzeugung von der völkerrechtlichen Fragwürdigkeit einzelner (konkreter) 240 241 SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 15; ebd. SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 15; ebd. 315 Maßnahmen der Besatzungsmächte. Daß beispielsweise eine Schadensbegleichung von deutscher Seite zu erfolgen hatte, war außerhalb jeden Zweifels. Völkerrechtlich brisant wurde diese generelle Forderung erst in dem Moment, in dem die Maßnahmen zu entscheiden waren, die zur Verwirklichung dieses Zieles dienen sollten. Gehörten dazu neben Reparationsund Restitutionsleistungen in Form von Sachwerten und Geld etwa auch Zwangsarbeit deutscher Soldaten und Zivilisten in ehemals besetzten Gebieten, vielleicht sogar im Minenräumdienst? Waren solche Tätigkeiten noch völkerrechtlich gedeckt, von allgemeinen Humanitätserwägungen ganz zu schweigen, obwohl sie doch mit dem proklamierten Kriegsziel der Schadensbegleichung politisch durchaus hätten begründet werden können? Bis zu dieser Fragestellung sollten etwaige Kritiker alliierter Besatzungsmaßnahmen nach der Vorstellung des SWNCC offensichtlich gar nicht erst vorstoßen. Die angebliche Selbstbeschränkung der alliierten Machthaber bei der Außerkraftsetzung des Völkerrechts auf in der Weltöffentlichkeit allgemein anerkannte Kriegsziele sollte völkerrechtlichen Einwänden von vornherein die politische Konsensfähigkeit nehmen. Allein die öffentliche Meinung war von Bedeutung. Solange sie nichts einzuwenden hatte, konnte man kritische völkerrechtliche Äußerungen unbeachtet lassen. Diese Einschätzung wird besonders deutlich in einer Passage des SWNCCPapiers vom 17. Februar 1945: "From a public-relations standpoint this proposal would not seem difficult to support. To the charges that international law was being violated the answer would be that the Allies were simply carrying out the purposes and aims declared at the Yalta Conference. The legalistic argument that this could not be done under international law would not find much public favor. Certainly the public would not be interested in discussions as to whether or not the technical 'state of war' or the legal existence of the German State had been terminated. To a specific charge of violation of the Hague Conventions, the answer could be made that they were being observed in so far as applicable in view of the Yalta Program."242 Soweit dennoch bestimmte Verstöße angeführt würden, hätten diese jedoch sicherlich kein allzu großes Gewicht. Hinsichtlich der Kriegsgefangenen würden die Bestimmungen der Genfer Konvention "of course be strictly observed"243. Bei der Nutzung deutschen "Personals" in Arbeits- Bataillonen für Wiederaufbau- und Wiedergutmachungszwecke ("... without paying or feeding them in accordance with the Geneva Standards") könnten sie zunächst repatriiert werden. Danach würde eine Nachfrage nach Arbeitern bestimmter Altersklassen gemacht werden, um das geforderte Menschenmaterial zu erhalten: "The Geneva Convention would not apply to such personnel"244. Auch für den Fall, Vorwürfen begegnen zu müssen, die eine Verletzung des Haager Abkommens behaupteten, entwickelte das SWNCC eine Strategie: Sollten die Vorwürfe Maßnahmen der Entnazifizierung und der Entmilitarisierung Deutschlands zum Gegenstand haben, diese verstießen gegen das Gebot, die Gesetze des besetzten Landes zu beachten, seien diese Vorwürfe nicht besonders schwerwiegend, da es sich dabei um die wiederholt erklärten Kriegsziele handele, für die die Alliierten kämpften. Für privates Eigentum könnte man mit alliierter Militärmark ("Allied Military Marks") bezahlen. Ausgenommen von der Bezahlung seien Konfiskationen und Zerstörung von Nazi-Eigentum oder von Industrieanlagen, die für eine militärische Nutzung geeignet seien. Der Einwand, Privateigentum werde entgegen der HLKO requiriert für andere Zwecke als solche der 242 243 SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 19; ebd. SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 19; diese offensichtliche Selbstverständlichkeit, deutsche Kriegsgefangene nach der Genfer Konvention zu behandeln, überrascht angesichts der zu diesem Zeitpunkt schon weit fortgeschrittenen Planung, einem Großteil der kapitulierenden deutschen Soldaten diesen Schutz gerade nicht zukommen zu lassen, vgl. oben 2. Teil, IV.3.. Vermutlich wurde der Begriff "Kriegsgefangener" im SWNCCPapier vom 17.02.1945 in einem engen Sinn verstanden. "Disarmed Enemy Forces" (DEF) sollten die Privilegien der Genfer Konvention ohnehin nicht zustehen. 244 SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 19; ebd. 317 Besatzungstruppen, habe ebenfalls keine Bedeutung, sofern das Eigentum für Reparationszwecke beschlagnahmt werde. Beschlagnahmen für den Gebrauch im Krieg gegen Japan würden wahrscheinlich die einzige direkte Verletzung der HLKO sein, die zu beantworten schwer fallen werde. Einen solchen Weg zu rechtfertigen hätte auch Auswirkungen auf die Beurteilung ähnlicher Handlungen der deutschen Besatzungsmächte in Polen und Frankreich. Da sich auch das Protokoll der Konferenz von Jalta über diesen Punkt ausschweige, müsse ein solches Vorgehen sorgfältig überdacht werden245. Alles in allem aber rechnete die SWNCC mit keinen größeren Schwierigkeiten in der Handhabung der öffentlichen Meinung: "With the conceptions above noted there would in general be no difficulty in complying with the accepted rules of the Hague Convention. There being obviously no violation of any laws of humanity or the dictates of the public conscience it would seem that any legalistic debate on these minor infractions would be so technical and unrealistic that it could have no harmful effect from a public relations standpoint. Nochmalige Überarbeitung der Entwürfe. Am 20. Februar 1945 wurde der Antwortentwurf des Kabels an Botschafter Robert Murphy in London noch einmal überarbeitet. In der Substanz wurde der Entwurf vom 15./17. Februar aufrechterhalten. Neu hineingenommen wurde aber ein Absatz, der die Unrechtmäßigkeit des deutschen Aggressionskrieges betonte und daraus rechtliche Konsequenzen ableitete247. b. Darin heißt es, die Besetzung Deutschlands nach dessen totaler Niederlage oder Kapitulation werde als ein notwendiger und neuer Typus internationaler Einrichtungen 245 246 247 318 SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 19; ebd. SWNCC-Papier vom 17.02.1945, Abs. Nr. 19; ebd. "Draft Cable to be Dispatched by State Department to Mr. Murphy", 20.02.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat ("... a necessary and novel type of international mechanism...") angesehen, um der beispiellosen Situation zu begegnen, die die "Nazifizierung" Deutschlands ("... Nazification of Germany..."), der ruchlose, barbarische Charakter ihrer Führer, der von Deutschland unrechtmäßig geführte Angriffskrieg und "the imperative world need for fundamentally reforming Germany"248 hervorgerufen habe. Die geplante Besatzung könne in freier Umschreibung als eine Form internationaler Zwangsverwaltung ("receivership") oder Verwahrung ("custodianship") betrachtet werden, mit bestimmten umgestaltenden und strafenden Aspekten, neu erdacht ("freshly invented"), um es den "siegreichen Opfern der unrechtmäßigen Aggression" ("victorious victims of unlawful aggression") möglich zu machen, eine dauernde Heilung des vollständig unterlegenen Aggressors herbeizuführen ("to effect a permanent cure of the totally defeated aggressor"). Die Schlußfolgerung war: "The limitations contained in international conventions or other principles of international law governing a temporary or precarious belligerent occupation during the continuance of hostilities are not considered to be in any degree applicable to the execution of any phases of or steps in the exemtion of this final program of dealing with Germany or to operate to prevent the execution of such a program."249 Einen Absatz später wird dies noch einmal mit Nachdruck betont: "It is emphasized that the Hague Conventions are expressly considered inapplicable to an occupation following unconditional surrender or complete defeat."250 Als diese Position auch in einem drei Tage später angefertigten Entwurf vertreten wurde, meldete sich noch 248 249 250 Antwortentwurf Antwortentwurf Antwortentwurf vom 20.02.1945, vom 20.02.1945, vom 20.02.1945, Abs. Nr. 4 Abs. Nr. ; 4 Abs. Nr. 5 ; ; ebd ebd ebd 319 einmal William Chanler von der Civil Affairs Division zu Wort251. Das Beharren auf dem Standpunkt, daß nach bedingungsloser Kapitulation oder vollständiger Niederlage die Abkommen unter allen Umständen gänzlich unanwendbar seien, bezeichnete Chanler als rechtlich falsch ("unsound legally") und politisch unklug ("unwise politically"). "Conquest" allein, und nichts anderes bedeute bedingungslose Kapitulation oder vollständige Niederlage ohne weiteres Tätigwerden, gebe dem Eroberer keine größeren Rechte als die eines militärischen Besatzers; er sei den Konventionen unterworfen. Dies sei ganz einhellige Ansicht. Die einzig wirkliche Kontroverse zwischen den amerikanischen Planern und den Völkerrechtlern sei vielmehr nur die Frage, ob die Alliierten darüber hinausgehende Rechte durch Deklaration einseitig erzeugen könnten, ohne gleichzeitig die Souveränität zu übernehmen. Der Inhalt dieser Deklaration sei ganz einfach der, daß die Alliierten beabsichtigten, die in der Jalta-Erklärung genannten Vorhaben auszuführen252. Daß Chanler die im Entwurf vertretene Auffassung für politisch unklug hielt, hatte vor allem taktische Gründe. Dieser juristisch nicht haltbare Standpunkt, davon war Chanler überzeugt, werde die Alliierten von Anfang an in einer öffentlichen Diskussion in die Defensive stellen. Er hielt es deshalb für klüger, gar keine eindeutige Aussage zur völkerrechtlichen Lage zu machen253: "It is far better to assert affirmatively that we are carrying out the purposes of the Yalta Converence, leaving the objectors the burden of going forward and claiming that we are violating such and such specific provision of the conventions. To this, we have a sound answer: Surely the objectors do not assert that there is 251 252 253 320 Col. W.C. Chanler, CAD, "Memorandum: Subject: Unconditional Surrender of Germany - Comments on Colonel Cutter's Proposed Redraft of Cable", 23.02.1945, "Enclosure: Draft of Cable Proposed Dispatched by State Department to Mr. Murphy"; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat Col. W.C. Chanler, Memorandum vom 23.02.1945, Abs. Nr. 3; ebd. Col. W.C. Chanler, Memorandum vom 23.02.1945, Abs. Nr. 4; ebd. anything illegal about the destruction of Nazism or the pacification of Germany. This puts the objectors in the position of raising legal technicalities in an attempt to show that we cannot carry on our announced war aims unless we take sovereignty, etc. The objectors, in such an argument, would have to admit that we could do what we are doing, if we 'took sovereignty', and, if not, how we justified our acts. The public would not take much interest in such a debate."254 Chanler empfahl deshalb, bei dem im ursprünglichen Entwurf vertretenen Standpunkt zu bleiben, daß die Alliierten sich als an die Abkommen gebunden betrachteten, außer dort, wo sie im Widerspruch ständen zu den erklärten Kriegszielen255. In den Tagen danach wurden die von Chanler gewünschten Änderungen durchgeführt. Sowohl eine vom 2. März 1945 stammende Überarbeitung des ersten Teils des SWNCC-Papiers als auch ein Antwortentwurf an Murphy vom 8. März 1945 berücksichtigten die Vorschläge William Chanlers256. In beiden Dokumenten war nun nur noch die Rede davon, die völkerrechtlichen Vorschriften, insbesondere die HLKO, seien insoweit nicht anwendbar bei der alliierten Besetzung Deutschlands, wie sie den alliierten Kriegszielen widersprächen. Eine allumfassende Negation des Völkerrechts in Deutschland enthielten diese beiden Schriftstücke nun nicht mehr257. 254 255 256 257 Col. W.C. Chanler, Memorandum vom 23.02.1945, Abs. Nr. 4; ebd. Col. W.C. Chanler, Memorandum vom 23.02.1945, Abs. Nr. 5; ebd. SWNCC, "Advice to U.S. Representative in E.A.C. on Legal Consequences of Unconditional Surrender", 02.03.1945 (Draft); "Draft of Cable Proposed Dispatched by State Department to Mr. Murphy", 08.03.1945; beide Dokumente in RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat Im Kabel-Entwurf vom 08.03.1945 war nun unter Absatz Nr. 4 zu lesen: "During this occupation of Germany, the Control Council will have and may exercise absolutely all powers necessary to carry out the above purposes. ... no agreed steps in the execution of this final program will be prevented by the irrelevant limitations contained in international conventions or other principles of international law governing a temporary or precarious belligerent occupation during the continuance of hostilities." 321 Auch Chanlers Rechtsauffassung, daß über "Conquest" hinaus die Alliierten durch einseitige Erklärung sich die benötigten Rechte und Machtbefugnisse selbst verschaffen könnten, "Conquest" allein aber noch keine Mehrung der alliierten Rechte zur Folge habe, kam nun wieder zum Ausdruck258. Aus den vorliegenden amerikanischen Akten geht nicht hervor, ob das State Department auf der Grundlage dieses offensichtlich letzten Entwurfs ein Antwort-Kabel an Botschafter Robert Murphy in London geschickt hat. Da aber mittlerweile alle mit der Deutschlandplanung befaßten Stellen in Außen-, Kriegs- und Finanzministerium ihre diesbezüglichen Stellungnahmen abgegeben hatten, und auch in der SWNCC ein Konsens hergestellt worden war, sind keine Gründe ersichtlich, warum man im amerikanischen Außenministerium die Antwort noch länger hätte hinauszögern sollen, zumal seit Murphys erster Anfrage annähernd zweieinhalb Monate verstrichen waren. Außerdem drangen die alliierten Truppen nun schon immer tiefer in deutsches Staatsgebiet ein und es war absehbar, daß die militärische Niederringung Deutschlands unmittelbar bevorstand. Ein ausgereiftes und durchdachtes völkerrechtliches Konzept auf inneramerikanischer wie auf interalliierter politischer (EAC) und militärischer Ebene (SHAEF) war dringend erforderlich, um ein völkerrechtliches Chaos zu vermeiden. V. 9. Korrespondenz Chanlers mit Philip Jessup und anderen Völkerrechtsexperten a. Wiederaufnahme des Gedankenaustauschs mit Philip Jessup. Mit dem Antwortkabel an Botschafter Murphy war jedoch selbst in Washington noch nicht das letzte Wort über die von den Vereinigten Staaten vertretene Rechtsposition gefallen. Im Laufe des März 1945 schalteten sich weitere 258 322 SWNCC-Papier vom 02.03.1945, Absatz Nr. 8: "Under this view the rights and powers of the conquerors would arise by operation of law from the fact of military defeat or surrender (and the unilateral action there - after taken) ..."; ebd. Diskutanten ein. Der erste war ein "alter" Bekannter in der CAD, hatte er doch wenige Monate vorher auf Chanlers Bitte hin die erste völkerrechtlich fundierte Darstellung der bedingungslosen Kapitulation besorgt: Philip C. Jessup, Professor für Völkerrecht an der Columbia Universität in New York259. Nachdem Chanler ihn erneut angeschrieben hatte, antwortete ihm Jessup am 02. März 1945. Er setzte sich dabei im wesentlichen mit Chanlers völkerrechtlichen Konstruktionsversuchen auseinander, deren Kern die Frage bildete: "Why can't we do by 'unilateral declaration' what we can do by preliminary treaty or armistice?" (Chanler)260 Wenngleich Jessup Chanler gleich zu Beginn seines Schreibens versicherte, er versuche einen Weg zu finden, der das rechtlich zulasse, was in Chanlers Absicht stehe, waren seine weiteren Ausführungen doch dem traditionellen Völkerrecht verhaftet und mit den neuartigen völkerrechtlichen Konstruktionen Chanlers nicht vereinbar. Um ihr Ziel, die mindestens teilweise Nichtbindung an das Völkerrecht, soweit dieses mit den verfolgten Kriegszielen nicht übereinstimmte, zu verwirklichen, stünden den Alliierten nur zwei Wege offen, teilte der anerkannte Völkerrechtler dem zweiten Mann in der CAD mit: entweder Abschluß eines entsprechenden Vertrages oder "Debellatio". Hinsichtlich der ersten Möglichkeit habe der Sieger alle Freiheiten, von dem besiegten Feind die Unterschrift unter jede Art von Waffenstillstand oder (Friedens-)Vertrag zu erzwingen261: "In other words, if you impose a peace treaty on a defeated enemy, in contemplation of international law, that is a valid treaty and a sound legal basis for the exercise of any rights which the other party has 259 260 261 Zu Jessups Memorandum vom Juni 1944 vgl. oben 2. Teil, V.2. Vgl. P.C. Jessup an Col. W.C. Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 1; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat Jessup an Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 2, ebd. 323 agreed, by signing the treaty, to conver upon you." Der Grund, der hinter dieser "clearly established rule" stehe, sei der, daß der Besiegte sich mit diesen Bestimmungen einverstanden erklärt habe, ganz gleich wie lästig sie ihm seien, anstatt einen hoffnungslosen Kampf weiter fortzuführen. Nachdrücklich wies Jessup noch einmal darauf hin, der Eroberer könne in der Vereinbarung mit dem Eroberten alle Bestimmungen und Bedingungen aufnehmen, die er wünsche, egal ob es sich dabei um einen Waffenstillstands- oder um einen (Friedens-)Vertrag handele263. Als Chanler diese Auffassung vom Vertragscharakter eines solchen Diktats wenige Tage später als eine "Fiktion" bezeichnete, antwortete ihm Jessup völlig zu recht: "You are right _____ in saying that the consent to an imposed treaty is a fiction, but fictions are unfortunately legal realities."264 Die hinter einem solchen (fiktiven) Vorgang stehende völkerrechtliche Regel könne mit dem Inhalt festgehalten werden, daß, wenn ein Staat in einem Krieg geschlagen worden sei und nun gezwungen werde, einen Vertrag zu unterzeichnen, er später nicht mehr mit dem Argument Gehör finde, der Vertrag sei unwirksam wegen eines Mangels einer übereinstimmenden Grundlage ("... that state will not subsequently be heard to say that the treaty is void because of lack of a consensual basis".) Es dürfte sich um dieselbe Form von Rechtsregeln handeln wie beim "Estoppel"Prinzip, bei dem jemand mit seinem Vorbringen der Wahrheit nicht gehört werde, weil sein vorhergehendes Verhalten ihn nun der Strafe unterwerfe, an seiner falschen Aussage 262 263 264 324 Jessup an Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 2; ebd., dort machte Jessup den Vorbehalt, daß er das Wort "Unterzeichnen" in diesem Zusammenhang in einer freien Form verwende, und er nicht über das Problem einer "Ratifikation" spreche. Jessup an Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 2, ebd. P.C. Jessup an Col. W.C. Chanler, 19.03.1945, S. 1; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat festgehalten zu werden, die er gemacht und auf die ein anderer vertraut habe. Im Fall des besiegten Feindes sei es jedoch nicht dessen Arglist ("fraud"), Täuschung ("deceit") oder allgemeine Schlechtigkeit ("general evil"), die ihn daran hindere, den Mangel des Einvernehmens geltend zu machen, sondern die Tatsache der Niederlage. Jessup stellte nüchtern fest: "That is a cruel reality since of course the defeated power may be the innocent aggressee. But international law and practice have developed jungle- wise to that extent at least."265 Jessup fuhr weiter fort, daß, folgte man diesen Gedankengängen, man argumentieren könne, daß der Besiegte dann gleichfalls nicht mit der Geltendmachung seiner Rechte aus den Haager Abkommen oder aus dem Völkergewohnheitsrecht angehört werden dürfe. Aus diesem Grund könne er sich auch Subjugation und Annexion als Rechtsakten mit eindeutigen und klaren Rechtsfolgen nicht widersetzen. Das Völkerrecht habe dem Sieger aber auch bestimmte Einschränkungen auferlegt, so daß der besiegte Staat in einigen Fällen doch angehört werde mit der Aussage, das Verhalten des Siegers stehe im Gegensatz zum Völkerrecht. Die Folgen von "Conquest" seien als ein Resultat der Praxis recht klar definiert. Es gebe einen entschiedenen Trend dagegen, "Conquest" als die Grundlage von Rechten anzusehen. Dies gelte nicht nur für den Angriffseroberer ("aggressive conqueror"), sondern unter allen Umständen266. Bereits in seinem Brief vom 02. März 1945 hatte Jessup die alleinige Wahlmöglichkeit der Alliierten zwischen einem Vertrag einerseits oder der Herbeiführung einer "Debellatio" andererseits als Grundlage für die gewünschten umfassenden Rechte eindeutig klargestellt. "Subjugation" bzw. "Debellatio" begründeten eine besondere Rechtsgrundlage um Dinge tun zu können, 265 266 Jessup an Chanler, 19.03.1945, S. 1, ebd. Jessup an Chanler, 19.03.1945, S. 1,2; ebd. 325 "which can not lawfully be done without the authority which flows from subjugation or debellatio. Obviously, to take advantage of the rights which come from subjugation or debellatio you must fit yourself into the position to which those two legal concepts have reference."267 Dies war eine eindeutige Stellungnahme mit Hinweis auf den untrennbaren Zusammenhang zwischen einem bestimmten kriegsvölkerrechtlichen Zustand ("Debellatio") und den nur aus diesem Zustand sich ergebenden weitreichenden Befugnissen. Jessup hielt Chanler deutlich vor Augen, daß die auch von diesem vertretene "Malkintheorie" nicht mit dem Völkerrecht in Einklang stand: "If you do not create a subjugatio or a debellatio, you can not have the rights which flow from them or one of them."268 So lange das Kriegsrecht in Kraft sei, sei der Besatzer eines feindlichen Gebietes an das Recht der kriegerischen Besetzung gebunden. Das Kriegsrecht sei ab dem Zeitpunkt des Kriegsbeginns anwendbar, und es verliere seine Wirksamkeit erst mit der Beendigung des Krieges. Seine besonderen Vorschriften und Spezifizierungen dürften aber in ihrer Anwendbarkeit modifiziert werden durch eine Vereinbarung ("agreement") oder durch das Aufgehen in eine "Subjugation" oder "Debellatio". In den beiden letzten Fällen sei die Schaffung einer neuen Rechtsquelle ("... the creation of the new source of rights ...") zeitgleich mit dem Ende des Krieges. Ohne Vereinbarung und ohne "Subjugation"/"Debellatio" seien aber insbesondere die Haager Abkommen rechtlich voll bindend269. Allenfalls der Begriff der "bedingungslosen Kapitulation", da in den Kriegen der Neuzeit nicht mehr häufig verwendet und deshalb völkerrechtlich nicht ausgereift und nicht mit 267 268 269 326 Jessup an Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 6, ebd. Jessup an Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 6, ebd. Jessup an Chanler, 02.03.1945, Absatz Nr. 7, ebd. eindeutigen Rechtsfolgen versehen (darauf hatte Jessup auch schon in seinem ersten Memorandum 1944 verwiesen), könnte einen möglichen Ausweg versprechen. Warum, so fragte Jessup, solle man unter bedingungsloser Kapitulation nicht eine Übergabe der Berechtigung sehen, die vom Sieger gewünschte Regierung einzusetzen, eine Übergabe anderer Rechte, insbesondere des Rechts, sich auf die Haager und Genfer Konventionen zu berufen, bis hin zu der Möglichkeit, daß der besiegte Staat durch "bedingungslose Kapitulation" den Sieger von allen seinen üblichen völkerrechtlichen Pflichten entbinde270? Jessup's Anwort auf diese selbstgestellte Frage lautete: "We find that this is true in the sense that it leaves the victor free to proceed to subjugation which is the complete elimination of the rights of the defeated party. Short of that, the victor, lying on the unconditional surrender, may assert that he is released from his other obligations under international law."271 Diese auf den ersten Blick an Malkins und Chanlers Theorie erinnernde Argumentation, war von dieser jedoch von Grund auf verschieden. Denn während Chanler die eindeutigen Rechtsfolgen von "Conquest" und "Debellatio" durch eine einseitige Erklärung der Alliierten umgehen wollte, beruhte Jessups Einschätzung der "bedingungslosen Kapitulation" auf dem Vertragsgedanken; zumindest war aber eine Erklärung der deutschen Regierung notwendig, die als einzige über die in Frage stehenden Rechte hätte verfügen (also auch verzichten) können. Einer nicht weiter spezifizierten Kapitulationserklärung der deutschen Regierung hätte man dann entsprechende Rechtsfolgen zusprechen können. Im Grunde handelte es sich bei diesem Vorschlag Jessups um nichts anderes, als was auch bereits die EAC- Kapitulationsurkunde erreichen sollte, nämlich durch die Übertragung der "supreme authority" eine umfassende 270 271 Jessup an Chanler, 19.03.1945, S. 2,3; ebd. Jessup an Chanler, 19.03.1945, S. 3; ebd. 327 Ermächtigungsgrundlage zu erhalten, in deren Rahmen man sich dann an den jeweils benötigten Rechten selbst bedienen konnte. Dieser von Jessup abgesteckte völkerrechtliche Handlungsund Gestaltungsspielraum der Alliierten bei deren Vorgehen in Deutschland deckte sich im wesentlichen mit den bereits 1944 gemachten Ausführungen zu diesem Thema. b. Memorandum Ralph Carsons vom März 1945. Anders als Jessup, aber mit deutlicher Anlehnung an Chanlers Ideen, wollte auch Ralph Carson, Mitarbeiter von Norman Davis in dessen Rechtsanwaltskanzlei in New York, in einer Denkschrift Mitte März 1945 als Rechtsquelle zukünftiger alliierter Befugnisse im besetzten Deutschland allein den Machtfaktor ansehen. Auf der Grundlage von "Conquest", einseitig proklamiert durch die Alliierten, zusammen mit der Geltendmachung wirkungsvoller Machtvollkommenheit ("... the assertion of effective authority ...") durch diese könne, so behauptete Carson, der selbe politische Zustand ("political status") hervorgehen wie von einem Vertrag, der von Deutschland unter dem Druck der fortgesetzten Feindseligkeiten unterzeichnet werde. Das Merkmal der "Übereinstimmung" ("consensuallty") in einem solchen Vertrag sei rein fiktiv "and the really operative element is the coercion"272. Carsons Verständnis von "Conquest" unterschied sich deutlich von dem, das die anderen Fachleute bisher geäußert hatten. Während diese übereinstimmten, "conquest" allein, d. h. die bloße militärische Niederwerfung des Gegners, ziehe keine eigenen Rechtsfolgen nach sich, war Carson der Ansicht, "Conquest" sei "the oldest basis of legal right", gehe aber dabei unter den angenommenen Umständen keinesfalls soweit, den deutschen Staat auszulöschen, die deutsche Staatsangehörigkeit aufzuheben, das deutsche Recht durch amerikanisches, englisches oder russisches Recht zu ersetzen oder die Staatsschulden Deutschlands auf die drei 272 328 R. Carson, "Draft Opinion on Assumed Facts", Absatz Nr. 1, 15.03.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat alliierten Mächte abzuwälzen. Die rechtliche Wirkung der als sicher angenommenen Tatsachen sei die Einsetzung einer neuen Regierung, des alliierten Kontrollrats, der souveräne Machtbefugnisse ausübe ("... exercising sovereign powers")273. c. Memorandum von Colonel Hayden N. Smith vom März 1945. Colonel Hayden N. Smith legte am 15. März 1945 ein Memorandum vor mit dem Titel "Facts to be Assumed", in dem er das bis dahin im Kriegsministerium gewonnene Diskussionsergebnis festhielt. Die dort genannten sieben Punkte zeigen bereits, daß die bis dahin immer noch alliierter Beschlußlage entsprechende EAC-Kapitulationsurkunde keinen Stellenwert in der amerikanischen Planung mehr hatte. Der dann in den Monaten Mai und Juni 1945 von den Alliierten tatsächlich beschrittene Weg einer rein militärischen Kapitulation mit einer anschließenden einseitigen Ermächtigungserklärung der Siegermächte, kommt bereits deutlich zum Ausdruck. Der Inhalt der Berliner Deklaration vom 05. Juni 1945 wird in einigen Passagen schon vorweggenommen. Grundlage alliierter Machtbefugnisse sollte die militärische Kapitulation sein: "The German armed forces have been completely defeated on land, at sea and in the air and Germany is powerless to continue organized resistance... ."274 Davon ausgehend sollte alles weitere durch einseitige Erklärungen erfolgen. Eine formale Anerkennung dieser oben genannten Tatsachen durch "any German authority qualified to speak for Germany" wurde nicht mehr eingeplant. Das Vorhandensein dieser Tatsachen müsse durch einseitige Proklamation festgestellt werden275. 273 274 275 R. Carson, 15.03.1945, Abs. Nr. 2; ebd. Col. H.N. Smith, "Memorandum: Facts to be Assumed", 15.03.1945, Abs. Nr. 1; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat. Col. H.N. Smith, Memorandum vom 15.03.1945; Abs. Nr. 2; ebd. 329 Dasselbe galt auch für die Übernahme der "supreme authority", worunter die "vollkommene Macht" ("plenary power") in Deutschland verstanden wurde276, und die Absicht der Alliierten, Deutschland als Staat zu erhalten, insbesondere nicht zu annektieren und nicht durch einen 277 neuen oder eine Gruppe von Staaten zu ersetzen . Die Übernahme der "supreme authority" in Deutschland müsse international anerkannt werden durch die Akkreditierung der Missionen anderer Vereinter Nationen bei der Kontroll- Kommission in Deutschland oder durch andere geeignete Wege278. Auf welche der bis dahin diskutierten Theorien die einseitige Übernahme von "supreme authority" sich bezog, wurde nicht weiter ausgeführt, hatte sich doch ein klares - rechtstechnisches Ergebnis bis dahin auch noch gar nicht herauskristallisiert. In Absatz Nr. 7 des Smith-Memorandums vom 15. März wird allerdings deutlich, auf welche Theorie man die geplante Nicht-Anwendbarkeit des Völkerrechts, oder von Teilen desselben, keinesfalls zu stellen beabsichtigte: auf eine Repressalien-Theorie: "Purpose on the part of the Allied powers not be denounce the Hague or Geneva Conventions or disregard them on any theory of reprisals." Schon Jessup hatte in seinem Brief an Chanler am 02. März 1945 darauf hingewiesen, daß eine Repressalien-Theorie in diesem Zusammenhang die Dinge nur noch schlimmer mache, weil damit eine Kette von Repressalien in Gang gesetzt würde. Er hatte diese Theorie deshalb als nicht befriedigend abgelehnt280. 276 Col. ebd. H.N. Smith, Memorandum 277 Col. H.N. ebd. 278 Col. H.N. ebd. 279 Col. H.N. ebd. 280 Jessup an 330 vom 15.03.1945; Abs. Nr. 3; Smith, Memorandum vom 15.03.1945; Smith, Memorandum vom 15.03.1945; Abs. Nr. 3,4 ; Abs. Nr. 6; Smith, Memorandum vom 15.03.1945; Abs. Nr. 7; Chanler, 02.03.1945, Abs . Nr. 7, ebd. Auch Chanler selbst war dieser Überzeugung, wies jedoch zur Klarstellung bezüglich der dazu gemachten Ausführung im SmithMemorandum darauf hin, damit sei gemeint, die Alliierten beabsichtigen nicht zu behaupten, sie seien an die Haager und Genfer Konventionen auch in den Fällen nicht gebunden, in denen diese anwendbar seien, und sie hätten keinerlei Absicht, diese Konventionen im Wege von Repressalien zu mißachten. Dieser Satz dürfe aber auch nicht so verstanden werden, als hätten die Alliierten vor, die Konventionen auch in solchen Situationen anzuwenden, in denen diese nicht anwendbar seien281. Als grundlegende Theorie für die amerikanischen Absichten hatte sich im Kriegsministerium mittlerweile die "Malkintheorie" durchgesetzt, wenngleich auch andere Theorien noch immer Erwähnung fanden (z.B. der Hinweis auf den Briand-Kellogg-Pakt). Der offensichtlich logische "Schluß vom Größeren auf das Kleinere" erschien als der rechtstechnisch sauberste Weg zur Zweckerreichung. Hayden N. Smith führte dazu aus: "Since, however, the factual situation creates the right to carry out war aims, and since that factual situation permits of no method other than unilateral action for the achievement of those aims, then it must follow that the factual situation creates a right to achieve by unilateral action not only the extreme war aim of extinction, but also the less drastic ones entertained by the United Nations."282 Schwieriger erschien da schon das Problem der Anwendbarkeit der Genfer Konvention auf die deutschen Kriegsgefangenen. Zwar hätte man auch hier mit ähnlichen rechtlichen und fragwürdigen Konstruktionen wie bei der (teilweisen) Verneinung der HLKO argumentieren können. Die Schwierigkeiten ergaben sich deshalb eher aus der Frage, ob 281 282 W. Chanler, Memorandum, o.D., Abs. Nr. 1; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat' Col. H.N. Smith, Memorandum, Abs. III. i.; 13.03.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat 331 die Nichtanwendbarkeit der Genfer Konvention überhaupt sinnvoll und vernünftig wäre. in der Praxis Aber auch die zusätzlichen rechtlichen Begründungsversuche, die beispielsweise Colonel Hayden N. Smith in einem Memorandum vom 13. März 1945 machte, sind recht aussagefähig. Ausgehend von seiner Grundthese, die Alliierten seien völlig frei, gegenüber dem deutschen Volk alle Verpflichtungen, Beschränkungen oder andere Forderungen zu verhängen, die sie zur Durchführung ihrer Kriegsziele für geeignet hielten, meinte Smith weiter, daß auch die Soldaten ja nur ein Teil ihres Volkes und als solche somit auch den Maßnahmen der Alliierten unterworfen seien. Lediglich, wenn die Kriegsgefangenen in ihrem Status betroffen seien, gelte dies nicht. Aber auch für letzteren Fall hatte Hayden N. Smith bereits eine Lösungsmöglichkeit parat: Der Gebrauch deutscher Kriegsgefangener als Zwangsarbeiter zu Reparationszwecken oder um den Alliierten im weiteren Krieg gegen Japan zu helfen, wäre nach Smiths Meinung mit folgender Argumentation zu begründen gewesen: Da jedes der beiden Ziele rechtmäßig unter Zwang von einer deutschen Regierung verlangt werden könnte, sollten die Sieger auch darin frei sein, diese Ziele durch eigenes Tätigwerden zu erreichen. Denn die Kriegsgefangenen als solche stellten nicht die einzige verfügbare Quelle für diesen Zweck dar, sondern sollten lediglich Verwendung finden als ein Teil und auf der gleichen Grundlage wie die Masse der verfügbaren Arbeitskräfte. Sie sollten von einer solchen Verwendung aber auch nicht ausgeschlossen werden, weil dies im Gegensatz stehen würde zur Politik der Auslöschung des Militarismus283. 283 Col. H.N. Smith, Memorandum, 13.03.1945; Abs.III.K.; ebd. 332 VI. Die Änderung der Kapitulations-Urkunde in der Zeit von der Krim-Konferenz bis zur Berliner Viermächteerklärung vom 5. Juni 1945 VI. 1. Modifizierung der Kapitulations-Urkunde auf der Konferenz von Jalta Eine inhaltliche Änderung erfuhr der EAC- Kapitulationsentwurf in der vom 04. bis zum 11. Februar in Jalta abgehaltenen Dreimächtekonferenz284. Der Gedanke einer Zerstückelung Deutschlands, der schon auf den vorangegangenen Kriegskonferenzen, insbesondere in Teheran, aber auch in der amerikanischen Administration immer wieder Anklang gefunden hatte, wurde auf der Krimkonferenz wieder aufgenommen285. Stalin war es, der den Vorschlag unterbreitete, in die KapitulationsUrkunde einen Hinweis auf die Zerstückelungsabsichten der Alliierten aufzunehmen. Einen konkreten Teilungsplan hatte allerdings keiner der Konferenzteilnehmer vorliegen. Sie entschieden sich deshalb, eine weitere Kommission in London einzusetzen ("Dismemberment-Committee") , die in diesem Feld tätig werden sollte. Stalin versprach sich von der Aufnahme der ZerstückelungsAbsichten in die Urkunde, daß dadurch garantiert werde, daß eine deutsche Regierung in jedem Fall eine solche Maßnahme zu akzeptieren habe286. Churchill meldete, obwohl wie Roosevelt diesen Teilungsplänen aufgeschlossen gegenüberstehend, jedoch grundsätzliche Bedenken gegen die Aufnahme dieses Planes in die Urkunde an. Er ging davon aus, daß eine "bedingungslose Kapitulation" ohnehin sämtliche Rechte auf die Alliierten übertrage, und es gebe keine Notwendigkeit, mit irgendeiner Gruppe in Deutschland sprechen oder verhandeln zu müssen287. Weiter betonte 284 285 286 287 Vgl. dazu auch schon oben 1. Teil, IV.9. Zu den vorangegangenen Aufteilungsplänen vgl. Ph.E. Mosely, Die Friedenspläne der Alliierten und die Aufteilung Deutschlands, in: EA 1950, S. 3032 ff. J. Foschepoth, Britische Deutschlandpolitik zwischen Jalta und Potsdam, in: VfZG 1982, S. 675 ff. J. Foschepoth, VfZG 1982, S. 677 Churchill, die Alliierten behielten sich unter diesen Bedingungen alle Rechte vor, über das Leben, das Eigentum und die künftige Tätigkeit der Deutschen zu entscheiden. Allein die Absprachen der Alliierten untereinander seien wichtig. Die Kapitulationsurkunde sollte nach Churchills Ansicht nicht von Hitler oder Himmler gezeichnet werden. Würden diese wider Erwarten eine Kapitulation anbieten, sei diese abzulehnen und der Krieg weiterzuführen. Sollte eine andere Gruppe von Deutschen ihren Kapitulationswillen kundtun, würden die Alliierten sofort untereinander beraten, ob sie mit dieser Gruppe verhandeln könnten. Falls dies der Fall sei, würden die unabänderlichen Kapitulationsbedingungen sofort vorgelegt werden. Andernfalls würde man den Krieg fortsetzen, das ganze Land besetzen und eine Militärregierung einrichten'’. 288 Roosevelt teilte Stalins Meinung. Er hielt es gleichfalls für angebracht, dem deutschen Volk zum Zeitpunkt der Kapitulation bekanntzugeben, was es zu erwarten habe. Da Churchill aber einen negativen psychologischen Effekt auf die Deutschen befürchtete, versuchten ihn Roosevelt und Stalin mit dem Hinweis zu beschwichtigen, die Kapitulations-Urkunde müsse ja nicht veröffentlicht werden289. Stettinius, Molotow und Eden einigten sich daraufhin, Artikel 12 lediglich durch die Einfügung des Wortes "Aufteilung" ("dismemberment") zu ergänzen290, so daß der entsprechende Abschnitt nun lautete: "Das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden die oberste Autorität gegenüber Deutschland innehaben. In Ausübung dieser Autorität werden sie solche Schritte einschließlich der völligen Entwaffnung, Entmilitarisierung und Aufgliederung ("dismemberment") 2SS FRUS Malta und Jalta, (dt.), S. 574 f. 289 FRUS Malta und Jalta, (dt.), S. 577 290 FRUS Malta und Jalta, (dt.), S. 613 ff. 334 Deutschlands unternehmen, die sie für den künftigen Frieden und die Sicherheit für erforderlich halten" 291 Das "Dismemberment-Committee", das die Frage der Aufteilung näher erörtern sollte, bestand aus den gleichen Repräsentanten, die auch in der EAC saßen. Lediglich Frankreich war, wie auch in Jalta, nicht vertreten. Es hielt insgesamt nur zwei Sitzungen ab und verschwand schnell in der politischen Versenkung. Die alliierten Vorstellungen vom Ob und Wie einer möglichen Aufteilung des deutschen Staatsgebietes gingen bereits zu sehr auseinander292. Daß Frankreich diesem Ausschuß für Teilungsfragen nicht angehörte, war auf die entsprechende Vereinbarung der in Jalta versammelten Außenminister zurückzuführen. Während der britische Außenminister Eden sich für die Teilnahme der Franzosen aussprach, hielten Stettinius und Molotow sich eher bedeckt293. Molotow machte den Vorschlag, die Frage der französischen Beteiligung nicht in Jalta zu klären, sondern später den Ausschuß selbst darüber entscheiden zu lassen. Eden und Stettinius stimmten zu294. 291 Vgl. die dt. Übersetzung in G. Zieger, Berliner Erklärungen und Potsdamer Abkommen - Auswirkungen auf den Fortbestand Deutschlands, in: B. Meissner/T. Veiter (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, 2. Teil: Berliner Deklaration und Sonderfragen, S. 7 ff,, 9; G. Zieger stellt dazu ebd., S. 10, treffend fest: "Aus dieser Formulierung wurde deutlich, daß zwischen den drei Mächten der Kulminationspunkt in der Gemeinsamkeit ihrer Ansicht von der Notwendigkeit einer Aufgliederung des deutschen Staates bereits zu diesem Zeitpunkt überschritten war. ... Dahinter verbargen sich die divergierenden Auffassungen vor allem innerhalb der amerikanischen und der britischen Administration über die Behandlung Deutschlands." Eine leicht abweichende Übersetzung bei J. Foschepoth, VfZG 1982, S. 677 f., der statt von "oberster Autorität" von "höchster öffentlicher Gewalt" spricht, und statt von "Aufgliederung" von "Aufteilung", wobei der letzte Unterschied sachlich nicht von Bedeutung sein dürfte. 292 Zum Schicksal des "Dismemberment Committee" vgl. Ph. Mosely, EA 1950, S. 3038 ff.; G. Zieger, Berliner Erklärungen und Potsdamer Abkommen, ebd., S. 12 ff.; J. Foschepoth, VfZG 1982, S. 690 f. 293 294 FRUS Malta und Jalta, (dt.), S. 654 f. FRUS Malta und Jalta, (dt.), S. 655; Ph. Mosely, EA 1950, S. 3037 335 Das Hinauszögern einer Entscheidung zu dieser Frage und ihre Delegierung an einen weisungsgebundenen Ausschuß war jedoch Anlaß für größere Verwirrung. Denn Frankreich erhielt dadurch zunächst weder Kenntnis von dem in Jalta beschlossenen Zusatz im Kapitulations-Dokument noch von der neuen Kommission. Dies bedeutete, daß gleichzeitig zwei - in der Teilungsfrage voneinander abweichende - Fassungen der Kapitulations-Urkunde Vorlagen. Eine vom 25. Juli 1944, bezüglich der der französische EAC-Vertreter, Botschafter Massigli, im Januar 1944 den Antrag gestellt hatte, in den Kreis der Unterzeichner aufgenommen zu werden295, und eine zweite, die Jalta-Fassung, die nur den drei Mächten bekannt war. Wollte man, daß Frankreich dem Zusatz von Jalta zustimmte, dann mußte man es darüber in Kenntnis setzen und zwangsläufig auch als gleichwertiges Mitglied in die neu geschaffene Kommission aufnehmen. Zu einer solchen Mitteilung fühlten sich die Mitglieder des "Dismemberment- Committee" jedoch nicht so ohne weiteres befugt, zumal die Regierungschefs es in Jalta unterlassen hatten, sie zu einer solchen Erklärung zu ermächtigen296. Man mußte außerdem damit rechnen, die Russen würden einer entsprechenden Aufklärung Frankreichs wegen der "grundsätzlichen Anti-Haltung der Sowjets gegenüber den Franzosen" nicht zustimmen297. VI. 2. Frankreich wird einbezogen Auf der Sitzung des Teilungs-Ausschusses am 11. April 1945 stand das Frankreich-Problem auf der Tagesordnung298. Während Eden und Winant sogleich Übereinstimmung über die 295 296 297 298 336 Vgl. J. Foschepoth, VfZG 1982, S. 691 f. Ph. Mosely, EA 1950, S. 3039 Vgl. J. Foschepoth, VfZG 1982, S. 692 Ob die Initiative zur nunmehrigen Aufnahme und Informierung Frankreichs von den Vereinigten Staaten oder von Großbritannien ausging, ist nicht eindeutig zu klären, vgl. einerseits Ph. Mosely, EA 1950, S. 3040, der angibt, der Anstoß dazu sei über das US-Außenministerium und Winant erfolgt, dagegen J. Foschepoth, VfZG 1982, S. 692 f., der nachweist, daß Winant noch am 07.03.1945 für den weiteren Ausschluß Frankreichs aus dem "DismembermentCommittee" plädiert hatte; vgl. auch FRUS 1945 III, S. 216, 219. Hinzuziehung Frankreichs, die Unterrichtung über den JaltaPassus der Aufteilung und die Aufforderung an Frankreich, diesem neuen Dokument zuzustimmen, erzielten, mußte Gusew erst bei seiner Regierung Rücksprache nehmen. Eine Stellungnahme aus Moskau wurde jedoch nie vorgelegt, was sich auch letztendlich erübrigte, weil das "Dismemberment- Committee" keine weitere Sitzung mehr abhielt299. Die Franzosen bekamen dennoch Wind von der ganzen Angelegenheit und waren verständlicherweise verstimmt, weil sie sich von ihren alliierten Partnern hintergangen fühlten. Der amerikanische Botschafter in Paris setzte unautorisiert die französische Regierung über die Vorgänge in Jalta und danach in Kenntnis. Eden sah sich nun gezwungen, den französischen Botschafter in London und EAC- Repräsentanten seines Landes, Massigli, auch offiziell zu unterrichten. US-Botschafter Winant war dabei anwesend. Seinem politischen Berater in der EAC, Philip Mosely, oblag es danach, wie er selbst bekundete, die Wogen bei den Franzosen wieder etwas zu glätten, indem er auf das (jedoch erst wenige Tage vorher) gezeigte Engagement der Amerikaner zur Einbeziehung Frankreichs verwies und davor warnte, daß nun einsetzende französische Proteste und Zeitungsmeldungen die Zustimmung der Sowjetunion nur gefährden könnten300. Wenn die Franzosen nun auch vollständig über das neue Komitee und die Neufassung des Kapitulations-Textes informiert waren, so war doch immer noch völlig offen, ob das ursprüngliche oder das revidierte Dokument zur Anwendung kommen sollte. Zwar wurde in der EAC am 1. Mai 1945 die erste Fassung unterzeichnet (mit den notwendigen, Frankreich betreffenden Änderungen) , doch waren immer noch Zweifel an ihrer möglichen Verwendung vorhanden, wenn auch der Gedanke einer Zerstückelung Deutschlands als gezielte politische Maßnahme, der zur veränderten Fassung geführt 299 300 Ph. Mosely, EA 1950, S. 3040; J. Foschepoth, VfZG 1982, S. 692 Ph. Mosely, EA 1950, S. 3040; J. Foschepoth VfZG 1982, S. 693; FRUS 1945 III,S. 222 337 hatte, durchaus nicht mehr der allgemeinen Meinung der Alliierten entsprach301. V. 3. Britische Änderungsvorschläge anderen EAC-Delegationen und die Reaktion der a. Britische Änderungsvorschläge. Während sich die amerikanischen Völkerrechtsexperten, allen voran Colonel William Chanler und Professor Philip C. Jessup, noch darüber stritten, ob die Alliierten mit einer von ihnen erlassenen einseitigen Erklärung der "bedingungslosen Kapitulation" genau so viele Rechte an sich ziehen könnten wie durch eine Übertragung dieser Rechte in dem dafür vorgesehenen, von der EAC ausgearbeiteten Dokument, ging man in der EAC bereits an die praktische Ausführung dieses Vorhabens. Wie schon so oft in den vorangegangenen Monaten, wurde auch diesmal die britische Delegation als erste tätig. Ihr Leiter, William Strang, unterbreitete den EAC- Mitgliedern am 30. März 1945 einen in seinem Haus entstandenen Entwurf einer alliierten Erklärung für den Fall, daß keine zentrale deutsche Autorität, zivil oder militärisch, zur Unterzeichnung des Textes mehr vorhanden sein sollte302. Strangs Vorlage orientierte sich jedoch nicht an dem JaltaBeschluß zur Kapitulation, sondern an dem ursprünglichen, war doch Frankreich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht über den Zusatz von Jalta informiert. Der Hinweis auf die Teilungsabsicht der Alliierten fehlte somit. Ansonsten hielt sich der britische Entwurf weitgehend an den originären Text, jedoch mit ein paar formalen, aber auch inhaltlichen Verschiebungen. Die erste Änderung betraf die Text-Überschrift und die Präambel. Hatte die bisherige Überschrift schlicht "Unconditional Surrender of Germany" geheißen303, so fehlte nun jeder Hinweis auf eine "bedingungslose Kapitulation", und es war nur noch die Rede von "Declaration ... regarding the defeat of Germany and 301 302 303 338 Ph. Mosely, EA 1950, S. 3040; FRUS 1945 III, S. 258 f. FRUS 1945 III, S. 208 ff. FRUS 1944 I, S. 256 V the assumption of supreme authority with respect to Germany. .."304. Damit wurde nunmehr schon in der Überschrift deutlich, daß es sich bei dieser gemeinsamen alliierten Erklärung um ein Generalermächtigungs-Instrument handeln sollte. Um den hohen Stellenwert dieser "supreme authority" auszudrücken, sollte der sonst in Artikel 12 versteckte Ermächtigungspassus in die Präambel aufgenommen werden. Um den Umfang der "supreme authority" zu bestimmen, der sich ursprünglich aus der Person der Unterzeichner ergeben hätte, die alle ihnen zustehenden Befugnisse zu übertragen gehabt hätten, legte die britische Delegation nun diesbezüglich eine Spezifizierung vor. In der Ermächtigungsklausel sollte fortan stehen, die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika, der Sowjetunion und der provisorischen Regierung der französichen Republik würden... "... hereby assume supreme authority with respect to Germany, including all the powers possessed by the German Government, the High Command and any state, municipal, or local government or authority. The assumption, for the purposes stated above, of the said authority and powers does not effect the annexation of Germany."305 Durch den letzten Satz wurde den völkerrechtlichen Diskussionen, und vor allem dem Vorschlag William Malkins, Rechnung getragen, in denen teilweise vermutet worden war, die Übernahme der "supreme authority" könnte zur "Debellatio" und damit zum Untergang des deutschen Staates führen, verbunden mit einer Fülle noch nicht vorhersehbarer Rechtsfolgen auch für die Alliierten selbst. Daß dieses Ergebnis von den Alliierten nicht beabsichtigt wurde, stellten sie durch die Aussage über die Nichtannektierung Deutschlands hinreichend klar. Dies wurde auch durch den nachfolgenden Präambel-Absatz gestützt, der feststellte, 304 305 FRUS 1945 III, S. 210 FRUS 1945 III, S. 210 339 die vier Alliierten würden später die Grenzen Deutschlands oder eines Teils davon bestimmen, ebenso wie den (Rechts-)- Status Deutschlands oder jedes Gebietes, das momentan ein Teil Deutschlands sei306. Die Intention, die die Briten mit diesen Formulierungen verfolgten, lag auf der Hand: Durch die Erklärung sollte eine völkerrechtliche Lage beschrieben werden, die in Anbetracht der vollständigen Niederlage der deutschen Streitkräfte als "Conquest" bezeichnet werden kann. Den möglichen weiteren Schritt zu einer "Debellatio" wollten sie sich ausdrücklich offenhalten. Um aber auch in der Situation der "Conquest" nicht mehr an das Völkerrecht, voran die HLKO, gebunden zu sein, hielten sie eine spezifizierte einseitige Übernahme der "supreme authority" für notwendig - auf welchem juristischen Weg das gesehenen könnte, wurde in der Erklärung jedoch nicht gesagt. Vielmehr gab man sich den Anschein, daß es schon seine Richtigkeit habe, wenngleich, wie wir bereits gesehen haben, die Diskussionen darüber zumindest in den amerikanischen Planungsstäben nicht abrissen. William Strang führte in der dem britischen Entwurf beigegebenen Denkschrift dazu lediglich aus: "By the Declaration the Allies assume all necessary authority and powers in respect of Germany without effecting the annexation of, or the formal acquisition of sovereignty over, Germany."307 Noch nicht im britischen Entwurf enthalten war eine Vorschrift im Hinblick auf die Übergabe von Kriegsverbrechern. Die Briten hatten ganz zu Beginn der EAC-Verhandlungen die Aufnahme einer diesbezüglichen Bestimmung in den Kapitulations-Text vorgesehen gehabt, ihn dann aber wegen des Widerspruches der Sowjets und Amerikaner fallengelassen. Die beiden Opponenten hatten 306 307 340 FRUS 1945 III, S. 210 FRUS 1945 III, S. 209 seinerzeit befürchtet, die deutschen Unterzeichner könnten sich womöglich selbst als Kriegsverbrecher erweisen, so daß es weniger wahrscheinlich erscheine, deutsche Unterschriften zu erhalten. Da dieser Einwand bei einer einseitigen Erklärung der Alliierten, wie sie nun besprochen wurde, keine Grundlage mehr hatte, machten die Briten sich in der begleitenden Denkschrift erneut für die Hineinnahme einer Kriegsverbrecher-Bestimmung stark308. b. Reaktion der Sowjetunion und der USA. Die Reaktionen der Amerikaner und Sowjets auf die britischen Anregungen fielen unterschiedlich aus. Während das Weglassen des Begriffes "bedingungslose Kapitulation" und die anderen Modifizierungen Gusew störten, und er bereits annahm, dies sei der Beweis für einen grundlegenden politischen Wandel, war Winant anderer Ansicht. Er versicherte Gusew, er glaube nicht daran, daß die Briten die Absicht hätten, ihre Politik zu ändern. Auch die Amerikaner stünden zu den getroffenen Vereinbarungen, die "bedingungslose Kapitulation" eingeschlossen309. Eine entsprechende Klarstellung nahm auch das amerikanische Außenministerium gegenüber dem sowjetischen Botschafter in Washington, Gromyko, vor, der das Beharren der Amerikaner auf den bisher gefaßten Beschlüssen befriedigt konstatierte310. Selbst Roosevelt sah die Notwendigkeit einer Deklaration anstelle der zu unterzeichnenden "bedingungslosen Kapitulation" nicht ein. Er ließ sein Außenministerium wissen: "I do not wish any document or proposal changing the unconditional surrender terms."311 Winant war in der Beziehung jedoch ganz anderer Meinung. Da der übliche Weg über das amerikanische Außenministerium fruchtlos geblieben war, wandte er sich am 14. April 1945 308 309 310 311 FRUS FRUS FRUS FRUS 1945 1945 1945 1945 III, III, III, III, S. S. S. S. 209 216 f. 217 ff. 219 341 telefonisch direkt an den Chef des Stabes der US-Army, General Marshall. Es gelang Winant, Marshall von der Notwendigkeit einer unter den vier Alliierten in der EAC abgestimmten Proklamation auf der Grundlage des EAC-Textes vom Juli 1944 zu überzeugen312. General Marshall und Kriegsminister Stimson sahen ein, daß möglicherweise eine Situation entstehen konnte, in der eine deutsche Regierung oder ein deutsches Oberkommando nicht mehr vorhanden waren. Um nähere Absprachen zu treffen, suchten sie den Kontakt zum Außenministerium313. In einem Schreiben an Winant am 18. April 1945, das offensichtlich mit dem Kriegsministerium abgesprochen war, widersetzte sich Außenminister Stettinius jedoch den Bestrebungen nach Umwandlung des Kapitulations-Textes in eine Proklamation. Da viele Bereiche des ursprünglichen Kapitulations-Dokumentes schon durch Verordnungen der Militärregierung (SHAEF) geregelt werden würden, könnte die Ausfertigung der ganzen "bedingungslosen Kapitulation" in eine Proklamation Verwirrung verursachen. Der Text erschien Stettinius viel zu lang, als daß er als Erklärung wirkungsvoll werden könnte. Kriegsund Außenministerium bevorzugten eher den Erlaß einer kurzen Deklaration von allgemeinem Charakter. Sie sollte enthalten: 1. Die Feststellung der vollständigen Niederlage und die Verhängung der Forderungen der "bedingungslosen Kapitulation". 2. Die Übernahme der "supreme authority" durch die vier alliierten Mächte. 3. Die Einrichtung des Kontrollrats und die Beschreibung der zonalen Verantwortlichkeit. 4. Eine Anweisung an die Deutschen, alliierten Befehlen Folge zu leisten, verbunden mit der Androhung harter Bestrafung bei Nichtbefolgung. 312 313 342 FRUS 1945 III, S. 223 ff. FRUS 1945 III, S. 223 5. Ankündigung, daß weiterer Widerstand gegen die Streitkräfte der Vereinten Nationen als unrechtmäßig angesehen und dementsprechend geahndet werde.314 Die in der Kapitulations-Urkunde vorgesehenen politischen Maßnahmen und Verfahrensweisen sollten danach in Kraft gesetzt werden durch die kommandierenden Generäle der Streitkräfte der vier Mächte in Form entsprechender Anordnungen. Dies, so versicherte Stettinius, bedeute nach Ansicht des Außenministeriums keine Abweichung von der Politik der "bedingungslosen Kapitulation". Stettinius verstand diese Vorschläge jedoch nur als Anregung, nicht als für Winant bindend. Sollte es mit diesen Vorschlägen in der EAC Schwierigkeiten geben, was aufgrund der kategorischen Verweigerungshaltung der Sowjetunion schon abzusehen war, stand es Winant frei, auf der Basis der bisherigen Deklarations-Entwürfe mit seinen EACKollegen zu verhandeln315. c. Ein weiterer britischer Vorschlag zur Erweiterung der Kapitulations-Urkunde. Zusätzliche Konfusion in einem Augenblick, in dem aus alliierter Sicht eindeutiges Handeln erforderlich gewesen wäre, löste William Strang am 1. Mai 1945 aus, als er Philip Mosely über eine beabsichtigte wichtige Erweiterung des Kapitulations-Textes informierte, die Strang der EAC demnächst unterbreiten wollte. Anstelle des Satzes in der Präambel, die Repräsentanten der Oberkommandos der vier Alliierten handelten im Auftrag ("by authority") ihrer jeweiligen Regierungen und im Interesse der Vereinten Nationen316, schlug Strang die Formulierung vor: "... acting by authority of their respective governments and others of the United Nations which have actively participated in the defeat of Germany and in the interest of all the United Nations."317 314 315 316 317 FRUS FRUS FRUS FRUS 1945 1945 1945 1945 III, III, III, III, S. S. S. S. 230 230 f. 210 254 f. 343 Strang hatte eine direkte Anweisung seiner Regierung erhalten, auf diesen Passus zu drängen. Hintergrund war ein starker kanadischer Druck. Andernfalls, so ließ Strang Philip Mosely wissen, beabsichtigten die Kanadier eine Protesterklärung abzugeben, da sie der Auffassung seien, die gegenwärtige Fassung erkenne den Beitrag der anderen Vereinten Nationen nur unzureichend an318. Der britische Zusatz mußte unzweifelhaft zu einer weiteren Verzögerung der endgültigen Beschlußfassung führen, weil zuvor eine Vielzahl auch außereuropäischer Staaten zu konsultieren gewesen wären. Ein Unterzeichnungsrecht sollte diesen Staaten allerdings nicht eingeräumt werden. Für Strang war nur wichtig, daß mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung in Ländern wie Kanada die jeweiligen Regierungen nachher sagen könnten, sie seien zu Rate gezogen worden über die Kapitulations-Bestimmungen und hätten sie gebilligt319. In der Abendsitzung der EAC am 1. Mai 1945 wurden dann die Weichen für die in den kommenden Tagen zu fällenden Entscheidungen gestellt. Alle Delegationen waren sich einig, daß ein Proklamations-Entwurf vorzubereiten sei. Diese Proklamation sollte jedoch nur Verwendung finden, falls tatsächlich keine zur Unterschrift fähige "central power of authority" in Deutschland mehr vorhanden sei320. Über die anderen britischen Änderungs- und Ergänzungsbestrebungen wurde zwar diskutiert, eine Übereinstimmung fanden die vier Delegationen allerdings nicht321. 318 319 320 321 344 FRUS FRUS FRUS Vgl. 1945 1945 1945 FRUS III, S. 255 III, S. 256 III, S. 257 1945 III, S. 256 f. VI.4. Die Entscheidung zur Verwendung einer rein militärischen Kapitulations-Urkunde Konfusion in den amerikanischen Planungsstäben. In den ersten Maitagen wurde der baldige militärische Kollaps der deutschen Streitkräfte immer offensichtlicher. Welche Fassung des Kapitulations-Textes sollte man der deutschen militärischen, vielleicht auch der zivilen Führung vorlegen? Die Fassung vom Juli 1944, die Jalta-Fassung, mit oder ohne die britischen Änderungs- und Zusatzklauseln? Oder sollte man gar auf die politisch-militärische Kapitulation zugunsten einer rein militärischen ganz verzichten? Die Unsicherheiten waren größer als in jeder der vorhergegangenen Planungsphasen. Philip Moselys Besuche bei der sowjetischen EAC-Delegation blieben ohne faßbares Ergebnis322. a. Sein Chef, John G. Winant, suchte indessen Kontakt zu SHAEF und dem Außenministerium in Washington, um zumindest eine interne amerikanische Klärung herbeizuführen. In seinem Gespräch am 4. Mai mit Generalleutnant Walter Bedell Smith (SHAEF), dem Stabschef General Eisenhowers, erfuhr Winant, daß bei SHAEF der ursprüngliche Kapitulations-Text vom Juli 1944 zwar bekannt war, es sich dabei aber nicht um einen von den JCS übermittelten authentischen Text handelte und SHAEF auch noch nicht von den vier Regierungen bevollmächtigt war, diese Urkunde zur Unterzeichnung vorzulegen323. In einem Telefonat mit H. Freeman Matthews, dem Direktor des "Office of European Affairs" im Außenministerium, mußte Winant zu seiner Enttäuschung feststellen, daß die Verbindungen der Ministerien sowie der einzelnen Abteilungen untereinander anscheinend in dieser Frage mehr als untauglich gewesen waren. Winant forderte Matthews dazu auf, für eine unverzügliche Übersendung eines Originals des Kapitulations-Textes über die CCS an SHAEF zu sorgen324. 322 323 324 Ph. Mosely, EA 1950, S. 3040 Ph. Mosely, EA 1950, S. 3041 FRUS 1945 III, S. 267 345 Hinsichtlich der geplanten Proklamation bekundete Winant leichte Zweifel, ob denn eine einseitige Erklärung als Rechtsquelle für die Alliierten ebenso geeignet sei wie eine von deutscher Seite Unterzeichnete Kapitulations- Urkunde : "We are now working on the proclamation, which might be used as a substitute for the Surrender Instrument. I believe it should be understood that the Surrender Instrument gives us a firmer legal base than the proclamation."325 Am Ende des Gesprächs kündigte Winant an, sobald die Frage der "bedingungslosen Kapitulation" oder einer Proklamation der Alliierten aufkomme, werde er Philip Mosely zu SHAEF schicken, um dieses mit seinen Kenntnissen der russischen Sprache zu unterstützen. Matthews erklärte sich damit einverstanden326. a. Entwurf und Gebrauch eines militärischen Kapitulations- Am 5. Mai schaltete sich auf britischer Seite der Premierminister in die Kapitulations-Planungen ein. Er ließ William Strang, der gerade an einer EAC-Sitzung teilnahm, aus dem Gremium herausrufen und beorderte ihn zu sich"'. Strang erfuhr von Churchill, daß SHAEF in mehreren Telefongesprächen mit ihm interveniert und angeregt hatte, einen ganz neuen KapitulationsText zu verwenden. SHAEF wollte sich auf eine rein militärische Kapitulation der deutschen Streitkräfte beschränken, weil es befürchtete, das EAC-Dokument könnte die Deutschen aufgrund der dort enthaltenen detaillierten Artikel von einer Unterzeichnung abhalten. Gleichzeitig hoffte SHAEF, durch eine knappe militärische Kapitulation und unmittelbar folgender Feuereinstellung auf beiden Seiten Leben retten zu können328. Hergestellt hatte die militärische Urkunde am 4. Mai ein in der G-3-Abteilung von SHAEF beschäftigter Textes. 325 326 327 328 346 FRUS 1945 III, FRUS 1945 III, FRUS 1945 III, Ph. Mosely, EA S. 268 S. 271 S. 276; Ph. Mosely, EA 1950, S. 3041 1950, S. 3041 britischer Oberst, John Counsell, im Zivilberuf Schauspieler und Theatermanager, der sich die Bestimmungen der Kapitulation der deutschen Streitkräfte in Italien wenige Tage zuvor zum Vorbild genommen hatte329. Eine Entscheidung für eine militärische Kapitulation zu diesem Zeitpunkt ließ für die nähere Zukunft noch alle Möglichkeiten offen, von der Regierung Dönitz, sofern die Alliierten sie als solche anerkannt hätten, ein auch politisches KapitulationsDokument unterschreiben zu lassen. Außerdem war in der EAC ja die neue Fassung einer Kapitulations-Deklaration der Alliierten in Arbeit, die dann eventuell als Ersatz für die politische Kapitulation der deutschen Regierung durch die Sieger erlassen werden konnte. Für den letzten Fall war die völkerrechtliche Lage, wie die Diskussion in den amerikanischen Ministerien zeigt, jedoch völlig unklar. Als heftiger Kritiker der militärischen Kapitulation tat sich später vor allem Philip Mosely hervor, der wenige Jahre später feststellte: "Diese militärischen Faktoren waren wichtig. Sie ließen jedoch zwei bedeutende politische Erwägungen außer acht. Die Alliierten würden dadurch, daß sie dem deutschen Oberkommando gestatteten, eine rein militärische Übergabeurkunde im Felde zu unterzeichnen, die Gelegenheit verspielen, sich die deutsche Anerkennung der bedingungslosen politischen Übergabe zu sichern. Diese Unterlassung hätte die oberste Autorität in Frage gestellt, die die Alliierten laut gemeinsamem Beschluß über Deutschland ausüben wollten. Zum Beispiel wären bei einer rein militärischen Übergabe die Bestimmungen der Genfer und Haager Konventionen auf unbestimmte Zeit in Kraft geblieben, das würde die Alliierten gesetzlich zwingen, die Gesetze und Einrichtungen des 329 E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany, 19441946, S. 257 347 f Naziregimes beizubehalten und würde sie daran hindern, die politischen Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen und zu bestrafen, und hätte ihnen im allgemeinen das Recht genommen, eine vollständige Kontrolle über Deutschland auszuüben. Eine rein militärische Übergabe war durchaus angemessen für die Kapitulation getrennter Armeen, — aber als Dokument der endgültigen bedingungslosen Kapitulation seitens der deutschen Regierung und des Oberkommandos war sie völlig unzureichend. Noch eine weitere Gefahr lag in der Annahme des Vorschlages des Obersten Hauptquartiers. Die EAC Übergabeurkunde stellte gleichzeitig ein Übereinkommen der vier alliierten Regierungen untereinander dar. Ihre Bestimmungen sollten für die Alliierten in ihren Verhandlungen untereinander sowie auch für die Deutschen bindend sein. Es war riskant, die Zusammenarbeit der Alliierten nach dem Kriege damit einzuleiten, daß man eines der Grunddokumente des alliierten Übereinkommens verwarf und an die Stelle des von den vier Regierungen genehmigten Dokuments ein neues setzte, von dessen Vorhandensein und Inhalt einige von ihnen nicht einmal wußten."330 Den bei SHAEF erstellten Entwurf segneten am 6. Mai in London Premierminister Churchill und Botschafter John G. Winant ab331. Winant stellte in diesen Gesprächen sicher, daß die militärische Urkunde einen späteren Gebrauch des EAC-Kapitulations-Dokuments oder einer entsprechenden alliierten Erklärung nicht ausschloß. Das Maß an Übereinstimmung, das die vier Alliierten in diesen Papieren erreicht hatten, sollte in vollem Umfang bewahrt werden332. Vorher war es Winant gelungen, in den SHAEF-Entwurf noch einen zusätzlichen Artikel aufzunehmen. Dieser Artikel 4 sollte nach Philip Moselys Bekundung eine "allgemeine 330 331 Ph. Mosely, EA 1950, S. 3041 f. FRUS 1945 III, S. 280 332 FRUS 1945 III, S. 284 348 Ermächtigungsklausel"333 bestimmte: für die Alliierten sein. Artikel 4 "Diese Urkunde militärischer Übergabe präjudiziert nicht ihre Ersetzung durch ein allgemeines Kapitulations instrument, das von den Vereinten Nationen oder in ihrem Namen Deutschland und den deutschen Streitkräften in ihrer Gesamtheit auferlegt wird."334 Winant teilte die neue Entwicklung am 6. Mai telegrafisch dem amerikanischen Außenminister Stettinius mit335. Er ging davon aus, daß SHAEF für seinen Entwurf das Einverständnis der CCS und des US-Kriegsministeriums erhalten hätte336. Einen Tag danach, am 7. Mai, unterzeichnete Generaloberst Jodel im SHAEF-Hauptquartier in Reims den "Act of Military Surrender"337. Weil die Sowjets aber mit der Entwicklung der letzten Tage nicht einverstanden waren und vorher auch nur unzureichend in die Besprechungen einbezogen worden waren, bestand Moskau darauf, daß eine zweite Unterzeichnung stattfinden müßte. So kam es dann am 8. Mai 1945 kurz vor Mitternacht im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst durch Admiral Friedeburg, Generalfeldmarschall Keitel und Generaloberst Stumpff zu einer erneuten militärischen Kapitulation seitens der deutschen Wehrmacht338. c. Verärgerung in Washington. In Washington herrschte derweil heilloses Durcheinander. Weder das Außen-, noch das Kriegsministerium hatten genauere Kenntnis von der SHAEF- Urkunde und wurden von der militärischen Kapitulation 333 334 335 336 337 338 Ph. Mosely, EA 1950, S. 3042 Text bei R. v. Laun, Anhang: Kapitulation, in: Bonner Kommentar, Bd. 9, S. 13 f. FRUS 1945 III, S. 280 Ph. Mosely, EA 1950, S. 3042 E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany, 19441946, S. 257 E.F. Ziemke, ebd., S. 258; Text: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, 1945, Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 6; R. v.Laun, Anhang: Kapitulation, in: Bonner Kommentar, Bd. 9, S. 12 ff. (dt.) 349 vollkommen überrascht. Winant wurde vom Außenministerium am 9. Mai um dringende Aufklärung der Angelegenheit ersucht339. In Washington reagierte der Unterstaatssekretär im Kriegsministerium, John J. McCloy, mit am heftigsten. Ihm war der Verzicht auf das EAC-Dokument äußerst peinlich ("much embarrassed") und er war darüber auch entsprechend verärgert ("much annoyed"). Er bezeichnete es als unglaublich, daß ein Dokument, das die formale Zustimmung der vier Regierungen und der JCS hatte, einfach vergessen oder ignoriert worden war. Eisenhower versuchte sich gegenüber McCloy durch den Hinweis aus der Affäre zu ziehen, daß anstatt der G-5 Abteilung (Civil Affairs Division) von SHAEF die G-3 (Operations Division) und die G-l Abteilung (Personnel Division) mit der Angelegenheit befaßt gewesen seien. Bevor SHAEF weitere unbedachte Schritte unternehmen konnte, untersagte McCloy Eisenhower, irgendwelche anderen Dokumente unterzeichnen zu lassen oder Erklärungen abzugeben. Er wollte nun erst einmal sorgfältig prüfen, ob es noch Sinn haben würde, eine deutsche Unterschrift unter das EACDokument zu erzwingen oder ob die vorgeschlagene Deklaration, erlassen durch die vier Regierungen, ausreichend sei für das geplante Vorhaben und die Einsetzung des Kontrollapparates340. Zu einer umfassenden Untersuchung der politischen Zweckmäßigkeit und der völkerrechtlichen Zulässigkeit der beiden Alternativen blieb jedoch keine Zeit mehr. d. Verhaftung der Regierung Dönitz. Im Grunde hatten sich sowohl die Amerikaner als auch die anderen Alliierten schon damit abgefunden, daß es zu einer deutschen Unterschrift unter das EACDokument gar nicht mehr kommen sollte. Die "Regierung Dönitz" wurde zwar eine Zeitlang geduldet, weil man sich von einer zentralen deutschen Stelle eine bessere Lösung drängender Versorgungsprobleme der deutschen Bevölkerung versprach. Obwohl es gute Gründe dafür gibt, die Regierung Dönitz als eine rechtmäßige deutsche 339 340 350 FRUS 1945 III, S. 282; Ph. Mosely, EA 1950, S. 3042 FRUS 1945 III, S. 289 f. Reichsregierung anzusehen341, wurde sie von den Alliierten nie als solche anerkannt. Nachdem die Amerikaner und Briten mit der Sowjetunion Rücksprache genommen hatten, wurde Dönitz mit seinen Mitarbeitern am 23. Mai 1945 von einer britischen Einheit unter entwürdigenden Umständen verhaftet342. Dadurch nahmen sie sich selbst die Möglichkeit, das EAC-Dokument noch von einer deutschen Regierung unterschreiben zu lassen, um dadurch eine hinreichende Rechtsgrundlage für die über die HLKO hinausgehenden Maßnahmen zu erhalten. Sie schufen sich somit selbst eine Sachlage, die sie seit Dezember 1944 erwartet hatten. Die Verhaftung der geschäftsführenden Reichsregierung in Flensburg, mit deren Existenz niemand mehr gerechnet hatte, stellte somit, wie der britische Joint Planning Staff feststellte, eine Situation her, die man vorausgesetzt hatte343. VI. 5. Die Berliner Viermächteerklärung vom 5. Juni 1945 Bereits am 10. Mai 1945 ließ Gusew seine Kollegen in der EAC wissen, seine Regierung bevorzuge statt der Kapitulations-Urkunde die Verwendung einer alliierten Deklaration344. Zu den möglichen völkerrechtlichen Konsequenzen einer solchen Deklaration teilte Botschafter Winant dem US-Außenminister Stettinius mit: "We (die EAC-Delegationen, d.Verf.) believe the declaration to be equally binding on the four occupying powers and to be a solid basis for the imposition of the will on the four powers of Germany." 345 Um weitere Verzögerungen in der Beschlußfassung zu vermeiden, stimmten alle vier EAC-Delegationen für eine 341 342 343 344 345 Vgl. dazu D. Nolte, Das Problem der Rechtmäßigkeit der Nachfolge Hitlers durch die "Regierung Dönitz", JuS 1989, S. 440 ff. Vgl. M.G. Steinert, Die alliierte Entscheidung zur Verhaftung der Regierung Dönitz, in: MGM 2/1986, S. 85 ff. M.G. Steinert, ebd., S. 95 FRUS 1945 III, S. 284 FRUS 1945 III, S. 284 351 Eliminierung des Wortes "Aufteilung" aus der in eine Deklaration ungeschriebenen EAC-Kapitulations-Urkunde. Für den Fall, daß man später doch noch eine Zerstückelung Deutschlands für wünschenswert erachten würde, verständigten sich die Delegationen, daß die Präambel der Deklaration die Voraussetzungen schaffe für die vier Regierungen, in einer späteren Entscheidung den zukünftigen Status Deutschlands, oder zumindest von Teilen, festzulegen346. Die EAC empfahl den vier betroffenen Regierungen am 12. Mai, den ohne wesentliche Veränderungen zur Deklaration umgebauten Text der Kapitulations-Urkunde vom Juli 1944, unter Erweiterung der Präambel, wie es Strang am 30. März vorgeschlagen hatte, anzunehmen und zur Veröffentlichung freizugeben347. Der neue amerikanische Präsident, Harry Truman, billigte den Entwurf am 14. Mai, und das Kriegsministerium instruierte Eisenhower, den Erlaß der Deklaration durch die vier alliierten Kommandeure in Deutschland zu veranlassen348. Die anderen Regierungen übermittelten ihre formale Zustimmung innerhalb einer Woche349. Am 29. Mai schlug John G. Winant in der EAC vor, die Oberbefehlshaber sollten sich am 1. Juni in Berlin treffen, die Deklaration unterzeichnen, den Kontrollrat bilden und die Protokolle hinsichtlich der Zoneneinteilung und des Kontrollapparates in Kraft setzen350. Die Rücksprache der sowjetischen Delegation mit Moskau zeigte ein überraschend schnelles Ergebnis. Bereits am 4. Juni teilte Gusew seinen Kollegen mit, daß die sowjetische Regierung mit einem Treffen der vier alliierten Oberbefehlshaber in Berlin am darauffolgenden Tag einverstanden sei und die Deklaration dort unterzeichnet und erlassen werden solle351. Nachdem am 346 347 348 349 350 351 352 FRUS 1945 III, S. 284 FRUS 1945 III, S. 289 FRUS 1945 III, S. 293 f.; E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany, 1944-1946, S. 264 E.F. Ziemke, ebd. FRUS 1945 III, S. 314 f. FRUS 1945 III, S. 323 5. Juni noch schnell eine letzte marginale Meinungsverschiedenheit zwischen den Russen einerseits und den drei anderen Alliierten andererseits aus dem Weg geräumt worden war, Unterzeichneten die vier Oberbefehlshaber die "Declaration Regarding the Defeat of Germany and the Assumption of Supreme Authority with Respect to Germany"352. Außerdem erließen sie noch drei weitere "Feststellungen" ("statements"), die sich mit dem Kontrollverfahren, mit den Besatzungszonen und mit etwaigen Beratungen mit anderen Staaten der Vereinten Nationen befaßten353. VII. Die völkerrechtliche Dabatte in Washington im Mai und Juni 1945 Die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 warf eine Reihe von Fragen auf, die sich insbesondere in den völkerrechtlichen Disputen seit Januar 1945 in der CAD bereits angekündigt hatten. Die politische Absicht, die die Alliierten mit dieser Deklaration verbanden, war eindeutig: Sie sollte ihnen eine rechtliche Machtfülle verleihen, wie sie vorher noch nie ein Besatzer auf feindlichem Gebiet gehabt hatte. Die entscheidende Frage aber war die völkerrechtliche, die Frage nämlich, ob das Völkerrecht überhaupt das notwendige Instrumentarium bereitstellte, das die Alliierten zur Verwirklichung ihrer Ziele beanspruchten. Die vorangegangenen Debatten hatten bereits aufgezeigt, daß es sich hierbei um ein nicht einfach zu lösendes komplexes Problem handelte. Nur eines stand unzweifelhaft fest: Präzedenzfälle, auf die man sich von alliierter Seite hätte berufen können, existierten nicht. 352 353 Amtliche Übersetzung des alliierten Deutschland in: W. Cornides/H. Volle Deutschland, S. 74 ff. Amtliche Übersetzung des alliierten Deutschland in: W. Cornides/H. Volle Deutschland, S. 77 Büros des Kontrollrates in (Hg.), Um den Frieden mit Büros des Kontrollrats in (Hg.), Um den Frieden mit 353 VII.1. Ralph Carsons Memorandum vom 19. Mai 1945 Als erster setzte sich am 19. Mai 1945 Ralph M. Carson, der Mitarbeiter von Norman Davis in dessen New Yorker Anwaltskanzlei, mit der neuen Situation auseinander. (Die von ihm vorgebrachten Argumente hatte er zuvor mit Davis abgesprochen.) 354 Carson griff zunächst die bisherhigen Konstruktionsversuche auf, um ihnen eine klare Absage zu erteilen. Den Hinweis, die Dinge hätten sich seit 1907 in höchstem Grade geändert, besonders aufgrund der von Deutschland betriebenen Art der Kriegführung, und damit die Berufung auf den Grundsatz von "rebus sic stantibus" zur Begründung einer Nichtanwendbarkeit der HLKO, ließ er nicht gelten. Nach Carsons Ansicht hatten seine bisherigen Anwendungsfälle diesen Grundsatz in Mißkredit gebracht. Außerdem fügte Carson hinzu: "... it (der Grundsatz "rebus sic stantibus", d. Verf.) would not seem in any version to justify disregard by this Government of the Hague Conventions."355 Aber auch die Bezugnahme von Professor Jessup auf das römischrechtliche "deditio" und die Möglichkeit einer "Debellatio" wurden von Carson verworfen. Jedes der beiden Konzepte sehe eine Unterwerfung des Besiegten unter die Gnade des Siegers vor. Der Besiegte könne rechtmäßig vereinbart haben, auf die Wohltaten der Haager Konventionen zu verzichten und müsse in seiner herabgesetzten Stellung mit allem einverstanden sein. Carson meinte dazu: "Such reasoning, while perhaps verbally exact, is not supported by either the writings of any publicist or any 354 355 354 R.M. Carson an Col. W.C. Chanler, CAD, Schreiben vom 19.5.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat; RL Charles Fahy Papers, Box Nr. 65 R.M. Carson an Col. W.C. Chanler, Schreiben v. 19.05.1945; ebd. historical example, and therefore I should think it would be considered by lawyers generally to be inadequate to excuse what would otherwise appear a frank repudiation of the Hague Convention."356 Zu Chanlers Konstruktionsbemühungen, aus dem Faktum des Machtbesitzes auch die Befugnis zur über das Völkerrecht hinausgehenden Rechtsetzung und Verneinung des Völkerrechts zu folgern, äußerte Carson sich nicht. Offensichtlich waren diese ihm damals noch gar nicht bekannt. Carson selbst glaubte, das angestrebte Ziel, die Außer-Kraft-Setzung des völkerrechtlichen Besatzungsrechts, nur durch die Einsetzung der alliierten Kontroll-Kommission als deutsche Regierung rechtfertigen zu können. Es handele sich dann um eine Regierung, die souveräne Macht hinsichtlich Deutschlands ausübe357. Colonel William Chanler fühlte sich durch Ralph Carson in der von ihm vertretenen "Malkintheorie", die er selbst nun "QuasiDebellatio-Theorie" nannte, bestätigt, obgleich Carson die von Jessup mit "deditio" und von Chanler mit "Quasi-Debellatio" verbundenen Rechtsfolgen eindeutig abgelehnt hatte. In Chanlers Logik paßte dennoch alles zusammen. Ausgehend von seiner und Malkins These, daß das "Größere" (die Zerschlagung des deutschen Staates) das (vermeintlich) "Kleinere" (planmäßige Völkerrechtsverstöße) einschließen müsse, folgerte Chanler: "I can see no reason why, if a conqueror may, by unilateral action, without the consent of the conquered, either annex, partition, or establish a new government, he cannot also establish a control council with the right and power to exercise all sovereign rights over Germany, without acquiring sovereignty and also without 356 R.M. Carson an Col. W.C. Chanler, Schreiben v. 19.05.1945; ebd. 357 R.M. Carson an Col. W.C. Chanler, Schreiben v. 19.05.1945; ebd. 355 necessarily terminating the state of war."358 Die Übernahme der Regierung in Deutschland sollte nach Carsons Ansicht zu einem Übergang der Souveränität auf den Kontrollrat und zur Beendigung des Kriegszustandes führen. Während Chanler noch bereit war, sich mit der "Regierungsthese" anzufreunden, waren die beiden damit verbundenen Folgeerscheinungen für ihn jedoch inakzeptabel. Dies teilte Chanler auch seinem Vorgesetzten, Unterstaatssekretär McCloy, mit359. VII.2. William Chanlers Memorandum vom 6. Juni 1945 Vor dem Hintergrund der Berliner Deklaration vom 5. Juni 1945 erstellte Colonel William C. Chanler bereits einen Tag später ein 27 Seiten umfassendes Rechtsgutachten, in dem er sein Verständnis von der nun eingetretenen völkerrechtlichen Lage noch einmal ausführlich darlegte360. Auffallend ist, daß Chanler die Deklaration zwar zum Anlaß seines Gutachtens machte, er auf den konkreten völkerrechtlichen Gehalt, insbesondere in der Präambel, aber nicht weiter einging. Chanler stellte in seinem Gutachten mehrere Theorien gleichberechtigt nebeneinander. Für ihn hatten sich bei der bisherigen Diskussion drei argumentative Schwerpunkte herausgestellt: 1. Der vollständige Zusammenbruch Deutschlands und die alliierten Absichten stellten eine beispiellose Situation dar, in der die Haager Konvention nicht anwendbar sei. Zur Begründung führte Chanler aus, das Völkerrecht sei 358 359 360 356 Col. W.C. Chanler an R.C. Carson, Schreiben vom 24.05.1945; RG 107 ASW 387.4 Germany - Surrender or Defeat; RL Charles Fahy Papers, Box Nr. 65 Col. W.C. Chanler, "Memorandum for Mr. McCloy", "Subject: Consequences of Unconditional Surrender", 25.05.1945; RL Charles Fahy Papers, Box Nr. 65 Col. W.C. Chanler, "Memorandum of Law", "Subject: Rights and Powers of the Control Council over Germany under International Law", 06.06.1945; RG 107 ASW 370.8 Germany - Control Council; RL Charles Fahy Papers, Box Nr. 65 erwachsen aus den Sitten und Gebräuchen starker Völker beim Erobern schwacher Völker zum Zweck der eigenen Expansion und Vergrößerung. Demgemäß befaßten sich die meisten Präzedenzfälle mit der Begrenzung, die den Rechten des erfolgreichen Aggressors auferlegt würde. Hier aber handele es sich um den umgekehrten Fall: Die Opfer der Aggression hätten den Aggressor erobert und beabsichtigten nun eine Langzeit-Besetzung des ganzen Landes, nicht aus Gründen der nationalen Vergrößerung, sondern aus der alleinigen Zielsetzung, den Aggressor zu reformieren und den Weltfrieden zu sichern. Zweitens sei keine deutsche Regierung mehr vorhanden, mit der man einen Vertrag, falls erwünscht, abschließen könne. Entscheidend war für Chanler aber wohl ein weiterer Gesichtspunkt: Bei näherer Beleuchtung des Ursprungs und des Zwecks der Haager Regeln kam er zu dem Ergebnis, daß weder diese noch irgendwelche anderen Völkerrechtssätze in der gegenwärtigen Lage zur Anwendung kommen könnten. Denn Zielsetzung der Artikel 42-56 der HLKO, so führte Chanler unter Berufung auf Feilchenfeld (The Economic Law of Belligerent Occupation, 1942) aus, sei es, den vorübergehenden Besetzer davon abzuhalten, irgendwelche dauernden Veränderungen in der politischen und wirtschaftlichen Struktur des besetzten Gebietes vorzunehmen, oder das Leben der Bevölkerung nicht weiter zu stören, als es die Notendigkeiten der Kriegführung verlangten. Die Lage in Deutschland sei nun jedoch weder "vorübergehend" noch "provisorisch". Die Alliierten hätten die Macht, die Besetzung aufrechtzuerhalten und Deutschland zu kontrollieren bis sie völlig befriedigt seien und ihre Ziele verwirklicht hätten. Eine solche Situation aber hätten die Autoren der Haager Konventionen nicht in ihre Überlegungen einbezogen. Es handele sich deshalb in Deutschland (in Anlehnung an Feilchenfeld, a.a.O.) um eine "quasi-permanente" Okkupation, die zwischen der endgültigen 357 Beendigung des "fighting war" und dem Abschluß des "final peace" liege361. 2. Chanlers zweite Argumentation beschäftigte sich mit der Frage, inwieweit die Alliierten berechtigt gewesen seien, durch einseitige Deklaration eine ihnen genehme völkerrechtliche Lage in Deutschland herbeizuführen. Die "bedingungslose Kapitulation" der deutschen Streitkräfte, die keinen Unterschied erkennen lasse zu einer totalen und endgültigen Niederkämpfung oder Gefangennahme auf dem Schlachtfeld, habe völkerrechtlich zu einer "Conquest" geführt, bei der der Okkupant keine größeren Rechte als die eines militärischen Besetzers gehabt habe, und somit den Konventionen unterworfen gewesen sei. Unter Zitierung völkerrechtlicher Autoritäten konnte Chanler nachweisen, daß die Alliierten bei einer solchen Sachlage befugt gewesen wären, ihren Willen entweder in einem Waffenstillstand oder einem (Friedens)Vertrag dem Unterlegenen aufzuzwingen oder durch einseitige Erklärung der Annexion oder der Teilung die "Subjugation" zu vervollständigen. Auf der Grundlage dieser eindeutigen und unter Völkerrechts-Autoren wie auch in der völkerrechtlichen Praxis unbestrittenen Rechtslage, versuchte sich Chanler anschließend an einer "Weiterentwicklung" des Völkerrechts zugunsten der alliierten Interessen. Aus dem klaren "Entweder-Oder" zwischen "Conquest" und "Debellatio" ("Subjugation") wurde bei Chanler, der seiner bisherigen Argumentationslinie treu blieb, in Anlehnung an William Malkin erneut ein "Mehr oder Weniger": "das Größere" müsse "das Kleinere" logischerweise einschließen. Wenn die Alliierten aber durch einseitige Erklärung den deutschen Staat zerstören könnten, dann müßten sie auch das Recht haben, weniger drastische Maßnahmen durch einseitige Willensäußerung rechtmäßig zu ergreifen. In bezug auf die in Deutschland tatsächlich geschaffene Lage bedeutete dies 361 Col. W.C. Chanler, "Memorandum of Law" vom 06.06.1945, S. 5-8, ebd. 358 laut Chanler, daß die Alliierten berechtigt gewesen seien, nach "Conquest" den Kontrollrat mit allen Machtbefugnissen der deutschen Regierung zu errichten, der infolgedessen nicht durch internationale Konventionen eingeschränkt sei. Die Rechtmäßigkeit eines solchen Verfahrens hänge nur davon ab, daß die Regierung die "de facto-Macht" zum Regieren habe und von den anderen Staaten als Regierung anerkannt werde. Daraufhin werde sie die "de-jure-Regierung" des Landes, und alle ihre Maßnahmen seien legal. Alle völkerrechtlichen Schranken zwischen der neuen Regierung und dem eroberten Land würden dadurch beseitigt, weil zwischen einer Regierung und dem Volk keine völkerrechtlichen Fragen aufträten. Die politischen Bedenken gegen diese Sichtweise, die Carson ins Gespräch gebracht hatte, überwogen jedoch bei Chanler: Als deutsche Regierung könne der Kontrollrat sich nicht, wie beabsichtigt, der Verantwortlichkeit für die wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland während der Kontrollphase entziehen. Außerdem sei der Vorschlag unrealistisch. Es liege nicht in der Absicht der Alliierten, Deutschland im Interesse des deutschen Volkes zu regieren, sondern im Interesse der alliierten Mächte und der Vereinten Nationen. Außerdem verstoße es gegen alle Konzepte von "Selbstregierung", wenn man darauf beharre, daß es sich um eine "deutsche Regierung" handele, obgleich es in Wirklichkeit nichts anderes sei als eine "Militärregierung" zugunsten der Besatzungsmächte, wenn auch ohne völkerrechtliche Begrenzung. Weil er es für äußerst schwierig hielt, in der Öffentlichkeit die ganzen Zusammenhänge zu erläutern, empfahl Chanler, über den Wortlaut der Berliner Deklaration und die Einrichtung des Kontrollrates hinaus keine weiteren, klarstellenden Erklärungen abzugeben. Zwar könne die alliierte Vorgehensweise in Deutschland auf der Grundlage der "RegierungsTheorie" gerechtfertigt werden ("... in the limited sense of a temporary 'governing body'..."). Dennoch erscheine es ihm vorzugswürdig, sich die weitere Ansicht zu eigen zu machen, daß die Alliierten als Eroberer die 359 unbestrittene Macht ("undoubted power") hätten, durch einseitiges Tätigwerden Deutschland nicht nur durch Annexion vollständig zu unterwerfen ("... not only to completely subjugate Germany by annexation ..."), sondern auch die kleineren und dazwischen liegenden Schritte der Errichtung ihrer eigenen Regierung vornehmen könnten und auch die Macht hätten, ein vorübergehendes "Protektorat" ("protectorate") oder eine "Regentschaft" ("regency") zu bilden. Chanler folgerte: "Accordingly, it would seem that the Allies are fully justified in the proposed course of setting up a Control Council for such period of time and having such of the rights and powers of a German Government as they may deem appropriate for their own security and the future peace of the world without either annexing or concluding peace with Germany."362 3. Als dritte Theorie kam in Chanlers Rechtsgutachten wieder ein Gedanke zur Geltung, den Finanzminister Morgenthau bereits Monate zuvor in die Debatte eingebracht hatte, der aber bisher über ein Schattendasein in den Diskussionen nicht hinausgekommen war: ein Heranziehen des Briand-Kellogg-Paktes. Deutschland, als ein gesetzloser Aggressor, habe kein Anrecht auf den völkerrechtlichen Schutz, den nur ein rechtmäßig Kriegführender habe. Deshalb hätten die "siegreichen Angegriffenen" ("victorious aggressees") vollkommene und unbeschränkte Macht, alle Schritte zu unternehmen, die notwendig seien, um ihre eigene Sicherheit und den zukünftigen Weltfrieden zu bewahren und um für das von Deutschland begangene Unrecht Reparationen einzutreiben. Für Chanler war dies "the simplest and most effective theory". Zwar war er sich durchaus bewußt, daß die völkerrechtliche Bedeutung dieses Vertrages völlig ungeklärt, zumindest aber heftig umstritten war; einen absoluten Vorteil sah er jedoch darin, daß die "Weltmeinung" eine derartige Sichtweise unterstützen werde. Die Ansicht der meisten Völkerrechtler 362 Col. W.C. Chanler, "Memorandum of Law" vom 06.06.1945, S. 1317 360 zu dieser Zeit, daß der Pakt mangels Benennung eines Mittels zu seiner Durchsetzung und wegen des Fehlens spezifischer Sanktionen, die gegen einen Verletzer des Paktes ergriffen werden könnten, keine andere Wirkung habe, als daß dadurch der beeinträchtigte Kontrahend autorisiert sei, seinerseits den Pakt zu kündigen und dem Aggressor entgegenzutreten, wollte Chanler nicht gelten lassen. Nur die Geltendmachung eines Selbstverteidigungs-Falles könne für den Verteidiger den Krieg zu einem rechtmäßigen machen. Zum angeblichen Beweis verwies Chanler auf die amerikanische Praxis der Nichtneutralität zu Beginn des Zweiten Weltkrieges und die Planungen der Alliierten, an denen auch Chanler selbst teilgenommen hatte, den Angriffskrieg als Verbrechen anzusehen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Diese Theorie, so Chanler, sei unzweifelhaft die beste Begründung für die Nichtberücksichtigung des Völkerrechts, sofern man nur die Theorie an sich akzeptiere363. VII.3. Carsons Erwiderung auf Chanlers Memorandum Daß die Berufung auf den Briand-Kellogg-Pakt jedoch selbst für den Fall der grundsätzlichen Anerkennung der damit angeblich verbundenen weitreichenden Rechtsfolgen nicht so eindeutig ausfallen konnte, wie Chanler vorgab, wurde ihm Mitte Juni 1945 von Ralph Carson deutlich gemacht. Während Chanler als typischer Vertreter des amerikanischen Denkens in den nicht miteinander zu vereinbarenden eindeutigen Kategorien von Gut und Böse urteilte, d.h. im Völkerrecht, daß immer nur eine Seite der Aggressor, nämlich Nazi- Deutschland, und immer nur andere, die Vereinten Nationen, das Opfer sein konnten, vermochte Carson durchaus auch die vorgegebenen Denkstrukturen zu überwinden. Carson legte sich die Frage vor, ob denn wirklich der ganze Weltkrieg, wenn man ihn erst einmal in seine einzelnen Bestandteile zerlegte und diese einer isolierten 363 Col. W.C. Chanler, "Memorandum of Law" vom 06.06.1945, S. 1823 361 Betrachtung unterzog, als eine einzige Aggression Deutschlands gegen die einzelnen Staaten der Vereinten Nationen gesehen werden müsse oder ob nicht auch Deutschland das Recht der Selbstverteidigung einwenden könne. Carson meinte dazu: ".., the theory overlooks the express reservation in the Kellogg-Briand Pact of the right of self-defense, a reservation so broad as to deprive the theory of value in most circumstances. While Germany did attack Poland and Russia, the war was formally one of self-defense as regards England and France since they declared war first. Whether the attack by Germany on Poland could properly be deemed an attack on England and France is a political question not susceptible, in our opinion, of an affirmative answer in law. While Germany declared war on the United States, it might plausibly be argued that this declaration was itself an act of selfdefense by reason of our overt aid to the enemies of Germany through the Land-Lease legislation of 1941, which was a clear departure from the duties of neutrality as theretofore defined. This departure was justified at the time by the argument that the law of neutrality had been changed by the Pact of Paris, but this again was at the time only a contention based on policy and could not reasonably deprive Germany of the right to make the opposite contention and assert the right of self-defense."364 Doch selbst wenn diese Schwierigkeiten überwunden werden könnten, folge daraus noch lange nicht, daß Deutschland durch Verstoß gegen den Pariser Vertrag sich selbst des Schutzes durch das Völkerrecht beraubt habe. Um ein solches Ergebnis zu rechtfertigen, sei ein längerer Gebrauch mit einer solchen Rechtsfolge, eine solide vertragliche Grundlage oder eine Anhäufung entsprechender Staatenpraxis 364 362 R.M. Carson, "Draft of June 13, 1945”, "Legal Consequences of Unconditional Surrender by Germany", S. 23 f.; RL Charles Fahy Papers, Box Nr. 65 notwendig. Nichts von alledem sei jedoch gegenwärtig vorhanden. Carson verwies zutreffend auf das Nichtvorhandensein von Rechtsfolgen im Briand-Kellogg-Pakt, insbesondere die Problematik, welche Rechtsfolgen den träfen, der diesen Pakt verletze. Der Pariser Vertrag sei bloß eine Absichtserklärung gewesen, "and it would be going very far to say that violation of this declaration by one of the adherents carried a sanction so drastic as to deprive it of the benefit of rules resting upon the consensus of civilized States."365 Auch unterschieden die Haager Vorschriften nicht zwischen "gerechten" und "ungerechten" Kriegen, wie sie der Interpretation des Briand-Kellogg-Paktes zugrunde liege, was Carson durch die Zitierung von Teilen der Präambel des Haager Abkommens von 1907 auch belegen konnte366 VI. 4. Völkerrechtliche Bewertung der Berliner Deklaration Es gelang den amerikanischen Planungsstäben bis in den Sommer 1945 hinein nicht, eine auch nur annähernd plausible und rechtlich überzeugende Grundlage für die Außerachtlassung des Völkerrechts, insbesondere der HLKO und der Genfer Konvention, in Deutschland zu finden. Sicher war nur, daß man nicht bereit war, sich an die Forderungen des Völkerrechts zu halten. Die anfänglich gehegte Befürchtung, die HLKO - insbesondere Artikel 43 - verbiete jeglichen Eingriff in die nationalsozialistischen Staatsstrukturen und Gesetze, war im Laufe des Jahres 1944 weitestgehend in den Hintergrund getreten. Andere besatzungspolitische Bereiche drängten zunehmend nach vorne, und auch bei ihnen wollten die US-Planungsbehörden - wie die britischen - rechtlich ungebunden sein und uneingeschränkt schalten und walten können, ohne auf völkerrechtliche Restriktionen Rücksicht nehmen zu müssen. 365 366 R.M. Carson, "Draft of June 13, 1945", S. 24 f., ebd. R.M. Carson, "Draft of June 13, 1945", S. 25, ebd. 363 Die von den amerikanischen Planern ins Auge gefaßten Maßnahmen betrafen nun nicht mehr nur den Nationalsozialismus, sondern zielten auch auf die Beseitigung humanitärer Normen, wie sich in dem Versuch der Rechtlosstellung der deutschen Kriegsgefangenen ganz eindeutig zeigt. Wo das Völkerrecht den geplanten Maßnahmen der Besatzungsmächte entgegenstand, sollte es weichen, ohne daß es jedoch gelang, dies auch rechtlich überzeugend begründen zu können. Den Gestaltungsspielraum, den das Völkerrecht in dieser Beziehung den Alliierten bot, wollten diese, vor allem die Amerikaner, nicht nutzen. Die zur Ausschaltung der Normen der "occupatio bellica" wie auch der Genfer Konvention allein möglichen beiden Wege eine Verzichtsbzw. Übertragungserklärung hinsichtlich bestimmter Befugnisse und Rechte durch die deutsche Regierung ("politische Kapitulation") oder eine Zerschlagung des deutschen Staates ("Debellatio") wollten die Amerikaner und Briten nicht gehen, weil ihnen die damit verbundenen Nachteile Auslegungsfähigkeit einer Verzichtserklärung bzw. eines Vertrages mit der deutschen Regierung einerseits, Erlöschen des rechtlichen Kriegszustandes andererseits - als zu gravierend erschienen. Eine andere Gestaltungsmöglichkeit der Rechtslage in Deutschland, das hatte Philip Jessup immer wieder mit Nachdruck betont, gab es für die Alliierten aber nicht. Insbesondere existiert zwischen der am 7./8. Mai 1945 eingetretenen rechtlichen Lage einer "Conquest" und einer "Debellatio" keine Zwischenlösung, kein "Mehr-oderWeniger", sondern ein "Entweder-Oder". Dies hängt damit zusammen, daß "Conquest" und "Debellatio" eindeutige Rechtsfolgen nach sich ziehen und im Interesse der Rechtssicherheit klare rechtliche Verhältnisse schaffen. Auch darauf hatte Philip Jessup regelmäßig hingewiesen. Der Rechtszustand einer "Conquest", verbunden mit den teilweisen Rechtsfolgen einer "Debellatio" gibt es im Völkerrecht nicht367. 367 364 Vgl. dazu auch D. Blumenwitz, Die Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland, S. 83 Daß selbst William Chanler von seinen Lösungsmodellen nicht sonderlich überzeugt war, sieht man in seinem Vorschlag, unter allen Umständen und so lange wie möglich eine rechtliche Begründung für die Nichtbeachtung des Völkerrechts in Deutschland gegenüber der Öffentlichkeit zu vermeiden, um dadurch den möglichen Kritikern keinen Ansatzpunkt für die Geltendmachung der Rechtswidrigkeit bestimmter Maßnahmen zu liefern. Es wurde offensichtlich, daß die Übernahme der "supreme authority" hinsichtlich Deutschlands durch die einseitige Erklärung der vier Siegermächte vom 5. Juni 1945 an der Rechtslage der "Conquest" und der damit zwangsläufig verbundenen und notwendigen Beachtung der völkerrechtlichen Besatzungsnormen der HLKO nichts geändert hatte. Die Berliner Deklaration konnte die politische Kapitulation Deutschlands, wie sie noch der EAC-Entwurf vom 25. Juli 1944 vorgesehen hatte, nicht ersetzen. Ihre Bedeutung ist deshalb vor allem darin zu sehen, daß sie die gemeinsame Verantwortung der vier Siegermächte für Deutschland völkerrechtlich fixierte368. Als Rechtsakt hatte sie verbindlichen Charakter nur für die beteiligten Siegermächte, betraf also lediglich ihr "Innenverhältnis", während sie für das Verhältnis der vier Mächte zu Deutschland keine den rechtlichen Zustand der "occupatio bellica" ändernde Wirkung entfaltete369 368 369 Vgl. B. Meissner, Die Vereinbarungen der Europäischen Beratenden Kommission über Deutschland von 1944/45, in: F. Klein/B. Meissner (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, 1. Teil: Geschichte und rechtliche Grundfragen, S. 43 ff., insb. S. 48 f. Vgl. D. Blumenwitz, Inhalt und völkerrechtliche Grenzen der "Rechte und Verantwortlichkeiten" der Vier Mächte, in: B. Meissner/G. Zieger (Hrsg.), Staatliche Kontinuität unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage Deutschlands, S. 47 ff. 365 3. TEIL: DEUTSCHLANDS RECHTSLAGE IM POLITISCHEN STREIT DES IN- DKP AUSLANDES I. Zwischen Recht und Rechtlosigkeit: Völkerrechtliches Vakuum in Deutschland oder zumindest "rule of law"? Überlegungen deutscher Emigranten 1944/45 Die Gestaltung der Rechtslage in Deutschland nach Beendigung der Feindseligkeiten war ein Thema, das neben der amerikanischen Planungsadministration in besonderem Maße natürlich deutsche Emigranten bewegte, die glaubten oder hofften, mit ihren Schriften auf die Entscheidungsfindung Einfluß nehmen zu können. Dabei taten sich zwei in den dreißiger Jahren in die USA gegangene deutsche Juristen besonders hervor, die trotz aller Unterschiedlichkeit ihres sonstigen Lebensweges Gemeinsamkeiten vor allem durch ihre jüdische Herkunft und die dadurch erlittenen Berufsausübungsverbote und sonstige gesellschaftliche Repressalien hatten. Der eine, Hans Kelsen, war schon damals eine der bedeutendsten Juristenpersönlichkeiten der Welt. Der andere, Ernst Fraenkel, war im Dritten Reich noch fünf Jahre als Anwalt in Berlin tätig gewesen, wohin er Anfang der fünfziger Jahre an die Hochschule für Politik zurückkehrte, um wenig später Ordinarius für "Vergleichende Herrschafts- lehre" an der Philosophischen Fakultät dieser Universität zu werden. Beide verfaßten Mitte 1944 ihre jeweiligen Arbeiten über juristische Möglichkeiten und praktische Notwendigkeiten, die mit der Besetzung Deutschlands einhergingen. 1.1. Hans Kelsen und seine These vom Kondominium Hans Kelsen hatte sich durch seine rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Untersuchungen schon früh einen Namen gemacht. Er unternahm mit seiner "Reinen Rechtslehre" den Versuch, die Rechtswissenschaft, vor allem die Staatsrechtslehre, von methodenfremden Elementen freizumachen. Er setzte Staat und Rechtsordnung gleich: Der Staat war für ihn nicht Gegenstand der Rechtsordnung, sondern die Rechtsordnung selbst - "ein ideelles System gültiger Normen"1. a. Deutschnationale Äußerungen in den zwanziger Jahren. Interessant sind auch Kelsens politische und juristische Stellungnahmen in den zwanziger Jahren für den Anschluß Österreichs an Deutschland, ein zum damaligen Zeitpunkt heftig und fast überall mit Zustimmung diskutiertes Problem. Kelsen wandte sich gegen die von ihm als Fehler angesehenen Bemühungen, den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich als eine Wirtschaftsfrage hinzustellen. Kelsen meinte in einem Zeitungsbeitrag 1926: "Der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich ist aber keine wirtschaftliche, es ist eine moralische Frage. Es ist ein sittlich unerträglicher Zustand, daß 6 1/2 Millionen Menschen zu einem Gemeinwesen zusammengezwungen werden, das jedes inneren Sinnes, jeder politischen Idee entbehrt. Weder historische noch nationale, noch religiöse, noch kulturelle Gründe sind es, die das heutige Österreich rechtfertigen können, das nichts anderes ist als ein willkürlicher Fetzen Landes, übriggeblieben, nachdem die Sieger ihre territorialen Bedürfnisse an dem Leib des alten Österreich ohne die geringste Rücksicht auf dessen eigene Natur befriedigt haben. Nicht so sehr wirtschaftlich, sondern politisch ist das heutige Österreich nicht lebensfähig, denn es gibt niemanden mehr, der es noch als eine innere Notwendigkeit empfinden würde, Österreicher zu sein."2 Kelsen versprach sich von einem Anschluß eine außerordentliche Kräftigung von Zentrum und Sozialdemokraten3. 1927 veröffentlichte Kelsen dann einen Aufsatz, in dem er die Anschlußfrage rechtstechnisch untersuchte, sich im letzten 1 2 3 Vgl. nur H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl. (1923), S. XXI H. Kelsen, Zur Anschlußfrage, in: Republikanische Hochschul Zeitung 1926, Heft 1/2, S. 2 H. Kelsen, ebd. 367 Absatz einer euphorischen deutschnationalen Gefühlswallung aber nicht entziehen konnte: "Es ist freilich nur Zukunftsmusik, die wir gemacht haben. Aber ich weiß mich eins mit allen Deutschen, an die sich diese Ausführungen richten, in der Hoffnung, daß der Grundakkord dieser Musik, der heute nur als ein leiser Klang aus unbekannten Fernen zu uns herübertönt, daß dieser Zusammenklang der Stimmen aller deutscher Stämme einst gewaltig durch die Welt brausen wird, zur Ehre und zum Ruhm einer Völkergemeinschaft, die auch dem deutschen Volke sein Recht, weil seinen Staat gewährt." 4 Nach seiner Lehrtätigkeit in Wien bekleidete Kelsen von 1930 bis zu seiner Absetzung durch die Nationalsozialisten 1933 einen Lehrstuhl in Köln. Von 1933 bis 1940 war er in Genf und Prag tätig, ab 1940 in den Vereinigten Staaten5. 1944 und 1945 machte sich Washington seine Kenntnisse zunutze und zog ihn als wissenschaftlichen Berater der Vorbereitungen für die Verwaltung der von den Alliierten aus deutscher Besetzung noch zu befreienden Gebiete (1944) hinzu sowie als wissenschaftlichen Berater der "War Crimes Commission", der er im Frühjahr und Sommer 1945 insgesamt drei Monate zur Verfügung stand 6. b. Entwicklung der Kondominium-These 1944. Keinen Einblick hatte Kelsen jedoch in die völkerrechtliche Besatzungsplanung der Amerikaner. Deshalb meldete er sich 1944 durch einen Aufsatz zu dieser Frage im "American Journal of International Law"7 selbst zu Wort, da ihn diese Problematik offensichtlich brennend interessierte. Die beiden klassischen Möglichkeiten der Besetzung fremden feindlichen Territoriums - die occupatio bellica und die occupatio paci4 5 6 7 368 H. Kelsen, Die staatsrechtliche Durchführung des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich - Sonderabdruck aus der Zeitschrift für öffentl. Recht 1927, S. 24 Vgl. R.A. Metall, Hans Kelsen, Leben und Werk, S. 57 ff. Vgl. R.A. Metall, ebd. H. Kelsen, The International Legal Status of Germany to be established immediately upon termination of the war, in: AJIL 38 (1944) , S. 689 ff. fica -, erklärte Kelsen, seien bei der Okkupation Deutschlands aus politischen Erwägungen heraus nicht opportun. Die "kriegerische Besetzung" (occupatio bellica) erlaube weder die fundamentale Reform der politischen Struktur Deutschlands, noch die vollständige Veränderung des politischen Systems oder die Umerziehung des deutschen Volkes. Besatzungsmaßnahmen im Rahmen der Verwaltung des besetzten Gebietes seien nur insoweit gerechtfertigt, als sie für die Aufrechterhaltung und Sicherheit der Streitkräfte und zur Verwirklichung des Kriegszwecks, den Sieg über den Feind, notwendig seien. Auch habe der Okkupant kein Recht zur Aufteilung des Landes oder zur Abtrennung von Teilen, was insbesondere Bedeutung habe für die Wiederherstellung des selbständigen Staates Österreich®. Als rechtlich durchaus möglich bezeichnete Kelsen eine "friedliche Besetzung" (occupatio pacifica). Grundlage der Besetzung müsse dann allerdings ein internationaler Vertrag, insbesondere ein mit Deutschland abgeschlossener Friedensvertrag oder Waffenstillstand sein. Durch einen solchen Vertrag könnten die siegreichen Mächte alle Rechte erwerben, die sie benötigten. Keinesfalls dürfe dieser Vertrag jedoch mit der NaziRegierung abgeschlossen werden, sondern nur mit einer neuen deutschen Regierung, die nach der Liquidierung des Nationalsozialismus in Deutschland unter wirksamer Kontrolle durch die Besatzungsmächte eingesetzt werde. Doch auch von einem Vertragsschluß mit dieser Regierung riet Kelsen ab, weil, wie er meinte, eine solche Regierung unter der ständigen Morddrohung durch Partisanen nationalsozialistischer Untergrundbewegungen agiere. Wenn man irgendwelche Lehren aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges ziehen könne, dann die, daß eine neue, demokratische Regierung in Deutschland nicht mit der politischen Verantwortung für einen Friedensvertrag belastet werden dürfe, der das Resultat der deutschen Niederlage und wahrscheinlich sehr viel unerbittlicher sei, als der Versailler Vertrag. Kelsen folgerte, ein Friedensvertrag sei überhaupt nicht möglich. Der Zweite 8 H. Kelsen, ebd., S. 689 369 Weltkrieg könne und dürfe nicht beendet werden durch einen Friedensvertrag, abgeschlossen mit einem Feind, der bedingungslos kapituliert habe. Ebenso könne das nach dem Krieg einzuführende politische System nicht auf der Grundlage eines solchen Friedensvertrages entstehen 9. Kelsen stand somit vor dem gleichen Dilemma, das - wie wir oben bereits gesehen haben - auch die amerikanischen Planungsstäbe zu dieser Zeit beschäftigte und das so einfach nicht zu umgehen war. In dieser prekären Situation beschritt auch Kelsen einen neuen Weg. Er aktivierte den Begriff des "Kondominiums", von dem er glaubte, er sei die politisch zweckmäßigste und eine juristisch einwandfreie Lösung. Den rechtlichen Status eines Kondominiums sah er in der Tatsache charakterisiert, daß das betroffene Territorium in den gemeinsamen Besitz von zwei oder mehr Staaten gestellt sei, die ihre eigene Souveränität gemeinschaftlich über das Gebiet und die dortige Bevölkerung ausübten. Die Einrichtung eines Kondominiums sei aber nur möglich, wenn zuvor eine "Debellatio" stattgefunden habe, also die Militärmacht des Feindes komplett zerstört und irgendwelche noch möglichen Widerstände seitens des besiegten Staates beseitigt seien, so daß die Ungewißheit der Kriegszeit nicht mehr bestehe und die Unterwerfung ("Conquest") des Gebietes unabänderlich eingetreten sei. Nach der Kondominium-Periode, wenn die Souveränität Deutschlands wiederhergestellt werde, sei Deutschland rechtlich als ein neuer Staat anzusehen10. Diese Gedankengänge Kelsens standen jedoch, was Kelsen nicht wissen konnte, im Widerspruch zu den amerikanischen Plänen, nach denen der deutsche Staat keineswegs vernichtet werden und der rechtliche Kriegszustand mit Deutschland fortdauern sollte. Das mag auch die Ursache gewesen sein für die Nichtberücksichtigung des Kelsen'schen Aufsatzes in der eigentlichen Diskutierphase von Januar bis Juni 1945 im US-Kriegsministerium und den anderen damit befaßten Pia- 9 H . K e l s e n , e b d . , S . 6 9 1 f nungsgruppen. Kelsens Einfluß auf die inneradministrative Diskussion in Washington war völlig belanglos, ganz im Gegensatz zur Aufnahme und Auseinandersetzung mit seinen Thesen in der fachspezifischen Literatur - insbesondere in Deutschland - in den ersten Jahren nach 1945. c. Rechtliche Folgerungen aus den politischen Fakten. Nachdem durch die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht, durch die Absetzung der Regierung Dönitz und die Berliner Deklaration im Mai und Juni 1945 politische Fakten geschaffen worden waren, ging Kelsen daran, sie in seinem Sinne zu interpretieren. In einer weiteren Veröffentlichung im "American Journal of International Law" meinte er, die politische Entwicklung sei eine Bestätigung seiner Thesen vom Kondominium11. Die bedingungslose Kapitulation, unterzeichnet durch die Repräsentanten der letzten deutschen Regierung, könne als Übertragung der deutschen Souveränität auf die siegreichen Mächte ausgelegt werden, meinte Kelsen, in Verkennung der Tatsache, daß die Unterzeichner ausdrücklich nur im Namen des Oberkommandos der Wehrmacht aufgetreten waren. Aber selbst, wenn man die bedingungslose Kapitulation nicht in dieser Weise interpretieren wollte, so Kelsen weiter, müsse doch angenommen werden, daß die Sieger durch die Arrestierung von Großadmiral Dönitz und seinem Stab die Regierung beseitigt hätten. Kelsen folgerte: "The existence of an independent government is an essential element of a state in the eyes of international law. By abolishing the last Government of Germany the victorious powers have destroyed the existence of Germany as a sovereign state. ... Germany having ceased to exist as a state, the status of war has been terminated, because such a status can exist only between belligerent states. Since Germany's surrender, at least since the abolition of the Dönitz Government, the Hague Regulations are not applicable, and the legal status of the territory occupied 11 H. Kelsen, The Legal Status of Germany According to the Declaration of Berlin, AJIL 39 (1945), S. 518 ff. 371 by the victorious powers cannot be that of belligerent occupation."12 Danach hätten die vier Mächte durch die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 und die dort verankerte Übernahme der "supreme authority" tatsächlich ihre eigene gemeinsame Souveränität über Deutschland ausgebreitet und dadurch auf deutschem Boden ein Kondominium errichtet. Daß der Begriff "Souveränität" keine Verwendung finde, sei nicht von Wichtigkeit, da "supreme authority" nichts anderes besage, als unbegrenzte Machtbefugnis über das unterworfene Gebiet und seine Bevölkerung13. Wie sehr Kelsen an der Rechtslage Deutschlands ein eigenes persönliches Interesse bekundete, zeigt sein weiteres Engagement. Aufbauend auf seiner Kondominialthese riet er in einem Artikel in der "American Political Science Review"14 wie schon zuvor von einem Friedensvertrag der Alliierten mit Deutschland ab. Ein derartiger Vertrag sei politisch nicht erwünscht. Die Sieger sollten nicht den nach dem Ersten Weltkrieg begangenen Fehler wiederholen, die Regierung eines demokratischen Deutschlands mit der politischen Verantwortung für eine Friedensregelung zu belasten, deren Härte durch die Schuld einer vorangegangenen autokratischen oder totalitären Regierung notwendig geworden sei15. Die politisch angemessene rechtliche Form für die Regelung der deutschen Frage sei ein einseitiger Akt der Besatzungsmächte, durch den der neue deutsche Staat 12 13 H. Kelsen, ebd., S. 519 H. Kelsen, ebd., S. 512 ff.; Entgegen der bis dahin unumstrittenen Auffassung, daß eine "Debellatio" bzw. eine "Subjugatio" als die Existenz des Staates vernichtender rechtlicher Zustand immer eine Annexion des Staatsgebietes voraussetzte, meinte Kelsen, eine solche Auffassung sei unhaltbar. Wenn es überhaupt einen Unterschied gebe zwischen einer formalen Annexion und der Unterstellung dieses Gebietes unter die gemeinsame Souveränität der Eroberer ohne dauernde Annexionsabsicht, sei dieser mehr politischer als juristischer Natur, ebd.. 14 H. Kelsen, Is a peace treaty with Germany legally possible and politically desirable?, American Political Science Review 1947, S. 1188 ff.; dt: Ein Friedensvertrag oder ein neues Deutschland, Berliner Hefte für geistiges Leben, 3. Band, 1948, S. 193 ff. H. Kelsen, Am. Pol. Sc. Rev. 1947, S. 1190 15 372 ins Leben gerufen werde. Dieser Schöpfungsakt sei ein souveräner Akt der Besatzungsmächte, basierend auf einem unter ihnen zu schließenden Vertrag. Ein Vertrag, durch den ein neuer Staat geschaffen werde, sei eine der wenigen Ausnahmen von der Regel, daß ein Vertrag Verpflichtungen nur den vertragschließenden Staaten auferlege. Mithin könne der Vertrag, durch den der neue deutsche Staat geschaffen werde, alle die Verpflichtungen enthalten, die die siegreichen Staaten dem neuen deutschen Staat aufzuerlegen wünschten. Abschließend machte Kelsen sogar noch Vorschläge zum Inhalt dieses Gründungsvertrages: Artikel 1 solle das Gebiet des neuen Staates festlegen, Artikel 2 bestimmen, daß der neue deutsche Staat immer die Struktur eines Bundesstaates und eine demokratische Verfassung haben solle, Artikel 3 vorsehen, daß der neue Staat den in einem Anhang zur Gründungsakte bestimmten internationalen Verpflichtungen unterliege, und Artikel 4 vorschreiben, daß eine Verletzung dieser Verpflichtungen den neuen Staat kollektiv nach internationalem Recht und die Mitglieder seiner Regierung individuell gemäß in einem weiteren Anhang niedergelegter Grundsätze verantwortlich mache. Dieser Anhang sollte Bestimmungen über die Errichtung eines internationalen Gerichtshofes und Rechtsnormen für die individuelle straf- und zivilrechtliche Verantwortlichkeit bei Verletzung der festgelegten internationalen Verpflichtungen enthalten. Artikel 5 solle bestimmen, daß die Artikel 1 bis 4 der Gründungsakte einschließlich der Anhänge einen integrierenden Bestandteil der Verfassung bildeten und nur mit Zustimmung der Mächte geändert werden könnten, von denen der neue Staat geschaffen worden sei. Artikel 6 solle bestimmen, daß die Verfassung des neuen Staates von einer konstituierenden Versammlung errichtet werde, die nach ebenfalls von den Siegermächten festgelegten Regeln zu wählen sei. Artikel 7 solle vorsehen, daß, sobald die Verfassung ordnungsgemäß in Kraft getreten und eine nationale Regierung in Übereinstimmung mit der Verfassung gebildet worden sei, der Kontrollrat dieser Regierung die 373 volle Souveränität über ihr Gebiet übertragen und daß dieser Akt die Anerkennung des neuen Staates und seiner Regierung seitens der Gründungsstaaten enthalten solle. Ein Schlußartikel schließlich solle den Kontrollrat mit der Durchführung der Gründungsakte beauftragen16. 1.2. Ernst Fraenkel fordert die Grundsätze des "rule of law" für die amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland Auf eine andere Art als Kelsen näherte sich Ernst Fraenkel dem Problem der Nachkriegsbesetzung Deutschlands. Im Auftrag der Carnegie Endowment erstellte er bis zum Sommer 1944 die Schrift "Military Occupation and the Rule of Law", die sich im Gegensatz zu Kelsens Aufsätzen weniger mit rechtstechnischen Fragen der Ausschaltung des Völkerrechts befaßte, sondern das Augenmerk mehr auf besatzungsimmanente praktische und psychologische Probleme lenkte, die er - wie der Titel bereits offenlegt - mit dem - eigentlich nur innerstaatlich Verwendung findenden - Begriff des "rule of law" ("Rechtsstaat") in den Griff bekommen wollte17. Während Kelsen einen methodisch mehr oder weniger sauberen Weg suchte, die amerikanischen Interessen und Wünsche durch die Außerkraftsetzung des Völkerrechts zu befriedigen, wodurch er der tatsächlichen Möglichkeit einer Besat- zungswillkürherrschaft Vorschub leistete, weil er sich keinerlei Gedanken um den Ersatz des Völkerrechts durch ein neues Korrektiv für willkürliche Machtausübung machte, widmete Fraenkel der rechtstechnischen Frage nach der Anwendbarkeit des Völkerrechts nur vergleichsweise wenig Raum, um vor allem der Frage nach dem Korrektiv erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Ausgangspunkt von Fraenkels Überlegungen war die Rheinlandbesetzung in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. In Beziehung zu der nach dem Zweiten Weltkrieg anzutreffenden völkerrechtlichen Lage in Deutschland meinte Fraenkel kurz, den Besatzer von seinen Pflichten durch den Hinweis auf den ordre public- 16 17 374 H. Kelsen, ebd., S. 1190 ff. E. Fraenkel, Military Occupation and the Rule of Law. Occupation Government in the Rhineland, 1918-1923 Gedanken entbinden zu können, ebenso wie durch den von ihm behaupteten veränderten Kriegsbegriff, wonach Krieg nicht nur eine militärische Angelegenheit sei, sondern auch eine ökonomische und soziale, und letztere könnten (im Hinblick auf Art. 43 HLKO) ebenso gute Gründe für die Verwerfung der bestehenden Gesetze abgeben wie die militärische Notwendigkeit. Es sei zwar zutreffend, daß die Möglichkeit gegeben sei, daß die Besatzer die Totalität des modernen Krieges als eine generelle Erlaubnis zur Rechtlosigkeit behandelten. Aber es sei wesentlich, daß die Anwendung der traditionellen Ideen des Völkerrechts im Hinblick auf gegenwärtige und nicht auf in der Vergangenheit liegende Bedingungen geschehe18. Ohne die von ihm behaupteten veränderten Umstände jedoch im einzelnen nachzuweisen, meinte Fraenkel nur lakonisch: "It would be a tragic mistake if conformance with the letter of international law should entail a violation of its spirit and intentions."19 Fraenkel achtete aber darauf, daß, wenn das Völkerrecht schon nicht angewendet werden sollte, der Okkupant nicht seine eigenen Interessen rücksichtslos und willkürlich einsetzen dürfe. Wenn der Besatzer berechtigt sei, immer dann zu handeln, wenn seine Interessen eine Einmischung verlangten, werde seine Macht zu einer absoluten. Seine Herrschaft werde zu der eines Polizeistaates aus einer Zeit bevor der Despotismus durch das Naturrecht erleuchtet worden sei. Eine Besatzung unter Kriegsrecht sei einer Besatzung vorzuziehen, die nur durch die Interessen der Besatzungsmacht bestimmt sei. Wenn eine Interpretation im Sinne dieser InteressenTheorie in der Rheinlandbesetzung die Oberhand gewonnen hätte, wäre das Besatzungsregime in eine Despotismusherrschaft durch Gewalt umgewandelt worden20. 18 19 20 E. Fraenkel, E. Fraenkel, E. Fraenkel, ebd. , , S. ebd. , , S. ebd. , . S. 188 f. 189 197 ff 375 Die Lösung des Problems sah Fraenkel in einer Konzeption des "rule of law", wobei er es aber nicht als ausreichend ansah, die "Vorherrschaft des Gesetzes" ("supremacy of law") zu proklamieren. Hinzukommen müsse eine strukturelle Koordinierung von Besatzungsrecht und dem Recht des besetzten Gebietes. Die Erfahrungen der Rheinlandbesetzung standen ihm dabei als Negativbeispiel vor Augen. Wenn die Autoren des Rheinlandabkommens dieses nicht im Geist angelsächsischen Mißtrauens gegen die Exekutive errichtet, sondern mehr Mühe darauf verwandt hätten, eine strukturelle Koordinierung des Besatzungsrechts mit dem deutschen Rechtsstaatsystem zu erreichen, hätten sie ihre Aufgabe erfüllen können, die in einer effizienten Besatzungsregierung, kontrolliert durch das Gesetz und in einer reibungslosen Kooperation mit deutschen Behörden bestanden hätte21. Daß eine Übertragung des Rechtsstaatsgrundsatzes von seinem bisherigen rein innerstaatlichen Anwendungsbereich auf das Verhältnis von Besatzer und Besetzten nicht einfach sein würde, war Fraenkel klar. In einem modernen Verfassungsstaat sei die Macht der Regierung bestimmten Begrenzungen unterworfen, entweder durch ein System von Kontrollen und Gleichgewichten, durch die Erfordernisse des Naturrechts, wie es in besonderen "bills of rights" enthalten sei, oder durch Verfassungsbestimmungen. Konnten vergleichbare Restriktionen auch einer Militärregierung auferlegt werden? Eine Besatzungsregierung, so führte Fraenkel aus, sei grundsätzlich unterschiedlich von der Regierung in einem Verfassungsstaat. In letzterem seien die Machthaber die Repräsentanten derer, die dieser Macht unterworfen seien, und die Stabilität des ganzen Systems verlange gegenseitiges Vertrauen. Ein Besatzungsregime aber sei die Herrschaft einer fremden Regierung, die nicht gerade den Anspruch erhebe, den Willen der beherrschten Bevölkerung zu repräsentieren. Keine ethnischen Bande, keine geteilten 21 376 E. Fraenkel, ebd., S. 176; für Fraenkel war das Rheinland der frühen 20er Jahre der Mikrokosmos der meisten Kräfte, die dann in den 30er Jahren zum Ausbruch kamen. Die Rheinlandbesetzung war für ihn eine "prelude to the second World War", ebd. S. 3. Traditionen und kein freiwilliger Akt politischen Zutrauens vereinige die Herrscher und ihre Unterworfenen. Tatsächlich mißtraue jeder dem anderen. Unter diesen Bedingungen seien Machtbeschränkungen, die sich von der Teilhabe des Volkes an der Regierung ableiteten, außerhalb jeder Fragestellung. Wenn die Regierenden mehr die Überwacher als die Repräsentanten des Volkes seien, sei es unvermeidbar, daß der Konflikt zwischen der Macht der Regierenden und den Rechten der Regierten früher oder später in Verletzung der Rechte der Regierten enden werde, sofern diese Rechte nicht besonders garantiert seien. Zu diesen zu garantierenden Rechten zählte Fraenkel vor allem die bürgerlichen Freiheiten, deren Schutz auch in einer Besatzungsvereinbarung (wie im Rheinlandabkommen geschehen) nicht den Unwägbarkeiten eines guten Willens überlassen werden dürfe22. Zu den Anforderungen des Rechtsstaatsgrundsatzes gehörte für Fraenkel außerdem die rechtliche Überprüfung von Besatzungsmaßnahmen. Er zweifelte jedoch daran, ob die Gerichte des besetzten Landes die richtigen Stellen seien, um die Tätigkeiten des Okkupanten zu überprüfen. Zu diesem Zweck hätte er selbst lieber ein unabhängiges internationales Organ gesehen23. Für Fraenkel war der Rechtsstaatsgedanke das tragende Prinzip der Besatzungsherrschaft der Amerikaner in Deutschland, das nach der Kapitulation verwirklicht werden müsse. Er führte dazu unter anderem aus: "It is scarcely necessary to emphasize that ,rule of law' ... means that the bearers of public power respect definite rules of jurisdiction and procedure in their governmental and administrative activities - that they recognize those formal principles that are indispensable for the protection of the individual from arbitrary interference with his personal integrity."24 22 23 24 E. Fraenkel, ebd., S. 204 f. E. Fraenkel, ebd., S. 223 f. E. Fraenkel, ebd., S. IX f. 377 Daß Fraenkel mit seinen Überlegungen und Forderungen so gut wie kein Gehör fand, ist in Anbetracht der schon Mitte 1944 klaren amerikanischen Intention, keinerlei rechtliche Restriktionen weder völkerrechtlicher noch allgemein rechtsstaatlicher Art zuzulassen, nicht verwunderlich25. Dennoch wurde Fraenkel eine Stellung in einer amerikanischen Kriegsbehörde angeboten, wo er zusammen mit einer Amerikanerin den ersten Entwurf für die Wiederherstellung des deutschen Gerichtswesens ausarbeitete. Als man dann nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches erneut an ihn herantrat, um ihm eine Stellung bei den amerikanischen Besatzungsbehörden in Deutschland anzutragen, lehnte er jedoch ab. Die Besatzungspraxis der Alliierten, ließ er Washington wissen, entspreche nicht den Prinzipien, die er in "Military Occupation and the Rule of Law" aufgestellt habe26. 25 Die Herausgeber seiner Schrift meinten denn auch, sich von Fraenkels Aussagen distanzieren zu müssen: "It is hardly necessary to state that neither of the sponsoring institutions identifies itself with the views expressed in this book.", E. Fraenkel, ebd., S. V 26 G. Doeker/W. Steffani, Klassenjustiz und Pluralismus, Fest- schr. f. E. Fraenkel zum 75. Geburtstag, S. 11. Im Rückblick auf die beiden ersten Jahre der amerikanischen Besetzung in Deutschland befaßte sich Carl J. Friedrich in mehreren Schriften mit dem Prinzip des "rule of law" und die dadurch aufgeworfenen Probleme in Zeiten einer Militärregierung. Insbesondere zu Beginn der amerikanischen Besatzung sei es zu zahlreichen Willkürakten gekommen, die dann mit der Begründung militärischer Notwendigkeit gerechtfertigt worden seien. Die militärischen Diensthandbücher beinhalteten als Ziele der Militärregierung nicht die Einführung der Selbstverwaltung oder der Demokratie. Sie beinhalteten jedoch die Einführung von Recht und Ordnung. Der Zweck dieses Systems einer Notfall- Regierung ("system of emergency government") sei wesentlich auf dieses Ziel gerichtet, sobald für die militärischen Bedürfnisse gesorgt sei. In dem Umfang, in dem die Einsetzung einer mit dem Recht in Einklang stehenden Regierung den Boden vorbereite für die Errichtung einer konstitutionellen Regierung und Demokratie, sei die Militärregierung verpflichtet, dem Ziel der Demokratisierung zu dienen. In der Kampfphase sei die primäre Aufgabe aber noch immer, den taktischen Truppen zu helfen. Zu einem eigenen Besatzungsziel wurde "rule of law" jedoch erst durch die JCS 1067 ablösende Direktive vom 15.07.1947, in der es hieß: "As a basic objective of the occupation is the reestablishment of the rule of law in Germany, you will require all agencies under your control to refrain from arbitrary and oppressive measures." Vgl. C.F. Friedrich, Military Government and Democratization: 378 II. Dia völkerrechtliche Stellung Deutschlands 1945 und in den Jahren danach in der politischen Auseinandersetzung Die Alliierten hatten durch das Auferlegen der bedingungslosen Kapitulation, die Absetzung der Regierung Dönitz und die einseitige Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 Rechtstatsachen geschaffen, deren völkerrechtliche Erfassung und Wertung in der Folgezeit eine Vielzahl an Literatur entstehen ließ. Aufgrund der enormen praktischen Relevanz der völkerrechtlichen Lage Deutschlands und den gerade in dieser Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs hervortretenden und oftmals weit differierenden politischen und ideologischen Auffassungen, war eine Vermengung juristischer und politischer Argumentationsinhalte die logische Folge. Die A Central Issue of American Foreign Policy, in: ders. (Hrsg.), American Experiences in Military Government in World War II, S. 3 ff., insb. S. 11 ff.. Für Friedrich war die Militärregierung keine totalitäre Diktatur, sondern eine konstitutionelle Diktatur. Der konstitutionelle Diktator in Person des Militärgouverneurs sei tatsächlich bevollmächtigt von einer konstitutionellen Regierung, die er nicht kontrolliere. Die Ausübung seiner Macht sei ausdrücklich definiert, und seitdem er einer Abberufung ausgesetzt sei, könne man sagen, daß seine Amtszeit einer klaren Zeitbegrenzung unterworfen sei, vgl. C.F. Friedrich, Military Government and Dictatorship, in: The Annals of the American Academy, 267, S. 1 ff., 7. Friedrich übersah dabei allerdings, daß die Verfassungsmäßigkeit der beauftragten Regierung keineswegs automatisch die Verfassungsmäßigkeit des Militärgouverneurs indiziert, da z.B. die amerikanische Verfassung als innerstaatliches Recht zur Reglementierung der Militärregierungspolitik in besetzten feindlichen Gebieten keine Handhabe bietet, insbesondere auch nicht das Rechtsverhältnis von Besatzer und Besetzten regelt und letztere keine amerikanische Stelle zur eigenen Rechtswahrung anrufen konnten. Die entsendende Regierung und der ausführende Militärgouverneur bewegen sich bei der Festlegung und Verfolgung ihrer Besatzungspolitik vielmehr im außerverfassungsrechtlichen, inneramerikanisch nicht rechtlich überprüfbaren politischen Raum. Der Militärgouverneur wird vielmehr erst dadurch zu einem "konstitutionellen Diktator", indem er die das Rechtsverhältnis von Besatzern und Besetzten regelnden speziellen völkerrechtlichen Vorschriften seinem Handeln zugrunde legt, insbesondere die HLKO als "Magna Charta des Besatzungsrechts". Zu C.F. Friedrichs rückblickender Beurteilung der Besatzungspolitik in Deutschland vgl. auch: C. F. Friedrich, The Legacies of the Occupation of Germany, in: Public Policy, Vol. XVII, 1968, S. 1 ff., zum Problem der Demokratisierung und dem Rechtsstaatserfordernis, ebd., S. 11 f. . 379 daraus sich ergebenden unterschiedlichen völkerrechtlichen Deutungen waren "zum größten Teil reine Zwecktheorien"27, und zwar umso mehr, je weiter sie sich von den Vorstellungen und Begriffen des traditionellen Völkerrechts entfernten. Eine pseudojuristische Begriffssophistik hielt zusehends Einzug, mit neuen "Pseudorechtsinstituten"28 sollte die Haager Landkriegsordnung für obsolet erklärt werden. Den hinter dieser Entwicklung stehenden Sinn und Zweck hat Rolf Stödter treffend beschrieben: "Man will die Rechtsfolgen vermeiden, die sich vermeintlicherweise unter Zugrundelegung der bisher anerkannten völkerrechtlichen Begriffe, vor allem bei Anwendung der die occupatio bellica nun einmal regelnden Haager Landkriegsordnung ergeben müßten. Da man die Haager Landkriegsordnung zur Lösung des Deutschland-Problems für ungeeignet hält, möchte man sie als unanwendbar erklären."29 Eine babylonische Sprach- und Begriffsverwirrung, geprägt von politisch-ideologischen Wünschen und Interessen statt von juristischer Begriffs- und Deduktionsklarheit, ließ die ohnehin schon schwierige Bestimmung der Rechtslage Deutschlands beinahe aussichtlos erscheinen. Pseudojuristische Neologismen, auf die im folgenden noch eingegangen werden wird, vernebelten den klaren Blick auf die Rechtslage. Welche Gefahren die Vermischung völkerrechtlicher Terminologie mit der gesellschaftspolitischen und gesellschaftswissenschaftlichen Begriffsbildung mit sich bringt, und was die Überlagerung des Völkerrechts durch Vorstellungsbilder allgemeinpolitischer Art für die Völkerrechtstheorie bedeutet, hat Friedrich Berber in bezug auf die nach dem 27 28 W. Cornides, Die Weltmächte und Deutschland, S. 109 D. Blumenwitz, Der Besiegte in einem "gerechten Krieg", in: v. Siemens-Stiftung (Hrsg.), Die deutsche Neurose, S. 103 ff., 29 R. Stödter, Deutschlands Rechtslage, S. 146 380 111 Zweiten Weltkrieg kursierende Inflation an deutschlandrechtlichen Denkmodellen herausgearbeitet: "Alle diese Unterscheidungen beruhen auf soziologisch-politischen Merkmalen; sie sollen dazu dienen, verschiedene Rechtslagen zu schaffen oder zu erklären oder das Abgehen von den bestehenden Rechtsregeln in der Praxis der Sieger zu rechtfertigen. Es ist nicht zu leugnen, daß der - temporäre oder endgültige - Sieger häufig der Versuchung unterlegen ist, seine augenblickliche Machtposition zur Umgestaltung des vom völkerrechtlichen Besatzungsrecht vorgesehenen Rechtsstatus zu mißbrauchen. Man kann natürlich solche Mißbräuche kategorisieren; diese Kategorien gehören dann aber nicht in die Lehre des Rechts der kriegerischen Besetzung, sondern in die Lehre von den Völkerrechtsdelikten. Die Völkerrechtstheorie verfehlt ihre Aufgabe, wenn sie Macht- mißbrauch durch neue Kategorien rechtfertigt, statt ihn dahin zu verweisen, wohin er gehört, nämlich in das Kapitel der Völkerrechtsverletzung."30 Die Politisierung des völkerrechtlichen Besatzungsrechts zog eine weitere Konsequenz zwangsläufig nach sich, die - abhängig vom jeweiligen politischen Standort - begrüßt wurde oder abzulehnen war: Die mangelnde Verrechtlichung der deutschen Politik, konkreter: das Fehlen der Berufung auf völkerrechtliche Grundsätze und Normen und deren Geltendmachung für die Behandlung Deutschlands durch die noch existierenden oder bereits wieder entstandenen deutschen Behörden und Persönlichkeiten des politischen Lebens gegenüber den Besatzungsmächten mit dem Ziel, auf eine völkerrechtskonforme Besatzungspolitik zu dringen. Die durchaus bei vielen trotz der Begriffsverwirrung vorhandene Einsicht in die völkerrechtlichen Zusammenhänge und das Erkennen bestehender Rechtspositionen wurde in der Regel nicht in politischen Handlungsspielraum umgesetzt. 30 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd. (Kriegsrecht), S. 126 f. 381 II. 1. Das Deutsche Reich zwischen "Debellatio" und Fortexistenz Die grundlegende Frage, die sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches stellte, war die nach der Fortexistenz des Staates Deutsches Reich. War der Staat als Subjekt des Völkerrechts untergegangen, dann wären alle darauf aufbauenden Fragen gegenstandslos geworden: Ohne einen die eigene Bevölkerung schützenden und international vertretenden Staat hätte der Träger der völkerrechtlichen Rechte und Pflichten gefehlt, eine Anwendung völkerrechtlicher Vorschriften auf das Verhältnis von Okkupanten und Okkupierten in Deutschland hätte nicht länger zur Diskussion gestanden. Ob der deutsche Staat untergegangen war, hing davon ab, inwieweit die Voraussetzungen der Rechtsfigur der "Debellatio"31 erfüllt waren. Was eine "Debellatio" des deutschen Staates und die Nichtannektierung deutscher Gebiete durch die Siegerinächte, wie sie letzteres in der Berliner Deklaration festgelegt hatten, für die Bevölkerung in den besetzten Gebieten bedeutet hätte, hat nachdrücklich Rudolf v. Laun klargemacht: "Vollkommen recht-, wehr- und schutzlos wird demnach eine Bevölkerung ..., wenn die Staatsgewalt, der sie bis dahin zugehörte, vollständig zertrümmert ist und nicht mehr existiert, der Fall der sogenannten Debellatio, und wenn außerdem das Wohngebiet dieser Bevölkerung vom siegenden Staat nicht annektiert wird. Im Fall der Annexion ist der annektierende Staat nach der Auffassung des liberalen Zeitalters verpflichtet, der annektierten Bevölkerung die allgemeinen Menschenrechte zu gewähren, die ... in jedem zivilisierten Staat vorausgesetzt wurden. Wäre aber damals (1945, d. Verf.) in einem Fall von Debellatio keine Annexion vollzogen worden, so wäre dadurch die Bevölkerung des 31 382 Zu der Entwicklung und Gehalt dieses Begriffs Debellatio, Diss. jur. "Debellatio" habe 1945 182. dem unterschiedlich beurteilten rechtlichen vgl. W. v. Treskow, Der Begriff der Bonn 1965, der zu dem Ergebnis kommt, eine in Deutschland nicht stattgefunden, ebd., S. eroberten Gebietes in einen Zustand vollständiger Rechtlosigkeit gegenüber jedem beliebigen Eingriff von jeder beliebigen Seite versetzt worden, soweit 32 .und solange es dem Sieger beliebt." a. Vertreter der "Debellatio"-These. Daß die Alliierten den deutschen Staat gar nicht zerschlagen wollten und um das deutlich zu machen, die Nichtannektierungs-Bestimmung in die Berliner Erklärung aufgenommen hatten, konnte man in Deutschland zwar vermuten, eindeutige Belege fehlten allerdings. Außerdem war kein geringerer als der immer noch in hohem Ansehen stehende Hans Kelsen ja schon frühzeitig vorgeprescht und hatte den deutschen Staat für untergegangen erklärt33. Da seine diesbezüglichen Schriften zunächst in Deutschland nicht bekannt oder nicht zugänglich waren, spielten sie in dem Zeitraum von Kriegsende bis Herbst 1946 in der rechtswissenschaftlichen Diskussion in Deutschland keine Rolle. Das änderte sich erst durch ein im Oktober/November 1946 durch Wilhelm Cornides im EuropaArchiv veröffentlichtes Inhaltsreferat der Aufsätze Kelsens34. Ersten Niederschlag fanden seine Überlegungen in einer Artikelserie des in Berlin erscheinenden und amerikanisch lizensierten "Tagesspiegel" in den ersten drei Monaten des Jahres 1947. Die Artikel stellten fest, Deutschland habe jeden Staatscharakter und damit auch den eines kriegführenden oder friedenschließenden Staates verloren. Darin sei, so meinten die Apologeten der Diskontinuitätsthese, aber kein Nachteil, sondern vielmehr ein Vorteil zu sehen - insbesondere hinsichtlich einer abschließenden Friedensregelung. Es sei geradezu absurd, wollte man eine Bundesregierung bilden, damit jemand da sei, der einen förmlichen Vertrag unterzeichnen oder sogar die Unterzeichnung ablehnen könne. Der Kelsen'schen 32 33 34 K. v. Laun, Die Haager Landkriegsordnung, S. 40 Vgl. oben 2. Teil, I.i. W. Cornides, Die völkerrechtliche Stellung Deutschlands nach der bedingungslosen Kapitulation, in: EA 1946, S. 209 ff.; vgl. auch B. Diestelkamp, Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte, in: ZNR 7 (1985), S. 181 ff., der betont, daß die Diskussion in der ersten Phase der Besatzungspolitik vor allem staatsrechtliche Züge trug und erst im Herbst 1947 vermehrt auch mit völkerrechtlichen Argumenten geführt wurde. 383 Kondominialtheorie wurde Erfaßbarkeit der deutschen Mitteln rundweg geleugnet35. ausdrücklich zugestimmt, die Situation mit völkerrechtlichen In der wissenschaftlichen Literatur wurden nur ganz vereinzelt Stimmen laut, die das Deutsche Reich als nicht mehr bestehend ansahen. Hervorzuheben ist vor allem ein Aufsatz von Wolfgang Abendroth, damals Professor in Leipzig, später Professor für politische Wissenschaften in Marburg, der sich 1947 in der in der SBZ erscheinenden Fachzeitschrift "Die Neue Justiz" mit den aufgeworfenen Fragen befaßte36. Abendroth übernahm Kelsens Kondominialthese, meinte jedoch - in Abweichung von Kelsen -, zwischen der staatsrechtlichen und der völkerrechtlichen Existenz des Deutschen Reiches unterscheiden zu können; erstere sah er als noch vorhanden, letztere als nicht mehr vorhanden an. Interessant ist, daß Abendroth - wie auch v. Kempski37, trotz der voneinander abweichenden sonstigen Argumentationslinien - in einem Punkt einen Gedanken aus der anglo-amerikanischen Planungsphase aufnahm: Wie schon William Malkin in seinem Memorandum vom 18. Januar 194538 35 Die eindeutige politische Tendenz dieser Artikel, die sich mit der passiven Objektrolle der Deutschen nicht nur abfanden, sondern sie sogar forderten, um somit durch ein juristisch verbrämtes Deckmäntelchen ihrer politischen Forderung nach Fremd statt Selbstbestimmung Nachdruck zu verleihen, läßt sich auch aus den folgenden Auszügen ersehen: "Das alte 'Deutsche Reich' muß nicht nur als Wort, sondern auch als Sinn und Gesinnung verschwinden. Die Möglichkeit bietet sich dadurch, daß im Mai 1945 nicht nur Armee und Regierung, nicht nur die Staatsgewalt, sondern auch der Staat als solcher, der nach dem Willen der letzten Machthaber nur noch durch Armee und Regierung (beide der NS-Partei gleichgesetzt) verkörpert war, bedingungslos kapituliert hat." Und an anderer Stelle hieß es: "Aber ist denn der in der Geschichte ganz beispiellose Zustand seit der Kapitulation überhaupt an irgendeiner Stelle mit dem Völkerrecht zu fassen? Er ist es nicht, er kann es nicht sein, und je lauter und klarer man das sagt, desto besser." Zu den Tagesspiegel-Artikeln vgl. in einer Zusammenfassung: E. Menzel, Zur völkerrechtlichen Lage Deutschlands, in: EA 1947, S. 1009 ff., insb. S. 1011. 36 W. Abendroth, Die Haftung des Reiches, Preußens, der Mark Brandenburg und der Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts für Verbindlichkeiten, die vor der Kapitulation vom 8. Mai entstanden sind, in: Die Neue Justiz 1947, S. 73 ff. J. v. Kempski, Deutschland als Völkerrechtsproblem, in: Merkur 1947, S. 188 ff. Vgl. oben 2. Teil, V.7.a. 37 38 384 zogen sie zur Beweisführung das "argumentum a maiore ad minus" heran, wonach es zwischen Annexion und militärischer Besetzung noch eine dritte Gestaltungsmöglichkeit gebe, die in Deutschland Anwendung gefunden habe. Wenn die Siegermächte aufgrund einer "Debellatio" schon die Möglichkeit gehabt hätten, durch Annexion das deutsche Staatswesen zu zerstören, dann müßten sie auch berechtigt sein, ein minder schweres Mittel zur Erreichung ihrer Ziele anzuwenden. Während Malkin mit diesem "Schluß vom Größeren zum Kleineren" jedoch die Fortexistenz des Staates Deutsches Reich unangetastet lassen wollte, meinten Abendroth und v. Kempski damit eine Staatszerschlagung begründen zu können39. 39 In einer späteren Veröffentlichung hat Abendroth nicht mehr unbedingt auf seiner Diskontinuitäts-These beharrt, sondern trotz noch immer bestehender Zweifel auch die Kontinuitäts- Lehre in einer Alternativlösung gebührend gewürdigt, vgl. W. Abendroth, Die gegenwärtige völkerrechtliche Bedeutung des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945, in: EA 1952, S. 4943 ff.. Im Gegensatz zur ganz herrschenden staats- und völkerrechtlichen Forschung finden sich heute die Vertreter der Diskontinuitätslehre unter den deutschen Historikern. In völliger Verkennung juristischer Argumentation und Methode hat namentlich R. Hansen, Das Ende des Dritten Reiches. Die deutsche Kapitulation 1945, S. 210 ff.', sein Unvermögen zur Einsicht in grundlegende juristische Unterscheidungen (wie die zwischen Handlungs- und Rechtsfähigkeit eines Staates) deutlich gemacht. Er meint - in irriger Überschätzung der seiner eigenen Fachrichtung eigenen Wissenschaftsmethode -, von einer "bereits kasuistisch anmutende(n) Differenzierung der herrschenden deutschen Staats- und Völkerrechtslehre zwischen der Rechtsfähigkeit und der Handlungsfähigkeit eines Staates" sprechen zu können, und er will die Zerschlagung des Deutschen Reiches mit Hilfe einer "historischpolitischen Interpretation" der Geschehnisse beweisen. Dieser Interpretation durch Geschichtswissenschaft und politische Wissenschaft sei die kasuistische Unterscheidung fremd; in beiden Wissenschaften gelte die politische Handlungsfähigkeit als Kriterium für die Existenz eines Staates. Erlösche sie, dann gelte auch die Existenz des betreffenden Staates als erloschen. R. Hansen weiter: "Ein weiterer erheblicher Unterschied zwischen der juristischen und der historischpolitischen Interpretation besteht darin, daß die Staats- und Völkerrechtslehre anhand traditioneller Rechtskategorien urteilt, während die Geschichtswissenschaft und die politische Wissenschaft empirisch verfahren und sich solcher Kategorien bedienen, die dem historischen Geschehen adäquat sind. Dieser Unterschied zwischen beiden Methoden wird besonders deutlich bei der Beurteilung der deutschen Kapitulation 1945. Weil das herkömmliche Völkerrecht nur den Begriff der militärischen, nicht aber der staatlich-politischen Kapitulation kennt, wird die deutsche Kapitulation 1945 von den Juristen lediglich als 385 Die staatliche Fortexistenz des Deutschen Reiches. Für die weit überwiegende Zahl der Rechtstheoretiker aber bestand nie ein Zweifel daran, daß das Deutsche Reich als Staat den Zusammenbruch des politischen Systems des Nationalsozialismus und die militärische Niederlage überlebt b. militärischer Vorgang interpretiert. Sie wird also mit Kategorien beurteilt, die dem tatsächlichen Geschehen nicht mehr adäquat sind. ... Die historisch-politische Interpretation kommt notwendigerweise zu dem Ergebnis, daß die deutsche Kapitulation 1945 zugleich das Ende des Deutschen Reiches bedeutet," ebd., S.221 f.. Als scheinbarer Beleg für diese Auffassung wird ein Wort General de Gaulles zitiert, in dem dieser den deutschen Staat als untergegangen bezeichnet, ebd., S. 222. Von juristischer Seite sind diese Versuche Hansens, das gewünschte Ergebnis durch methodenfremde Untersuchungen "beweisen" zu wollen, nachdrücklich zurückgewiesen worden. B. Diestelkamp, Rechts- und verfassungsgeschichtliche Probleme zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, JuS 1980, S. 401 ff., bezeichnet sie als "ärgerliche Mißverständnisse juristischer Denkweise" und führt weiter zutreffend aus: "Der Staat, seine Existenz als Völkerrechtssubjekt oder sein Untergang werden durch rechtliche Kriterien bestimmt, die auch ein Historiker nicht negieren darf, will er eine seinem Gegenstand adäquate Beschreibung liefern. Gerade die Theorie vom Fortbestand des Reiches ist ein Musterbeispiel für die historische Wirkung rechtlicher Kategorien." Die mangelnde Einsichtsfähigkeit, ja Gehörlosigkeit, der deutschen Geschichtswissenschaft auf diesem Gebiet ist erschreckend. Die These vom Untergang des Deutschen Reiches scheint sich auf diese wissenschaftlicher Methode Hohn sprechende - Art und Weise immer mehr zu verfestigen, vgl. nur W. Jacobmeyer, Die Niederlage 1945, in: Westdeutschlands Weg zur Bundesrepublik: 1945-1949, S. 11 ff., 15; dieser Eindruck wird noch bestärkt durch unreflektierte und oberflächliche Wendungen, wie die, daß "die staatliche Existenz Deutschlands zunächst einmal erlosch", H. Graml, Die Alliierten in Deutschland, in: Westdeutschlands Weg zur Bundesrepublik, S. 25, oder, daß "am 8. Mai 1945 ... das Deutsche Reich bedingungslos (kapitulierte)", J. Foschepoth, Zur deutschen Reaktion auf Niederlage und Besatzung, in: Westdeutschland 1945 - 1955, S. 153. Wenn man solche Wendungen benutzt, dann muß man sich im klaren darüber sein, daß die Briten und Amerikaner, die die Entwicklung bis zur Berliner Viermächteerklärung und deren Inhalt maßgeblich bestimmten (anders als der gern zitierte General de Gaulle), alles unternahmen, um eine Zerschlagung des deutschen Staates zu vermeiden. Dies wurde oben (im 2. Teil) bereits ausführlich gezeigt. Es sind jedoch ernsthafte Zweifel erlaubt, ob dies vielleicht einen ansatzweisen Vorgang des Nachdenkens, von Umdenken soll gar nicht gesprochen werden, bei dem einen oder anderen sich mit dieser Materie befassenden Historiker auslösen wird. Es steht zu vermuten, daß man eher den anglo- amerikanischen Planern ein mangelndes Verständnis für die "historisch-politische Interpretation" vorwerfen wird. 386 hatte. Der deutsche Staat war weiterhin rechtsfähig; was ihm fehlte war - in Ermangelung einer effektiven Regierung lediglich die Handlungsfähigkeit40. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich diese Kontinuitätsauffassung zu eigen gemacht41. Hauptargument dieser "communis opinio" war die Feststellung, daß Staatsgewalt als eines der staatskonstituierenden Merkmale der sog. Drei-Elemente- Lehre nicht - wie Kelsen meinte - mit Staatsregierung identisch ist. Auf unterhalb der Regierungsebene befindlichen Stufen blieb die Staatsgewalt vielmehr auch während und nach den Ereignissen im Frühjahr und Sommer 1945 aktuell. Auf den generellen Befehl der Alliierten hin hatten die Beamten bis auf weiteres auf ihren Posten zu bleiben; neu eingesetzte Beamte wurden - wenngleich sie den Befehlen und Anordnungen der Besatzungsmacht unterworfen waren - als deutsche Amtsträger in Ausübung deutscher Staatsgewalt, nicht als alliierte Beamte ernannt. Die überwiegende Masse der bisherigen deutschen Gesetze galten kraft ihrer einstigen Setzung als deutsche innerstaatliche Normen weiter und wurden von den Alliierten nicht etwa rezipiert, in Besatzungsrecht transformiert oder in das Recht der einzelnen Länder umgewandelt. Die später auf dem Gebiet des ehemaligen Preußen durch die Besatzungsmächte neu geschaffenen Länder erschienen nicht als selbständige Staaten, sondern von Anfang an als Glieder eines noch bestehenden Deutschland. Auf diesen Ebenen ging die deutsche Staatsgewalt nie unter und damit auch nicht der deutsche Staat42. 40 41 42 Vgl. nur H.-J. Bücking, Der Rechtsstatus des Deutschen Reiches, S. 51 f. mit Nachw. (Anm. 126) BVerfGE 36, S. 1 ff., insb. S. 15 f. v. d. Heydte, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, in: Veröffentlichungen der deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 13, S. 6 ff., S. 13 f.; treffend auch die diesbezügl. Feststellung von Herrfahrdt, ebd., S. 79 f.: "Wir müssen uns frei machen von der Vorstellung des Absolutismus ..., daß die Staatsordnung wesentlich von der Spitze her zu verstehen sei. Nach 1945 lief der größte Teil unseres öffentlichen Lebens weiter, obwohl die Spitze fehlte. ... Die alte Verwaltungstradition hat den Weimarer Staat und den Nationalsozialismus überdauert." 387 II. 2. Versuche von Konrad Adenauer, die politische Argumentation gegenüber den Besatzungsmächten zu verrechtlichen a. Konrad Adenauer und der Zonenbeirat. Welche Möglichkeiten gab es nun, die rechtliche Erkenntnis von der Fortexistenz Deutschlands für politische Bestrebungen zur Eindämmung von Eingriffen der Besatzungsmacht zu instrumentalisieren? Den ersten Vorstoß in diese Richtung unternahm Konrad Adenauer. Ende Juni 1946 ließ er seine Parteifreunde in der CDU wissen, er werde im Zonenbeirat einen Antrag stellen, die völkerrechtliche Lage Deutschlands durch die Einholung eines Gutachtens möglichst nichtdeutscher Völkerrechtler klären zu lassen, "damit wir gegenüber denjenigen Kreisen der Alliierten, die rechtlich denken, darauf hinweisen können, damit wir auch gegenüber unseren Nachfahren darauf hinweisen können, daß wir nicht einfach wie stumme Hunde alles über uns ergehen lassen, sondern daß namentlich wir, die wir während der ganzen nationalsozialistischen Zeit Widerstand geleistet haben, haben wollen, daß der Boden des Rechts auch für uns gilt."43. Adenauers Absicht war klar: Er wollte erreichen, daß eine unabhängige Expertenkommission feststellte, Deutschland habe die Stellung eines kriegerisch besetzten Feindstaates und die alliierten Besatzer hätten sich an die bestehenden völkerrechtlichen Restriktionen zu halten. In einer vertraulichen Notiz hielt Gerhard Schröder Mitte Juli 1946 fest: "Daraus (Deutschland habe den Status einer besetzten Macht) folgert Dr. Adenauer, daß die Besatzungsmacht heute eine Menge Dinge tue, die nach der Haager Landkriegsordnung keineswegs zu ihrer Zuständigkeit gehörten. ... Dr. Adenauer beabsichtigte, das Auge der internationalen Öffentlichkeit auf diese Frage des völkerrechtlichen Status Deutschlands zu lenken. Er ist der Meinung, daß - wenn irgendetwas für die -P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 456 englische oder amerikanische Öffentlichkeit bestimmend sei - es der Respekt für Recht und Völkerrecht sei. Von hier aus ergebe sich die Möglichkeit einer Belebung der außenpolitischen Aktivität Deutschlands."44 Adenauers Antrag fand nicht die Zustimmung der britischen Kontrollkommission. Sie lehnte sein Ansinnen ab, fügte jedoch gleichzeitig hinzu, daß "von britischer Seite festgestellt wird, daß der völkerrechtliche Status Deutschlands bis zu einer endgültigen Regelung im Friedensvertrag derjenige einer besetzten Macht ist", um schon wenige Tage später klarstellend anzumerken, daß dies "nicht als juristische Begriffsbestimmung der gegenwärtigen völkerrechtlichen Stellung Deutschlands gedacht war". Eine solche Definition werde gegenwärtig von der Legal Division der Kontrollkommission vorbereitet45. in einer abschließenden Antwort vom 16. September 1946 verwies die Kontrollkommission auf die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945, das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 und auf die Verordnung Nr. 4 des Oberbefehlshabers des Britischen Kontrollgebietes vom 14. Juli 1945, denen zufolge die "oberste Regierungsgewalt" von den Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten, der UdSSR und der provisorischen Regierung der französischen Republik übernommen worden sei, ging jedoch auf die sich aus diesen Tatsachen ergebenden rechtlichen Konsequenzen mit keinem Wort ein - und schloß mit dem barschen Hinweis: "Diese Ausführungen sind als endgültig anzusehen. Über dieses Thema ist ein weiterer Schriftwechsel oder eine sonstige Erörterung nicht zulässig."46. Trotz dieser Abfuhr durch die Briten scheint Adenauer mit dem Ergebnis seines Experiments nicht unzufrieden gewesen zu sein. Die unverbindliche - Erklärung der Briten, der momentane Status Deutschlands sei der eines besetzten Landes, genügte ihm nach eigenem Bekunden insofern, "als wir dadurch in den Stand gesetzt wurden, klar auf die Pflichten der 44 45 46 Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 19451949, Bd. 1, S. 809 Anm. 3 Akten zur Vorgeschichte, ebd., S. 808 f., Anm. 3 Akten zur Vorgeschichte, ebd., S. 808 ff. 389 Besatzungsmacht gegenüber der besetzten Bevölkerung hinzuweisen."47 Adenauers Initiative im Zonenbeirat ist wesentlich auf den Einfluß eines seiner Berater, des Legationsrates Eugen Budde, zurückzuführen48. Budde trat nachdrücklich dafür ein, "das Völkerrecht als politische Plattform Deutschlands" in Anwendung zu bringen. Er sah darin die geeignete Möglichkeit, neben anderen Sachbereichen auch die deutsche Außenpolitik wieder aufnehmen zu können. Er rügte, "daß man in Deutschland fast zwei Jahre lang kaum versucht und verstanden hat, mit den friedlichen Mitteln des Völkerrechts die ersten schmalen Pfade durch das wuchernde Gestrüpp der drückenden Gegenwartssorgen hin zum völkerrechtlichen Ausgleich und Frieden mit den anderen Mächten zu bahnen."49. Zwar sei aus der kriegerischen Besetzung zwei Jahre nach Ende der Feindseligkeiten inzwischen praktisch, wenn auch noch nicht rechtlich, eine friedliche Besetzung geworden. Daraus folge aber nur, daß die für Kriegszeiten geschaffenen Normen der HLKO hinsichtlich der Rechte der eingesessenen Bevölkerung allermindestens noch Fortgeltung hätten. Nach Beendigung der militärischen Feindseligkeiten könne nämlich der Umfang der besatzungsmäßigen Rechte und Pflichten für Okkupant und Bevölkerung des besetzten Gebietes höchstenfalls zugunsten der Bevölkerung, nicht aber zugunsten des Besetzers geändert werden, weil nach der totalen Beendigung aller militärischen Feinseligkeiten die meisten militärischen Rücksichten entfielen50. Buddes Drängen war es wohl, das Adenauer zu dem Versuch einer politischen Instrumentalisierung des Völkerrechts veranlaßte. Eine Budde ähnliche Argumentation trug auch ein weiterer einflußreicher Diplomat vor, der ehemalige Botschafter in Moskau, Rudolph Nadolny51. Hinsichtlich der HLKO führte er 47 48 49 50 51 390 K. Adenauer, Erinnerungen, S. 67 Vgl. H.-P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 794 E.C.F. Budde, Gibt es noch eine deutsche Außenpolitik?, S. 75 E.C.F. Budde, ebd., S. 61 Zur Person R. Nadolnys vgl. G. Wollstein, Rudolf Nadolny Außenminister ohne Verwendung, in: VfZG 1980, S. 47 ff., zu R. aus, daß, wenn ihre Bestimmungen sogar in Zeiten des Kriegszustandes Geltung hätten, sie um so mehr nach seiner Beendigung und nach ausdrücklicher offizieller Verkündung eines Okkupationszustandes Platz greifen müßten52. Daneben versuchte er auch das Potsdamer Protokoll und - vor allem - die AtlantikCharta - der er zwar keine rechtliche, aber eine "moralische Bindung" zumaß - für Zwecke der Deutschlandpolitik und im Hinblick auf einen zukünftigen Friedensvertrag zu verwenden53. Auseinandersetzung mit der britischen Besatzungsmacht. Ob und wie Adenauer in der Folgezeit den Besatzungsmächten, vor allem in "seiner" Zone den Briten gegenüber, seine Überzeugung von der völkerrechtlichen Gebundenheit der Besatzungsmächte zum Ausdruck brachte, ist nicht bekannt. Tatsächlich scheint sich jedoch bis zum November 1947 nicht allzuviel bewegt zu haben. Erst durch einen Artikel des Justizministers Gustav Heinemann in der Zeitung "Die Welt" am 15. November 1947 erhielt diese Frage auch in der breiten deutschen Öffentlichkeit neue Nahrung54. Anlaß war eine im Juni 1947 von der Militärregierung angekündigte Zerstörung eines Teils der Essener Kruppwerke. Unter den abzubauenden Werksanlagen befanden sich neben Rüstungsbetrieben auch Werke der Friedensproduktion. Daraufhin forderte die Stadt Essen Heinemann war damals auch Oberbürgermeister der Stadt - die Erhaltung dieses Teils der Kruppwerke und übergab dem britischen Militärgouverneur zur rechtlichen Untermauerung ihrer Forderung drei völkerrechtliche Gutachten, in denen übereinstimmend festgestellt wurde, daß die Befugnisse der Militärregierung zu Eingriffen in privates Eigentum ihre Grenzen in den zumindest sinngemäß anzuwendenden Regeln der HLKO fänden. Die im Auftrag des britischen Militärb. 52 53 54 Nadolnys politischer Tätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg, ebd., S. 66 ff.. R. Nadolny, Völkerrecht und deutscher Friede, S. 45 Vgl. nur R. Nadolny, ebd., S. 7 ff., 34 ff., 59 ff.; zusammenfassend G. Wollstein, VfZG 1980, S. 67 f.. G. Heinemann, Die entscheidende Rechtsfrage, in: "Die Welt" v. 15.11.1947 391 gouverneurs, General Robertson, erteilte Antwort vom 23. Oktober 1947 war klar und deutlich: "Diese Bestimmungen (der HLKO, d. Verf.) sind jedoch auf die augenblickliche Besetzung nicht anwendbar. Für die augenblickliche Besetzung Deutschlands gibt es keinen genauen Präzedenzfall, und eine solche Situation wurde von den Verfassern der Haager Konvention niemals ins Auge gefaßt. Es gibt keine deutsche Regierung: die oberste Gewalt in Deutschland wird von den vier Oberbefehlshabern ausgeübt, von denen jeder für seine eigene Besatzungszone zuständig ist, und die gemeinsame Entscheidungen treffen in Angelegenheiten, die Deutschland als Ganzes angehen. Auf Grund der ihnen verliehenen obersten Gewalt gibt es keine Begrenzung ihrer Vollmachten, mit Ausnahme derjenigen, die sie sich selbst setzen."55 Insbesondere der letzte Satz war ein Schlag ins Gesicht all jener, die aus der Konkursmasse des Dritten Reiches eine den Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Beschränkung absoluter Machtpositionen verpflichtete Gesellschaft auf deutschem Boden aufbauen wollten. Wie aber war das möglich, wenn die Besatzungsmacht im selben Moment für sich Rechte reklamierte, die eine umfassende Machtausübung darstellten, ohne sich auch nur im geringsten um existierende Rechtssätze zu scheren? Heinemann reagierte entsprechend verärgert und warf der britischen Regierung vor, eine "unbeschränkte diktatorische Gewalt Uber das deutsche Volk" für sich zu beanspruchen. Das könne weder politisch noch rechtlich anerkannt werden. Heinemann gestand zu, daß durch das Fehlen einer deutschen Regierung eine Situation eingetreten sei, für die es keinen völkerrechtlichen Präzedenzfall gebe. Deutschland sei im völkerrechtlichen Sinn aber immer noch ein Staat, wenn auch kein souveräner, wodurch verschiedene Teile der HLKO wenigstens sinngemäß anwendbar seien. Heinemann weiter: 55 392 Zitiert nach G. Heinemann, ebd. "Die entscheidende Rechtsfrage ist die, ob eine Zwangsregierung nur an diejenigen Grenzen gebunden ist, die sie sich selbst setzt. Vom Standpunkt des Rechts bleibt der Einwand bestehen, daß die Befugnisseeiner Zwangsregierung ihre Begrenzung in sich tragen müssen, wenn anders nicht ein neuer Abschnitt der Rechtlosigkeit in der Geschichte des Völkerlebens eröffnet und das Völkerrecht sich angesichts neuer Situationen als lebensunkräftig erweisen soll."56 Auch eine Zwangsregierung, so meinte Heinemann, werde aus der Natur ihres Auftrages vor den Existenzrechten des besiegten Volkes haltmachen müssen. Ob dies in einzelnen konkreten Lebensbereichen der Fall sei, wollte er nicht vertiefen. Die Antwort auf die entscheidende Frage nach dem Recht des deutschen Volkes hoffte er "im Geiste einer echten Fortentwicklung des Völkerrechts" zu finden57, also in der Anwendung spezifischer Vorschriften der HLKO auch auf die als singulär erfaßte Situation in Deutschland. Rückendeckung und Unterstützung erhielt Heinemann schon zehn Tage später von Konrad Adenauer. Vor dem Hintergrund des Antwortschreibens Robertsons setzte er sich in einer Sitzung des Zonenbeirats der britischen Zone für ein Besatzungsstatut ein, um die Rechte und Pflichten von Besatzern und Besetzten endlich deutlich klarzustellen und zuzuweisen. Ebenso wie zuvor Heinemann meinte auch Adenauer, es entspreche allgemeiner Rechtsauffassung, daß immer dann, wenn in einer Abmachung rechtlichen Charakters ein bestimmter Fall nicht vorgesehen sei, dieser nach den Regeln der Analogie zu behandeln sei58. Das konnte nur bedeuten: die Regeln der occupatio bellica als äußerste Schranke dessen, was der Besatzer auf fremdem Boden tun darf; eine Absage an jede Art der Rechtlosigkeit der Bevölkerung des besetzten Gebietes. Nachdrücklich betonte Adenauer: 56 57 58 G. Heinemann, ebd. G. Heinemann, ebd. Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 19451949, Bd. 3, S. 870 f. 393 "In diesem Briefe (von General Robertson, d. Verf.) ... findet sich der Satz, ... der nach unserer Auffassung niemals wieder wiederholt werden darf. Es findet sich der Satz, daß das Recht der Alliierten seine Grenzen nur am eigenen Willen finde. Das ist für uns untragbar ..., das sind Worte, wie wir sie niemals wieder zu hören geglaubt haben. Es ist nicht gesagt: 'Grenzen der Menschlichkeit' oder etwas derartiges, sondern 'am eigenen Willen'. Ich möchte glauben, daß der Verfasser dieses Satzes sich nicht klar darüber gewesen ist, was er da niedergeschrieben hat. Denn das ist ein Absolutismus, wie er in den schlimmsten Zeiten des absolutistischen Regimes niemals 59 ausgesprochen ist." Von britischer Seite wurde der "Absolutismus"-Anspruch jedoch auch weiterhin aufrechtherhalten. Auf Heinemanns "Welt"-Artikel reagierte der Abteilungsleiter der politischen Division der britischen Kontrollkommission, Duncan Wilson, in einem Antwortartikel60. Wilson verfuhr zweigleisig: Zum einen versuchte er, eine völkerrechtliche Nichtbindung juristisch zu belegen, zum zweiten die britische Vorgehensweise moralisierend zu rechtfertigen. Zur Erreichung des ersten Ziels berief sich Wilson auf eine Autorität des Völkerrechts, das Werk von Oppenheim/ Lauterpacht, in dem die Auffassung vertreten wurde, daß nach der militärischen Kapitulation und der Deklaration vom 5. Juni 1945 die Ausübung aller souveräner Rechte und Vollmachten des deutschen Staates innerhalb und außerhalb Deutschlands mit allen Auswirkungen auf das internationale Recht bis zur Wiederherstellung der deutschen Souveränität bei den vier gemeinsam oder einzeln handelnden Mächten liege, woraus der Brite schloß, der Kontrollrat und die Oberbefehlshaber der vier Zonen seien de jure und de facto die deutsche Regierung. Wilson war ganz offensichtlich Uber die völkerrechtlichen Planungen der Briten und der Amerikaner aus den Jahren 1944/1945 nicht in Kenntnis 59 60 394 Akten zur Vorgeschichte, ebd., S. 871 D. Wilson, Haager Konvention für Deutschland? Britische Entgegnung an Minister Heinemann, in: "Die Welt" v. 22.11.1947 gesetzt worden. Die Übernahme der deutschen Regierung hatte eigentlich nie ernsthaft zur Diskussion gestanden, da man nicht Inhaber der deutschen Souveränität, sondern lediglich Ausübender der Souveränitätsrechte werden wollte. Die rechtliche Frage war Wilson jedoch auch gar nicht so wichtig. Entscheidend für ihn war der zweite, der moralische Aspekt der Besatzungsausübung ("Wir wollen uns jetzt einer Betrachtung von einem breiteren moralischen Standpunkt her zuwenden, der zweifellos wichtiger ist."). Unter Zitierung von Winston Churchill, der schon vor Kriegsende erklärt hatte, daß die Alliierten den Deutschen gegenüber keine streng rechtlichen Verpflichtungen hätten, und daß sie nur an das gebunden seien, was ihr Gewissen ihnen vorschreibe, meinte Duncan, die Situation habe sich seit dieser Äußerung des damaligen britischen Premierministers nicht wesentlich verändert. Auch hätten die Briten bei der Verwaltung ihrer Zone und Deutschlands "keines der Grundgesetze der Menschenrechte überschritten ..., die die Artikel der Haager Konvention inspirierten." Zum Beweis führte er die britischen Lebensmittelimporte an, verwies aber auch darauf, daß Deutschland die während des Krieges anderen Länder zugefügten Schäden wiedergutmachten müsse. Das sei die "moralische Grundlage der Demontage- politik". Moralische Maßstäbe und Rücksichtnahme auf die Deutschland-Meinung der Weltöffentlichkeit waren für Duncan und damit befand er sich in guter Gesellschaft wichtiger als die Beachtung von Rechtsgrundsätzen: "Dr. Heinemann sollte sich jedoch darüber klar sein, daß die Grundsätze des Menschenrechts sich nicht immer unmittelbar zugunsten der Deutschen auswirken . ... Letzten Endes ist dabei die öffentliche Meinung der Welt ausschlaggebend. Wenn die öffentliche Meinung außerhalb Deutschlands sich auch gewiß nicht für eine Politik vorsätzlicher Härte einsetzt, fordert sie doch unweigerlich Sicherheit gegen eine Wiederholung des deutschen Angriffs und kann nicht anerkennen, daß Deutschland den ersten Anspruch auf die 395 materielle und finanzielle Hilfe für den Wiederaufbau hat."61 Recht und Moral griffen auch in diesen Äußerungen ineinander über. Eine gesicherte Rechte verleihende Stellung wurde den Deutschen damit abgesprochen, Moral und Gewissen sollten definiert werden von der Weltöffentlichkeit, die ohne Zweifel noch ganz im Zeichen der Kriegspropaganda und - das sollte man auch berücksichtigen der Zeitungsmeldungen über die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen stand. Die Kriegsgeschehnisse wirkten hinüber in die Nachkriegszeit, völkerrechtliche Grundregeln des Verhältnisses von Besatzungsmacht und Bevölkerung waren nicht mehr an juristischen Kategorien auszurichten, sondern an kaum näher bestimmbaren, geschweige denn einklagbaren moralischen Anschauungen62. II. 3. Die "Interventions"-These politischer Zweckmäßigkeit als rechtlicher Ausdruck a. Georg August Zinns "Interventions"-These. In der amerikanischen Besatzungszone war es vor allem der hessische Justizminister und spätere Ministerpräsident Georg August Zinn, der die völkerrechtliche Lage Deutschlands zu erfassen suchte. Kelsens These vom Untergang des deutschen Staates lehnte er ab. Sie beruhte für Zinn auf einer Verwechslung von Subjekt und Organ der Souveränität Deutschlands durch Kelsen, der die Staatsgewalt im Sinne der Drei-Elemente-Lehre mit der Souveränität identifiziere und behaupte, daß Träger der Souveränität nicht das Volk sein könne, sondern nur ein Staat, während im 61 62 396 D. Wilson, ebd. Daß sich die Deutschen auch nicht auf "Moralgesetze" berufen dürften, hatte 1945 kurz vor dem Ende der Feindseligkeiten bereits Clement Attle im Unterhaus gesagt: "Sie (die Deutschen, d. Verf.) haben die alten Schranken eingerissen, und deshalb sage ich, daß sie sich nicht auf das alte Europa berufen können. Falls sie sich fügen, falls sie wiedergutmachen müssen, haben sie kein Recht, die Grundlage der Moralgesetze zu beschwören, die sie selbst nicht beachtet haben, oder auf Mitleid und Gnade zu rechnen, die sie niemals anderen zuteil werden ließen." Zitiert nach A.M. de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, S. 38. "Interntionalen Staatsrecht" anerkannt sei, daß Subjekt der Souveränität von Rechts wegen einzig das Volk sei, auch wenn eine Usurpation wie in Deutschland 1933 bis 1945 es vorübergehend an der Ausübung seiner Souveränität hindern konnte. Aus dem Fehlen einer Souveränität im Sinne einer internationalen Handlungsfähigkeit und Handlungsfreiheit für Deutschland könne daher weder auf ein Fehlen der Staatsgewalt noch auf seine Nichtexistenz als Staat geschlossen werden63. Daraus ergab sich für Zinn jedoch noch nicht zwingend, daß die völkerrechtlichen Vorschriften der HLKO auch auf Deutschland Anwendung finden mußten. Seine rechtstechnische Konstruktion ging dahin, den politischen Absichten der Alliierten einen besonderen Stellenwert zukommen zu lassen, denn, so meinte Zinn, "um diese Binsenweisheit einmal auszusprechen," die Alliierten hätten "den Krieg nicht aus militärischen, sondern aus politischen Gründen geführt."64. Wie aber sollte sich die Absicht politischer Intervention in einem fremden Staat, die dem Völkerrecht bislang nicht nur fremd war, sondern die es sogar ausdrücklich ablehnte65, auf die völkerrechtliche Lage auswirken? Zinn unterschied zwischen zwei grundverschiedenen Kriegsarten: "Nationenkriege" und "Revolutionskriege". "Nationenkriege" würden im allgemeinen um Grenzen geführt, jedoch nicht notwendigerweise um Gebietsgrenzen. Sie dienten der Vormachtstellung einer Nation gegenüber einer anderen, wofür in der Regel die durch Annexion bewirkten Gebietsänderungen das Mittel bildeten, während die Staatskerne in Form der nationalen Rechtsordnungen unberührt und grundsätzlich unberührbar blieben. Deshalb verpflichte auch Art. 43 HLKO im Falle einer occupatio bellica die Besatzungsmacht, die Landesgesetze zu wahren. "Revolutionskriege", zu denen Zinn auch und gerade den 63 64 65 G.A. Zinn, Das staaatsrechtliche Problem Deutschland, SJZ 1947, S. 4 ff., 10 G.A. Zinn, ebd., S. 6 Vgl. H. Haedrich, Intervention, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, S. 144 ff.; Th. Oppermann, Intervention, in: Encyclopedia of Public International Law, Bd. 3, S. 233 ff. 397 Zweiten Weltkrieg zählte, hätten die Ausdehnung, den "Sieg einer Rechtsordnung" zum Inhalt66. Diesen dem modernen Völkerrecht bislang unbekannten Begriff erklärte Zinn folgendermaßen: "(Revolutionskriege) sind ihrem Wesen nach bedingungslos und universal und richten sich eben gegen jenen Staatskern, den der Nationenkrieg unangetastet läßt. Die Erscheinungen eines Revolutionskrieges kann man darum mit Begriffen des Nationenkrieges, wie es die Debellatio, die occupatio bellica und die Annektion sind, nicht fassen."67 An die Stelle der occupatio bellica des Nationenkrieges, so Zinn weiter, trete in einem Revolutionskrieg notwendigerweise der Zustand von "unconditional surrender", an die Stelle der Annexion die Intervention. "Unconditional Surrender" sei nun der Rechtszustand, dem die Aufgabe zufalle, die Intervention durchzuführen, begründe jedoch keinen Zustand der Rechtlosigkeit, sondern diene vielmehr selbst der "Rechtsbegründung", "wie es ja juristisch nichts anderes als die Einführung der Sklaverei wäre, wollte man einem ganzen Volk oder auch nur einer Gruppe von Menschen die Menschenrechte absprechen."68. Zinn bezeichnete es als irrig, wenn angenommen werde, Deutschland bilde infolge von "unconditional surrender" (bei Zinn ein zusammenfassender Oberbegriff für die militärische Kapitulation und die Berliner Viermächteerklärung) einen rechtsfreien Raum, in dem die Besatzungsmächte nur den Beschränkungen unterlägen, die sie sich selbst setzten. Art. 13 der Berliner Deklaration verleihe den Alliierten auch nicht die unbedingte Befugnis, ohne Rücksicht auf die unveräußerlichen Grundrechte, insbesondere den Grundsatz der Volkssouveränität, der Freiheit der Person, der Meinung und des Eigentums, Anordnungen zu treffen. Die Rechtswirkung von "unconditional surrender" erschöpfe sich vielmehr militärisch in der endgültigen Unzulässigkeit A. Zinn, Unconditional Surrender, JW 1947/48, S. 9 ff., 11 A. Zinn, ebd. A. Zinn, ebd., S. 11 f. eines bewaffneten Widerstandes und politisch in der Anerkennung der Rechtsordnung, deren Ausbreitung die Intervention zu dienen bestimmt sei. Daraus folgerte Zinn, daß auch weiterhin die Besatzungsmächte verpflichtet seien, für die ausreichende Ernährung der Bevölkerung im besetzten Gebiet Sorge zu tragen. Für die Hungersnot in Deutschland Hitler allein verantwortlich zu machen, sei weder sinnvoll noch richtig. Es handele sich dabei um kein Schuld sondern um ein Rechtsproblem ("Nahrungsnot ist Rechtsnot")69. Zinn verfolgte seine Theorie von der "politischen Intervention" somit ausschließlich mit dem Ziel, den Alliierten die Beseitigung nationalsozialistischer Rechtsnormen sowie des gesamten NSStaatsaufbaus rechtlich zu ermöglichen. Ansonsten sollte es bei den bestehenden völkerrechtlichen Regeln bleiben: "Wohl befreit unconditional surrender von der Beachtung der Landesgesetze, die mit den Zielen der Intervention nicht vereinbar sind; im übrigen jedoch bleiben die Regeln des Völkerrechts, insbesondere der Genfer Konvention und der Haager Landkriegsordnung maßgebend."70 Zinns Vorstellung von einer völkerrechtlichen Zulässigkeit einer "politischen Intervention" mit den oben beschriebenen rechtlichen Folgen stieß auf offene Ohren vor allem bei in der praktischen Politik stehenden deutschen Persönlichkeiten, die der Sozialdemokratie angehörten oder ihr nahestanden. Zinns neuartiger Besatzungstypus schien sie aus einer schwierigen Lage zu befreien. Er erlaubte ihnen einerseits, für Deutschland den Besatzungsmächten gegenüber den ganz überwiegenden Teil des völkerrechtlichen Okkupationsrechts zu reklamieren, und kam andererseits den eigenen Interessen und denen der Besatzungsmächte entgegen, weil er einen rechtmäßigen Weg aufzeigte, auf dem das ganze nationalsozialistische System eliminiert werden konnte. Die Zinn'sche Interventions-These diente deshalb primär 69 70 G.A. Zinn, ebd., S. 12 f. G.A. Zinn, ebd., S. 12 399 praktischen Erwägungen für den Verkehr und die Verhandlungen deutscher Politiker mit den Vertretern der Besatzungsmächte71. b. Karl Geiler und die "Interventions''-Theorie. Als einer der ersten nahm der hessische Ministerpräsident Karl Geiler Zinns Gedanken zur Intervention auf. Selbst wenn es sich bei der Besetzung Deutschlands um einen geschichtlich und völkerrechtlich neuartigen Vorgang handele, so Geiler, könne das noch nicht bedeuten, daß dieser Vorgang außerhalb jeder rechtlichen Normierung stehe. Leider fehle es an klaren Rechtsgrundlagen für die Besetzung, was zu einer weitgehenden reinen Faktizität des vorliegenden Zustands geführt habe, "eine Faktizität, die uns Deutsche bedenklich rechtlos macht."72. Der wirkliche völkerrechtliche Zustand Deutschlands sei der einer occupatio bellica, verbunden mit einer völkerrechtlichen Intervention seitens der vier großen Siegermächte. Dabei befänden sich die Deutschen gewissermaßen zwischen Krieg und Frieden. Die bedingungslose Kapitulation habe zwar die Feindseligkeiten beendet, aber mangels eines Friedens- oder Vorfriedensvertrages sei der volle Friedenszustand noch nicht erreicht, die occupatio bellica noch nicht in eine occupatio pacifica übergegan- 71 Daß es zur Ausmerzung des Nationalsozialismus unbedingt der Entwicklung neuer Theorien - insbesondere einer InterventionsTheorie - bedurfte, ist nicht unbedingt überzeugend. Es erscheint dem Verfasser durchaus möglich, daß auch auf der Grundlage der HLKO eine Entnazifizierung und Entmilitarisierung in Deutschland hätte durchgeführt werden können. Dies hat zutreffend auch F.A. Mann festgestellt, demzufolge "im besonderen Fall Deutschlands eine Kriegsbesatzungsmacht Rechte haben (würde), die vor dem Entstehen des faschistischen Staates undenkbar waren, die aber noch unter Buchstaben und Geist anerkannten Rechtes gebracht werden könnten. Man kann z.B. sehr wohl annehmen, daß die Haager Regeln die Aufhebung der Nazigesetzgebung gestatten, weil eine besetzende Macht eine solche Gesetzgebung keinesfalls zu respektieren in der Lage ist (Art. 43). Man kann auch behaupten, daß zahlreiche Maßnahmen zur Entmilitarisierung, zur Änderung der politischen Ordnung in Deutschland und zur Kontrolle der Wirtschaftskräfte eines so stark zentralisierten totalitären Staates zur Sicherung der Besatzungsmächte und zur Verwirklichung ihres Sieges nötig sind." F.A. Mann, Deutschlands heutiger Status, SJZ 1947, S. 465 ff., 470 72 K. Geiler, Personalismus, Sozialismus, Völkerfrieden, S. 139 400 gen73. Soweit die Siegermächte eine über die HLKO hinausgehende Rechtsstellung gegenüber Deutschland in Anspruch nahmen, erblickte er in diesem Verhalten eine politische Intervention. Geiler war sich dabei der Problematik dieses Begriffs durchaus bewußt. Sie gelte, meinte er, im allgemeinen völkerrechtlich nicht als Rechtsinstitut, sondern als unbefugte Einwirkung auf die Regierung eines (fremden) Staates. Dennoch gebe es aber Fälle, in denen ein solches Intervenieren völkerrechtlich zulässig sei: Wenn sich die Dinge in einem Staat so gestalteten, daß das Dasein des Staates als solches in Frage gestellt werde, wenn insbesondere an Stelle eines gesicherten Rechtszustandes eine Willkürherrschaft oder ein Chaos trete, dann könne sich eine Einmischung in die Verhältnisse dieses Staates als eine erlaubte Intervention darstellen. Angesichts der Verhältnisse, wie sie in Deutschland im Mai 1945 bestanden hätten, lasse sich jedenfalls der Gedanke einer solchen Intervention in Verbindung mit der gleichzeitigen völligen Besetzung Deutschlands durchaus vertreten. Als Interventionszwecke hätten dann die in der Berliner Deklaration und in dem Potsdamer Protokoll aufgeführten Zwecke zu gelten, also insbesondere die Schaffung einer rechtsstaatlichen Ordnung in Deutschland auf demokratischer Grundlage74. Es bestehe aber für die Zukunft die Notwendigkeit, den Interventionsgedanken durch den Kontrollgedanken abzulösen. 73 74 K. Geiler, Die gegenwärtige völkerrechtliche Lage Deutschlands, S. 12 K. Geiler, ebd., S. 18 f.; Geiler war der Ansicht, die These von einer politischen Intervention sei "die für uns günstigste Erklärung des derzeitigen Zustands", wobei er den politischen Zweckmäßigkeiten offensichtlich Vorrang einräumte vor der juristischen Plausibilität, und meinte weiter, es sei an der "Annahme einer politischen Intervention fest(zu)halten, namentlich weil ja die Zwecke dieser Intervention in den maßgebenden Erklärungen ausdrücklich festgelegt sind. Sie hängt also nicht so etwa in der Luft, sondern sie verfolgt ganz konkret die Herstellung einer Ordnung auf demokratischer Grundlage. Das ist ja dasselbe, was wir auch wollen, und ich glaube, wir sollten an dieser Deduktion festhalten: Kriegerische Besetzung, wobei man zwar über die Grundsätze der Haager Konvention hinausgeht, wobei aber das Darüberhinausge- hen begrenzt ist durch den Akt dieser politischen Intervention mit ihren genau präzisierten Zwecken."; vgl. E. Mugdan, Zur völkerrechtlichen Lage Deutschlands, S. 38 f. 401 Der Idealfall einer Besatzung sowohl für den Besetzten wie für den Besetzer sei eine "occupatio in being", eine Besatzung, die ohne aktives Eingreifen und allein durch ihre Anwesenheit das bewirke, was sie letztlich bewirken solle. Dabei unterschied Geiler zwei Kategorien von Besatzungszwecken: In Betracht komme einmal der gewöhnliche Zweck einer jeden Besatzung, sich selbst zu erhalten und zu sichern. Hinzu träten aber dann die außerordentlichen Zwecke, die die jeweilige Besatzung ihrerseits besonders fördern wolle, und wie sie in den maßgebenden Erklärungen der Alliierten enthalten seien. Diese außerordentlichen Besatzungszwecke bedürften einer besonderen Überprüfung, ob sie nicht schon durchgeführt seien, so daß dann eine Überwachung und Kontrolle durch die Siegermächte ausreichend sei. Insbesondere reiche der Kontrollgedanke aus bei der Frage der Umgestaltung des politischen Lebens in Deutschland, da dieser Besatzungszweck nur durch das deutsche Volk selbst und aus eigenem freien Willen heraus erfolgen könne. Von besonderer Wichtigkeit sei noch die Gewährleistung der individuellen Menschenrechte und der allgemeinen Volksrechte auch für das deutsche Volk. An erster Stelle stehe dabei das Recht auf persönliche Freiheit, und zwar nicht nur auf körperliche, sondern vor allen Dingen auf geistige Freiheit. Auch die Vereinten Nationen hätten sich ja die Kodifizierung der Menschenrechte zum Ziel gesetzt, und in Haag habe man sich für eine Kodifizierung der Menschenrechte für Europa ausgesprochen. Deshalb sollten "diese Menschenrechte wahrlich auch für uns Deutsche gelten, zumal wir uns nicht mehr im Krieg befinden und waffenlos sind."75. Ein weiterer Sozialdemokrat, der sich für die Nutzbarmachung des Interventionsgedankens in diesem Zusammenhang aussprach, war Adolf Arndt. Er glaubte, neben dem Völkerrecht sei ein neues Rechtsgebiet entstanden, das er als "Internationales Staatsrecht" bezeichnete. Beide Rechtsgebiete unterschieden sich dadurch, daß das "Internationale 75 K. Geiler, Personalismus, Sozialismus, Völkerfrieden, S. 145 ff. Staatsrecht" nicht nur - wie das Völkerrecht außenpolitische Bindungen auferlege, sondern auch innenpolitische. Statt des Grundsatzes der Nichteinmischung gelte das Interventionsprinzip76. c. Carlo Schmid wendet sich gegen die "Interventions"- Theorie. Die Tauglichkeit des Interventionsprinzips als Regulativ anstelle des bisher geltenden völkerrechtlichen Besatzungsrechts wurde auf der politischen Ebene von einem weiteren Sozialdemokraten jedoch heftig in Frage gestellt. Carlo (Karl) Schmid, nicht nur ein ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet des Völkerrechts, sondern auch eine der maßgeblichen politischen Persönlichkeiten in den ersten Nachkriegsjahren, wies regelmäßig auf den Unterschied zwischen der Intervention als politisches Besatzungsziel und der davon völlig zu trennenden Frage nach der völkerrechtlichen Legalität dieses Vorgehens hin. Auch für ihn hatte die Besetzung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg den Charakter einer Intervention. Das Völkerrecht erlaube eine solche Intervention aber nur unter der Voraussetzung einer vorherigen Vereinbarung zwischen dem Intervenierenden und dem betroffenen Staat. Bestehe eine solche Vereinbarung nicht, dann handele der Intervenient aufgrund seiner Macht in Verfolgung von Interessen und nicht aufgrund eines Rechts zu deren Verwirklichung. Die interventionistischen Handlungen der Besatzungsmächte seien so lange nicht vom Völkerrecht gedeckt, bis sie nicht etwa in einem Friedensvertrag von einer verfassungsmäßigen deutschen Staatsgewalt anerkannt worden seien77. Schmid charakterisierte in einer Diskussion in einer Replik auf die vorangegangenen Ausführungen Geilers den Interventionsgedanken folgendermaßen: "Intervention - ist für sich allein keine Legitimation. Intervention ist ein bloßes Wort, eine Bezeichnung bestimmter Vorgänge, aber keine Rechtsinstitution. Intervention bedeutet lediglich, daß in einem Land 76 77 A. Arndt, Internationales Staatsrecht, SJZ 1947, S. 217 ff.; vgl. auch ders., Just Peace, SJZ 1948, S. 1 ff., insb. S. 4 K. Schmid, Wirtschafts-Zeitung v. 07.11.1947 403 etwas vor sich geht, dessen Urheber ein ausländischer Staat ist. Ob aber rechtens ist, was da vor sich geht, ist damit nicht gesagt."78 Damit trat Schmid den Bestrebungen entgegen, die von der Faktizität der Geschehnisse - unsachgemäß - auf ihre Legalität schließen wollten. Wie weit dabei die Verquickung politischer und juristischer Gesichtspunkte ging, zeigt augenfällig eine Bemerkung von Dolf Sternberger auf derselben Tagung, als er den Begriff der Intervention zu verteidigen suchte: "Die politische Notwendigkeit dieses Krieges muß die Basis für die juristische Begriffsbildung sein," meinte Sternberger, der glaubte, diese Vermischung von politischer Notwendigkeit oder Wünschbarkeit und juristischer Machbarkeit der Dynamik des Völkerrechts als einem sich immer weiter entwickelnden Rechtsgebiet zugute schreiben zu können, indem er weiter ausführte, daß "(die juristische Begriffsbildung) sich nun eben immer wieder und zu allen Zeiten in der dialektischen Zwickmühle befindet, einerseits die gewaltigen empirischen Tatsachen begreifen zu müssen und andererseits, ihnen normativ den Weg und 79 die Bahn vorschreiben zu müssen." Demgegenüber wies Schmid darauf hin, es sei wohl richtig, daß durch einen "communis consensus" auch ein Recht ge 78 Vgl., E. Mugdan, Zur völkerrechtlichen Lage Deutschlands, S. 33, wo C. Schmid auch von einer "Ersatzvornahme zu eigenen Zwecken" der Besatzungsmächte spricht, der lediglich "faktische Legalität" zukomme; in Deutschland bestehe damit - einer Quadratur des Zirkels gleich - ein "faktischer Rechtszustand", jedoch kein "gesetzmäßiger Sachzustand". Im Parlamentarischen Rat meinte C. Schmid zu demselben Thema im September 1948, die interventionistischen Maßnahmen der Besatzungsmächte seien als "vorläufig legal" anzusehen "aus dem einem Grunde, daß das deutsche Volk diesen Maßnahmen allgemein Gehorsam leistet", vgl. Pari. Rat, Stenografische Protokolle, 08.09.1948, S. 10; dort auch, S. 9 f., C. Schmid zur Fortexistenz Deutschlands als Staat. 79 E. Mugdan, ebd., S. 49 i schaffen werden könnte, das gewisse Staaten gegenüber anderen Staaten diskriminiere; das Völkerrecht setze nicht von vornherein voraus, daß alle Staaten vor ihm gleiches Recht haben sollten. Man könne sehr wohl davon sprechen, daß ein großer Teil der Staaten dieser Welt der Meinung sei, es sei rechtens, daß sich die alliierten Besatzungsmächte in Deutschland so gerierten, wie sie es täten. Das vermöge aber solange kein neues Völkerrecht zu schaffen, solange einer der Beteiligten dieser Meinung nicht sei oder dieser Meinung keinen Ausdruck verleihen könne. Und das sei zum mindesten beim Hauptbeteiligten Deutschland der Fall. Von einem "communis consensus" als einer Grundlage der Legitimität(!) dieses Verhaltens könne man deshalb nicht reden80. Von der HLKO, die in Art. 43 genau das Gegenteil vorsehe, brauche er erst gar nicht zu sprechen. Wie rechtlich unbrauchbar die Heranziehung des Prinzips von der politischen Intervention in der damaligen Zeit war und auch heute noch ist, zeigt sich schon allein darin, daß auch unter den Vertretern dieses Gedankens keine Übereinstimmung über den genauen Inhalt und die Grenzen der Intervention bestand. Zinn wollte damit nur die Nichtbindung der Okkupanten an das nationalsozialistische innerstaatliche Recht Deutschlands begründen. Andere glaubten, alle irgendwie politisch ausgerichteten Maßnahmen der Besatzungsmächte auf diese Weise rechtfertigen zu können. Dabei war es auch einem Befürworter der politischen Intervention wie Adolf Arndt einsichtig, daß der vorangegangene Krieg nicht allein als eine Intervention um der Menschrechte willen anzusehen war, sondern auch der Faktor politischer Machtgewinnung eine zentrale Rolle gespielt hatte. Arndt meinte denn auch, eine nüchterne Betrachtung der Lage müsse "das Janushaupt dieses Krieges" erkennen, der nicht allein um Recht, sondern nicht minder 80 E. Mugdan, ebd., S. 32; beachtenswert ist dabei insbesondere, daß C. Schmid den besatzungspolitischen Maßnahmen, soweit sie vom Begriff der Intervention gedeckt zu sein schienen, nicht nur ihre völkerrechtliche Legalität absprach, sondern auch ihre Legitimität, also ihre Rechtfertigung durch über das positive Recht hinausgehende höhere Werte und Grundsätze. 405 um Macht geführt worden sei81. Rolf Stödter hat schon 1948 die Hintergründe der politischen Intervention und ihre nicht Völkerrechtsgemäße Verwendung treffend ausgeleuchtet und auch die historisch-politischen Zusammenhänge erkannt: "Man versucht damit (mit dem Begriff von der politischen Intervention, d. Verf.) - und entspricht insoweit einer international verbreiteten Neigung - die Doktrin der Nichteinmischung abzuschaffen und das Postulat der Intervention an ihre Stelle zu setzen. Der Frieden hat unteilbar zu sein; so gelangt man zu einer Unteilbarkeit auch des Krieges. Der Krieg soll auf diese Weise durch die Intervention ersetzt und abgeschafft werden, die als das wahre Mittel zur Aufrechterhaltung eines unteilbaren Friedens dargestellt wird. Das Interventionsprinzip hat bereits zur Begründung des ersten Weltkrieges gedient; es hat eine wichtige Rolle in der Vorgeschichte des zweiten gespielt. Es hat von jeher eine imperialistische Note gehabt und kaum als Friedensbringer gewirkt. Ein Interventionskrieg aber ist Krieg im völkerrechtlichen Sinne. Auf den Zweck des Krieges kommt es für seine begriffliche Bestimmung im Rahmen des Völkerrechts nicht an. Gerechte und ungerechte Kriege, Interventionskriege wie alle anderen Kriege unterliegen in gleichem Maße den völkerrechtlichen Bestimmungen, die für die Beurteilung des Verhältnisses der Staaten und ihrer Angehöriger im Kriegsfall gelten. Führt daher ein sogenannter Interventionskrieg zu einer Besetzung, so sind für diese die völkerrechtlichen Vorschriften des Okkupationsrechts nicht anders als in sonstigen Kriegen anzuwenden. ... Die Feststellung, daß der Krieg der Alliierten gegen Deutschland ein Interventionskrieg sei, kann daher nicht zu einer Ausschaltung des Kriegsrechts, insbesondere zu einer Außerkraftsetzung wesentlicher Vorschriften des Völkerrechts der kriegerischen Besetzung führen. Sonst könnte jeder Kriegführende unter Berufung auf berechtigte, vielleicht 81 A. Arndt, SJZ 1948, S. 4 406 sogar auf unberechtigte Interventionszwecke seinen kriegerischen Aktionen einen besonderen Charakter verleihen und sich damit von der Beobachtung des geltenden Kriegsrechts freizeichnen."82 Dem letzten Satz kommt ein besonders hoher Stellenwert zu, da er das Argumentationsproblem der Vertreter der Interventionsthese nachhaltig zum Ausdruck bringt. Denn ihre Argumente beruhen unausgesprochen - auf der Prämisse, daß die in Deutschland einzuführende Demokratie das politisch einzig erstrebenswerte neue Gesellschaftssystem sei. Aufgrund der allgemeinen Anerkennung dieser Prämisse gerade in einem Deutschland, das auf demokratische Staatsstrukturen und persönliche Freiheiten in den vorangegangenen Jahren des Dritten Reiches hatte verzichten müssen, schien es einzuleuchten, daß der politischen Wünschbarkeit einer politischen Umgestaltung in Deutschland auch die juristische Machbarkeit folgen müsse. Der Begriff "politische Intervention" hat jedoch keinen spezifischen Demokratiebezug, sondern ist gesellschaftspolitisch und ideologisch indifferent. Die rechtliche Zulässigkeit einer "politischen Intervention", unter gleichzeitiger Zurückdrängung des Interventionsverbotes als eines anerkannten völkerrechtlichen Grundsatzes, hätte deshalb notwendigerweise auch die Einführung kommunistischer Staats- und Gesellschaftsstrukturen in Osteuropa und der SBZ rechtfertigen müssen eine Folgerung, die von den Vertetern der Interventionsthese jedoch nie gezogen wurde. Die Interventionsthese entsprach somit in den drei westlichen Zonen vor allem der politischen Zweckmäßigkeit, weil sie den gleichgerichteten Interessen von Besetzern und Besetzten bei der Frage der politischen Eingriffe mit dem Ziel einer Demokratisierung scheinbar ein juristisches Fundament gab. An juristischer Qualität mangelte es der These - neben den schon oben genannten Gründen - vor allem deshalb, weil ihr diese Demokratiebezogenheit im Einzelfall als abstrakter Rechtsgrundsatz fehlte. Ein völkerrechtliches Prinzip, nach dem Interventionen in fremde nicht-demokratische Staaten R. Stödter, Deutschlands Rechtslage, S. 135 f. 407 zulässig wären, wenn sie dem Ziel dienten, dort eine Demokratie einzuführen, gibt es nicht und gab es auch in und nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Eine Loslösung des Begriffs "politische Intervention" vom Begriff der Demokratisierung mit der zwangsläufigen Folge, daß auch die Intervention zum Zweck der Installierung totalitärer Gesellschaftsordnungen gerechtfertigt gewesen wäre, wurde von den Vertretern der Interventionsthese jedoch nie beabsichtigt. Die völkerrechtliche Zulässigkeit einer politischen Intervention mit dem Zweck der Einführung der Demokratie in einem fremden Staat mochte in der konkreten deutschen Situation nach 1945 politisch einleuchten; als völkerrechtliches Prinzip hätte es jedoch weder völkerverständigende noch friedenstiftende Wirkungen erzielen können, sondern den Keim neuer Kriege solange in sich getragen, wie es auf der Welt nichtdemokratische Staaten gibt. II. 4. Rudolf v. Launs Bestrebungen zur Klärung der Rechtslage Deutschlands a. R. v.Launs wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Besonderes Engagement in der Diskussion zur Rechtslage Deutschlands entwickelte der Hamburger Völkerrechtslehrer Rudolf v. Laun83. Er beschränkte sich nicht darauf, die Diskussion in geschlossenen akademischen Zirkeln aufzunehmen und zu forcieren, sondern trug die Problematik ganz bewußt und zielgerichtet auch in die Öffentlichkeit. Für diesen Zweck stand ihm die Hamburger Wochenzeitschrift "Die Zeit" zur Seite, die ihm regelmäßig Publikationsraum zur Verfügung stellte, so daß er vor allem den oben bereits erwähnten Angriffen des amerikanisch lizensierten "Tagesspiegel" entgegentreten konnte84. Die Angriffe richteten sich zum einen gegen Launs rechtliche Auffassungen, gingen zum Rechtsproblem 83 84 408 Deutschland. Zu v. Launs diesbezüglichen Bemühungen vgl. D. v. Schenck, Rudolf v. Laun und die Rechtslage Deutschlands nach 1945, in: Festschr. f. R.v. Laun zu seinem 90. Geburtstag, S. 157 ff., S. 438 ff.; F. Münch, Die völkerrechtliche Grundlage des Status Deutschlands, ebd., S. 143 ff. Vgl. oben, 3. Teil, Il.1.a. anderen aber auch weit darüber hinaus bis hin zu persönlichen Verunglimpfungen85. Schon in seinem ersten "Zeit"-Artikel am 19. Dezember 1946 unter dem Titel "Gegenwärtiges Völkerrecht" stellte er fest, daß es in Deutschland unter dem Besatzungsregime zweierlei Recht gebe: das bisherige Völkerrecht, das aber von den Alliierten nicht angewandt werde, und ein davon zu unterscheidendes "positives Recht", ein "Sonderrecht für Deutschland". Letzteres hatte jedoch nach Launs Ansicht mit dem eigentlichen Begriff des "Rechts" nichts zu tun, da es nur auf der reinen Faktizität beruhte, also ein Produkt der Machtausübung der Alliierten war86. Für Laun stand immer fest, daß dieses auf reiner Tatsächlichkeit aufgebaute "Sonderrecht" nicht zur Ausschaltung des allgemeinen Völkerrechts führen konnte, sondern daß das allgemeine Völkerrecht weiterbestand, es aufgrund der Machtstellung der Besatzungstruppen mit entgegengesetzter Willensrichtung zur Zeit in Deutschland aber nicht durchsetzbar war. In einem späteren Zeitungsartikel in der "Zeit" widerlegte er die Kondominium-These Kelsens und meinte, Deutschland könne auch jetzt noch Rechte geltend machen, selbst gegenüber den siegreichen Mächten. Allerdings legten diese die Begriffe der bedingungslosen Kapitulation und der Rechte des Siegers so ungeheuer weit aus, daß von diesen Rechten praktisch nichts übrigzubleiben scheine. Mindestens auf drei Sätze, die der Rechtsüberzeugung aller zivilisierter Völker entsprächen, könnten sich auch die Deutschen berufen: gewisse Menschenrechte auch gegenüber dem Sieger; niemand könne Richter in eigener Sache sein, auch nicht eine siegreiche Regierung; und jedes Rechtssubjekt habe Anspruch auf rechtliches Gehör und eine einheitliche 85 86 Im "Tagesspiegel" vom 21.01.1947 meinte der Autor, Erik Reger, in bezug auf Laun und den hessischen Justizminister Zinn sagen zu können: "... überall wird in den Kategorien von 1920 gedacht und, traurig zu sagen, einem Teil der heutigen SPD wäre schon wieder die Bewilligung eines Panzerkreuzers zuzutrauen." Vgl. G. Wacke, ebd., S. 441 R. v. Laun, Gegenwärtiges Völkerrecht, in: "Die Zeit" vom 19.12.1946, abgedr.: ders., Reden und Aufsätze zum Völkerrecht u. Staatsrecht, S. 9 ff. 409 diplomatische Vertretung zur Geltendmachung dieses Anspruchs87. Das alliierte Argument, durch die Entfernung der Regierung Dönitz sei in Deutschland ein Zustand eingetreten, der von der HLKO nicht mehr erfaßt werde, konterte Laun treffend mit dem Hinweis, daß das in der HLKO kodifizierte allgemeine Völkerrecht nicht etwa das abstrakte Rechtssubjekt Staat oder die kriegführenden Regierungen schützen wolle, sondern jeden kämpfenden Soldaten, jeden Verwundeten, jeden Kriegsgefangenen und jeden Bewohner eines besetzten Gebietes, also im wesentlichen die Menschenrechte des einzelnen. Auf diese Menschenrechte könne auch ein kapitulierendes Armeekommando oder eine kapitulierende Regierung nicht verzichten. Der wesentliche Inhalt der HLKO, soweit diese das Individuum schütze, sei somit zwingendes allgemeines Völkerrecht und könne durch partikulares Recht nicht beseitigt werden. Laun verwies außerdem auf das sog. Estoppel-Prinzip, wonach niemand sich auf ein Hindernis für die Erfüllung seiner Rechtspflichten berufen könne, wenn er dieses Hindernis selbst freiwillig geschaffen habe. Wenn daher die vier Mächte Deutschland die Rechtssubjektivität genommen hätten, so könnten sie sich nicht auf dieses von ihnen freiwillig herbeigeführte Faktum berufen. Das gelte ebenso für die Argumentation, daß die HLKO den jetzigen Sonderfall nicht habe voraussehen und regeln können, weil sie selbst durch Abweichung vom allgemeinen Völkerrecht diesen Sonderfall geschaffen hätten88. Anläßlich des Osterfestes 1947 meinte v. Laun in einem weiteren Artikel in seiner ihm eigenen sprachlichen Wortgewalt: "Dem deutschen Volk wird Übermenschliches zugemutet. Der Deutsche hat keine Rechte gegen das ihn regierende Ausland, nicht einmal auf 87 88 410 R. v. Laun, Hat Deutschland Rechte?, in: "Die Zeit" v. 13.03.1947, abgedr.: ders., Reden und Aufsätze ..., S. 16 ff., insb. S. 19 R. v. Laun, Staats- und Völkerrecht in Deutschland, MDR 1947, S. 246 ff., insb. S. 247 f. = ders., Reden und Aufsätze ..., S. 44 ff., insb. S. 50 ff. das letzte Stück Brot oder das elendeste Quartier, alles ist für ihn nur Gnade oder Ungnade des Siegers. ... Was seit 1945 geschieht, kann das deutsche Volk, nein, sogar die ganze Menschheit zu nichts anderem erziehen als zu der Überzeugung, daß das Höchste und Erstrebenswerteste auf dieser Welt militärische Stärke, ein militärischer Sieg und eine bedingungslose Kapitulation des Gegners ist. Über Deutschland aber, das einen solchen Sieg nicht erhoffen kann, steht die Überschrift am Eingang zu Dantes Hölle: Lasset alle Hoffnung, ihr, die ihr eintretet."89 b. Die erste Tagung der deutschen Völkerrechtslehrer 194 7. Rudolf v. Laun ließ es bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung jedoch nicht bewenden. Auf Initiative v. Launs trafen sich in der Zeit vom 16. bis 18. April 1947 etwa zwanzig deutsche Hochschullehrer aus allen Besatzungszonen in Hamburg zur ersten Tagung der deutschen Völkerrechtslehrer nach dem Krieg. Eröffnet wurde die Tagung durch ein Referat v. Launs, der eine Bestandsaufnahme der rechtlichen Situation Deutschlands vornahm90. Schon gleich zu Beginn machte er dem Auditorium klar, in welchem Sinn er sein Referat selbst auffaßte: "Wir können uns weder mit physischer Macht wehren, noch können wir als Vertreter der Wissenschaft politische Kritik üben. Aber die Kritik von den Prämissen des Rechtes und der Idee des Rechtes aus kann uns niemand verwehren, und ich glaube, unsere Aufgabe ist es, eine solche immanente juristische, streng wissenschaftliche Kritik, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat, im Gegensatz zu Wünschen und Vorschlägen, die nicht allgemein überzeugend sind, hier zu 91 versuchen." Diese Absicht zur Kritik an besatzungspolitischen Maßnahmen der Alliierten durch die Berufung auf die allgemein 89 90 91 R. v. Laun, Ostern 1947, in: Osternummer der "Hamburger Freien Presse" vom 05.04.1947, abgedr.: ders., Reden und Aufsätze ..., S. 24 R. v. Laun, Der gegenwärtige Rechtszustand Deutschlands, Jahrb. f. intern, u. ausl. öff. Recht 1948, S. 9 ff. R. v. Laun, ebd., S. 9 411 anerkannten Grundsätze des Völkerrechts bestand nicht nur bei v. Laun, sondern auch bei vielen seiner Kollegen. Dahinter stand der "Versuch, das Recht als die Stärke der Schwachen auszuspielen."92. Die deutschen Völkerrechtler erkannten die Möglichkeit, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse effektiv als politisches Mittel zur Eindämmung des unbegrenzten Machtanspruches der Besatzungsmächte in Einsatz zu bringen. Wenn etwas Eindruck machen würde in den Heimatländern der Besatzungstruppen, von der Sowjetunion vielleicht einmal abgesehen, dann konnte es nur die Argumentation in rechtlichen Kategorien sein, wie ja auch Adenauer treffend feststellte. Dies setzte jedoch voraus, daß man sich im Kreise der deutschen Fachleute trotz aller sonstiger terminologischer Unterschiede auf bestimmte, von den meisten getragene Grundaussagen einigte. Zu diesem Zweck formulierte v. Laun am Ende seines Referats einige "Leitsätze", die er zur Diskussion stellen wollte, und die dann von den in Hamburg versammelten Völkerrechtlern als allgemeine Entschließung angenommen wurden93. Die Kernsätze der Entschließung lauteten: "1. Das Deutsche Reich ist auch nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und der Besetzung ein Staat mit eigenen Staatsangehörigen und ein Rechtssubjekt im Sinne des Völkerrechts geblieben. 2. Es ist als ein solches Rechtssubjekt Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft, an deren Normen gebunden und zur Mitarbeit fähig und berufen. 3. Die allgemeinen Grundsätze des in der Haager Landkriegsordnung geregelten Besatzungsrechts gelten für das ganze Gebiet der Völkerrechtsgemeinschaft, daher auch für Deutschland, und können durch partikularen Rechtswillen einzel- 92 B. Diestelkamp, Rechts- und verfassungsgeschichtl. Probleme zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, JuS 1980, S. 483 93 R. v. Laun, ebd., S. 20; eine Zusammenfassung der Tagungen 1947 und 1948 in: Die Tagungen der deutschen Völkerrechtslehrer in Hamburg 1947 und 1948, ebd., S. 239 ff. 412 ner Staaten werden."94 nicht außer Kraft gesetzt In den folgenden Artikeln wurden einige Probleme der Völkerrechtsanwendung auf Deutschland gesondert angesprochen: Die allgemeinen Menschenrechte bildeten eine selbstverständliche Voraussetzung und daher auch einen Bestandteil des zu achtenden allgemeinen Völkerrechts (Art. 4); das zu diesen Menschenrechten gehörende Recht auf persönliche Freiheit umfasse auch das Recht, in der Heimat zu leben und nicht gewaltsam aus ihr vertrieben zu werden (Art. 5), so daß Massenausweisungen der einheimischen Bevölkerung aus besetztem feindlichen Gebiet völkerrechtswidrig seien (Art. 6 und 7) . Der letzte Artikel (8) stellte die Völkerrechtswidrigkeit des weiteren Festhaltens der deutschen Kriegsgefangenen fest95. c. Das Scheitern der Verrechtlichung der Politik gegenüber den Besatzungsmächten. Der breite Konsens deutscher Völkerrechtslehrer, der sich in der Zustimmung zu diesen Leitsätzen zeigte, wäre eigentlich die ideale Basis für eine Verrechtlichung der Politik gegenüber den Besatzungsmächten gewesen. Die entsprechenden Vorstöße blieben jedoch, wenn sie überhaupt einmal unternommen wurden, in den Anfängen stecken, oder man gab sich auf deutscher Seite mit Teilerfolgen zufrieden, wie Adenauers Reaktion auf die britische Zurückweisung seines Begehrens nach einem Gutachten unabhängiger ausländischer Völkerrechtler gezeigt hat. Der politische Spielraum, den der völkerrechtliche Kritikansatz bot, wurde von der sich entwickelnden deutschen Politik nur unzureichend aufgegriffen und ausgefüllt. Die Gründe für diesen Nichtgebrauch rechtlicher Argumente mögen unterschiedlicher Natur gewesen sein. Zwei waren aber wohl besonders markant: Schon auf der zweiten Hamburger Tagung der deutschen Völkerrechtslehrer (1948) konnte der 94 95 Entschließung der deutschen Völkerrechtslehrer auf der ersten Hamburger Tagung vom 16.-17. April 1947, ebd., S. 6 Entschließungen ..., ebd. 413 auf der ein Jahr zuvor abgehaltenen Tagung gefundene Grundkonsens zur Anwendung des Völkerrechts nicht mehr aufrecht erhalten werden. Der hier offen auftretende Versuch verschiedener Tagungsteilnehmer, durch die Kreierung völlig neuartiger Besatzungstypen die alliierten Besatzungsmaßnahmen mindestens teilweise zu rechtfertigen, verwirrte die völkerrechtliche Lage zusehends, ohne einen Beitrag zur Klärung der aufgeworfenen Fragen effektiv leisten zu können. Neologismen wie "occupatio sui generis" (Prof. Kaufmann), "Interventionsbesetzung" als "Revolution von außen", als "Debellatio zur Verfassungsänderung", bei der die Alliierten als "Gebrechlichkeitspfleger" gemeinsam handelten (Prof. Steiniger), waren nicht dazu angetan, Licht ins Dunkel zu bringen, sondern vernebelten eher den Blick für das Wesentliche96. Ohne eine Einigung über die Frage, was denn nun "Recht" in Deutschland sei, war an eine Verrechtlichung der Politik aber nicht zu denken, so daß die Argumentation in rechtlichen Kategorien durch die Zerredung und Vernebelung der noch auf der ersten Tagung (1947) so eindeutig ausgefallenen Stellungnahme im Laufe der Jahre immer schwieriger wurde. Der zweite Grund für den Nichtgebrauch der juristischen Argumentation war wohl eine zahlreichen Politikern eigene Abneigung gegen diese Art der politischen Auseinandersetzung. Bezeichnend ist ein Wort von Theodor Heuß, der im September 1948 im Parlamentarischen Rat auf die selbstgestellte Frage, wie das Wandern der Deutschen "im Tal der Ohnmacht" beendet werden könne, spöttisch meinte, "bei den ganz Gescheiten ein sehr wirkungsloses Buchstabieren der Landkriegsordnung und solcher Geschichten" feststellen zu können97. Kritisch zu dieser Äußerung von Heuß hat Fritz Münch - in Würdigung der Nachkriegsverdienste Rudolf v. Launs angemerkt, es sei "auch in Zeiten des Umsturzes und der seelischen Verwirrung gut, sich von den noch so verständlichen Reaktionen und Zweifeln frei zu machen und den Blick auf die dauerhaften Elemente einer Ordnung zu 96 97 414 Zur Diskussion auf der zweiten Hamburger Tagung vgl.: Die Tagungen der deutschen Völkerrechtslehrer ..., ebd., S. 243 ff. Parl. Rat, Sten. Protokolle, 09.09.1948, S. 40 f. heften."98. Das hätte in den ersten Jahren nach 1945 bedeutet: Besinnung auf die völkerrechtlichen Grundsätze der "occupatio bellica" und ihre politische Instrumentalisierung, um die deutsche Objektrolle schichtweise abbauen zu können. Der dabei gegebene politische Spielraum wurde jedoch nicht annähernd genutzt. III. Dia Einschätzung der völkerrechtlichen Lage Deutschlands durch die Vereinigten Staaten in der Nachkriegszeit und des des Deutschen Reiches III.1. Die Fortexistenz Kriegszustands mit Deutschland Äußerungen der US-Militärregierung. Auf Seiten der amerikanischen Besatzungsorgane war es zu keiner Zeit eine Frage, daß Deutschland als Staat weder durch die militärische Kapitulation noch durch die Beseitigung der Regierung Dönitz oder die Berliner Viermächteerklärung untergegangen war. Wenn führende Angehörige von OMGUS sich vor deutschen Fachleuten zur völkerrechtlichen Lage Deutschlands äußerten, zeigten sie sich zwar regelmäßig von Hans Kelsens Thesen beeindruckt, wollten sie jedoch nie als offizielle Meinung ihrer Dienststelle verstanden wissen. Die Neigung zu Kelsen rührte zumeist daher, daß ihnen das Ergebnis seiner Untersuchungen, die Nichtgeltung des Völkerrechts in Deutschland, sehr willkommen war. a. Der amerikanische Zonenbefehlshaber, General Clay, erklärte ausdrücklich, daß Deutschland als Staat noch fortbestehe. Als Bayern in einem Entwurf der Landesverfassung hinsichtlich der Staatsangehörigkeit vorsah, jeder bayerische Staatsangehörige erwerbe beim Beitritt Bayerns zu einem demokratischen deutschen Bundesstaat zugleich die deutsche Staatsangehörigkeit, konnte man daraus schließen, daß eine deutsche Staatsangehörigkeit vorher noch nicht bestehe. Durch das Einschreiten der amerikanischen 98 F. Münch, Die völkerrechtl. Grundlage des Status Deutschlands, in: Festschr. f. R. v. Laun zu seinem 90. Geburtstag, S. 143 415 Militärregierung wurde der Verfassungsausschuß zur Streichung dieses Artikels veranlaßt. Als General Clay die bayerische Verfassung später genehmigte, teilte er unter anderem mit, die Militärregierung erteile in keiner Weise ihre Zustimmung zu einem Separatismus Bayerns oder eines anderen deutschen Staates". des Kriegszustands und die Kriegsbeendigung. Die amerikanische Regierung hat, ganz im Einklang mit den völkerrechtlichen Planungen, mehrmals unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß nach ihrer Auffassung der völkerrechtliche Kriegszustand über den deutschen Zusammenbruch von 1945 hinaus fortbestand. Eine Proklamation Präsident Trumans vom 31. Dezember 1946, durch die die "Einstellung der Feindseligkeiten" ("cessation of hostilities") festgestellt wurde, um dadurch zahlreiche amerikanische Kriegsbestimmungen aufzuheben, ist ein Beleg dafür. Truman verkündete: b. Fortdauer "Although a state of war still exists, it is at this time possible to declare, and I find it to be in the public interest to declare, that hostilities have terminated."100 Auch die amerikanische Rechtsprechung nahm ganz einhellig die Fortdauer des Kriegszustandes nach 1945 an101. Erst eine Joint Resolution des Kongresses vom 19. Oktober 1951, die der Präsident fünf Tage später verkündete, beendete nach offizieller amerikanischer Auffassung den völkerrechtlichen Kriegszustand mit Deutschland102. 99 100 101 102 416 Vgl. E. Menzel, Zur völkerrechtlichen Lage Deutschlands, in: EA 1947, S. 1009 ff., 1015 H. Mosler/K. Doehring, Die Beendigung des Kriegszustands mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, S. 20 f. H. Mosler/K. Doehring, ebd., S. 21 ff. H. Mosler/K. Doehring. ebd., S. 29 ff. Teilweise wird in der Rechtslehre angenommen, die Joint Resolution habe lediglich innerstaatlich konstitutive Wirkung gehabt, völkerrechtlich sei ihr nur deklaratorische Wirkung beizumessen, da der völkerrechtliche Kriegszustand bereits zu einem früheren Zeitpunkt durch die Aufnahme friedlicher Beziehungen zu den westlichen Staaten beendet worden sei, vgl. D. Blumenwitz, Der Begriff der Kriegsgefangenschaft, in: GYIL, Bd. 25 (1982), S. 528 ff., 533 m.w. Nachw. III.2. Der rechtliche Status der Besetzung Deutschlands Während somit über die Fortexistenz Deutschlands als Staat Einvernehmen herrschte, fehlte es auch bei OMGUS über Jahre hinweg an einer einheitlichen Auffassung zur Anwendbarkeit des Völkerrechts. Zwar kannte man die Memoranden von Philipp Jessup und Colonel Chanler aus der Planungsphase und zog nun auch die Aufsätze Kelsens heran, doch konnte die Legal Division sich für keine der Theorien entscheiden und sie als verbindliche OMGUSAuffassung betrachten103. Dennoch gehörte der Rechtsstatus der Besetzung Deutschlands nach Beendigung der Feindseligkeiten in der Legal Division zu den am häufigsten diskutierten Themen. Schon recht frühzeitig kamen zwei oder drei Angehörige der OMGUS- Rechtsabteilung zu dem Schluß, die Eroberung ("Conquest") Deutschlands unterscheide sich doch sehr von der Situation, die die Haager Konvention im Auge habe, und daß ihre Bestimmungen deshalb nicht streng anwendbar ("strictly applicable") seien, wenngleich sie auch anerkannten, daß die Haager Konvention natürlich in vielerlei Hinsicht Regeln des Völkerrechts enthalte, und daß einige davon auch im Fall der Eroberung Deutschlands anwendbar seien, einige andere Vorschriften für einen Eroberer aber keine Bindung entfalteten. Im August 1946, also mehr als ein Jahr nach Ende der Feindseligkeiten, war noch immer keine verbindliche OMGUSRechtsansicht zustande gekommen, und Mitglieder der OMGUSRechtsabteilung debattierten das Problem in einer offenen Diskussionsrunde. Als im September 1946 diese Frage im Zusammenhang mit der Entfernung von deutschen öffentlichen Archiven und Dokumenten offiziell an die Legal Division herangetragen wurde, konnte sie sich 103 Vgl. R. Murphy an Secr, of State, "Subject: The Allied Control Authority for Germany: An Analysis of its Organization and Procedures", 06.01.1946, der, S. 5-12, die Thesen Jessups, Chanlers und Kelsens referiert, ohne sich jedoch einer anzuschließen, RG 260/OMGUS POLAD/752/2 417 einer Antwort nicht mehr länger entziehen104. Die unmittelbare Anfrage in Washington nach entsprechenden Instruktionen wurde von dort erst Ende Dezember 1946 beschieden. IKRK und die Rechtslage Deutschlands. Bereits am 06. September 1946 erhielt der amerikanische Außenminister James F. Byrnes einen Brief des Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Max Huber, in dem dieser sich zum Fürsprecher einer uneingeschränkten Anwendung des Völkerrechts auf Deutschland machte. Er plädierte darin besonders für den weiteren völkerrechtlichen Schutz deutscher Kriegsgefangener durch die Genfer Konvention. Seine Ausführungen bezogen sich jedoch ausdrücklich auch auf die weitere Geltung der HLKO in Deutschland. In Hubers Brief hieß es diesbezüglich: a. Das "Die bedingungslose Kapitulation der deutschen und japanischen Streitkräfte, die aus der Tatsache resultiert, daß die Streitkräfte ihre Waffen niedergelegt haben, ohne sich auf die, Bestimmungen verlassen zu können, wie sie üblicherweise in einem Waffenstillstandsvertrag niedergelegt werden, bedeutet nicht ipso facto den Verzicht auf die Rechte, die in der Haager Landkriegsordnung und in der Genfer Konvention vorgesehen sind. ... Das IKRK kann dieser Situation nicht gleichgültig gegenüberstehen: es erachtet es für seine Pflicht, die Aufmerksamkeit der Regierungen auf die Gefahren zu lenken, die sich künftig aus einem solchen Präzedenzfall, der durch eine kriegführende Macht hervorgerufen werden könnte, ergeben könnten. Es liegt zweifellos im Interesse aller Staaten, schon im Frieden, mehr noch im Krieg, die Gewißheit zu haben, daß diejenigen ihrer Staatsbürger, die in die Hand des Feindes fallen könnten, stets die Vorteile der Konventionen genießen würden."105 104 105 418 Col. J.M. Raymond, Director Leg. Div., Memo., "Subject: Historical Notes of Colonel John M. Raymond", S. 2, 29.03.1949; RG 260/OMGUS 17/214-2/18 IKRK-Report I, S. 565; dt. Übersetzung nach K.W. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand - Europa, S. Huber pochte in Washington unmißverständlich auf die Einhaltung des Völkerrechts und zeigte deutlich auf, welche Gefahren die Alliierten durch ihre Auffassung, Deutschland, seine Bevölkerung und seine Kriegsgefangenen jeglichen völkerrechtlichen Schutzes berauben zu können, heraufbeschworen: Da sich nun in Zukunft möglicherweise auch andere Staaten, dem alliierten Vorbild in Deutschland folgend, von ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zu lösen beabsichtigen könnten, könnte sich kein Staat mehr auf den Schutz des Völkerrechts für seine Bürger verlassen, was eine Niederlage nicht nur für die internationale Rechtssicherheit bedeuten mußte, sondern für das Völkerrecht selbst und auch die internationalen Beziehungen, deren Vertrauen auf das Völkerrecht heftig erschüttert worden wäre. Da die Anfrage von OMGUS nach einer verbindlichen Stellungnahme Washingtons zur Rechtslage in Deutschland mit dem Schreiben des IKRK- Präsidenten zeitlich zusammenfiel, ist nicht auszuschließen, daß Hubers klare Worte in Washington eine gewisse Nachdenklichkeit in dieser Frage auslösten, was möglicherweise auch seinen kleinen Niederschlag in der Antwort an OMGUS fand. b. Gutachten des Kriegsministeriums vom 10. Dezember 1946. Grundlage der Antwort an OMGUS war ein Gutachten, das die Völkerrechtsabteilung des Kriegsministeriums am 10. Dezember 1946 erstattete106. Als erster Grund für die Nichtanwendbarkeit der HLKO in Deutschland nach dem Ende der Feindseligkeiten wurde das bei Feilchenfeld (The International Economic Law of Belligerent Occupation) genannte Argument angeführt, die HLKO sei nur solange anwendbar, wie die gegenseitigen Feindseligkeiten andauerten. Die HLKO-Bestimmungen deuteten an, daß sie darauf 106 71; zum historischen Zusammenhang dieses Schreibens vgl. unten 2. Teil, IV.. Text "Gutachten der Völkerrechtsabteilung des Heeresministeriums der Vereinigten Staaten zur Anwendbarkeit der Haager Landkriegsordnung und Genfer Konvention auf das besetzte Deutschland", Jahrb. f. Intern. Recht 1956, S. 300 ff. 419 abzielten, die sich aus dem Krieg für die zivile Bevölkerung ergebenden Härten zu mildern, und die Auswirkungen der militärischen Besatzung, die zur Durchführung der Feindseligkeiten gehörten, zu begrenzen, um übermäßige Behinderung der Rechte und Privilegien des Souveräns des besetzten Territoriums und dessen Einwohner zu vermeiden. Die HLKO reflektiere den Einfluß der Rechtsentwicklungen des liberalen 19. Jahrhunderts. Sie beabsichtige, die traditionellen Befugnisse eines kriegerischen Okkupanten bis zu einer endgültigen Entscheidung des Konflikts zu begrenzen. Wenn aber diese Entscheidung gefallen sei, sei der Sieger nicht länger in seinem Recht begrenzt, weder durch das Haager Abkommen noch durch irgendeine andere Vorschrift des Völkerrechts, solche Bedingungen zu erzwingen, wie sie zur Befriedigung seiner Kriegsziele erforderlich seien. Dies alles jedoch unter der Voraussetzung, daß er kein Aggressor unter Verstoß gegen den Briand-Kellogg-Pakt sei. Ergänzt wurde diese Auffassung durch die Feststellung, daß ja vor der Beendigung eines Krieges der Sieger in einer Waffenstillstands-Vereinbarung vom Verlierer die Übertragung solcher Rechte und Vorteile verlangen könne, die er sich wünsche. Ein Waffenstillstand sei deshalb eine Vereinbarung, die den Willen des Siegers ausdrücke. Die Haager Bestimmungen hätten nicht die Bedeutung, die Verfügungen, die der Sieger seinem Gegner auferlegen könne, zu limitieren. Sie seien demnach Gegenstand einer Änderung durch einen Vertrag, wobei die Tatsache, daß die Vereinbarung durch Gewalt erlangt wurde, unerheblich sei107. Daraus zogen die Autoren des Rechtsgutachtens den Schluß: "It would, therefore, appear to follow that the Hague Regulations were intended to apply, and reasonably can only be applied to occupations which are incident to the conduct of hosti- lities and which have the legal charac- ter of precariousness."108 107 108 420 "Gutachten ... ", ebd., S. 302 f. "Gutachten ... ", ebd., S. 303 Hans Kelsens Kondominialthese fand in den Gutachten teilweise Verwendung. Die Annahme, Deutschland sei als Staat infolge einer "Debellatio" untergegangen, wurde im Kriegsministerium nicht geteilt. Es sei gar nicht notwendig, meinten die Autoren, so weit wie Kelsen zu gehen, um zu demonstrieren, daß die Alliierten berechtigt gewesen seien, Deutschland als die rechtmäßige deutsche Regierung zu regieren. Seit dem 5. Juni 1945 habe keine deutsche Behörde mehr existiert, die fähig gewesen sei, oberste Regierungsgewalt in Deutschland auszuüben, und es scheine, daß die Vertreter der Alliierten notwendigerweise mit den Rechten einer deutschen Regierung ausgestattet sein müßten. Die Feststellung der weit überwiegenden Mehrheit der Völkerrechtsautoren, der Erwerb der Souveränität durch "Conquest" oder "Subjugation" sei untrennbar verbunden mit der Annexion des eroberten Landes, wurde unter Verweisung auf Kelsens These vom Kondominium verworfen. Wenngleich historisch gesehen die Annexion die übliche Methode gewesen sei, um das Recht zur Ausübung der obersten Macht durchzusetzen, so sei sie doch nicht der einzige Weg, auf dem dieses Recht erlangt werden könne. Die korrekte Absicht sei die, daß der Sieger, wenn er die Macht habe und allen Widerstand und alle Organe des besiegten Staates ausgeschaltet habe, sich selbst zum Obersten über das Territorium seines Feindes machen könne durch jedes eindeutige Verfahren, das seine Absicht zum Erwerb dieses Rechtes deutlich ausdrücke. Die von Kelsen als Kondominium angeführten Beispiele zeigten, daß zwei oder mehr Staaten gemeinsam die "supreme authority" über ein Gebiet ausüben könnten, ohne es zu annektieren, also ohne einen dauerhaften Erwerb zu beabsichtigen109. Im Fall Deutschlands habe sich die Absicht der Alliierten, die Rechte und Verpflichtungen (!) , die die Ausübung der "supreme authority" über Deutschland enthalte, zu übernehmen, eindeutig in der Berliner Viermächteerklärung vom 5. Juni 1945 gezeigt. Daneben wurde zusätzlich erwogen, die "supreme authority" könne auch durch die Kapitulations- 109 "Gutachten ... ", ebd., S. 304 f. 421 Erklärung von der obersten Gewalt der Regierung des Dritten Reiches abgeleitet werden. Letztendlich wollten die Gutachter sich jedoch auf keine der von ihnen erörterten Theorien festlegen, da das Endresultat jeder Theorie ohnehin gleich sei110. Sie stellten deshalb fest: "We intend to bring about permanent reforms in Germany, and the acceptance of any legal position which would invite a postoccupation attack on the measures we have taken by characterizing them as the acts of a temporary occupant would be inconsistent with our mission."111 Die Besatzungsbehörden seien demnach durch die HLKO nicht in ihrem Tun begrenzt. Das bedeute jedoch nicht, daß sie keinerlei rechtlichen Beschränkungen unterworfen seien. Als ein Beauftragter seiner jeweiligen Regierung sei jeder Repräsentant der Besatzungsmächte solchen Bestimmungen seiner nationalen Gesetze unterworfen, die die Autorität eines Kommandierenden Generals im Feld einschränkten. Zusätzlich sei er gebunden an die Prinzipien und Absichtserklärungen, die die betreffenden Regierungen bei verschiedenen Anlässen veröffentlicht hätten. Dazu gehörten die Erklärungen von Jalta und Potsdam, denen obwohl nur unterzeichnet von den "Großen Drei" - aufgrund der Einwilligung fast aller Vereinter Nationen die Wirkung von rechtsgültigen Verträgen, wenn nicht sogar von Gesetzen, zukomme. Weiterhin habe das Internationale Militärtribunal Grundsätze des internationalen Verhaltens aufgestellt, die eine Beeinträchtigung der absoluten Rechte eines Souveräns konstituiert hätten. Es sei nun anerkannt, daß ein Souverän keine Handlungen begehen dürfe, die Verbrechen gegen den Frieden oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien112. Das Ergebnis des Gutachtens wurde - leicht modifiziert - Ende Dezember 1946 an OMGUS weitergeleitet. Es bildete die Richtlinie der OMGUS-Rechtsabteilung für die Beantwortung 110 111 112 422 "Gutachten ... ", ebd., S. 306 "Gutachten ... ", ebd. "Gutachten ... ", ebd., S. 306 f. der bereits aufgetauchten Frage nach dem völkerrechtlichen Status Deutschlands. Diese Richtlinie besagte: - Der Alliierte Kontrollrat und der US-Zonenkommandeur im besetzten Deutschland besäßen eine rechtliche Autorität ("legal authority"), die durch die Bestimmungen der HLKO nicht beschränkt sei. - Generelle Regeln, die in den Haager Bestimmungen zum Ausdruck kämen, sollten als leitende Prinzipien angesehen werden, wenn nicht spezifische amerikanische Besatzungsziele ein Abweichen davon verlangten. Die Anerkennung der Tatsache der Beendigung der Feindseligkeiten berühre nicht den juristischen Begriff von der Fortdauer des Kriegszustandes, wie beispielsweise die Bestimmung zur inländischen Gesetzgebung für Kriegszeiten113 . Die Anweisung an OMGUS, die vom Außen- und vom Kriegsministerium genehmigt worden war, schloß mit der dringenden Empfehlung, wegen der damit verbundenen delikaten politischen Tragweite nur dann Meinungen zu dieser Frage herauszugeben, wenn es als absolut notwendig angesehen werde. In schwierigen Fällen sollte unter vollständiger Angabe der Fakten der Vorgang in Washington vorgebracht werden114. vom 17. März 1947. Auf der Grundlage der Antwort aus Washington arbeitete die OMGUS-Rechtsabteilung eine "Legal Opinion" aus, die am 17. März 1947 fertiggestellt wurde und unter dem Titel "Right of Occupying Power to Remove Indigenous Archives, Records and Documents" in die "Selected Oplnions" der Rechtsabteilung c. OMGUS-Gutachten 113 114 AGWAR an OMGUS, Dez. 1946 (genaues Datum nicht ersichtlich); RG 260/OMGUS 45-46/88/1 und RG 260/OMGUS 17/251-2/5; zum Vergleich die teilweise wortidentischen Schlußfolgerungen im "Gutachten ...", ebd., S. 307 f. AGWAR an OMGUS, ebd. 423 mit der Nr. VII/115 Aufnahme fand115. Nach Art. 56 HLKO ist das Eigentum der Gemeinden und das Eigentum von Anstalten, die dem Gottesdienst, der Wohltätigkeit, dem Unterricht, der Kunst und der Wissenschaft gewidmet sind, auch wenn sie dem Staat gehören, als Privateigentum zu behandeln. Außerdem untersagt dieser Artikel jede Beschlagnahme, absichtliche Zerstörung oder Beschädigung derartiger Anlagen, geschichtlicher Denkmäler oder von Werken der Kunst und Wissenschaft und ordnet die Ahndung entsprechender Delikte an. Nach Art. 46 HLKO soll das Privateigentum der Bürger geachtet und darf nicht entzogen werden. Für die Frage nach der völkerrechtlichen Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der Beschlagnahme und Entfernung deutscher Dokumente, insbesondere Archivalien und in Archiven und Bibliotheken befindlicher literarischer Werke, wie sie von der OMGUS-Rechtsabteilung zu entscheiden war, kam es darum zentral darauf an, inwieweit die Artikel 56 und 46 der HLKO auf die Situation in Deutschland angewendet werden konnten. Dabei war natürlich die rechtliche Vorgabe aus Washington entsprechend zu berücksichtigen. In dem Rechtsgutachten der Legal Division war zu lesen: Die gegenwärtige Situation Deutschlands sei keine Besetzung, während der noch Feindseligkeiten ausgetauscht würden. Die Periode der Feindseligkeiten habe mit der militärischen Kapitulation vom 7. und 8. Mai 1945 aufgehört. Für die Vereinigten Staaten sei die Zeit kriegerischer Auseinandersetzungen durch die Erklärung des Präsidenten vom 30. Dezember 1946 auch gesetzlich beendet worden. Die Einstellung der Feindseligkeiten sei nicht auf der Grundlage einer Waffenstillstandsvereinbarung erfolgt, sondern durch die vollständige Niederlage der deutschen Armeen, verbunden mit ihrer absoluten und bedingungslosen 115 Col. J.M. Raymond, Ass. Director, Leg.Div., an Restitution Branch, Economics Division, "Subject: Right of Occupying Power to Remove Indigenous Archives, Records and Documents", 17.03.1947, Selected Opinions VII/115; RG 260/OMGUS 3/285/4; Auszüge aus dem OMGUS-Gutachten bei U. Meister, Stimmen des Auslandes zur Rechtslage Deutschlands, ZaöRVR. 1950/51, S. 173 ff., insb. S. 175 f., 180 f. i Kapitulation, wie es auch in der Erklärung vom 5. Juni 1945 zum Ausdruck kam. Das Gutachten führte weiter aus, daß die Berliner Viermächteerklärung die weitere Feststellung enthalte, die Übernahme der vollen Regierungsgewalt in Deutschland habe nicht die Wirkung einer Annexion Deutschlands, und es sei klar, daß es keine momentane Absicht gebe seitens der siegreichen Mächte, die politische Souveränität über Deutschland (auf Dauer) zu behalten. Deutschland sei besiegt und unterworfen worden, doch habe man es weder annektiert noch ausgelöscht. Die Situation in Deutschland sei vergleichbar in gewisser Hinsicht mit der Situation in Kuba unter amerikanischer Besetzung nach dem Krieg mit Spanien. In beiden Fällen hätten die Besatzungsmächte die oberste und uneingeschränkte Autorität über das besetzte Land ausgeübt, und in beiden Fällen sei auch die Absicht der Nichtannexion erklärt worden116. OMGUS stellte sich deshalb auf den Rechtsstandpunkt, daß Abschnitt III der HLKO auf die gegenwärtige Besetzung Deutschlands nicht anwendbar sei, doch enthielten viele ihrer Vorschriften allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze, die auch im Verhältnis von siegreichen und geschlagenen Nationen Anwendung finden müßten: "But many of the provisions of Section III are merely expressive of principles bearing upon the relationships between victor and vanguished nations which have more general applicability, deriving their authority from the unwritten laws and customs of war and relations between civilized international communities. Thus, in considering these very regulations, the International Military Tribunal held that by 1939 these rules laid down in the Convention were recognized by all civilized nations, and were regarded as being declaratory of the laws and customs of war ... And the source of the regulations was stated by the signatories to Convention IV in these words: 'The inhabitants and the belligerents remain under the protection and the rule of the principles of the law of nations, as they result from 116 Selected Opinions VII/115, ebd., Abs. Nr. 16,17 425 the usages established among civilized peoples, from the laws of humanity, and from the dictates of the public conscience'."117 Wortwörtlich sollte Abschnitt III der HLKO ("Militärische Gewalt auf besetztem feindlichen Gebiet") nach der Beendigung der militärischen Auseinandersetzungen keine Anwendung in Deutschland finden. Die dahinter stehenden allgemeinen Rechtsgrundsätze jedoch sollten als rechtlich, nicht nur moralisch verpflichtend gelten für das Verhältnis von Besatzern und Besetzten, weil insofern die HLKO-Normen keine konstitutive, sondern eine lediglich deklaratorische Bedeutung hatten, die positivrechtliche Fixierung von Grundsätzen, denen als Gewohnheitsrecht ohnehin schon völkerrechtliche Qualität zukam. Welche HLKO-Vorschriften konnten bei einer derartigen Konstellation, betrachtete man die dahinter stehende Rechtsmaxime, als nicht mehr in Geltung befindlich anzusehen sein? Waren nicht alle diesbezüglichen Regelungen, zumindest in den Art. 42-56 der HLKO, nur die deklaratorische Anerkennung dessen, was bereits vorher von allen zivilisierten Nationen als Völkergewohnheitsrecht betrachtet worden war, unabhängig von der Frage, ob die Feindseligkeiten noch andauerten oder nicht? Die Antwort der OMGUS-Rechtsabteilung in der konkret aufgeworfenen Rechtsfrage zeigt eine klare und völkerrechtsbewahrende Tendenz. Dort heißt es: "We think that Articles 46 and 47, and particulary Article 56, of the Regulations annexed to Convention IV are expressive of general principles of international law which would make a removal of archives from Germany by one of the occupying powers a prima facie violation of international law, placing the burden upon the removing power to establish by clear and convincing reasons that an overriding puplic interest exists in each case. ... With respect to the other documents (die nicht zuvor aus dem Ausland nach 117 Selected Opinions VII/115, ebd., Abs. Nr. 18 426 Deutschland gebracht worden waren, d. Verf.) it would appear highly improbable that any one of the occupying powers could make an adequate showing of the public interest. The principle of law is equally applicable to each case, depending upon its facts, - the removal of archives from Germany by any one of the occupying powers is a violation of international law unless the removing power establishes an overriding public interest in such removal which is acceptable to the public conscience."118 Diese Ausführungen waren über ihren konkreten Gegenstand hinaus aufgrund der in ihnen enthaltenen allgemeinen und auch auf andere Bestimmungen des III. Abschnitts der HLKO anwendbaren Gedanken ein enormer Fortschritt gegenüber den noch gegen Ende des Krieges in Washington beispielsweise von Oberst Chanler in der CAD propagierten Völkerrechtsnegation für Deutschland. Nun wurde zwar die HLKO als solche für nicht anwendbar gehalten, jedoch waren die hinter den Vorschriften stehenden allgemeinen Rechtsgrundsätze für die Besatzer rechtlich verbindlich. Daß dies praktisch auf die Anwendbarkeit der besatzungsrechtlichen Bestimmungen der HLKO hinauslief, zeigte schon die im Rechtsgutachten begründungslos vorausgesetzte Tatsache, die Art. 46, 47 und 56 seien Ausdruck allgemeiner völkerrechtlicher Prinzipien. Der Autor des Gutachtens scheint davon ausgegangen zu sein, daß eine Vermutung ohnehin dafür spreche, daß hinter jeder dieser Vorschriften ein entsprechender Rechtsgrundsatz stehe, ohne daß dieser einer näheren Begründung bedürfe. Handlungen, die gegen diese Bestimmungen verstießen, sollten "prima facie" als Völkerrechtsverletzungen angesehen werden, und es oblag der Besatzungsmacht, in jedem Einzelfall klar und deutlich zu sagen, warum ausnahmsweise ein höherstehendes "Öffentliches Interesse", das seinerseits noch am "öffentlichen Gewissen" zu messen wäre, die eigentlich völkerrechtswidrige Maßnahme zu einer völkerrechtsgemäßen mache. Nicht anwendbar wären danach allein solche HLKO-Vorschriften gewesen, die notwendigerweise zwei sich noch mit Waffengewalt befehdende 118 Selected Opinions VII/115, ebd., Abs. Nr. 20 427 Armeen voraussetzen, wie der II. Abschnitt der HLKO ("Feindseligkeiten") in den meisten Artikeln. Ganz in diesem Sinn hatte die Legal Division schon im Februar 1946 entschieden, daß Kunstgegenstände nicht unter den Begriff "Kriegsbeute" oder "Kriegstrophäen" fielen. Dies wurde im Gutachten vom 17. März 1947 noch einmal bestätigt: " ,War booty' and ,trophies of war' are terms applicable only to the situations existing during hostilities. In any event, we would conclude, consistently with this opinion, that if works of art were to be confiscated in Germany after surrender, such confiscation would have to be based upon proof by the confiscating power that a public interest is served by the removal which would constitute justification in the public conscience. We think, with respect to works of art, as with respect to archives, that seizure without compensation could be justified only where (when?) the works of art had in the first instance been acquired in or removed from another country by force or duress."119 Vergleicht man diese Einschätzung der völkerrechtlichen Lage in Deutschland aus dem Jahre 1947 mit den Planungen in der CAD und mit der seinerzeit geäußerten Absicht, in Deutschland nach der Kapitulation ein völkerrechtliches Vakuum schaffen zu wollen, so läßt sich eine bemerkenswerte Entwicklung ablesen. Mit zunehmender zeitlicher Entfernung von den Kriegsgeschehnissen, verbunden mit der fortschreitenden Erkenntnis der tatsächlichen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umstände im besetzten Feindland, wandelte sich auch die amerikanische Völkerrechtsdoktrin gegenüber Deutschland. Entscheidend war nicht länger die Negation des Völkrerechtsschutzes für die Bevölkerung im besetzten Deutschland und die damit einhergehende Schaffung eines rechtlichen Vakuums, sondern die Einsicht, daß das Völkerrecht grundsätzlich anwendbar 119 Selected Opinions VII/115, ebd., Abs. Nr. 21 428 sei und nur in Ausnahmefällen, die dann aber dezidiert von der Besatzungsmacht darzulegen und zu beweisen wären, den politischen Intentionen und Zielen der Alliierten zu weichen hätte. Daß man auf amerikanischer Seite sich bei der Begründung der Geltung des Völkerrechts, insbesondere der HLKO, nicht auf die eigentlichen Vorschriften bezog, sondern den jeweils dahinterstehenden gewohnheitsrechtlichen Rechtsgedanken bemühte, ist dabei völlig unerheblich. Die HLKO war auch während der Zeit aktiver kriegerischer Auseinandersetzung im Zweiten Weltkrieg gar nicht unmittelbar anwendbar, da Art. 2 des IV. Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907 eine sog. Allbeteiligungsklausel enthält. Die Sowjetunion fühlte sich nach ausdrücklicher Erklärung nicht an die Unterzeichnung der HLKO durch das zaristische Rußland gebunden. Weil die HLKO jedoch nach ganz überragender Ansicht lediglich eine Kodifikation des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts darstellt, war ihre inhaltliche Geltung trotz ihrer formalen Nichtanwendbarkeit nie in Frage gestellt worden120. Während die Briten offensichtlich, wie es die Feststellung von General Robertson zum Ausdruck brachte, auch 1947 noch an der zwei Jahre zuvor in Übereinstimmung mit den Amerikanern ausgehandelten Verneinung völkerrechtlicher Bindungen unbeirrt festhielten, befanden sich die Amerikaner ihrerseits wieder auf dem Weg zu einer völkerrechtskonformen Haltung, wenngleich sie noch immer nicht bereit waren, einer unbedingten Anerkennung des völkerrechtlichen Schutzes für die deutsche Bevölkerung das Wort zu reden. Dies hätte eigentlich 1947 um so leichter fallen müssen, da die Zerschlagung des NS-Parteiapparates, die Aufhebung mit nationalsozialistischem Gedankengut behafteter Gesetze und die Einführung demokratischer Staats- und Gesellschaftsstrukturen in Deutschland bereits beendet war und insoweit mögliche Konflikte, die während der Planungsphase immer wieder in den Mittelpunkt der Diskussion geschoben worden waren, nicht mehr anstanden. 120 Vgl. G.v. Schmoller/H. Maier/A. Tobler, Handbuch des Besatzungsrechts, Bd. 1, § 5, S. 6; W.K. Geck, Allbeteiligungsklausel, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, S. 28 f. 429 Ähnlich wie die OMGUS-Rechtsabteilung, jedoch mit einem kleinen aber weitreichenden Unterschied, beschrieb auch der Direktor der französischen Militärregierung in Württemberg- Baden, Charles M. Lafolette, in einer Erklärung vor dem Evangelischen Kirchenrat am 5. Februar 1949 die Rechtslage Deutschlands: "Genau genommen handelt es sich bei der Besetzung von Deutschland nicht um eine Besetzung während eines bewaffneten Konflikts. Es ist eine Besetzung, welche einer totalen und bedingungslosen Kapitulation folgte. Deshalb sind auch die Vorschriften der Haager Konvention über die Kriegsführung zu Lande nach dem bestehenden Völkerrecht nicht anwendbar. Jedoch diese Vorschriften enthalten viele Verhaltungsmaßregeln, die einzuhalten die Besatzungsmächte moralisch verpflichtet sind. 121 . . . " Im Gegensatz zu OMGUS ging Lafolette folglich davon aus, es bestehe zwar keine Rechtspflicht zur Beachtung des Völkerrechts, wohl aber eine moralische Pflicht zur Beachtung völkerrechtlicher Verhaltensregeln. Er gestand Deutschland keine Rechtsposition zu, aufgrund derer subjektive Rechte hätten beansprucht werden können, sondern wollte die Alliierten allenfalls moralisch gebunden wissen. Wem gegenüber eine derartige moralische Bindungswirkung bestehen sollte, sagte er nicht. Es ist jedoch nicht anzunehmen, daß er den Deutschen selbst einen moralischen Anspruch den Alliierten gegenüber einzuräumen gedachte. von Mitarbeitern der OMGUS-Rechtsabteilung. Die über die gesamte Dauer der Besetzung Deutschlands vorhandene Unsicherheit über den Rechtsstatus Deutschlands belegen auch die Äußerungen von Angehörigen der Legal Division von OMGUS. Unter anderem äußerte sich später auch Charles Fahy zu diesem Problem. Er war von Juni 1946 bis August 1947 Direktor dieser Abteilung und kannte auch die d. Äußerungen 121 430 U. Meister, Stimmen des Auslandes zur Rechtslage Deutschlands, ZaöRVR. 1950/51, S. 181 seinerzeitige Debatte im Kriegsministerium genau. Er stellte sich auf den Standpunkt, daß die HLKO nur so lange angewendet werden könne, wie noch kriegerische Auseinandersetzungen stattfänden. War das nicht mehr der Fall, dann sollte auch die HLKO nicht mehr das Verhältnis von Besetzten und Besatzern rechtlich regeln sofern der Besatzer nicht ausnahmsweise ein Rechtsbrecher aufgrund der Führung eines Angriffskrieges war. Fahy meinte: "They are rules for the conduct of war in the area of impact of armed forces upon the territory and inhabitants of an enemy country still contesting. They do not govern or limit the right of the victor to impose terms and conditions when victory has been achieved, certainly where the victor in the eyes of the law has not forfeited its position by aggression in violation of international law. The imposition upon Germany of unconditional surrender, accompanied by such actual surrender and abandonment of governmental authority, created conditions making these provisions of the Hague Convention inapplicable." Wenn er damit der HLKO ihre rechtliche Bindungswirkung absprach, so wollte er sie doch als "allgemeine Richtlinie" - ähnlich wie Chanler es vorgeschlagen hatte - bei der Besetzung angewendet und beachtet wissen: "This is not to say that the regulations of the convention are of no effect. The acceptance of them by so large a part of the world caused them to be used as guides with persuasive but not obligatory effect in appropriate circumstances . "122 Fahys Mitarbeiter in der Legal Division, der deutsche Emigrant und Rechtsprofessor Max Rheinstein, sah die amerikanische Einschätzung der rechtlichen Lage bedeutend kritischer als sein Vorgesetzter. Der Gedanke, die alliierten Besatzungsmächte hätten in Deutschland eine unbeschränkte Machtvollkommenheit, und sie seien an überhaupt keine 122 Ch. Fahy, Legal Problems of German Occupation, Michigan Law Review 1948, S. 11 ff., 13 431 rechtlichen Grundsätze und Schranken gebunden, widersprach zutiefst seinem Rechtsempfinden. Der Anspruch von unbegrenzter Regierungsmacht sei, so Rheinstein, Kennzeichen für eine totalitäre Regierung; für eine Regierungsform also, gegen die die westlichen Alliierten den Krieg geführt hätten. Rheinstein weiter: "The very idea of the absence of any limitation upon governmental powers is contradictory to the political and legal foundations of democrazy, particularly as understood in the United States, whose political and legal system is based upon the idea that no government is permitted to encroach upon the 'inalienable rights' of 'life, liberty and the pursuit of happiness'."123 Für Rheinstein stand fest, daß eine Besatzungsmacht immer "treuhänderische Aufgaben" ("fiduciary duties") gegenüber den Besetzten zu erfüllen hatte. Gerade die HLKO kenne eine Reihe treuhänderischer Aufgaben des Besatzers. Zu diesen Aufgaben zählte er auch die amerikanischen Nahrungsmittelimporte, die nicht einfach nur ein Akt der Generosität seien, sondern die Erfüllung einer völkerrechtlichen Pflicht. Rheinstein sah durchaus die großen Schwierigkeiten, die die Sieger des Zweiten Weltkrieges hatten, wenn sie ihre Interessen mit ihren treuhänderischen Pflichten vereinbaren wollten. Hier trafen zwei völlig antagonistische Interessenpositionen aufeinander. Rheinstein kam vor diesem Hintergrund zu dem Schluß: "While it must be conceded, of course, that law cannot be conceived of in separation from the facts and realities of life, we must not fall into the error of maintaining that law must always and inevitably follow the facts. Quite the contrary, law is, by its very essence, a standard for human conduct by which the facts are being created, and which may, and often does, fall 123 432 M. Rheinstein, The Legal Status of Occupied Germany, Michigan Law Review 1948, S. 23 ff., 28 short of the law. But the rules of law still remain in effect."124 Das war ein deutlicher Hinweis darauf, wie die Gewichte bei sich widersprechenden Zielen - Rechtsgehorsam einerseits, politischer Interessenverfolgung andererseits - zu verteilen gewesen wären. Daß dies jedoch nicht der amerikanischen Besatzungspraxis in Deutschland entsprach, mußte Rheinstein immer wieder feststellen. Er wurde, nachdem er seine Arbeit in der amerikanischen Militärregierung beendet hatte, in den Vereinigten Staaten zu einem der heftigsten Kritiker der amerikanischen Politik im besetzten Deutschland125. 124 125 M. Rheinstein, ebd., S. 39 Vgl. unten, 4. Teil 433 4. TEIL: EINZELNE AMERIKANISCHE BESATZUNGSMAßNAHMEN UND DIE NICHTBEACHTUNG DES VÖLKERRECHTS Bei einer Vielzahl von Maßnahmen der Besatzungsmächte mußten sich, das hatten bereits die diesbezüglichen Vorüberlegungen in Washington und London gezeigt, völkerrechtliche Probleme ergeben. Dies galt weniger für den Bereich der Beseitigung und Zerschlagung nationalsozialistischer Staats- und Gesellschaftsstrukturen, da es sich dabei insbesondere auch um Maßnahmen handelte, die der Aufrechterhaltung der Sicherheit der Besatzungstruppen dienten, als vielmehr für solche Handlungen, die sich - direkt oder mittelbar - gegen die Zivilbevölkerung oder die Kriegsgefangenen richteten. Hier mußte sich zeigen, inwieweit durch die Leugnung des Völkerrechts durch die Alliierten - insbesondere die Amerikaner - auch die humanitären Grundsätze dieser Rechtsordnung betroffen waren - und welche Nachteile dies für die betroffenen Personengruppen nach sich zog. Ein weiteres Problem stellten die Demontagen dar, soweit sie nicht aus Sicherheitsgründen erfolgten, sondern als Reparationsleistung angesehen wurden. Die Absetzung der Regierung Dönitz führte hier dazu, daß die Alliierten sich selbst die Möglichkeit nahmen, eine völkerrechtlich verbindliche vertragliche Grundlage für ihre Reparationsforderungen zu erhalten. I. Die Internierung von Zivilpersonen ("automatic arrest") I.1. Zielrichtung und Durchführung der Zivilinternierung Während die amerikanischen Truppen im März und April 1945 im Zuge ihrer militärischen Offensive den Rhein überschritten und immer tiefer ins Landesinnere vordrangen, begann die Abwehrorganisation der US-Armee, das CIC (= Counter Intelligence Corps), mit umfangreichen Verhaftungen und Internierungen deutscher Zivilisten. Festgenommen wurden neben Funktionären der NSDAP und ihrer Organisationen auch Persönlichkeiten der deutschen Wirtschaft und Beamte aus allen Bereichen des Staatsdienstes. a. Zweck der Zivilinternierung. Die Verhaftungen waren das Ergebnis von Überlegungen, die in Washington bei den damit befaßten Ministerien bereits 1944 konkrete Formen angenommen hatten1. Ein Teil der in Deutschland durchzuführenden politischen Säuberungen sollte durch diese Festnahmen bereits eingeleitet werden. Dabei wollte man drei Personenkreise ganz besonders treffen: Zum einen sollten diejenigen dingfest gemacht werden, die in dem Verdacht standen, Kriegsverbrechen begangen zu haben. In diesem Zusammenhang wurden auch die Personen gleich mitverhaftet, die man als Zeugen in den geplanten Prozessen benötigte, die sich aber nicht oder nur ungern bereit fanden, freiwillig auszusagen. Die zweite Gruppe bestand aus Personen, in denen die Amerikaner eine Gefahr für die Sicherheit ihrer Truppen und militärischen Einrichtungen zu sehen glaubten, die sogenannten "Sicherheitsbedroher" ("security threats"). Der Begriff des "Sicherheitsbedrohers" war jedoch derartig weit gefaßt, daß insbesondere in der Anfangsphase der amerikanischen Besatzung - aufgrund einer bei den Amerikanern weit verbreiteten Werwolf-Furcht - diese Internierungskategorie eine zum Teil recht ausgedehnte und willkürliche Anwendung erfuhr. Die dritte und bei weitem größte Gruppe fiel in den "automatischen Arrest"2. Bereits die in den ersten beiden Jahren für die amerikanische Besatzungspolitik maßgebliche Geheimdirektive JCS 1067 vom April/Mai 1945 sie wurde erst am 17. Oktober 1945 veröffentlicht - befaßte sich in einem Abschnitt (Nr. 8) mit den zu verhaftenden Personen, insbesondere auch mit den Kategorien des "automatischen Arrestes"3. Diese Personenkreise waren im wesentlichen identisch mit denen, die bereits in der ersten Fassung von JCS 1067 vom 22. 1 2 3 Vgl. oben 1. Teil, IV. Zu den drei Kategorien vgl. Chr. Schick, Die Internierungslager, in: Broszat/Henke/Woller, Von Stalingrad zur Währungsreform, S. 302 f. Dt. Text in: W. Cornides/H. Volle, Um den Frieden mit Deutschland, S. 62 ff. 435 September 1944 genannt worden waren4. Unter der Überschrift "Als Kriegsverbrecher verdächtige Personen und Verhaftungen im Interesse der Sicherheit" wurde im Grundsatz festgelegt, wer zu internieren war: Neben Adolf Hitler auch "seine Haupt-NaziKomplizen, andere Kriegsverbrecher und all diejenigen Personen, die an der Planung oder Durchführung von Naziunternehmungen beteiligt waren, die mit Greueltaten oder Kriegsverbrechen in Verbindung standen oder zu solchen führten". Unter Sicherheitsgesichtspunkten sollten weiterhin alle Personen verhaftet werden, die das Erreichen der dem Oberbefehlshaber der US-Besatzungstruppen "gesteckten Ziele gefährden würden, wenn man sie in Freiheit ließe."5. An welchen Kriterien ein solches Sicherheitsrisiko zu bestimmen und zu erkennen war, wurde in JCS 1067 nicht geklärt. Es folgte lediglich eine Liste von Personengruppen, die in Ausführung dieser Richtlinien zu verhaften waren. Die Liste wurde noch Jahre nach dem Außerkrafttreten von JCS 1067 nicht veröffentlicht, weil die Amerikaner befürchteten, noch immer gesuchte Personen könnten dadurch gewarnt werden6. Diese Liste beinhaltete im einzelnen: Alle Amtsträger der NSDAP und ihrer Gliederungen sowie anderer nationalsozialistischer Organisationen bis hinab zum Ortsgruppenleiter, alle Angehörigen der politischen Polizei einschließlich Gestapo und SD, alle Offiziere und Unteroffiziere der Waffen-SS und alle anderen Angehörigen der anderen SSAbteilungen, alle Generalstabsoffiziere, alle Amtsträger der Polizei mit einem höheren Rang als Leutnant sowie alle SA-Führer mit Offiziersrang. Dazu gehörten weiter die führenden Amtsträger aller Ministerien und andere hohe politische Amtsträger einschließlich der Bürgermeister in den Städten und auf dem Land, Amtsträger mit einem entsprechenden Rang und all jene Personen, die eine ähnliche Stellung in der zivilen und militärischen Verwaltung der während des Krieges von Deutschland besetzten Länder innegehabt hatten. Außerdem führte die Liste alle "Nazis und Nazi- Sympathisanten" in wichtigen und Schlüsselpositionen in 4 6 5 Vgl. oben 1. Teil, IV.7.b. W. Cornides/H. Volle, ebd. Vgl. W. Cornides/H. Volle, ebd. Wirtschaftsorganisationen, Körperschaften und anderen Organisationen auf, an denen die Regierung ein Hauptfinanzinteresse gehabt habe, sowie aus der Industrie, dem Handel, der Landwirtschaft und dem Erziehungswesen, aus dem Finanz-, Justiz- und Zeitungswesen, aus Verlagshäusern und anderen Agenturen, die Nachrichten und Propaganda verbreitet hätten. Dabei sei ganz allgemein ("generally") anzunehmen, daß immer dann, wenn der Beweis des Gegenteils nicht erbracht werde ("in the absence of evidence to the contrary"), die Inhaber solcher Positionen Nazis oder zumindest Nazi-Sympathisanten seien7. Durch diese Beweislastumkehr wurde - entgegen den rechtsstaatlichen Grundsätzen "in dubio pro reo" und der Bürde des Deliktsnachweises, zumindest aber des Nachweises eines Deliktsverdachts oder Verdachts der Sicherheitsbedrohung durch die Anklage- bzw. Internierungsinstanz - der dem betreffenden Personenkreis Angehörige "prima facie" als Nazi oder NaziSympathisant betrachtet und einer entsprechenden Behandlung zugeführt, sofern ihm nicht ausnahmsweise der Beweis des Gegenteils gelang. Angesichts chaotischer Zustände in Deutschland unmittelbar nach Kriegsende und der ungeheuren Zahl an Internierten war für die meisten Internierten eine entsprechende Beweisführung so gut wie ausgeschlossen. Zur Ausführung der Internierungsanweisung erließ SHAEF im April 1945 noch ein "Arrest Categories Handbook", in dem einzelne Kategorien des "automatischen Arrestes" noch einmal spezifiziert und teilweise erweitert aufgeführt wurden8. a. Mangelnde Berücksichtigung rechtsstaatlicher Grundsätze. Max Rheinstein, in die Vereinigten Staaten emigrierter deutscher Rechtsprofessor, der nach dem deutschen Zusammenbruch für eineinhalb Jahre in der Rechtsabteilung der amerikanischen Militärregierung in Deutschland tätig war, übte nach seiner Rückkehr Kritik an den Verhaftungsund Internierungsmethoden, weil sie in keiner Weise mit dem 7 8 Liste in: RG 260/OMGUS 8/193-2/9 Vgl. "Arrest Categories Handbook", RG 260/OMGUS 44-45/8/22 437 so oft in Amerika gepriesenen Begriff von "rule of law" im Einklang standen. Rheinstein sprach von einer "... frequent disregard of the democratic principle of the rule of law by our Counter Intelligence Corps (CIC), which has often been acting in a highhanded, arbitrary manner, quite particularly due to the unfortunate personality traits of quite a few of its members, many of whom seem to have been selected solely because of their ability to speak and understand German. What is even more serious is the frequent practice of CIC as well as of certain other agencies of military government to proceed against German individuals and to subject them to serious detriments without even telling them what charges there are against them. Add to that arbitrary arrest by the military police and the constabulary and the application of thirddegree methods. Understandably, people are wondering whether a denial of the possibility of defense is democracy... . The Legal Division of OMGUS has consistently fought against such methods, but coordination among the various United States agencies is not always close enough to guarantee a complete abandonment of such abuses."9 Die Legal Division, konstatierte Rheinstein, habe beachtenswerte Erfolge erzielt. Er mußte aber gleichzeitig beinahe resignierend eingestehen: "... but the rule of completely recognized standard for dealings vernment with the German law is still not as the general of military gopopulation."10 Besonders der mangelnde rechtliche Schutz der Bevölkerung und die amerikanische Internierungspraxis war dafür ein 9 10 438 M. Rheinstein, Military Government in Germany, in: United States/Congress: Congressional Record (80th. Cong., 1st. sess.), Bd. 93, Washington, D.C. 1947, pt. 10, A 1359 ff., insb. A 1360 f. M. Rheinstein, ebd., A 1361 Beispiel. Sie ließ in Rheinstein eine äußerst kritische Einstellung zur amerikanischen Militärregierung in Deutschland entstehen. Nach seiner Einschätzung liefen die Amerikaner Gefahr, durch ihre Besatzungspraxis die Glaubwürdigkeit ihrer Kriegsziele zu verspielen, zu denen eben auch die Verwirklichung des Rechtsstaatsgedankens gehört hatte. Rückblickend auf seine Zeit in der amerikanischen Militär- regierung meint Rheinstein, daß "(a) lack of legal protection has grown up among the German population. This is not conducive to respect of the rule of law, the defense of which the democratic, peaceloving countries have proclaimed as one of their principal war aims. Nothing is more damaging to respect for our institutions than the charge of hypocrisy which can be leveled against us whenever a case of misconduct is condoned or, even more dangerous, when our own official agencies engage in practices that show a disregard for the rule of law. Military occupation is, of course, an authoritative regime which excludes, so far as it operates, democratic participation in the government. However, there is no reason why members of the subject population should not be given a chance to defend themselves against individual charges resulting in repressive measures."11 Waren die Prinzipien des "rule of law" aber erst einmal ausgeschaltet, so war der willkürlichen Handhabung besatzungspolitischer Maßnahmen Tür und Tor geöffnet. So scheinen sich die CIC-Agenten selbst an das "Arrest Categories Handbook" nur selten gehalten zu haben. Denn sehr oft orientierten sie sich allein an den Titeln der zu inhaftierenden Personen. Der Titel "Rat"12 oder die 11 12 M. Rheinstein, The Ghost of the Morgenthau Plan, in: The Christian Century, Bd. 64, 1947, Chicago, I11., S. 428 ff., insb. S. 429 f. E.N. Peterson, The American Occupation of Germany - Retreat to Victory, S. 145 439 Bezeichnung "Stab" vor der Berufsnennung (Bsp.: Stabsarzt), ja selbst das Wort "Kreis" war oftmals alleiniger Anlaß für das CIC, diese Leute zu verhaften13. Irrtümer und Fehler (z.B. Namensverwechslungen) waren an der Tagesordnung, was in Anbetracht der viel zu allgemein gehaltenen Anweisungen und einer Verhaftungswelle von 700 Neuverhaftungen täglich über mehrere Monate hinweg14 nicht weiter verwundern kann. Die unhaltbaren Zustände in den Lagern und die Verhaftungsund Vernehmungsmethoden des CIC blieben auch der amerikanischen Militärregierung nicht verborgen. Der politische Berater General Clays, Botschafter Robert Murphy, meldete am 16. November 1945 an den Direktor des Office of European Affairs im Washingtoner Außenministerium, H. Freeman Matthews: "As you know, our military authorities have under detention about ninety thousand Germans who are security suspects or in automatic arrest categories. Many Germans are beginning to say about this, and with a certain element of truth, that they see no difference between our methods and Nazi methods in the sense that any German citizen is subject to arrest at any hour of the day or night. He may be taken away from his family, and this has happened to many thousands, and the latter are not accorded any possibility of remaining in contact with him. These Germans, of course, are given no opportunity to employ counsel. Unquestionably there is justification for the arrest of many of them. It is fair to presume, however, that with such wholesale arrests an inevitable percentage of error is bound to creep into the picture and innocent men have undoubtedly been arrested and are now imprisoned. In fact, I am told that there are cases of arrests made in the early days about which the record has been lost, our military personnel long since changed, and no one now knows why the individual was arrested."15 13 14 15 440 Chr. Schick, Die Internierungslager, S. 303 f. L. Niethammer, Entnazifizierung in Bayern, S. 256 R. Murphy an H.F. Matthews, Director, Office of European Affairs, Dep. of State, 16.11.1945; RG 84 Office of the U.S. Die Überprüfung mehrerer tausend Internierungsfälle durch die G-2 Abteilung der 7. US-Armee führte im Januar 1946 zu dem Ergebnis, die Ausführungen in den "arrest reports" könnten nicht in jeder Hinsicht als korrekt bezeichnet werden. Die Mehrzahl der "arrest reports" enthalte nur die stereotype Formulierung, der Verhaftete erkenne das ihm Vorgeworfene an und verweigere nach der Verhaftung eine Aussage. Spätere Überprüfungen hätten jedoch gezeigt, daß die Verhafteten nie die Gelegenheit erhalten hätten, irgendetwas anzuerkennen oder abzustreiten16. b. Aufrechterhaltung der Arrest-Kategorien. Schon wenige Monate nach Abschluß der vollständigen Besetzung Deutschlands mußten die Amerikaner erkennen, daß ihre Furcht vor organisiertem Widerstand, insbesondere seitens sogenannter Werwolf-Einheiten, grundlos gewesen war. Eine Aufstellung vom 14. Juli 1945 über die Zugehörigkeit der bis dahin Internierten zeigte dies deutlich. Von den bis zum 30. Juni 1945 verhafteten 31.328 Personen waren 48 Prozent Amtsträger der NSDAP, 26 Prozent Angehörige paramilitärischer Organisationen, 16 Prozent gehörten zum Geheimdienst, einschließlich Gestapo und Kriminalpolizei, 5 Prozent wurden verdächtigt, Kriegsverbrechen begangen zu haben, 3 Prozent wurden als Renegaten geführt und lediglich von 2 Prozent nahm man an, sie gehörten zu WerwolfOrganisationen17. Als die Amerikaner im September 1945 langsam einsahen, daß ihre Angst vor Vergeltungsmaßnahmen deutscher Untergrundorganisationen völlig grundlos gewesen war, und ein großer Teil der Internierten, die man als Sicherheitsrisiko angesehen hatte, nun eigentlich hätten entlassen werden müssen, sprach sich General Lucius D. Clay dennoch für eine Aufrechterhaltung der Internierungskategorien aus. Sein 6 7 Political Advisor to Germany - Berlin, Class. Gen. Corresp. of the Political Advisor, 1944-1949 (1944-1945), Box Nr. 1, Amb. Murphy's File Nov. 1944; RG 260/OMGUS POLAD/458/84 Hq. 7. US-Arrny an Hq. USFET, 3.1.1946, RG 260/OMGUS 8/193-2/9 Special Report Military Government in US-Zone Germany, USGCC, 14.07.1945, Nr. 1 (Brig. Gen. T.J. Betts, USGCC, Intelligence Division); RG 107 ASW 370.8 Germany (Zone - U.S.) 441 Motiv: Er befürchtete ein Eingreifen entlassener Internierter in den begonnenen "Demokratisierungsprozeß" und ein Stören der geplanten Wahlen. Er empfahl, die Internierungskategorien nicht zu ändern, die bereits Internierten weiterhin festzuhalten und die Verhaftung in den "automatischen Arrest" fallender Deutscher fortzusetzen18. Ganz anders sah der amerikanische General Patton, von seinen Landsleuten als der Kriegsheld des Zweiten Weltkriegs angesehen, das Internierungsproblem. Auf einer Sitzung der Kommandeure mit General Clay forderte er schon am 27. August 1945 die Entlassung Zivilinternierter, von denen viele schon alt oder auch schwanger seien19. Auch bei einem Besuch im Internierungslager Garmisch am 8. September 1945 konnte Patton kein Verständnis für die Arrestierung dieser Menschenmassen aufbringen20. Er stand der ganzen Entnazifizierungspolitik der Amerikaner ohnehin sehr kritisch gegenüber, was ihn nach einer unbedachten, vielleicht durch die US-Presse aber auch besonders zugespitzt wiedergegebenen und hochgespielten Äußerung seine Stellung kostete21, so daß er sich nicht länger für die Zivilinternierten verwenden konnte. Am 21. Dezember 1945 kam er bei einem Autounfall ums Leben. Fast drei Jahre nach Beginn der amerikanischen Internierungsmaßnahmen, im März 1948, machten Vertreter der beiden christlichen Kirchen in Deutschland - Martin Niemöller für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau sowie die Bischöfe von Mainz und Limburg - die US-Behörden darauf aufmerksam, 18 19 20 21 442 Gen. L.D. Clay, Hq. USGCC, an Gen. Conrad, Acting Director of Intelligence, Memo., 11.09.1945; RG 260/OMGUS 44-45/8/22 Hq. USGCC, "Third Meeting of the Deputy Military Governor with Army Commanders", 27.08.1945; Abs. Nr. 9; RG 260/OMGUS 3/153- 1/9 Vgl. K. Vogel, M-AA 509, S. 78, demzufolge Patton gesagt haben soll: "Mad, to intern such people." Vgl. L. Niethammer, Die amerikanische Besatzungsmacht zwischen Verwaltungstradition und politischen Parteien in Bayern 1945, in: VfZG 1967, S. 153 ff., insb. S. 184 f., 200 f., 205 ff.; E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany 1944- 1946, S. 384 ff. "... daß die meisten Internierten nicht deshalb in Haft sind, weil sie persönlich unter dem dringenden Verdacht von Handlungen stehen, die nach dem Befreiungsgesetz schweren Sühnemaßnahmen unterworfen sind; sondern sie sind lediglich deshalb, weil sie bestimmte Ämter oder Ränge innehatten, in sogen. 'automatischem Arrest'. Es handelt sich hierbei nicht um Spitzenführer der nat. soz. Organisationen, sondern um deren breite Mittelschicht bis hinunter zum SSUnterscharführer . "22 Eingeliefert wurden die Verhafteten in speziell dafür errichtete Internierungslager. In Dachau wurde das dortige Konzentrationslager für diesen Zweck wiederverwendet. Die unterschiedlich großen Lager waren über die gesamte US-Besatzungszone verstreut. Im Januar 1946 waren es 21 Lager, von denen 14 der 7. US-Armee unterstanden, die übrigen 7 Lager der 3. US-Armee23. Einige der kleineren Lager wurden in der Folgezeit geschlossen, andere (z.B. das Lager Darmstadt) neu errichtet. Zahl der Zivilinternierten. Wieviel Zivilisten von den USTruppen in der Zeit von 1945 bis 1948 insgesamt interniert wurden, läßt sich heute nicht mehr genau feststellen. Das liegt vor allem daran, daß das CIC sich als Geheimdienst wenig informationsfreundlich zeigte und deshalb auch keine Verhaftungsund Internierungszahlen veröffentlichte. Das einzig aufschlußreiche Zahlenmaterial stammt aus den Unterlagen der amerikanischen Militärregierung in Deutschland (OMGUS). Die amerikanische Militärregierung hatte jedoch zunächst selbst und unmittelbar weder etwas mit den Verhaftungen noch mit dem Betrieb der Internierungslager zu tun. Denn das CIC gehörte zur Generalstabsabteilung der US- Armee (G—2 USFET) für das Nachrichtenwesen (sog. Intelli d. 22 23 Schreiben der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der Bischöfe von Mainz und Limburg an den Direktor der Militärregierung in Wiesbaden, Betr.: "Politische Säuberung", 5.3.1948; RG 260/OMGUS 8/214-3/12 Hq. Theater Service Forces European Theater, Memo., "Civilian Internment Camp List",5.1.1946; RG 260/OMGUS POLAD/813/37 443 gence Section) und war von der US-Militärregierung somit weitestgehend unabhängig. Diesen Zustand beklagte im April 1946 selbst der Direktor der OMGUS-Rechtsabteilung, Charles Fahy, in einem Schreiben an General Clays politischen Berater, Botschafter Robert Murphy. Fahy beschwerte sich besonders darüber, daß die Rechtsabteilung der amerikanischen Militärregierung keine Verantwortlichkeit für die Internierungen und die in diesem Zusammenhang vom CIC angewandten Methoden habe. Über längere Zeit hinweg habe es eine Anzahl ernsthafter Klagen ("serious complaints") über die Methoden des CIC gegeben24. Nach einem OMGUS-Bericht sind in der ganzen US-Zone bis zum 6. Dezember 1945 117.512 Personen interniert worden25. Diese Zahl gilt in der historischen Literatur bisher als höchster Stand der Arrestpolitik, da 1946 über die Hälfte der Lagerinsassen entlassen worden seien26. Die freigegebenen OMGUS-Akten sprechen allerdings von bedeutend höheren Internierungszahlen: So teilte im Dezember 1946 das Hauptquartier der 3. US-Armee dem Kommandierenden General der US-Streitkräfte in Europa, General McNarney, mit, US- Truppen und CIC hätten bis dahin über 150.000 Verhaftungen allein innerhalb der "Automatic Arrest"-Kategorien vorgenommen27. Wieviel Personen darüber hinaus als "SicherheitsBedroher" und als "Kriegsverbrecher" interniert wurden, blieb dabei offen. Einen Fingerzeig auf die Gesamtzahl gibt ein Memorandum, das Charles Fahy, der verbunden mit seiner Tätigkeit als Direktor der OMGUS- Rechtsabteilung auch als General Clays Rechtsberater fungierte, dem Stellvertretenden Militärgouverneur im Mai 1946 zukommen ließ. Darin teilte er General Clay mit, die einzige Information, die er von der zuständigen Stelle der USArmee hinsichtlich der in US-Gewahrsam befindlichen 24 25 26 27 444 Ch. Fahy an R. Murphy, 29.4.1946; RG 2 6 O/OMGUS POLAD/814/35 Memo., "Arrest and Internment of influential Nazi-supporters and high officials", o.D., RGy 260/OMGUS 15/128-3/11 Vgl. L. Niethammer, Entnazifizierung in Bayern, S. 255; Chr. Schick, Die Internierungslager, S. 304, meint, mit "rund 100.000 Personen erreichte die Zahl der Internierten Ende 1945 ihren Höhepunkt." Hq. 3. US-Army an Commanding General USFET, Dec. 1946; RG 260/OMGUS 15/128-3/11 Personen erhalten habe, sei die Bezifferung der Gesamtzahl der Internierten aller Kategorien auf 192.088 Personen. Fahy führte diese, in ihrer Höhe von ihm scheinbar nicht erwartete Zahl darauf zurück, daß deutsche Kriegsgefangene nach ihrer Entlassung als Zivilisten erneut interniert worden seien28. Diese Einschätzung entspricht ganz offensichtlich auch den historischen Tatsachen. Denn schon im März 1946 hatte USFET die Entwicklung der Interniertenzahlen folgendermaßen vorausgesagt: Aufgrund der Entlassung deutscher Kriegsgefangener sei im März und April 1946 mit jeweils 20.000, im Mai mit 30.000 und im Juni nochmals mit 20.000 neuen Zivilinternierten zu rechnen29. Bedenkt man allein diese Planungen für einen Zivilinterniertenzuwachs um rund 90.000 Personen innerhalb von nur vier Monaten des Jahres 1946, und nimmt man die von Charles Fahy im Mai 1946 genannte Zahl von 192.088 hinzu, so ergibt sich, daß die Gesamtzahl der im Laufe der Jahre von 1945 bis 1948 irgendwann einmal internierten Zivilpersonen (Männer und Frauen) in der US-Zone Deutschlands bei weit Uber 200.000 lag. 1.2. Die Lebensbedingungen in den Zivilinterniertenlagern Bei einer so hohen Zahl Zivilinternierter und angesichts einer in ganz Deutschland herrschenden Not an Nahrungsmitteln und Bekleidungsstücken ließen die Lebensbedingungen in den Internierungslagern viel zu wünschen übrig, insbesondere was die Unterbringung und die medizinisch-hygienische Versorgung der Internierten anbetraf30. a. Äußerung von Robert Murphy. Die größtenteils katastrophalen Lagerbedingungen waren den amerikanischen Behörden 28 29 30 Ch. Fahy an Gen. L.D. Clay, Memo., 13.5.1946; RG 260/OMGUS 17/532/3 Hq. USFET an Commanding General 3. US-Army, "Subject: Civilian Internment Camps", 22.3.1946; RG 260/OMGUS 11/5-3/28 Vgl. zu den Lebensbedingungen im Lager Darmstadt und die Diskussion mit dem IKRK: Schöbener, Dokumentation einer Kontroverse: Die Bemühungen des Internationalen Roten Kreuzes 1946/47 um den völkerrechtlichen Schutz deutscher Zivilinternierter in der US-Zone, in: Die Friedens-Warte, Bd. 68 (1990), S. 140 ff.. 445 nicht unbekannt; oftmals mußten sie jedoch erst auf die näheren Umstände aufmerksam gemacht werden, bevor eine Besserung eintrat. So erging es beispielsweise dem politischen Berater der USMilitärregierung, Botschafter Robert Murphy, mit einem Camp in der Nähe von Frankfurt. Murphy hat das später so geschildert: "Einige Beamte von OMGUS konnten, als sie sich den Deutschen als Herren über Leben und Tod gegenübersahen, oft der Versuchung nicht widerstehen, Gott zu spielen. ... Wir fuhren zu einem amerikanischen Internierungslager in einem der Vororte, in dem 'kleine Nazis' festgehalten wurden und auf ihre Einstufung warteten - ehemalige Parteimitglieder, die in der Parteiorganisation unbedeutende Posten bekleidet hatten, darunter sogar Putzfrauen von Parteidienststellen. ... Überrascht mußte ich feststellen, daß unsere Gefangenen fast ebenso schwach und ausgemergelt waren wie die, die ich in den Nazilagern gesehen hatte. Der jugendliche Lagerkommandant erzählte uns gelassen, daß er die Insassen mit Absicht auf Hungerration gesetzt hatte: 'Die Nazis sollen ihre Methoden am eigenen Leib zu spüren bekommen.' ... Ein anderes Mal erfuhren wir, daß ein NSKonzentrationslager, mit allem zum Erpressen von Geständnissen Notwendigen ausgerüstet, nun unter amerikanischer Regie weiterexistierte. Ein übereifriger amerikanischer Nachrichtenoffizier hatte erkannt, wie gut man mit Hilfe der Nazimethoden die Nazis selbst dazu bringen konnte, ihre Verbrechen einzugestehen."31 Zwar wurde der uneinsichtige Lagerkommandant versetzt und auch der Nachrichtenoffizier mußte seine Tätigkeit einstellen, doch handelte es sich dabei um Einzelfälle, die mehr oder weniger zufällig in die oberen Amtsstuben von OMGUS durchgedrungen waren. Die meisten Mißstände wurden offensichtlich gar nicht publik. a. Das Internierungslager Darmstadt im Winter 1946/47. Ein Lager, das erst relativ spät errichtet wurde, aber schnell Murphy, Diplomat unter Kriegern, S. 359 zu einem der größten in der ganzen US-Zone werden sollte, war das Lager Darmstadt. Dieses Lager wurde erst am 1 6 . Februar 1946 in Betrieb genommen, galt aber schon bald als eines der schlechtesten in der US-Zone und beherbergte teilweise bis zu 28.000 Internierte32. Im Oktober und November 1946 übergab die US-Armee die Mehrzahl der von ihr bis dahin betriebenen Internierungslager in die Verantwortung der deutschen Landesbehörden. Die Amerikaner behielten sich jedoch die Entscheidung darüber vor, ob und welche Internierten entlassen werden durften. Grund des Transfers war zum einen, daß die Amerikaner die hohen Interniertenzahlen organisatorisch nicht mehr bewältigen konnten, zum anderen, daß das "Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" (sog. Befreiungsgesetz) die sogenannte Entnazifizierung zunächst einmal in deutsche Hände gelegt hatte, und der größte Teil der Internierten nach Ansicht der Amerikaner mit einer Bestrafung aufgrund dieses Gesetzes rechnen mußte33. Es wurden aber nicht alle Internierten den deutschen Behörden überstellt. In amerikanischer Hand blieben insbesondere diejenigen, die man eines Kriegsverbrechens verdächtigte und diejenigen, die in den Prozessen als Zeugen auftreten sollten. Sie wurden im Lager Dachau und im Lager 74 in Ludwigsburg weiterhin von den Amerikanern festgehalten. In einem Teil des Lagers Darmstadt blieben nichtdeutsche Internierte ebenfalls in US-Gewahrsam34. Der größte Teil des Lagers Darmstadt ging jedoch am 1. November 1946 in die Verantwortlichkeit der hessischen Landesregierung über. Diese neu gewonnene Zuständigkeit versetzte die deutschen Behörden nun erstmals in den Stand, die Zustände in den Lagern überprüfen zu lassen35. Zwischen 32 33 34 35 E. Kogon, Der Kampf um die Gerechtigkeit, Frankfurter Hefte 2 (1947), S. 373 ff., insb. S. 375 Chr. Schick, Die Internierungslager, S. 309 ff. Chr. Schick, ebd., S. 312 Ob vorher bereits Untersuchungen durch US-Behörden stattgefunden haben, ist nicht bekannt, muß aber bezweifelt werden. Bezeichnend für das Desinteresse der Amerikaner ist, 447 dem 16. und dem 24. Dezember 1946 wurden deshalb im Lager Darmstadt insgesamt drei Inspektionen durch die Medizinalabteilung, Dezernat Hygiene, des hessischen Ministeriums des Innern durchgeführt. Die von diesen Untersuchungen angefertigten Berichte stammen von Dr. K.H. Böhler (16.12.), Dr. Krey (19./20.12.) und Prof. Dr. von Drigalski (24.12.)36. Das Lager bestand aus einer Gruppe von Massivgebäuden, die die Verwaltung, Spruchkammer, Hospital und dergleichen beherbergten, und einem hufeisenförmig gruppierten Zeltlager. Von den 11.000 Internierten im Dezember 1946 entfielen 280 auf die Verwaltung und 2400 auf das Hospital (2000 Kranke und 400 Personal). Beide Gruppen waren in den Massivgebäuden untergebracht, in Kasernengebäuden, die den hygienischen Anforderungen entsprachen. Das Gros der Internierten war jedoch in den Zelten einquartiert (ca. 8.200 Personen), in einwandigen amerikanischen "Sommerzeiten" von unterschiedlicher Größe, die von jeweils 6 bis 10 bzw. von 14 bis 20 Internierten bewohnt wurden. Die Inneneinrichtung dieser Zelte gibt der Bericht vom 19./20. Dezember 1946 folgendermaßen wieder37: "Die Zeltunterkünfte nur spärlich beleuchtet, beheizt planmäßig mit nur einem 'Bunkerofen', hie und da ergänzt durch einen zweiten Behelfsofen (BenzinfaßImprovisation feldmäßiger Art)". In Anbetracht des mit großer Kälte hereingebrochenen Winters war die Frage einer ausreichenden Beheizung der Zelte natürlich ein zentrales Problem. Zunächst war pro Kopf und Monat ein viertel Meter Holz ausgegeben worden. Davon wurden jedoch daß selbst der US-Stadtkommandeur von Darmstadt bis zum Januar 1947 keinerlei Veranlassung sah, sich selbst durch einen Besuch des Lagers ein Bild von den dortigen Lebensbedingungen zu machen. Vgl. "thumb-nail-sketch" Gen. Keatings an Gen. Clay vom 6.1.1947 über seine Beobachtungen im Lager Darmstadt, RG 260/OMGUS 17/162-1/11 36 Bericht Dr. K.H. Böhler: "Trip Report" der Inspektion vom 16.12.1946; Bericht Dr. Krey:" Das Interniertenlager Darmstadt am 19./20.12.46 in hygienischer Begutachtung" vom 21.12.1946; Prof. Dr. von Drigalskis "Bericht über die Besichtigung des Interniertenlagers Darmstadt am 24.12.1946"; alle Berichte: RG 260/OMGUS 8/57-1/30 37 Die folgenden Ausführungen nach dem Bericht von Dr. Krey, ebd.; RG 260/OMGUS 8/57-1/30 448 sogleich Kontingente einbehalten, die der einzelne Internierte für Küche, Krankenrevier, Brausebad und andere Gemeinschaftseinrichtungen sowie als "Sparholz" zur Verfügung stellen mußte, so daß für die reine Zeltbeheizung nur eine beschränkte Menge Holz verblieb, die "die Beheizung des Zeltes nur für einige Tagesstunden zuließ". Aufgrund des Frosteinbruchs und nachdem die Lagerärzte und "Vertrauensleute" beim Lagerleiter vorstellig geworden waren, um ihn auf die Mißstände aufmerksam zu machen, wurde ab dem 16. Dezember 1946 die nahezu doppelte Menge Holz ausgegeben, wodurch eine Zeltbeheizung wenigstens für 6 bis 8 Stunden täglich möglich wurde. Daß aber auch diese Rationen noch völlig unzureichend waren, um der Kälte einigermaßen widerstehen zu können, zeigt der Bericht vom 19./20. Dezember auf: "Der Beheizungseffekt ist - angesichts und infolge des Fehlens jeglicher Wärmeisolation - während dieser Tagesbeheizung nur beschränkt, über Nacht aber sofort und stark abkühlend: Die von mir persönlich gegen 16 Uhr festgestellte Eiskruste an der Zelt- Innenwand macht die von Dr. Böhler notierte Innentemperatur eines Zeltes von Minus 5-6 Grad vormittags glaubhaft; nach Angabe des Vertrauensarztes des Teillagers III soll die Frühtemperatur in einem Zelt seines Camps im Laufe dieser Woche 17 Kältegrade, d.h. praktisch die Außen- Lufttemperatur erreicht haben. Praktische Maßstäbe für die in den Zelten herrschende Untertemperatur bzw. die nächtliche Unterkühlung ist die glaubwürdige Ärzte-Angabe, daß der Kaffee im Kaffeekrug in den letzen Eine weitere Verschärfung der Lage ergab sich daraus, daß die Internierten neben der völlig unzulänglichen Zeltbeheizung auch nicht mit ausreichend Winterbekleidung ausgerüstet waren: 38 Krey-Bericht, ebd. 449 "1/3 der Internierten ohne Mantel, alle im allg. nur eine Bekleidungsgarnitur und mangelhafte, trotz beschränkter amerikanischer Zuteilung noch lückenhafte Wärmeausstattung: nur geringe Ausgabe besonderer Winterbekleidung, vor allem auch keinerlei Reparaturmöglichkeiten (Stopfwolle, Zwirn, Nähzeug u. dgl.). Infolge dieser Zeltbedingungen haben sich die Internierten z.B. der Camps II und III seit 5 Wochen nicht ausgezogen; nach Angabe der Ärzte herrscht daher eine 'krankhafte Verschmutzung'! Ein 25/tel aller Internierten, d.h. heute 4-600 haben Hautkrankheiten allgemeiner Art. ..."39 Der Bericht merkt weiter an, daß bei diesem Zustand des Zeltlagers eine jeden Tag mögliche Verseuchung des Lagers nach Auffassung des Lageramtsarztes eine "sehr ernste Sache" wäre. Die Seuchengefahr bestehe insbesondere auch "infolge der verminderten Widerstandsfähigkeit, der depressionsbedingten Apathie, der Verschmutzung, der Kreislaufschwächung und sonstiger Mangelerscheinungen sehr vieler Internierter". Diese Mangelerscheinungen konnten auch nicht durch eine Kalorienzahl von (netto) 1500 überwunden werden, weil es vor allem an der Zufuhr von Fett und animalischem Eiweiß fehlte. Die Ärztekonferenz des Lagers verzeichnete 178 Fälle mit Hungerödemen und ungefähr 800 Fälle mit allgemeinen "Mangel-Ödemen". Die Krankmeldungsziffer betrug zum Zeitpunkt der Untersuchungen im Dezember 1946 durchschnittlich 150 bis 200 Neukranke am Tag. Die Krankenbetten im Lazarett und in den Krankenrevieren bezeichnet der Bericht als "so überbelegt bzw. unzureichend, daß ca. 5-600 eigentliche Hospitalfälle, d. h. fieberhaft Kranke noch in den Zelten liegen". Aber auch diejenigen, die noch einen Platz auf einer Krankenstation bekamen, mußten weiterhin unter den völlig unzulänglichen Lagerbedingungen leiden. Dr. K. H. Böhler weist in seinem Bericht über seinen Inspektionsbesuch am 16. Dezember 1946 darauf hin40, die Krankenstationen seien in "tropischen Hütten" ("tropical huts") untergebracht, und 39 40 450 Krey-Bericht, ebd. Böhler-Bericht, ebd. die Kälte lasse die Medikamente einfrieren. Es gebe auch keine speziellen Stroh-Matratzen für die Patienten, die ihre Matratzen aus den Zelten mitbringen müßten. Die sanitären Bedingungen seien völlig inadäquat. In den Krankenstationen von Camp I gebe es kein Holz, um Sitze für die Toiletten zu machen, so daß die Patienten auf der nackten Stein-Auskleidung ("bare stone lining") sitzen müßten. Patienten mit Magengeschwüren könnten nicht versorgt werden, da gesagt worden sei, das Kochen einer Spezialdiät sei nicht möglich. Dr. Krey von der Medizinalabteilung kam vor dem Hintergrund dieser Verhältnisse zu dem Fazit41: "Das augenblickliche Mißverhältnis zwischen Kranken, nicht zu rechnen die in Rechnung zu stellenden Frostschäden, sonstige Kälteauswirkungen (Lungenentzündung, Blasenkatarrh, Nierenentzündungen) und etwaige Seuchenkranken einerseits, der Bettenzahl in Krankenrevier und Hospital andererseits ist seitens der Gesundheitsbehörde nicht länger zu verantworten." Die beiden Berichte über die Zustände im Lager Darmstadt, die anläßlich der Visiten vom 16. und 19./20. Dezember 1946 angefertigt worden waren, wurden mit Schreiben vom 23. Dezember 1946 der Amerikanischen Militärregierung für Groß- Hessen (OMGH) in Wiesbaden zugeleitet. In diesem Schreiben wies Dr. Krey noch auf einige weitere Mißstände hin42: So verfügten die Lager II und III über keine eigene Dusche, da die Duschen dieser beiden Teillager dem noch von den Amerikanern betriebenen Lager in Darmstadt zugeteilt worden seien. Die körperliche Hygiene der Internierten sei in den letzten Wochen darüber hinaus auch deshalb nachteilig betroffen gewesen, weil das tägliche Waschen und das Säubern der Wäsche infolge des Mangels an Wasser und Seife weitestgehend verhindert worden sei. Dabei sei die Wäsche aufgrund der weiten Verbreitung von Blasenentzündungen 41 42 Krey-Bericht, ebd. Großhessisches Staatsministerium, Der Minister des Innern, Medizinalabteilung, Dezernat Hygiene, an das Office of Military Government for Greater Hessen, Public Health Branch, vom 23.12.1946; RG 260/OMGUS 8/57-1/30 451 extrem verschmutzt. Die Zeltbewohner hätten ihre Wäsche und ihre übrige Kleidung seit Wochen nicht mehr gewechselt. Außerdem gebe es weder Toilettenpapier noch einen Ersatz dafür, wie z.B. Zeitungspapier. Es bestehe daher sowohl die Gefahr der Infektion mit Darmbakterien als auch die Gefahr des Ausbruchs einer GrippeEpidemie, die dann wie ein "Prärie-Feuer" die Lagerinsassen erfassen werde. Einen Tag nach diesem Schreiben an die Amerikanische Militärregierung von GroßHessen, am Heiligabend des Jahres 1946, erfolgte noch eine dritte Inspektion des Darmstädter Lagers. Durchgeführt wurde diese Untersuchung von Ministerialrat Prof. Dr. von Drigalski. Sein erster Eindruck, "es stünde gar nicht so schlimm", änderte sich schnell, nachdem er feststellen mußte, "daß höchst bedenkliche Schäden durch Unterernährung nachweisbar waren"43: "Die Mehrzahl war ausgesprochen mager und sah dürftig aus. Bei näheren Untersuchungen finden sich aber ganz bedrohliche Erscheinungen, insbesondere ein Schwund der Hoden bis auf 1/3. Dieses Symptom habe ich im 1. Weltkrieg bei den zahlreichen russischen Kriegsgefangenen kaum gesehen." (Den Hodenschwund der Internierten bezeichnete der Chefarzt der Lagerselbstverwaltung, Dr. Pfaff, in seinem Bericht vom selben Tag als "trockene Kastration". 44 Anerkennend vermerkte Professor von Drigalski in seinem Bericht, daß die Internierten verhältnismäßig ruhig, meist höflich und durchaus zu Auskünften bereit gewesen seien, obwohl ihm die allgemeine Stimmung im Lager als "bedrohlich" geschildert worden sei. Überall herrsche auffällig große Sauberkeit. Die Latrinen seien größtenteils zugefroren und zum Teil wegen Vereisung nicht benutzbar. Trotz starker Verschmutzung täten die Internierten für ihre Sauberkeit was nur irgend möglich sei. Die äußeren Umstände, vor allem die anhaltende Kälte, waren für die 43 44 452 Die folgenden Ausführungen nach dem Bericht von Prof. Dr. von Drigalski; RG 260/OMGUS 8/57-1/30 Dr. Pfaff, "Wöchentlicher Bericht" vom 24.12.1946; RG 260/OMGUS 8/57-1/30 Vornahme von Hygienemaßnahmen jedoch mehr als schlecht: "In den Waschbaracken war das Wasser noch größtenteils zugefroren. Große Eismassen waren beseitigt, der Boden noch dick mit Glatteis bedeckt. Einige Wasserstrahlen, aufgetaut, liefen wieder und die Leute versuchten sich zu waschen; das gleiche versuchten sie in den Zelten. Die Hautbeschaffenheit war daher nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte". Ihren Einfallsrelchtum bewiesen die Internierten bei Einrichtung der Zelte und deren Beheizung. Professor Drigalski schildert seine Eindrücke so: der von "Von den Zeltdecken waren die Eisbeläge entfernt. Trotzdem froren sie wieder an und begannen bei steigender Wärme zu tauen, und das Wasser lief in die Betten. So haben verschiedene ein Dach über das Bett gemacht, weil sie sonst unter einem künstlichen Regen schlafen würden. Überall Erneuerung und Verbesserung der Öfen. In den meisten Zelten ziemlich viel Holz. Woher die Leute sich die Mittel zu einer relativen Wohnlichmachung der Zelte beschafft haben, bleibt unerklärlich. Tausende von Kanistern waren sehr geschickt den Öfen angebaut worden". In den ebenfalls äußerst sauberen Lazaretten fand Professor von Drigalski eine Gesamtbelegung von 2055 Personen gegenüber einer planmäßigen Zahl von rund 1000. In den letzten beiden Wochen seien vor allem Kollapse zu verzeichnen gewesen, "die Leute fallen plötzlich zusammen". 200 Fiebernde und weitere 200 Herzkranke, Rheumatiker und Patienten mit Blasenentzündungen (darunter eine Anzahl dauernder Bettnässer) lagen in den Lazaretten noch in Zelten. Die Zahl der Lagerunfähigen gibt Professor von Drigalski in seinem Bericht mit 2239 an, darunter 60 Amputierte, 129 Hirnverletzte, 225 Kriegsverletzte, 416 über 60jährige mit Alterskrankheiten und 1409 Personen wegen Asthma, Tuberkulose, Herz-, Kreislauf-, Magen- und Darmkrankheiten. Am 23. Dezember seien davon erst 78 zur 45 Drigalski-Bericht, ebd. 453 Entlassung genehmigt Schwerstkranke)46. worden (56 Geisteskranke, 22 Der evangelische Theologe Professor Helmut Thielicke war einer der wenigen, der diesen Zuständen im Internierungslager Darmstadt mit der Kraft seines in ganz Deutschland und teilweise auch bei den Besatzungsmächten gehörten und respektierten Wortes entgegentrat und auch für die Internierten Gerechtigkeit forderte. In seiner mutigen Predigt am Karfreitag 1947 in der Stuttgarter Markuskirche nahm er sich unter anderem auch der körperlichen und geistigen Not der Internierten mit Hingabe an: "Ich sprach kürzlich in dem politischen Internierungslager Darmstadt, in dem über 10.000 Männer die wilde Kälte dieses Winters fast schutzlos in Zelten überstehen mußten. Ich durfte als einer da hindurchgehen, der in die Verzweiflung der Seele, in die Pein der Leiber und in zertrümmerte Hoffnungen das Evangelium des Heilandes und den Trost des Kreuzes sprach. Aber ich würde die Botschaft dieser Stunde Lüge strafen, wenn ich nicht öffentlich für die Beleidigten und Erniedrigten im Namen dieses Heilandes eintreten wollte. Sie sind dort gefangen - weithin ohne Richterspruch, Greise und Jünglinge, zum Teil in automatischer Haft, Schuldige und Unschuldige, menschenunwürdig und 47 seelenmörderisch". 1. 3. Bemühungen des IKRK um den völkerrechtlichen Schutz der Zivilinternierten In Anbetracht der katastrophalen Zustände im Lager Darmstadt wandte sich die Lagerselbstverwaltung, voran der Vertrauensrat der internierten Ärzte, am 20. Dezember 1946 in einem Brief an den Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf48, um ihn zu 46 47 48 454 Drigalski-Bericht, ebd. Von Prof. Thielicke autorisierter Abdruck der Predigt als Kopie vorhanden in RG 260/OMGUS 8/3-1/4 Schreiben der Lagerselbstverwaltung vom 20.12.1946 an das IKRK; RG 260/OMGUS 8/57-1/30 bitten, sich mit den Lebensbedingungen im Lager Darmstadt zu befassen. Nach einer knappen Schilderung der Zustände appellierten sie an das IKRK: "Das Lager ist schwerstes Notstandsgebiet geworden! ... Helfen Sie den Internierten in ihrer körperlichen und seelischen Not! Entsenden Sie schnellstens eine Kommission nach Darmstadt, und überprüfen Sie die einer Katastrophe entgegentreibende Lage!" Die Lagerärzte gingen wohl davon aus, dem Internationalen Roten Kreuz könne es aufgrund seiner international anerkannten Stellung als - wie die Ärzte selbst formulierten - "größten und stärksten weltlichen Organisation im Dienste reinster Menschlichkeit" nicht schwer fallen, bei den zuständigen Stellen eine Besuchserlaubnis für das Lager Darmstadt zu erhalten. Diese Einschätzung war jedoch - wie sich heraussteilen sollte - verkehrt. a. Erstes Gespräch von IKRK-Vertretern mit der US-Militär- regierung, September 1946. Denn bereits am 27. September 1946, also vor der Übergabe der Lager an deutsche Behörden, hatten zwei Repräsentanten des IKRK den US-Militärbehörden einen Besuch abgestattet49. Anlaß dieses Besuches waren die mittlerweile auch zum Internationalen Roten Kreuz durchgedrungenen Gerüchte über schlechte Zustände in den Internierungslagern in der US-Zone, aber auch die Praxis des CIC, eine große Anzahl der deutschen Kriegsgefangenen direkt nach ihrer Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft als Zivilisten erneut zu verhaften. Die IKRK-Vertreter wiesen zunächst darauf hin, das Internationale Rote Kreuz wisse sehr wohl, daß die Zivilinternierten nicht durch die Genfer Konvention geschützt seien und eine GefangenenKategorie bildeten, über die man bei Schaffung der Genfer Konvention im Jahre 1929 nicht nachgedacht habe. Dennoch fühlten die Internierten, daß sie als vorherige Feindstaaten-Angehörige ("exenemy nationals"), arrestiert von einer der Besatzungsmächte, dem Verfahren nach ("technically") als 49 General White, Deputy Chief of Staff, "Memorandum for the record" vom 27.9.1946, RG 260/OMGUS 3/167-2/23 455 Kriegsgefangene angesehen werden müßten, und dem Internationalen Roten Kreuz deshalb gestattet werden sollte, Internierungslager zu besuchen. Die Franzosen und Briten, stellte einer der beiden Rot-Kreuz-Vertreter fest, hätten für ihre Zonen ihre Zustimmung bereits erteilt, und das Internationale Rote Kreuz wünsche, ihm die gleiche Autorität auch in der US-Zone zu gewähren. Es habe einige Kritik an den Lagerbedingungen gegeben, und es sei deshalb vorteilhaft, wenn sie von einer neutralen und internationalen Kraft wie dem IKRK besucht würden. Der Gesprächspartner der beiden IKRK-Repräsentanten, US-General White, trat diesem Ansinnen des Roten Kreuzes jedoch nachdrücklich entgegen. Diese. Angelegenheit, so White, sei bei den zuständigen US-Behören bereits diskutiert worden. Aber weder General McNarney noch sein Stellvertreter, General Clay, seien willens, irgendeine Verantwortlichkeit oder Verpflichtung des Internationalen Roten Kreuzes in Verbindung mit den Zivilinternierten anzuerkennen. Gegenwärtig (im September 1946) werde man solchen Besuchen jedenfalls nicht zustimmen. Außerdem wies White zur Begründung der amerikanischen Position zu dieser Frage noch darauf hin, daß die meisten Interniertenlager in der Folgezeit in deutsche Hände übergeben werden sollten. Wenn die Internierten aber erst einmal unter deutsche Regierungsautorität fielen, dann hätten sie denselben Status wie jeder andere Zivilgefangene, der von irgendeiner Regierung festgehalten werde. Das IKRK habe dann keine weitere Verantwortlichkeit oder Autorität auf diesem Gebiet wie in den Vereinigten Staaten oder Frankreich auch, wenn es dort verlange, zivile Gefängnisse oder Strafanstalten zu inspizieren. Trotz dieser enttäuschenden Antwort General Whites brachten die beiden Männer des IKRK aber auch ihr weiteres Anliegen noch zur Sprache: die zivile Internierung deutscher Kriegsgefangener. Sie machten White klar, daß das Internationale Rote Kreuz sehr beunruhigt sei über das Verfahren der Entlassung der Kriegsgefangenen und ihre unmittelbare Wiederverhaftung und Zurückhaltung als Zivilinternierte. Dies sei eine Verletzung der Bestimmung der Genfer Konvention, die den Kriegsgefangene festhaltenden Staat verpflichte, dem Kriegsgefangenen alle seine Rechte und Privilegien bis zu dem Zeitpunkt zu erhalten, zu dem er nach Hause gebracht und entlassen werde. Aber auch diese Argumente wollte White nicht gelten lassen. Die Repatriierung und Entlassung deutscher Kriegsgefangener, so White, sei bei den Amerikanern weiter fortgeschritten als bei irgendeiner anderen Macht. Auch könne die Amerikaner niemand daran hindern, Kriegsgefangene zu entlassen und sie an der nächsten Ecke als Zivilisten erneut festzunehmen, wenn sie in eine der "ArrestKategorien" fielen50. b. Zweites Gespräch von IKRK-Vertretern mit der US- Militärregierung, November 1946. Am 4. November 1946 versuchten zwei weitere Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes ihr Glück bei General White51. Die Anworten, die sie erhielten, waren jedoch ebenso unbefriedigend wie einige Wochen zuvor. Die mittlerweile unter deutscher Verwaltung befindlichen Lager durften sie nicht besuchen, weil diesen angeblich der "internationale" Status fehlte. Die von den US-Behörden noch immer betriebenen Zivilinternierungslager durften sie nicht besuchen, weil die Zivilinternierten keinen KriegsgefangenenStatus hatten. Dem Internationalen Roten Kreuz waren somit die Hände gebunden, die Hoffnung der Internierten auf Hilfe von dieser Seite war vergebens. Scheinbar waren die beiden IKRK-Repräsentanten vom 4. November in ihrem Engagement für die Internierten zurückhaltender als ihre beiden Vorgänger. General White hielt nämlich in seiner Aktennotiz Uber den Besuch fest, die beiden hätten bekundet, die gegenwärtige Position der Amerikaner vollkommen zu verstehen. Aber das IKRK habe das Gefühl, seit es wegen der Nichtvornahme gleicher Besuche und Inspektionen in deutschen Konzentrationslagern während 50 51 White-Memorandum, 27.9.1946, ebd. General White, Deputy Chief of Staff, "Memorandum for the record" vom 4.11.1946; RG 260/OMGUS 3/167-2/23 457 des Krieges kritisiert worden sei, daß es sich durch ein Erheben der Stimme und die Nachfrage nach einer Besuchserlaubnis selbst schützen müsse. Trotz der ablehnenden Haltung der Amerikaner scheint es dem IKRK aber Ende Oktober 1946 dennoch gelungen zu sein, zwei Internierungslager zu besuchen (am 30. Oktober in Moosburg, am 31. Oktober in Göggingen). Welche Feststellungen dort getroffen werden konnten, ist jedoch nicht bekannt. c. Reaktion von General Clay. Nach dem emphatischen Appell der Darmstädter Lagerärzte in ihrem Brief vom 20. Dezember 1946 sah sich das Internationale Rote Kreuz erneut gezwungen, bei den zuständigen Stellen vorzusprechen. Zuständige Stelle war aber nicht nur der hessische "Befreiungsminister", sondern auch die regionale Amerikanische Militärregierung für Groß-Hessen. Am 4. Januar 1947 erhielten zwei IKRK-Repräsentanten, die bei Colonel Speidel nach einer Besuchserlaubnis für das Lager Darmstadt fragten, überraschend die Antwort, daß von amerikanischer Seite kein Einwand gegen den Besuch des Lagers bestünde, sofern nur die Erlaubnis der zuständigen deutschen Stellen vorliege. Die beiden Vertreter des Roten Kreuzes statteten daraufhin dem Lager Darmstadt einen Besuch ab. Über das Ergebnis berichteten sie Colonel Speidel in einem Schreiben vom 7. Februar 1947, in dem sie die unbefriedigenden Lagerbedingungen kritisierten52. Der Inhalt dieses Schreibens wie auch die ganze Vorgeschichte der Auseinandersetzung zwischen IKRK und USBehörden wurden an den Stellvertretenden Militärgouverneur, General Clay, weitergeleitet. Dieser reagierte in einer Notiz an General Keating, in der er befahl: "I.R.C. has right and may visit our C. I. enclosures which come under international law. However, German C.I. enclosures come under German law and are national, not international. Since the I.R.C. nor other international agencies are not as yet authorized to 52 458 O.W. Wilson, "Note for record: Denying Access of International Red Cross to German Civil Internment Enclosures" vom 21.2.47; RG 260/OMGUS 1947/77/6 deal with German Govt., there is no basis for their investigation of German enclosures. Moreover, there is too much need for relief for non-Nazi Germans to bring attention to relief of Nazis. L.D.C."53 Der Befehl General Clays wurde unmittelbar in die Tat umgesetzt. Telefonisch wurden die "Special Branch Offices" der drei Länder in der US-Zone von dem Befehl Clays informiert (am 21. Februar 1947). Diese wiederum hatten die Entscheidung an den jeweiligen "Befreiungsminister" und die deutschen Lagerkommandanten weiterzuleiten54. Der Widerspruch in der amerikanischen Handlungsweise lag nun offen auf dem Tisch. Einerseits sollten die Deutschen für die vom CIC eingerichteten Internierungslager seit Herbst 1946 - soweit sie ihnen übergeben worden waren - allein zuständig sein. Zum anderen aber nahm Clay als Stellvertretender US-Militärgouverneur für sich das "Recht" in Anspruch, dem jeweils zuständigen "Befreiungsminister" Vorschriften im Hinblick auf die Besuchsregelung zu machen und zwar nicht bezüglich irgendeiner zwielichtigen nationalen oder internationalen Organisation, sondern bezüglich des Internationalen Roten Kreuzes, das zwangsläufig die Aufgaben des nationalen Roten Kreuzes mit übernehmen mußte, da ein nationales Rotes Kreuz seit 1945 in Deutschland nicht mehr bestand. d. Antwort des zuständigen hessischen Ministers und des Internationalen Roten Kreuzes. Die Reaktion des für das Lager Darmstadt zuständigen hessischen "Befreiungsministers" Binder ließ auch nicht lange auf sich warten. Nachdem ihm die Instruktion Clays auch schriftlich zugegangen war, antwortete er bereits am 24. Februar 1946 mit einem Brief, in dem er - berücksichtigt man die eigentlichen politischen Machtverhältnisse in der US-Zone zu der Zeit - doch überraschend deutlich wurde und seine 53 54 Gen. Clay an Gen. Keating; RG 2 6 0 /OMGUS 1947/77/6 O.W. Wilson, "Note for the record", 21.2.1947; RG 2 6 O/OMGUS 1947/77/6 459 Rechte auch gegenüber der Besatzungsmacht einklagte55. In diesem Brief wies er vor allem auf vier Punkte hin: 1. Das Lager Darmstadt sei ihm Ubergeben worden mit der Haßgabe, daß die ganze Verwaltung des Lagers eine ausschließlich deutsche Angelegenheit sei. Einzig und allein bei der Frage der Entlassung Internierter seien ihm Weisungen der Besatzungsmacht vorgelagert. Das Verbot für die Delegierten des Internationalen Roten Kreuzes, das Lager zu betreten, betrachte er als Verletzung der deutschen Lagerverwaltung. 2. Er selbst habe das größte Interesse daran, daß das Internationale Rote Kreuz sich um die Lagerbedingungen kümmere, damit die Weltöffentlichkeit ohne irgendeine Übertreibung die wirklichen Lagerbedingungen erfahre, und daß auf diesem Weg einigen Gerüchten über menschlich empörende Bedingungen im Darmstädter Lager, wie sie anscheinend unter der Bevölkerung erkennbar seien, die Grundlage entzogen würde. 3. Daneben habe er auch deshalb ein Interesse daran, daß das Internationale Rote Kreuz sich um das Darmstädter Lager kümmere, weil er hoffe, daß das Komitee sich in einer Position befinde und willens sei, Lieferungen solcher Güter zu erleichtern, die den deutschen Behörden nicht zur Verfügung stünden und mit denen man auch nicht von einer anderen Seite versorgt werden könnte. 4. Er habe die größten Bedenken im Hinblick auf die Wirkung, die die OMGUS-Weisung bei der deutschen Bevölkerung hervorrufe, da es allgemein bekannt sei, daß während der nationalsozialistischen Ära das Internationale Rote Kreuz keinen Zutritt zu den Konzentrationslagern gehabt habe. Aufgrund dieser Tatsache könnten kritisch eingestellte Elemente ("ill-disposed elements") unzulässige Vergleiche anstellen, die er als die für das Lager verantwortliche Persönlichkeit unter allen Umständen vermeiden müsse. 55 460 Binder an OMG Hessen mit der Bitte um Weiterleitung an OMGUS, RG 260/OMGUS 3/167-2/23 Aber auch das Internationale Rote Kreuz selbst ging nun noch einmal in die Offensive. In einem Schreiben vom 24. Februar 1947 an die Amerikanische Militärregierung in Berlin56 wartete die neutrale und international anerkannte Hilfsorganisation nun mit neuen Fakten auf. Wie fast alle anderen kriegführenden Nationen auch, so das IKRK, habe auch die US-Regierung während des Krieges dem Internationalen Roten Kreuz mitgeteilt, die Genfer Konvention Uber Kriegsgefangene von 1929 werde von ihr auch auf Zivilinternierte angewendet. Die amtliche Mitteilung vom 24. Januar 1944 habe den Wortlaut: "The policy of the Government of the United States is to treat German Civi- lian Internees conforming to the dispositions of the Convention of 1929, in such a measure as it can be applied to civilians." Außerdem sei die Genfer Kriegsgefangenen-Konvention nicht mit der Absicht geschaffen worden, die humanitären Aktivitäten des Internationalen Roten Kreuzes zu begrenzen. Artikel 79 dieser Konvention sage vielmehr: "Vorstehende Bestimmungen dürfen nicht so ausgelegt werden, als sollten sie die menschenfreundliche Tätigkeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz einschränken". Ganz anders verhalte sich auch die amerikanische Militärregierung in Japan. Sie erlaube den Delegierten des Internationalen Roten Kreuzes den Besuch von Internierungslagern. Inwieweit diese Argumente die Verantwortlichen in der amerikanischen Militärregierung davon überzeugen konnten, daß eine Inspektion der Lager durch das IKRK notwendig war, ist nicht bekannt. Jedenfalls scheint es aber noch im März 1947 eine Besichtigung des Lagers Darmstadt durch Rot-Kreuz- Vertreter gegeben zu haben, deren genaues Ergebnis 56 E. Meyer, Chief of the Delegation of the ICRC, Special Delegation, Berlin, an OMGUS, Chief of Staff, Gen. Gailey, "Subject: Authorization for visits of Civilian Installations in the US-Zone of Germany by Delegates of the International Committee of the Red Cross"; RG 260/OMGUS 3/167-2/23 461 allerdings nicht bekannt ist57. Erst im Laufe des nächsten Jahres kam es dann zu größeren Entlassungen aus den Lagern, die vornehmlich im Zuge einer Neuordnung der Entnazifizierung im Frühjahr 1948 durchgeführt wurden. Das letzte Arbeitslager, in dem Zivilinternierte festgehalten wurden, wurde jedoch erst 1952 geschlossen58. II. Der Non-Fraternization-Befehl Bestrafung als Maßnahme kollektiver Zu den eigenartigsten besatzungspolitischen Maßnahmen der USArmee in Deutschland gehörte zweifellos der sogenannte NonFraternization-Befehl. Dieser Befehl richtete sich zwar unmittelbar nur an die amerikanischen Soldaten, war jedoch in seiner geplanten Wirkung ganz auf das deutsche Volk in seiner Gesamtheit gezielt. Wie schon oben festgestellt wurde, war dieser Befehl sowohl in FM 27-5 als auch in CCS 551 und JCS 1067 durchgehend enthalten59 und wurde während der amerikanischen Planungsphase nie von irgendeinem Ministerium in Frage gestellt. 11. 1. Inhalt und Zweck des Non-Fraternization-Befehls vom 12. September 1944 Als die amerikanischen Einheiten im September 1944 erstmals deutschen Boden betraten und ein Kontakt mit der Zivilbevölkerung, aber auch mit den noch verbliebenen Beamten und festgenommenen Soldaten nicht mehr länger zu umgehen war, galt es für den Oberbefehlshaber, General Eisenhower, das bis dahin nur abstrakt formulierte Fraternisierungsverbot für die amerikanischen Soldaten zu konkretisieren und ihnen den Sinn und Zweck verständlich zu machen. Schon am 12. September 1944 erließ er eine Direktive, die das Verhältnis der alliierten Besatzungstruppen zur deutschen Bevölkerung 57 58 59 462 Vgl. den diesbezüglichen Hinweis bei E. Kogon, Der Kampf um die Gerechtigkeit, S. 375 Vgl. Chr. Schick, Die Internierungslager, S. 323 ff. Vgl. oben 1. Teil, II.2. und IV.5. ff. für die ihm unterstehenden Soldaten verbindlich regeln sollte60. In dieser Direktive stellte Eisenhower Überlegungen zur deutschen Geisteshaltung und Propaganda an und legte Maßnahmen fest, mit denen er den erwarteten deutschen Beeinflussungsversuchen gegenüber alliierten Soldaten von Anfang an begegnen wollte. Wegen der größeren Schäden durch Luftangriffe, den möglichen Bodenkämpfen innerhalb Deutschlands und der intensiven nationalsozialistischen Indoktrination erwartete er einen weit tieferen und viel allgemeineren Haß als 1918. Die deutsche Vorstellung von sich selbst als einer "Herrenrasse" sei zu stark eingepflanzt worden, als daß sie sofort ausgerottet werden könnte. Viele Deutsche würden die Niederlage nur als eine vorübergehende Phase akzeptieren in einem fortwährenden Kampf, und große Anstrengungen würden ohne Zweifel darauf gerichtet sein, eine beherrschende Stellung in Europa zurückzugewinnen. Bei SHAEF erwartete man deshalb eine enorme, gegen die Alliierten gerichtete Untergrundbewegung. Da die Deutschen sich wegen der alliierten Überwachung von einer offenen Propaganda durch Presse und Radio wahrscheinlich nicht viel versprechen würden, erwartete SHAEF eine Mund-zu-Mund-Propaganda ("word-of-mouth- propaganda") unter der Anleitung von Untergrundbehörden61. Für die SHAEFOffiziere stand fest, daß ihnen von jedem Deutschen, vor allem von Frauen, Kindern und alten Menschen, Gefahr drohe. Jegliches Differenzierungsvermögen war in diesem Moment ausgeschaltet: "Its methods will include attempts at fraternization by civilians (especially by children, women, and old men); attempts at 'soldier-to-soldier' frater- 60 Gen. D.D. Eisenhower, SCAEF, "Subject: Policy, Relationship Between Allied Occupying Troops and Inhabitants of Germany", App. "A": "Policy on Relations Between Allied Occupying Forces and Inhabitants of Germany", 12.9.1944; RG 2 6 O/OMGUS 44- 45/2/3; RG 331 Hq. 12th Army Group, General Staff, G-l Section, Operations Branch, Subject Corresp. File 1944-1945, Box Nr. 6 (Matters Affecting Morale to Occupational Policy- Non-Fraternization) 61 Gen. D.D. Eisenhower, App "A", 12.9.1944, ebd., Abs. Nr. 1 463 nization; and social, ligious contacts."62 official and re- Um jeglicher Gefahr oder Beeinflussung und "geistigen Vergiftungen" durch die deutsche Bevölkerung zu entgehen, sollte deshalb jeglicher Kontakt mit ihnen verhindert werden, von unumgänglichen offiziellen Kontakten einmal abgesehen. Der NonFraternization-Befehl sah deshalb vor: 1. Die Einquartierung von Offizieren und Soldaten in Häusern der Bevölkerung wurde verboten. Separate Quartiere sollten beschafft werden durch den Gebrauch massiver Baracken, Schulen und anderer öffentlicher Einrichtungen, durch die Requirierung von Hotels, privater Gebäude und Häuser oder durch die Benutzung von Baracken- oder Zeltlagern. Dauernde Unterkünfte sollten so lokalisiert sein, daß der Kontakt mit der deutschen Bevölkerung auf ein Minimum beschränkt würde. 2. Heirat mit Deutschen oder dem Personal anderer Feindstaaten wurde verboten. 3. Wann immer möglich sollten von alliierten Feldgeistlichen duchgeführte Gottesdienste vorbereitet werden. Falls dies nicht möglich war, wurde auch die Anwesenheit in deutschen Kirchen erlaubt. In diesem Fall mußte jedoch eine separate Sitzverteilung für die Soldaten vorgesehen sein. 4. Weiterhin wurde ausdrücklich verboten: Besuch in deutschen Häusern, Trinken mit Deutschen, Deutschen die Hand zu geben, mit ihnen zu spielen oder Sport zu treiben, ihnen Geschenke zu geben oder solche von ihnen entgegenzunehmen, an deutschen Tanzveranstaltungen oder sonstigen gesellschaftlichen Ereignissen teilzunehmen, Deutsche auf der Straße, in Theater, Gaststätten, Hotels oder anderswohin zu begleiten (mit Ausnahme offizieller Angelegenheiten) , Diskussionen und Debatten mit Deutschen, insbesonders über Politik und die Zukunft Deutschlands zu führen63. 62 63 464 Gen. D.D. Eisenhower, ebd. Gen. D.D. Eisenhower, ebd., Abs. Nr. 7 Offizielle Kontakte mit Deutschen sollten auf das notwendige Minimum beschränkt werden. Das damit betraute alliierte Personal sollte mit den Deutschen "gerecht, aber hart" ("just, but firm") verkehren64. Der Zweck von Non-Fraternization lag aber nicht nur darin, die alliierten Soldaten vor der durch die deutsche Bevölkerung vermeintlich drohenden Propagandagefahr zu schützen, sondern sollte den Deutschen selbst - ausnahmslos vor Augen führen, daß sie alle aufgrund ihres vorangegangenen Verhaltens gar nichts anderes als das sich durch den Non-Fraternization-Befehl ausdrückende Mißtrauen der anderen Völker verdient hätten. Dementsprechend hieß es in General Eisenhowers Anweisung: "They (die Deutschen, d. Verf.) must learn this time, that their support and tolerance of militaristic leaders, their acceptance and furtherance of racial hatreds and persecutions, and their aggressions in Europe have brought them to complete defeat, and have caused the other people of the world to look upon them with distrust."65 Die Direktive Eisenhowers vom 12. September 1944 wurde später wortwörtlich in das SHAEF-Handbuch für die militärische Besetzung Deutschlands vom November 1944 übernommen66. II.2. Hintergründe des Befehls Gerade Ausdruck die der Non-Fraternization-Politik weit verbreiteten und war ein signifikanter mittlerweile auch in Washington und in der Armee vorherrschenden Ansicht, nicht 64 65 66 Gen. D.D. Eisenhower, ebd., Abs. Nr. 6 Gen. D.D. Eisenhower, ebd., Abs. Nr. 5 Vgl. SHAEF Post-Hostilities Handbook Governing Policy and Procedure for the Military Occupation of Western Europe Following the Surrender of Germany (Kurztitel: SHAEF Post- Hostilities Handbook), Nov. 1944, Chapter XIV, Nr. 626 ff.; RG 260/OMGUS 7/41-2/4 465 der Nationalsozialismus und bestimmte, diese Ideologie verkörpernde Personen oder Gruppen seien in diesem Krieg zu bekämpfen, sondern das ganze deutsche Volk, dessen Charakter sich im Nationalsozialismus lediglich politischideologisch verkörpert habe. Max Rheinstein, der diese Sichtweise selbst auf das entschiedenste ablehnte, meinte später, die Politik der NonFraternization sei motiviert gewesen "by the fear that American personnel might be infected by the Nazi poison; a result of the prejudice that all Germans are Nazis. ...These instructions (zur Entnazifizierung, d. Verf.) obviously were motivated by the idea that all Germans were Nazis and that you cannot trust any single one of them. We were neatly caught in our own war propaganda which, for reasons which are still obscure, obliterated the fact that the very first victim of the Nazis had been the German people themselves and that a clear distinction had to be made between nonNazi Germans and Nazis." Noch viel schärfer und uneinsichtiger als Eisenhower formulierte diese Haltung gegenüber den Deutschen der Kommandierende General der 12. Armee-Gruppe, Generalleutnant Omar N. Bradley, in einer Anweisung an seine Organisationskommandeure am 4. Dezember 1944, in der er den Non-Fraternization-Befehl zu rechtfertigen suchte: "We must emphasize that we are not just fighting Hitler and his crowd; we are fighting the whole German nation. This is a total war. It is each one of the German people who has made it that kind of war. If they had not been led by Hitler, they would have been led by 67 466 M. Rheinstein, Military Government in Germany, A 1361, der das langsame Tempo der sich nur allmählich entwickelnden Demokratisierung insbesondere auf die fehlgeleitete Einstellung der Amerikaner zu den Deutschen zurückführte: "If we had not been misguided by hatred, prejudice, and propaganda, if we had not fallen for Goebbels vicious lie that 98 percent of the German people were Nazis, we might have a sound democracy in our zone already now (1947)", ebd., A 1362 someone else with the same ideas. The German people relish war, and are determined to use it until they rule the world and impose their way of life on us." Und über die nationalsozialistischen Verbrechen ergänzte der General: "These crimes must be shared by the whole German nation. Each German civilian must be made to realize that we cannot forgive such conduct. Until they have proven by many years of proper dealing that they again merit some consideration and trust, they cannot be accepted as members of the family of civilized nations."68 II.2. Non-Fraternizatlon und die deutsche Bevölkerung Die praktische Umsetzung dieses Kollektivschuldurteils durch die alliierten Soldaten und Offiziere in Form jeglicher Kontaktverweigerung gegenüber der deutschen Bevölkerung barg jedoch gewichtige Schwierigkeiten, die den Unterschied zwischen Theorie und Praxis offenkundig werden ließen. Die vorrückenden alliierten Einheiten trafen nämlich auf keinen nennenswerten Widerstand von Untergrund-, speziell Werwolf-Organisationen, sieht man von der Ermordung des von den Amerikanern eingesetzten Aachener Bürgermeisters einmal ab69. Auch traten die Deutschen den einrückenden Truppen keineswegs feindlich oder in Propagandaabsicht entgegen; sie waren größtenteils freundlich und hilfsbereit, was die Soldaten den Widerspruch zwischen Propaganda und Wirklichkeit ahnen ließ. Ein Beobachter der Psychological Warfare Division von SHAEF berichtete konsterniert, nachdem er sich selbst ein Bild von der deutschen Bevölkerung gemacht hatte: 68 69 Lt. Gen. O.N. Bradley, Comm. Gen., Hq. 12th Army Group, an Organization Commanders, 12th Army Group, "Subject: NonFraternization", 4.12.1944; RG 331 Hq. 12th Army Group, General Staff, G-l Section, Operations Branch, Subject Correspondence File 1944-1945, Box Nr. 6 (Matters Affecting Morale to Occupational Policy-Non-Fraternization) Vgl. E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany 1944-1946, S. 184, 245 f. 467 "... the crossing of the German frontier is something of a shock. Even in Nazi Germany the cows have four legs, the grass is green, and children in pigtails stand around the tanks. Self- indoctrination by years of propaganda make it a shock to rediscover these trivialities. All the officers with whom we spoke reinforced this. The people left behind in this area are human beings with a will to survive."70 Aber insbesondere den militärischen und politischen Entscheidungsträgern in Washington und im alliierten Hauptquartier fiel ein Umdenken angesichts der offensichtlichen Fehleinschätzung der deutschen Bevölkerung in den besetzten Gebieten schwer. Eisenhower ging in seinem Mißtrauen sogar so weit, in seiner Zeit als Militärgouverneur selbst offiziellen Kontakten mit den Deutschen auszuweichen, indem er fast alle Verhandlungen an die Mitglieder seines Stabes delegierte71. Für Botschafter Robert Murphy handelte es sich bei der NonFraternization schlicht um "eine Art Rassentrennung nach gutem Vorbild unserer 'Segregation'"72. Als der von den Amerikanern eingesetzte Bürgermeister von Aachen und der Bischof von Aachen bei einem Besuch im Hauptquartier der Militärregierung von allen anwesenden Offizieren mit Handschlag begrüßt wurden, nahm er das zum Anlaß, noch einmal alle nachdrücklich auf die entsprechenden Vorschriften aufmerksam zu machen73. 70 71 72 73 468 E.F. Ziemke, ebd., S. 139, vgl. auch S. 142 f. R. Murphy, Diplomat unter Kriegern, S.346, der fortfährt: "Eisenhower und Truman in ihrer ablehnenden und mißtrauischen Haltung gegenüber den Deutschen verkörperten geradezu die Gefühle von Millionen Amerikanern. In den achtzehn Tagen, die Truman in Potsdam war..., hat er nicht einmal den Wunsch geäußert, mit deutschen Politikern der Opposition gegen Hitler offiziell oder auch nur privat zusammenzutreffen; und fast alle in der Umgebung des Präsidenten folgten seinem Beispiel." R. Murphy, ebd., S. 347 R. Murphy an Secr, of State, "Subject: Visit to Aachen", 27.11.1944, S. 3, RG 260/OMGUS POLAD/826/15 II.4. Non-Fraternization als kollektive Strafmaßnahme Anfang 1945 tauchte in der amerikanischen Besatzungsarmee die Frage nach der Strafbarkeit von Verstößen gegen die NonFraternization-Politik auf. Daß die Angehörigen der amerikanischen Besatzungstruppen, an die Eisenhowers Befehl ergangen war, bei Zuwiderhandlungen mit Strafe rechnen mußten, war sicher. Die gegen sie verhängten Urteile in Form von Geldstrafen führten schon bald zu bestimmten Sätzen für bestimmte Delikte74. Problematischer war die mögliche Bestrafung deutscher Zivilisten, an die nie ein Befehl der Non-Fraternization gerichtet wurde. Außerdem hatte diese Politik selbst bereits den Charakter einer kollektiven Bestrafung aller Deutscher, da sie das ganze deutsche Volk unabhängig von individueller strafrechtlicher Schuld diskriminierte, indem es nicht als wert angesehen wurde, mit den anderen Nationen auf einer Ebene zu stehen, die für das Zusammenleben der Menschen - auch unterschiedlichster Nationalität - normal ist. Bei SHAEF kam man zu dem Ergebnis, daß Non-Fraternization eine interne Politik der Alliierten Expeditionsstreitkräfte sei, "to impress upon the Germans the prestige and superiority of the Allied Armies and to demonstrate to the Germans the fact of their complete defeat. To enforce that policy by punishing Germans is contrary to the reasons underlying it."75 Die Zwei-Klassen-Gesellschaft zwischen Besatzern und besetzter Bevölkerung, ausgedrückt durch die gesellschaftliche Ächtung der letzteren durch eine Politik des strafenden Ignorierens, wäre dann nicht mehr aufrechtzuerhalten gewesen, da man sich mit denen der zweiten Klasse notgedrungen hätte auseinandersetzen müssen. Ihren krassesten Ausdruck Vgl. E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany 19441946, S. 161 Brig. Gen. T.J. Davies, SHAEF, "Subject: Non-Fraternization Germans", Febr. 1945; RG 260/OMGUS POLAD/736/2 by 469 erfuhr die amerikanische Theorie von den zwei Klassen in Deutschland, Alliierte einer-, Deutsche andererseits, in einer Stellungnahme des US-Außenministeriums zur Rechtmäßigkeit des strikten Heiratsverbotes zwischen Besetzern und Besetzten für den Fall, daß dieses in einem Militärregierungs-Gesetz noch einmal festgeschrieben würde. Robert Murphy erhielt Ende Januar 1945 eine Mitteilung aus dem State Department, das er an SHAEF weiterleitete. In dieser Mitteilung wurde darauf verwiesen, es sei ein anerkannter Rechtsgrundsatz, daß jede Besatzungsmacht die existierenden Gesetze für jeden militärischen Zweck ändern oder aufheben könne. Falls Eisenhower der Meinung sei, daß das ins Auge gefaßte Militärregierungs-Gesetz im Hinblick auf die Heirat von Angehörigen der Alliierten Expeditionsstreitkräfte wirklich eine militärische Notwendigkeit sei, sehe das US-Außenministerium keine dagegen gerichteten rechtlichen Einwände76. Murphy teilte SHAEF auch mit, was das Außenministerium zur Begründung seiner These noch angeführt hatte, um das Heiratsverbot rechtlich abzusichern: "It is pointed out that the laws of certain states of the Union forbid, as a matter of public policy, marriages between certain classes of people."77 Kollektivschulddenken und kollektive Bestrafung durch gesellschaftliche Degradierung und Diskriminierung wurden mit dem Kriegsende und nachher gegenüber den ursprünglich ins Feld geführten Sicherheitsinteressen absolut vorrangig. Daß Artikel 50 HLKO eine derartige kollektive Bestrafung verbietet, wurde nicht berücksichtigt. Da die amerikanischen Soldaten aber alles andere taten, als sich an den Non-Fraternization-Befehl zu halten78, wurden schon bald Überlegungen angestellt, wie insbesondere dem 76 77 78 470 R. Murphy an Ass. Chief of Staff, G-l, 27.1.1945; RG 260/OMGUS POLAD/736/2 R. Murphy, ebd. Vgl. nur E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany 1944-1946, S. 321 ff.; M. Hiller, Die Invasion der Be- freier, S. 177 f., 186 ff. Verkehr der Soldaten mit deutschen Frauen Einhalt geboten werden könnte. Der amerikanische Generalmajor Walter E. Lauer schlug deshalb am 5. Juli 1945 vor, das Außenministerium solle ein Gesetz erlassen, das Deutschen für die nächsten zehn Jahre die Einreise in die Vereinigten Staaten zum Zweck der Niederlassung und der Erlangung der Staatsangehörigkeit verbiete79. Daß die USBesatzungstruppen den Non-Fraternization-Befehl ganz primär als Bestrafungsmaßnahmen gegen die Deutschen als Volk auffaßten, ließ auch Lauer in der folgenden Aussage erkennen: "It is felt that the non-fraternization regulation exists primarily to punish the German people as a whole and to impress upon them most forcefully that they are undesirable to associate with our troops and our citizens."80 Diese Einstellung war durchaus kein Einzelfall. Sie war im und unmittelbar nach dem Krieg in Amerika vorherrschend, weil sie glaubte, die Deutschen schlechthin mit dem Nationalsozialismus gleichsetzen zu können. Als die ersten Pressefotos in amerikanischen Zeitungen deutsche Zivilisten, im allgemeinen Frauen und kleine Kinder zeigten, die US-Soldaten grüßten, ging bereits ein merkliches Rumoren in den USA um, und Roosevelt ließ - im September 1944 - Eisenhower persönlich auffordern, jegliche "Fraternisierung" zu unterbinden81. Ähnliche Reaktionen folgten, als ein hoher amerikanischer Offizier Göring die Hand gab, und dieses Bild in den USA verbreitet wurde82. Die antideutsche, germanophobische Stimmungslage in den Vereinigten Staaten machte es besonnenen Köpfen auch nach dem Ende des Krieges noch schwer, Gehör in der Öffentlichkeit zu finden. 79 80 81 82 Maj. Gen. W.E. Lauer, Hq., 99th Infantry Div., Memo., an Comm. General, 12th Army Group, 5.7.1945, Abs.Nr. 1; RG 2 6 0 /OMGUS POLAD/736/4 Maj. Gen. W.E. Lauer, ebd., Abs. Nr. 2 E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany, 19441946, S. 98 E.F. Ziemke, ebd., S. 321 f. 471 U.S. AbmiIderung des Befehls Allmählich änderte sich diese Situation jedoch zumindest im Hinblick auf den Non-Fraternization-Befehl83. Die ersten Schritte zur Lockerung des Fraternisierungsverbots wurden in der britischen Zone vollzogen. Feldmarschall Montgomery erließ am 12. Juni 1945 einen Befehl, der es den britischen und kanadischen Soldaten von nun an gestattete, mit kleinen deutschen Kindern zu sprechen und zu spielen. Klarstellend wurde jedoch darauf verwiesen, daß das absolute Verbot des Kontakts mit deutschen Mädchen und Frauen in vollem Umfang und ohne Einschränkung bestehen blieb84. Nach eingehenden Beratungen zwischen dem britischen und amerikanischen Oberkommando wurde das Verbot für die britischen und amerikanischen Truppen im Juli 1945 noch einmal abgemildert. Danach war es ebenfalls erlaubt, sich mit den Deutschen auf der Straße und in öffentlichen Lokalen in Gespräche einzulassen. Verboten blieb aber weiterhin, die Deutschen in ihren Häusern zu besuchen. Auch durfte nicht zugelassen werden, daß Deutsche - außer in dienstlichen Geschäften - von Alliierten benutzte Räumlichkeiten betraten. Montgomery brachte die ganze Angelegenheit im September im Kontrollrat zur Sprache und erreichte es, daß das Fraternisierungsverbot mit Wirkung vom 1. Oktober 1945 aufgehoben wurde. Danach blieben nur noch zwei Befehle bestehen: Kein Soldat durfte bei einer deutschen Familie einquartiert werden, und keiner durfte eine deutsche Frau heiraten85. Erst im August 1946 beschloß die britische Regierung, das bestehende Eheverbot für die Fälle 83 84 85 472 Vgl. E. Schwinge, Die Lage bis zum Stuttgarter Schuldbekenntnis, in: Veröffentlichungen der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt, 15. Bd. (Ingolstädter Vorträge 1984), der anhand der Auswertung amerikanischer Zeitungsberichte der ersten Monate nach Kriegsende das Stimmungsbild in den Vereinigten Staaten hinsichtlich der Deutschen analysiert und dabei auch das Fraternisierungsverbot behandelt. Keesings Archiv der Gegenwart 1945/1946, 14.6.1945, S. 271 B Keesings Archiv, ebd., 14.7.1945, S. 321 ff.; V. Montgomery, Memoiren, S. 416, merkt beinahe entschuldigend an: "Mir hatte der Befehl nie gefallen, aber ich mußte ihn erlassen, denn die Politik der Alliierten verlangte es so." aufzuheben, in denen die Ehe gut begründet werden könne und keine Sicherheitseinwände erhoben würden86. III. Dia Schutzlosstellung deutscher Kriegsgefangener durch die Alliierten III.l. Eisenhower macht sich den Inhalt der Kapitulations- urkunde zunutze Wie wir oben bereits gesehen haben87, erreichten die britische und die amerikanische EAC-Delegation gegen sowjetischen Widerstand und die rechtlichen Bedenken, ja Ablehnungen durch die rechtskundigen Stellen in Washington, die Aufnahme eines Artikels (2.b.) in die Kapitulations- Urkunde, der den jeweiligen militärischen Oberbefehlshaber ermächtigen sollte, gefangengenommene deutsche Soldaten nach eigenem Gutdünken zu Kriegsgefangenen zu "erklären", was die entsprechende Behandlung gemäß der Genfer Konvention nach sich ziehen mußte, oder ihnen ihren völkerrechtlich geschützten Status "abzusprechen". Der Judge Advocate General wies zwar mit Nachdruck darauf hin, eine solche Dispositionsbefugnis stehe den militärischen Oberbefehlshabern nicht zu, weil die Soldaten, sobald sie in die Hand des Feindes fielen, automatisch zu Kriegsgefangenen würden und deshalb bis zu ihrer Repatriierung in die Heimat einen Anspruch auf Behandlung nach der Genfer Konvention hätten. Doch setzten sich die politischen Planer über diese Einwände hinweg. Noch bevor sich die Delegationen in London Ende Juli 1944 über das Kapitulations-Dokument einigten, brachte der militärische Beratet der amerikanischen Delegation, General Meyer, aus Washington die Nachricht mit, daß nach der Beendigung der Feindseligkeiten die Amerikaner keine deutschen Streitkräfte zu Kriegsgefangenen erklären wollten ("... that after the termination of hostilities we would not 86 87 Keesings Archiv, ebd., 3.8.1946, S. 835 ff. Vgl. oben 2. Teil, IV.3.-5. 473 declare any of the German armed forces prisoners of war.")88. a. Eisenhowers Anfrage in Washington, 10. März 1945. Die scheinbaren Möglichkeiten zur Umgehung der Genfer Konvention, die die Kapitulations-Urkunde enthielt, gedachte General Eisenhower im Frühjahr 1945 zu nutzen. Am 10. März 1945 fragte er bei den CCS in Washington um eine Genehmigung nach, unter Verweisung auf Artikel 2 (b) der Kapitulations-Urkunde entsprechende Erklärungen abgeben zu dürfen, obwohl die Absicht bestehe, so Eisenhower, die Verantwortung für die Ernährung und sonstige Versorgung aller Kriegsgefangenen der Alliierten und der verschleppten Personen den deutschen Behörden zu übertragen, werde damit gerechnet, daß diese Aufgabe in dem wahrscheinlich herrschenden Chaos die Möglichkeiten dieser Behörden überschreite und daß die Alliierten vor der Notwendigkeit stehen würden, sehr große Nahrungsmittelmengen bis zur Repatriierung bereitzustellen. Die zusätzliche Versorgungsverpflichtung, die mit der Erklärung der deutschen Streitkräfte zu Kriegsgefangenen verbunden sei und die die Bereitstellung von Rationen in einem Ausmaß erforderlich machen würde, die dem Bedarf der eigenen regulären Truppen entspreche, würde sich als weit jenseits der Möglichkeiten der Alliierten erweisen, selbst wenn alle deutschen Quellen angezapft würden. Darüber hinaus sei es nicht wünschenswert, den deutschen Streitkräften Rationen zuzuteilen, die weit über das für die Zivilbevölkerung verfügbare Maß hinausgingen. Es sei deshalb beabsichtigt, alle Angehörigen der deutschen Streitkräfte, die nach der Einstellung der Feindseligkeiten gefangengenommen würden, als "entwaffnete deutsche Truppen" ("disarmed German troops") zu behandeln bis ihre Entlassung unter Verwaltung und Versorgungspflicht der deutschen Wehrmacht unter Aufsicht durch alliierte Streitkräfte vollzogen sei. Eisenhower rechnete damit, daß in der Endphase vor der 88 474 Col. T.W. Hammond, jr., Ass. Military Adviser, EAC, "Memorandum for the Secretary, Joint Chiefs of Staff", "Subject: European Advisory Commission", 21.7.1944; RG 260/OMGUS AGTS/85/1 Einstellung der Feindseligkeiten die Deutschen in großer Zahl kapitulieren würden. Er teilte deshalb den CCS weiter mit, es sei beabsichtigt, es in das Ermessen der Oberbefehlshaber zu stellen, unmittelbar nach Beendigung der Feindseligkeiten auch solche Kriegsgefangenen aus ihrem Kriegsgefangenen-Status zu entlassen, die noch nicht aus Deutschland fortgeschafft seien. Er bat die CCS um ihre Zustimmung zu einer derartigen Vorgehensweise und merkte an, bestehende Pläne seien bereits auf dieser Basis ausgearbeitet worden89. Nachdem man in London 1944 versucht hatte, mit einer nicht haltbaren juristischen Begründung all jenen deutschen Soldaten ihren Kriegsgefangenen-Status abzuerkennen, die nach der Kapitulation in alliierten Gewahrsam genommen würden, wollte Eisenhower diesen ohnehin schon großen Kreis nun auch noch auf die Kriegsgefangenen ausdehnen, die bereits vor der Kapitulation der deutschen Streitkräfte festgenommen worden waren. Ihnen war ihr völkerrechtlicher Status ebenfalls zu nehmen, soweit sie noch irgendwo auf deutschem Boden von den Alliierten festgehalten wurden. Diese Einschränkung auf Deutschland hatte seinen Sinn daher, daß die aus Deutschland nach Frankreich zu überstellenden deutschen Kriegsgefangenen nach der Genfer Konvention behandelt werden sollten90. Noch am 18. April 1945 erließ Eisenhower einen Befehl, nach dem das bis dahin gefangengenommene "deutsche Personal" weiterhin den gegenwärtigen Kriegsgefangenen-Status beibehalte. Grund für diesen Befehl waren jedoch nicht rechtliche oder humanitäre Erwägungen, sondern der Gedanke an die noch in deutscher Hand befindlichen alliierten Kriegsgefangenen91. Noch hätten die Deutschen die Gelegenheit gehabt, mit ihren amerikanischen Kriegsgefangenen ähnliches zu tun und auch ihnen ihre Stellung abzuerkennen und möglicherweise zu Repressalien zu greifen. Erst wenn der letzte deutsche Widerstand gebrochen 89 90 91 J. Bacque, Der geplante Tod. Deutsche Kriegsgefangene in amerikanischen und französischen Lagern, S. 42; SHAEF an War Dep., 10.3.1945, RG 260/OMGUS 5/265-2/6-8 Dazu noch unten, 4. Teil, IV. SHAEF an USGCC U.a., 18.4.1945, Abs. Nr. 4; RG 260/OMGUS 4445/17/3 475 sein würde und der letzte alliierte Kriegsgefangene sich in Freiheit befinden würde, so war wohl Eisenhowers Überlegung, konnte man zu den geplanten Maßnahmen schreiten ohne von irgendeiner Seite Angriffe fürchten zu müssen. b. Antwort des "Combined Civil Affairs Committee". In Washington wurde Eisenhowers Anfrage zwischenzeitlich dem "Combined Civil Affairs Committee" zur Begutachtung vorgelegt. Auch dort teilte man die Meinung, es sei nicht ratsam ("inadvisable") alle , deutschen Streitkräfte zu Kriegsgefangenen zu erklären. Die alliierten Kommandeure sollten ermächtigt werden, auch den Kriegsgefangenen-Status derjenigen deutschen Truppen zu beenden, die vor der Kapitulation oder der Niederlage gefangengenommen worden seien und zu diesem Zeitpunkt noch in Deutschland zurückgehalten würden92. Außerdem ließ das "Combined Civil Affairs Committee" keinen Zweifel daran, daß es nicht unbedingt die Nahrungsmittelknappheit war, die die Amerikaner und Briten zu diesem Vorgehen veranlaßte. Die Entmilitarisierung Deutschlands sollte auch vor dem einfachen deutschen Soldaten nicht halt machen; auch ihm sollte klargemacht werden, daß er für seine Lage doch selbst verantwortlich sei, und die Alliierten ihre Hände in Unschuld waschen könnten. So hieß es in der Stellungnahme des "Combined Civil Affairs Committee" weiter: "As a primary aim of the United Nations is the destruction of German militarism, it would be inappropriate to feed the defeated military forces on a scale in excess of the civil population. The Germans should feed and maintain such forces."93 Das Komitee legte aber Wert darauf festzustellen, daß das empfohlene Verfahren sich nicht auf die Auflösung der deutschen Streitkräfte nachteilig auswirken dürfe. Auch sollte es keine Erklärung über das vorgesehene Programm an 92 93 476 CCS, Note by the Secretaries, Enclosure A, - Report by the Combined Civil Affairs Committee, 13.4.1945, Abs.Nr. 7; RG 260/OMGUS 5/265-2/6-8 CCS, ebd., Abs. Nr. 8 die deutsche Öffentlichkeit geben. Kriegsverbrecher sollten diesem Verfahren nicht unterworfen werden, ebenso wie andere Kategorien gesuchten deutschen Personals oder anderer Personen, die unter den deutschen Streitkräften gefunden und aus Sicherheitsgründen zurückbehalten würden. Sie sollten in Gefangenschaft verbleiben, aber nicht als Kriegsgefangene. Ihre Ernährung, Unterbringung und anderweitige Verwaltung sollten alliierte Streitkräfte übernehmen, Deutsche sollten keinerlei Kontrolle über sie haben94. Diese Anmerkungen des "Combined Civil Affairs Committee" wurden durch die CCS unter gleichzeitiger Zustimmung zu seinen Vorschlägen vom März 1945 an Eisenhower weitergegeben95. Lediglich die britischen Stabschefs fügten noch eine weitere Einschränkung an: Wenn Großbritannien entscheide, daß es zusätzliche deutsche Kriegsgefangene benötige, werde dieses Personal nicht in die Kategorie "entwaffneter Soldaten" eingegliedert. Die Briten übernahmen später auch nicht den von den Amerikanern für die in amerikanischen) Gewahrsam befindlichen deutschen Soldaten, die nicht als Kriegsgefangene behandelt werden sollten, geprägten Begriff "Disarmed Enemy Forces" (DEF) ("Entwaffnete Feindkräfte"), sondern benutzten für diese Soldaten den Begriff "Surrendered Enemy Personnel" (SEP) ("Feindliches Personal, das sich ergeben hat")96. Ein nennenswerter Unterschied lag dieser unterschiedlichen Bezeichnung jedoch nicht zugrunde, standen sie doch beide für deutsche Soldaten, die man jeglichen völkerrechtlichen Schutzes berauben wollte. Der von den britischen Stabschefs angefügte Zusatz läßt aber wohl erkennen, daß die Briten grundsätzlich bereit und willens waren, ihre deutschen Gefangenen im Rahmen des Möglichen nach der Genfer Konvention zu behandeln, anders als noch bei den EAC- Planungen im Frühjahr und Sommer 1944, während die Amerikaner sich ihren Pflichten von Anfang an und in großem Ausmaß zu entziehen versuchten. 94 95 96 CCS, ebd., Abs. Nr. 9,10 Vgl. J. Bacque, Der geplante Tod, S. 42 J. Bacque, ebd., S. 43 477 Eisenhower bekundete allerdings wenig Verständnis für die von den britischen Stabschefs bezogene Position. Er mutmaßte, die Briten seien aufgrund einer geringeren zahlenmäßigen Bürde an deutschen Kriegsgefangenen in der Lage, ein höheres Niveau aufrechtzuerhalten, das die amerikanische Position im Vergleich in ein ungünstigeres Licht rücke97. Aus neuesten Forschungen ist mittlerweile aber bekannt, daß die Amerikaner durchaus in der Lage gewesen wären, ihre Gefangenen ebenso gut zu behandeln wie die Briten, da die US-Vorräte, die durch eroberte Lagerbestände noch ergänzt wurden, für diese Aufgabe mehr als ausreichend vorhanden waren98. c. Deutsche Kriegsgefangene in Italien und Norwegen. Doch statt dem britischen Beispiel zu folgen, bemühte sich die US-Armee, auch den deutschen Kriegsgefangenen in Ländern außerhalb Deutschlands ihren Status zu nehmen. Zunächst waren davon die deutschen Kriegsgefangenen in Norwegen betroffen99, dann auch die in Italien festgehaltenen100. In einem Bericht über die entsprechenden Maßnahmen in Norwegen hieß es, es handele sich um eine "ziemlich erschrek- kende Abweichung auf dem Gebiet des Völkerrechts" ("A somewhat startling departure in the field of international law ...")101, deren Auswirkung, insbesondere für die betroffenen Soldaten, offensichtlich war: "The effect of the foregoing was to create in international law an entirely new class of persons ... . Such persons are not prisoners of war nor are they displaced persons, but represent a class in between whose privileges and burdens are not specified by any body 97 98 99 100 101 478 J. Bacque, ebd. J. Bacque, ebd., S 42 f. SHAEF an CCS, "Treatment of members of German armed forces in Norway is subject", 9.4.1945; RG 260/OMGUS 5/265-2/6-8 Allied Force Hq., Caserta, Italien, an CCS, 2.5.1945; RG 260/OMGUS 5/265-2/6-8 H.L. Coles/A.K. Weinberg, Civil Affairs: Soldiers become Governors, S. 845 of established law nor by any international convention."102 III.2. John J. McCloy unterstützt die völkerrechtswidrige Behandlung deutscher Kriegsgefangener Der Judge Advocate General in Washington verteidigte trotz des gegen ihn ausgeübten politischen Drucks weiter seine Rechtsposition, die er bereits im Frühjahr 1944 unmißverständlich zum Ausdruck gebracht hatte: daß die Aberkennung des Kriegsgefangenen-Status völkerrechtlich gar nicht möglich sei. Weil dem stellvertretenden Kriegsminister John J. McCloy dieses Ergebnis nicht in die politische Konzeption paßte, kam er am 11. Mai 1945 mit dem Stellvertretenden Stabschef im Pentagon überein, das JAG-Rechtsgutachten dem Kriegsminister gar nicht zum Zweck einer Genehmigung zu unterbreiten. McCloy sprach sich für die einstweilige Geheimhaltung des Gutachtens aus und das Ergreifen von Vorsichtsmaßnahmen, um eine Veröffentlichung zu verhindern ("I think that the opinion should remain classified for the time being and that precautions should be taken to see that it is not published..., zumindest solange bis umfassende Erwägungen zu bestimmten politischen Angelegenheiten angestellt worden seien103. Derlei Erwägungen wurden jedoch offensichtlich nie vorgenommen. Denn im November 1945 stand das Gutachten immer noch zur Debatte. McCloy meinte nun, der JAG sei bei der Abfassung nicht über alle wesentlichen Umstände, Papiere und Verhandlungen in der EAC und sonstwo informiert gewesen, noch habe er von den Plänen für die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 Kenntnis gehabt, wie sie dann auch ausgeführt und publiziert worden seien. Zu dem Zeitpunkt der Vorlage des Gutachtens habe man gemeint, daß eine Anzahl rechtlicher Probleme auftauchen würden. Im Laufe der Zeit sei aber offenkundig geworden, daß die mei 102 103 H.L. Coles/A.K. Weinberg, ebd. J.J. McCloy, "Memorandum for the Assistant Chief of Staff, G- 1", "Subject: Denunciation of Geneva Convention - JAG Opinion 25. April 1945", 11.5.1945; RG 107 ASW 383.6 Enemy POW in American Hands Germans 479 sten, wenn nicht sogar alle diese Fragen in der Praxis gar nicht entstanden seien und daß es nur wenige Schwierigkeiten in der Verwaltung gegeben habe ("... few administrative difficulties.") . Die Vereinigten Staaten hätten seit der deutschen Kapitulation die Kriegsgefangenen nach einem Standard behandelt, der dem in der Genfer Konvention festgelegten im allgemeinen entsprochen habe, obwohl es keine Regierungserklärung gegeben habe, die anerkenne, daß die Genfer Konvention in allen ihren Details nach einer bedingungslosen Kapitulation anwendbar sei. Um die Flexibilität der Regierung zu bewahren, solle es auch keine Erklärung darüber geben, wenn es irgendwie verhindert werden könne. Soweit man es überblicken könne, seien die im Gutachten diskutierten Probleme nicht von praktischer Wichtigkeit. In Anbetracht dieser Umstände und der Tatsache, daß momentan scheinbar kein Gutachten erforderlich sei, empfahl McCloy, das Gutachten an den Judge Advocate General zurückzugeben und ihn zu fragen, ob es nicht ratsam sei, das Gutachten zurückzunehmen, um diese wichtigen Fragen dann zu entscheiden, wann immer sie auftauchten. Vorher seien jedoch neben anderen interessierten Behörden das Kriegsund das Außenministerium über kontroverse rechtliche und politische Fragen anzuhören104. Diese Äußerungen McCloys sprachen dem wirklichen Sachverhalt jedoch Hohn. Eine neue Untersuchung zum Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer und französischer Hand105 kommt zu dem Ergebnis, daß vom April 1945 an vornehmlich Männer, aber auch Frauen, Kinder und alte Menschen, in amerikanischen und französischen Lagern an klimaund witterungsbedingten Krankheiten, an den Folgen unzureichender Hygiene, an Krankheit und Hunger gestorben sind. Die Zahl der Opfer soll dieser Studie nach im Bereich zwischen 800.000 und einer Million zu beziffern sein106. 104 J.J. McCloy, "Memorandum for the Chief of Staff", "Subject: Informal Opinion of the Judge Advocate General SPJGW 1945/5817", 15.11.1945; RG 107 ASW 383.6 Enemy POW in Allied Hands-Germans 105 J. Bacque, Der geplante Tod: deutsche Kriegsgefangene in amerikanischen und französischen Lagern, 1945-1946 J. Bacque, ebd., S. 15 106 480 Dies zeigt überdeutlich, welche schwerwiegenden Folgen die Nichtanwendung der Genfer Konvention für die davon betroffenen Menschen mit sich brachte. Vor diesem Hintergrund davon zu sprechen, die Gefangenen seien nach der Genfer Konvention behandelt worden, wie McCloy es im November 194 5 tat, ist entweder ein Beweis für grenzenlosen Zynismus oder ein Hinweis darauf, daß die Informationen über das Geschehen in Europa soweit es die Kriegsgefangenen betraf - McCloy nicht bekannt waren oder von ihm ignoriert wurden. III.3. Unklarheiten über die Rechtslage in der US-Armee Während McCloy in Washington händeringend eine eindeutige Aussage zur Beachtung oder Nichtbeachtung der Genfer Konvention zu verhindern suchte, war man sich im Mai 1945 in der US-Armee in Europa völlig unschlüssig über die Behandlung, die den deutschen Kriegsgefangenen zukommen sollte. Eine Anfrage an das Kriegsministerium blieb ohne Antwort. Charles Fairman, Oberst in der Abteilung für Völkerrecht beim Chef des Heeresjustizwesens im Hauptquartier der US- Armee in Europa, meinte allerdings die Theorie auch weiterhin aufrechterhalten zu können, wonach die Genfer Konvention noch immer anwendbar sei, obwohl die deutschen Streitkräfte bedingungslos kapituliert hätten und die deutsche Regierung ausgelöscht sei. Andererseits habe das Kriegsministerium aber Maßnahmen genehmigt, die ein Abweichen von einigen Vorschriften der Konvention bedeuteten. So werde der Kriegsgefangene sicherlich nicht mit einer Ration ernährt, die, wie es die Genfer Konvention verlangte, nach Qualität und Quantität derjenigen von Truppen in Lagern der Etappe gleichkomme. Das Hauptquartier der Nachschub- und Verbindungszone der US-Armee (Hq Com Z) habe die Basisabteilungen ("base sections") autorisiert, deutsche Kriegsgefangene zur Säuberung von Minenfeldern zu organisieren, auszubilden und Gebrauch von ihnen zu machen. Die Judge Advocate Section hatte zu Bedenken gegeben, daß es höchst erstrebenswert erscheine, daß Deutsche, und nicht alliierte Soldaten oder Zivilisten, die Minen beseitigten, 481 was durch Artikel 32 der Genfer Konvention jedoch strikt untersagt war, wonach Kriegsgefangene nicht zu unzuträglichen oder gefährlichen Arbeiten verwendet werden durften. Aus der G-1Abteilung des Obersten Hauptquartiers erhielt die Judge Advocate Section zur Antwort, es wäre effizienter, "entwaffnete deutsche Einheiten" ("disarmed German units"), die von Kriegsgefangenen zu unterscheiden seien, und die in der Minenarbeit ausgebildet seien, zu verwenden. Falls dies der Fall sei, scheine kein Bedürfnis zu bestehen, die Frage nach der Verwendung von Kriegsgefangenen für diese Arbeit aufzuwerfen107. Keine Bedenken hegte Fairman gegen eine längere Zurückhaltung deutscher Kriegsgefangener, ja selbst ihre mögliche Verschickung in den Fernen Osten schien ihm rechtliche Fragen nicht aufzuwerfen. Daß ein längeres Einbehalten der Kriegsgefangenen mit Art. 75 der Genfer Konvention nicht im Einklang stand, da danach "die Heimschaffung der Kriegsgefangenen binnen kürzester Frist nach Friedensschluß zu erfolgen" hätte, glaubte er mit dem Hinweis rechtfertigen zu können, daß zur Zeit ja gar keine deutsche Regierung existiere und niemand sagen könne, wann ein Frieden geschlossen werde108. Daß die Überschrift über Art. 75 Genfer Konvention nicht nur von einem Friedensschluß sprach, sondern die "Freilassung und Heimschaffung nach Beendigung der Feindseligkeiten" verlangte, war ihm dabei ganz offensichtlich entgangen, so daß er schlußfolgerte: "... it seems that PWs (Prisoners of War, d. Verf.) and disarmed German units will be retained in our service as long as they seem useful and it is believed that at present no legal problem arises. Evidently if they are to be transported to the Far East the War Department will have to be brought into 107 Col. Ch. Fairman, Chief, International Law Division (Hq. European Theatre of Operations, US-Army, Judge Advocate Section), "Memorandum for General Betts", "Subject: Treatment of German Prisoners of War after VE Day", 28.5.1945, Abs.Nr. 3,4; RG 331 SHAEF, G-1, 383.6/3-18 Employment of Enemy POW; vgl. auch J. Bacque, Der geplante Tod, S. 87 f. 108 Col. Ch. Fairman, ebd., Abs. Nr. 12 482 the Situation, but the problem does not 109 appear to be one of law." Das Resultat von Fairmans Bestandsaufnahme vom Mai 1945 war, ganz im Gegensatz zu dem Eindruck, den McCloy im November desselben Jahres zu erwecken suchte, daß eine maßgebliche Entscheidung zu bestimmten unerledigten Problemen benötigt werde, und er glaubte, eine solche Entscheidung sollte von der Regierung der Vereinigten Staaten kommen. General Lerch, der Provost Marshal General, hatte ihm anläßlich eines Besuches im Hauptquartier bereits deutlich zu verstehen gegeben, daß das Kriegs- und wohl noch mehr das Außenministerium nicht vorbereitet seien, um eine eindeutige Aussage zu machen, wonach die Genfer Konvention auf die neue Situation unanwendbar geworden sei. Dies, so scheine es, sei vielleicht ebensosehr eine Angelegenheit der Öffentlichkeitsarbeit wie eine Entscheidung der Rechtsfrage. General Lerch hatte dem Hauptquartier nahegelegt, das Kriegsministerium über alle seine Handlungen zu informieren, die mit der Genfer Konvention nicht vereinbar seien, verbunden mit der Erklärung, auf diesem Weg fortzufahren bis gegenteilige Instruktionen einträfen. Er versprach sich davon sowohl die Informierung des Kriegsministeriums als auch einen Schutz des Hauptquartiers der US-Armee in Europa vor nachteiliger Kritik. Eine gegenteilige Antwort aus dem Kriegsministerium hielt Lerch nach eigenem Bekunden nicht für wahrscheinlich110. Oberst Fairman hielt die Genfer Konvention zumindest für teilweise anwendbar. Die deutsche Nation - Fairman nannte neben den Zivilisten noch ausdrücklich die Kriegsgefangenen und "entwaffente deutsche Einheiten" - befinde sich jetzt in der Hand der alliierten Nationen. Sie sollten gerecht und im- Einklang mit einem intelligenten und konsequenten Plan behandelt werden. Wenn, wie seine Abteilung von Anfang an argumentiert habe, nicht alle Bestimmungen der Genfer Konvention auf diese neue Situation anwendbar seien, so 109 Col. Ch. Fairman, ebd. 110 Col. Ch. Fairman, ebd., Abs. Nr. 13 483 gelte dessen ungeachtet, daß das System der Kontrolle rational und fair sein sollte111. Fairman klagte in seinem Memorandum vom 28. Mai 1945 abschließend: "The legal situation at the moment has become so confused that it is difficult to give sound advice on problems that are reffered to this section for an opinion. It is believed therefore the entire matter should be reviewed in order that the policies to be pursued may be rational, just and based upon some consistent theory."112 Die gewünschte verbindliche und der Rechtskonfusion ein Ende setzende Weisung aus Washington blieb allerdings aus. Die rechtliche Unsicherheit, die vor Ort in Europa zu Lasten der deutschen Kriegsgefangenen ging, wurde nie restlos beseitigt. Die Erklärung McCloys in seinem Memorandum vom November 1945, rechtliche Probleme seien im Zusammenhang mit der Behandlung deutscher Kriegsgefangener gar nicht aufgetaucht, entbehrt angesichts der klaren Forderung von Oberst Charles Fairman vom 28. Mai 1945 jeglicher Grundlage. Gleiches gilt auch für die Behauptung, es habe nur geringe Schwierigkeiten in der Verwaltung gegeben. Die großen rechtlichen Probleme lagen zwar offen auf dem Tisch, eine Lösung wurde aus Europa angemahnt, doch beliebte McCloy - aus gutem Grund - dies alles zu ignorieren. III. 4. William Chanlers Memorandum vom 6. Juni 1945 Selbst der Stellvertretende Direktor der Civil Affairs Division, Oberst William Chanler, der sich monatelang bemühte, alle rechtlichen, pseudo-rechtlichen und politischen Register zu ziehen, um eine Anwendbarkeit der HLKO auf Deutschland zu vermeiden, konnte sich mit dem Gedanken, den deutschen Kriegsgefangenen alle Rechte und Privilegien zu entziehen, nicht anfreunden. In seinem Rechtsgutachten vom 6. Juni 1945 rang er sich zu einer differenzierenden Stellungnahme durch. Aufgrund einiger besonderer Merkmale sei 111 112 484 Col. Ch. Fairman, ebd., Abs. Nr. 15 Col. Ch. Fairman, ebd. die Argumentation, die ihn zu einer Verneinung der HLKO geführt hatte, auf die Genfer Konvention nicht so ohne weiteres übertragbar. Die Kriegsgefangenen-Konvention habe bestimmte Elemente einer "Drittbegünstigungs-Vereinbarung" ("Third party beneficiary"agreement) und es sei fraglich, ob einem feindlichen Land erlaubt sein sollte, seinen "de facto-Untertanen" ("de facto subjects") den Schutz der Konvention zu entziehen, selbst wenn es rechtlich mit der vollen Macht der Regierung über das besiegte Land und sein Volk ausgestattet sei. Nach ihren Bestimmungen binde die Konvention so lange, bis der Kriegsgefangene repatriiert sei. Kriegsgefangene seien auch berechtigt, Beschwerden über angebliche Verstöße gegen die Konvention der Schutzmacht vorzulegen113. Auch die möglichen nachteiligen politischen Folgen schreckten Chanler ab: "An unpleasant situation might arise, both with relation to U.S. prisoners of war, now in Japanese hands, and for the future reputation of United States, if German prisoners, captured in actual battle, should make formal complaint that their rights are being violated by the Allied Powers, and such complaints were found to be justified."114 Chanler hielt es deshalb für politisch vernünftiger, nicht zu behaupten, die Alliierten betrachteten nach der Niederlage und Kapitulation Deutschlands die Genfer Konvention als rechtlich nicht mehr bindend. Auch war eine solche Erklärung nach seinem Dafürhalten gar nicht notwendig. Die einzigen Bestimmungen der Konvention, die ernsthaft lästig seien, seien die hinsichtlich der Rationen, der Beschränkungen über die Verwendung von Offizieren und Unteroffizieren für Arbeitszwecke und die Vorschrift gegen den Einsatz von Kriegsgefangenen bei gefährlicher Arbeit. Um die damit verbundenen rechtlichen Schwierigkeiten einigermaßen lösen zu können, verfiel Chanler auf eine 113 Col. W.C. Chanler, "Memorandum of Law", "Subject: Rights and Powers of the Control Council over Germany under International Law", 6.6.1945, S. 24; RG 107 ASW (General Correspondence of J.J. McCloy 1941-45) 370.8 Germany - Control Council; RL Charles Fahy Papers Box Nr. 65 114 W.C. Chanler, ebd., S. 24 f. 485 äußerst fragwürdige Argumentation: Der bedeutsamste Einwand bei "gefährlicher Arbeit" beziehe sich auf die Minenräumung. In selbstgerechter Weise meinte Chanler, die Gerechtigkeit, von Deutschen zu verlangen die Minen zu beseitigen, die sie selbst gelegt hätten, sei so offenkundig, daß es scheine, daß nach der bedingungslosen Kapitulation diese besondere Vorschrift eigentlich außer acht gelassen werden könne. ("The justice of requiring Germans to remove the mines which they themselves have planted is so obvious that it would seem that after unconditonal surrender this particular provision can properly be disregarded."). Falls es dabei noch irgendeine Frage gebe, könnten deutsche Kriegsgefangene, die Kenntnis von der Lage der Minen hätten oder in ihrer Entfernung ausgebildet seien, nach ihrer Repatriierung für diesen Zweck einberufen werden. Den gleichen Trick wollte Chanler auch in bezug auf deutsche Offiziere und Unteroffiziere benutzen, die ebenfalls in einer solchen Menge repatriiert werden sollten, wie man sie für Arbeitszwecke benötigte. Nach ihrer Repatriierung seien sie dann für Arbeitszwecke wieder einzuziehen. Die Notwendigkeit, den Kriegsgefangenen Nahrungsmittel-Rationen zukommen zu lassen, gleichwertig zu denen der Soldaten der gefangennehmenden Truppen, sah Chanler als unmöglich an, weil die Nahrungsmittelknappheit in der Welt das nicht zulasse. Er empfahl, die Alliierten sollten sich auf den Standpunkt stellen, daß kein deutscher Kriegsgefangener größere Rationen erhalten werde als das, was für die Zivilisten in befreiten Gebieten zur Verfügung stehe. Es sei unerträglich, daß deutsche Kriegsgefangene eine vollständige USMilitärration empfangen sollten, während die zivilen Opfer ihrer Aggression hungerten. ("It is intolerable that German prisoners of war should receive a full U.S. military ration, while the civilian victims of their aggression are starving.")115. Daß die Kriegsgefangenen im Gegensatz zur Zivilbevölkerung in den von den alliierten befreiten, also nichtdeutschen Gebieten gar 115 W.C. Chanler, ebd., S. 25 486 nicht die Möglichkeit besaßen, durch eigenes Zutun und eigene Anstrengung für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, sondern auf Gedeih und Verderb von den amerikanischen Zuteilungen abhängig waren, entging Chanler dabei. Genauso wenig war er in der Lage, Kriterien anzugeben, an denen die Nahrungsmittelrationen der deutschen Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung in anderen Ländern hätten verglichen werden können. Die von ihm vorgeschlagene Handhabung dieses für die Kriegsgefangenen existentiellen Problems öffnete willkürlicher Handhabung der Nahrungsmittel-Portionierung Tür und Tor. Chanlers Ergebnis zur Weitergeltung der Genfer Konvention lautete: "Although the Geneva Convention is legally inapplicable, it should, as a matter of policy, be observed in the treatment of all prisoners of war except as to the matter of rations and mine removal."116 Gerade diese beiden von Chanler gemachten Ausnahmen aber waren für die Kriegsgefangenen von enormer Wichtigkeit, waren sie dadurch ja nicht mehr nur wehrlos, sondern auch rechtlos. Bei Zugrundelegung dieser Auffassung bei der Behandlung der Kriegsgefangenen stand ihr Leben und Überleben in den amerikanischen Lagern zur Disposition eines jeden amerikanischen Lagerverwalters. III.5. Memorandum des Kriegsministeriums vom 10. Dezember 1946 Eine Chanlers Ansicht ähnliche Position bezog auch das amerikanische Kriegsministerium in seinem Gutachten vom 10. Dezember 1946117. Die Genfer Konvention, meinten die Auto ren des Gutachtens, habe weiterhin eine bestimmte begrenzte Anwendbarkeit ("... a certain limited application... ") , nämlich auf diejenigen Kriegsgefangenen, die vor der Been 116 117 W.C. Chanler, ebd., S. 26 Zum Inhalt des Gutachtens vgl. schon oben , 3. Teil, III.2.b., "Gutachten der Völkerrechtsabteilung des Heeresministeriums der Vereinigten Staaten zur Anwendung der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention auf das besetzte Deutschland", in: Jahrb. f. Intern. Recht 1956, S. 300 ff. 487 digung der Feindseligkeiten am 8. Mai 1945 durch die amerikanischen Truppen gefangengenommen worden seien. Soweit sie unter Gefechtsbedingungen eingebracht worden seien, worauf die Konvention anwendbar sei, seien sie berechtigt, ihren Schutz bis zur Repatriierung zu erhalten. In einem gewissen Sinne befinde sich der einzelne Kriegsgefangene in einer Position, etwa ähnlich zu der eines "cestui que trust" oder einer "Drittbegünstigung" ("third party beneficiary"). Die Konvention schaue Uber die Beendigung der Feindseligkeiten hinaus und lege der siegreichen Macht die Verpflichtung auf, Kriegsgefangene ohne übermäßige Verzögerung nach dem Ende der Kämpfe zu repatriieren118. Von diesen Vergünstigungen und Rechten sollten die DEF jedoch ausgeschlossen bleiben, aus formalen Gründen des Zeitpunktes der Gefangennahme, ohne daß das Kriterium der Schutzwürdigkeit dieser Menschen, die nach dem Wegfall der eigenen Regierung und der Entwaffnung der eigenen Truppen zweifellos größer als während des Andauerns der kriegerischen Auseinandersetzungen war, hinreichend berücksichtigt worden wäre. Die DEF standen damit rechtlich nicht nur bedeutend schlechter als ihre Kameraden da, die als Kriegsgefangene angesehen wurden, sondern auch schlechter als Zivilinternierte, denen nach Aussage des Gutachtens vom Dezember 1946 der Schutz der Genfer Konvention durchaus zukommen sollte. Dementsprechend hieß es in dem Gutachten: "It seems clear..., that such disarmed enemy personnel are not entitled to any benefits under the Geneva Convention, unless at a later date they were declared to be prisoners of war; further, that German civilian internees held in United States custody for reasons other than war crimes or similar offenses are entitled to the protection of the Geneva Convention, and that all prisoners of war who were captured by us or our Allies must be treated in conformity with the applicable provisions of the Geneva Convention until their release and repatriation."119 118 119 488 "Gutachten ...", ebd., S. 397 "Gutachten ...", ebd. Die beiden Rechtsgutachten des amerikanischen Kriegsministeriums vom 6. Juni 1945 (Chanler) und vom 10. Dezember 1946 gingen mit keinem Wort auf die Einwände ein, die schon im Frühjahr 1944 gegen die amerikanischen und britischen Pläne der EAC zur Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen unterbreitet worden waren. Für McCloy, der das Chanler-Me- morandum kannte, wäre es ein leichtes gewesen, die darin vertretene Position als offizielle Stellungnahme des Kriegsministeriums zu übernehmen und an den Oberbefehlshaber in Europa weiterzuleiten. Daß er dies nicht tat und sich vielmehr darauf verlegte, das kritische JAGGutachten vom April 1945, das die bekannten Einwände noch einmal aufgegriffen hatte, totzuschweigen und die rechtliche Frage offenzulassen bzw. zu ignorieren, zeigt wohl, wie wenig überzeugt er selbst von den Aussagen Chanlers war. Eine offizielle Stellungnahme zur rechtlichen Seite des Kriegsgefangenen und DEF-Problems ist in Washington nie erfolgt. Die zuständigen Stellen, allen voran McCloy, wußten sehr wohl um die juristische Fragwürdigkeit ihres Vorgehens. Ein Interesse, an dieser Vorgehensweise etwas zu ändern, hatten, abgesehen von den mehr oder weniger wehrlosen Deutschen, jedoch außerhalb Deutschlands nur wenige. III.6. Die Schweiz und das Internationale Rote Kreuz im Einsatz für die Interessen der deutschen Kriegsgefangenen Schweiz bleibt nicht länger Schutzmacht. Ein Land, das verpflichtet gewesen wäre, an dem Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen Interesse zu bekunden, wäre die Schweiz gewesen, die während des Krieges für Deutschland als Schutzmacht fungiert hatte. Dieser Aufgabe fühlte die Schweiz sich auch im Mai 1945 verpflichtet. Aber auch in diesem Bereich sorgten die Amerikaner schnellstens dafür, daß die Schweiz von ihrer Aufgabe entbunden wurde. Schon am 8. Mai 1945 wurde der Gesandte der Schweiz in Washington davon in Kenntnis gesetzt, die amerikanische Regierung sehe a. 489 die Vertretung deutscher Interessen in den Vereinigten Staaten als nicht länger notwendig an. Deshalb werde die Schweizer Regierung auch die Interessen deutscher Kriegsgefangener in USGewahrsam in den Vereinigten Staaten und in Übersee nicht länger vertreten. Dem Schweizer Gesandten wurde ausdrücklich zugesichert, die Kriegsgefangenen würden weiterhin in Übereinstimmung mit den Vorschriften der Genfer Konvention behandelt, bis zum Zeitpunkt ihrer Repatriierung120. Der einzige neutrale Beobachter, von dem die Gefangenen nun noch Hilfe und Unterstützung erhofften und in dem sie einen Ansprechpartner für ihre Klagen finden konnten, war von nun an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). IKRK-Bemühungen um Hilfslieferungen. Dem IKRK gegenüber erklärten die Amerikaner, voran Außenminister James F. Byrnes, die Genfer Konvention beachten zu wollen121. Seine Bemühungen wurden jedoch regelmäßig torpediert. Nachdem das Kriegsministerium am 4. Mai 1945 allen deutschen Kriegsgefangenen verboten hatte, Post abzuschicken oder zu empfangen, schlug das IKRK im Juli einen Plan vor, um diesen Postverkehr wieder aufzunehmen, erhielt jedoch nur eine abschlägige Anwort. Und als das IKRK Ende Mai, Anfang Juni zwei Güterzüge mit Lebensmitteln aus seinen Lagerhäusern in der Schweiz nach Mannheim bzw. Augsburg schickte, wurde dem Begleitpersonal vor Ort von Offizieren der US-Armee mitgeteilt, die Lagerhäuser seien noch gefüllt und die Hilfslieferungen müßten zurückkehren, was auch geschah122. b. IKRK-Präsident Max Huber schrieb daraufhin einen Brief an das amerikanische Außenministerium, in dem er sein Befremden über die US-Politik ausdrückte. Hubers Sorge galt vornehmlich der Lage verschleppter Personen in Deutschland, die ebenfalls dringender Hilfe bedurften. Er gelangte zu der Erkenntnis, daß die von den zuständigen Stellen der alliierten Armeen an die angloamerikanische Zentralstelle 120 121 122 490 Sec. of State, Grew act., an R. Murphy, dort eingegangen: 13.5.1945; RG 260/OMGUS POLAD/728/24 J. Bacque, Der geplante Tod, S. 9, S. 224 J. Bacque, ebd., S. 90 des IKRK gerichteten Anforderungen in keinem Verhältnis zu dem herrschenden Bedarf stünden. Das habe zur Folge, so Huber, daß die humanitäre Arbeit des IKRK Gefahr laufe, diskreditiert zu werden. Die Verantwortung des Roten Kreuzes für die angemessene Verwendung von Hilfsgütern, die ihm anvertraut worden seien, sei unvereinbar mit einer Beschränkung auf die Befolgung von Befehlen, die das IKRK bei der Zurverfügungstellung von Hilfsgütern, die es selbst für erforderlich halte, zur Ohnmacht verurteilen. Die erwarteten Anforderungen würden entweder gar nicht an das Rote Kreuz gerichtet, oder sie träfen mit großer Verzögerung ein. Die Tatsache, daß die Lagerhäuser in Deutschland noch immer gefüllt waren, bildete für Huber einen schlagenden Beweis dafür, daß die früher angeforderten Güter noch immer nicht verteilt worden waren. Huber meinte abschließend, diese Umstände ließen dem IKRK keine andere Möglichkeit, als seiner ernsten Besorgnis für die unmittelbare Zukunft Ausdruck zu verleihen. Untätig zuzuschauen, während das IKRK selbst Uber große Mengen sofort verfügbarer Hilfsgüter verfüge, bei einer Not in Deutschland, die ständig beunruhigender werde, vertrage sich nicht mit der Tradition des Roten Kreuzes123. Hubers begründete Sorge fand in Washington aber kein Gehör. Der Brief wurde an die Armee weitergegeben, die sich unter einer fadenscheinigen Begründung, eine zwischen der Armee und dem britischen und amerikanischen Roten Kreuz getroffene Vereinbarung verbiete die Verwendung von Lebensmitteln des Roten Kreuzes für Feindpersonal, jedoch ihrer Verantwortung für die von Huber angeprangerten Mißstände weiterhin entzog124. Der eigentliche Grund für die Beschränkung der Lebensmitteleinfuhr nach Deutschland lag darin, daß man jeglichen Eindruck vermeiden wollte, die Deutschen erhielten durch diese Hilfslieferungen einen höheren Lebensstandard, als es dem Durchschnitt der angrenzenden europäischen Nationen entspreche. Deshalb war auch der Empfang von Wohltätigkeits-Paketen ("Care") für 123 124 J. Bacque, ebd., S. 91 ff. J. Bacque, ebd., S. 93 491 Einzelpersonen in Deutschland bis zum 5. Juni 1946 verboten125. Stellte sich die angebliche Lebensmittelknappheit, die eine notwendige Versorgung Deutschlands selbstverständlich erschwert hätte, somit als insbesondere von der Armee inszeniertes Schauspiel heraus, wäre eine Differenzierung zwischen völkerrechtlich geschützten Kriegsgefangenen und völkerrechtlich rechtlosen "disarmed enemy forces" eigentlich überflüssig gewesen. Denn schon die Planungen für diese Unterscheidung aus dem Jahre 1944 hatten besonderen Nachdruck auf die Feststellung gelegt, daß eine solche Differenzierung nur aus praktischen Erwägungen erfolge, um den DEF nicht die ihnen rechtlich zustehenden Rationen zuteilen zu müssen, falls es zu einem Engpaß in der Versorgung kommen sollte. Ohne diesen Engpaß aber war auch die Unterscheidung hinfällig. Dennoch hielt Eisenhower an dieser Konzeption fest. McCloys Rückendeckung aus Washington war ihm dabei sicher. III.7. Eisenhowers "Disarmed Enemy Forces" (DEF)-Befehle Schon am 4. Mai 1945, also noch vor der militärischen Kapitulation, befahl General Eisenhower, daß deutsche Soldaten, die in Deutschland gefangengehalten würden, und jene, die gegenwärtig die Waffen streckten, als "disarmed enemy forces" bezeichnet werden sollten, nicht als Kriegsgefangene. Der erste Bericht, in dem zwischen beiden Kategorien unterschieden wird, datiert vom 26. Mai. Obwohl noch unvollständig, spricht der Bericht davon, daß von den 6. 155.468 Gefangenen 2.057.138 Kriegsgefangene und 4.098.330 DEF waren126. Am 5. August 1945 ging Eisenhower sogar noch einen Schritt weiter. Hatte es bisher immer geheißen, alle vor der Kapitulation gefangengenommenen deutschen Soldaten müßten 125 126 492 E.F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany 1944- 1946, S. 410 Office of the chief Historian, Disarmament and Disbandment of the German Armed Forces, S. 39 auch weiterhin als Kriegsgefangene angesehen und auch als solche behandelt werden, und hatte er diese Vorgabe schon durch seinen Befehl vom 4. Mai unterlaufen, so machte er durch einen weiteren Befehl vom 5. August auch noch die letzten Schranken zunichte, die man ihm aus Washington gesetzt hatte. In dem neuen Befehl hieß es klar und bündig: "Effective immediately all members of the German forces held in US custody in the American Zone of Occupation in Germany will be considered as disarmed enemy forces and not as having the status of prisoners of war."127 Am 22. August wurde diese Anweisung noch auf alle ngehörigen der deutschen Streitkräfte in amerikanischem Gewahrsam in der US-Zone Österreichs erweitert, und es wurde ausdrücklich hinzugefügt, dies schließe auch die Waffen-SS und andere SS-Abteilungen mit ein128. Daß eine solche Ausweitung der DEF-Kategorie möglich sein müsse, hatte in einem Memorandum vom 25. Mai 1945 schon die USGCC durchblicken lassen. Durch die Übernahme der "supreme authority" in Deutschland, so glaubte Oberstleutnant James L. Williams, hätten die Alliierten auch die Befugnis erhalten, alle deutschen Kriegsgefangenen, auch die schon während der Feindseligkeiten festgenommenen, ihres Status entkleiden zu können, mit dem Ziel, sie auch außerhalb Deutschlands für die verschiedensten, sonst verbotenen Arbeiten einsetzen zu können: "Any or all of (the German Armed Forces who are now physically within Germany, including Austria) may be treated as disarmed, disbanded, or demobilized German troops, as the case may be, and thus be released from prisoner of war status. The same would be true as to those held as prisoners of war outside of Germany if they were repatriated. All such persons when released from prisoner of war status would, together with all other Germans, be subject to the supreme authority of the Allies. 127 128 USFET, Eisenhower, an USGCC, 5.8.1945; RG 26O/OMGUS 44-45/21/2 USFA an USGCC, 22.8.1945; RG 260/OMGUS 44-45/21/2 493 There is no judicial concept and no treaty or rule of international law that precludes the use of all people in any type of labor under any circumstances anywhere that the labor can be taken, and controlled, subject, of course, in the case of labor employed outside Germany, to satisfactory arrangements with the country concerned. Such proceedings will be limited only by political considerations. "129 Diese Feststellungen, auf denen Eisenhowers Befehl zweifellos beruhte, bildeten somit die Grundlage, um auch noch den letzten deutschen Kriegsgefangenen rechtlos zu stellen, abhängig allein vom politischen Willen seiner Gewahrsamsmacht, die ihrerseits Entscheidungen nur vor dem Hintergrund ihrer politischen Opportunität zu fällen gewillt war. Als Kriegsgefangene wurden danach nur noch diejenigen bezeichnet, die sich im US-Gewahrsam außerhalb Deutschlands und Österreichs befanden. Alle anderen waren DEF. Eine Aufstellung vom 17. Dezember 1945 bezifferte die Gesamtzahl der von den Vereinigten Staaten noch zurückbehaltenen deutschen Soldaten, nachdem in den Monaten vorher bereits ein erheblicher Teil entlassen bzw. an andere Gewahrsamsmächte übergeben worden war130, mit 1.420.504. Davon waren 972.837 als Kriegsgefangene aufgeführt, 447.667 als DEF. Letztere befanden sich alle in den Händen der 3. und 7. US-Armee. Das Memorandum merkte weiter an, der einzige Unterschied zwischen Kriegsgefangenen und DEF bestehe darin, daß die DEF dem Internationalen Roten Kreuz nicht gemeldet seien131. Durch diese Nichtmeldung wurde natürlich die Wirkungsmöglichkeit des IKRK für diese Gefangenen enorm eingeschränkt, ja fast bis auf Null reduziert. Ohne 129 130 131 Lt. Col. J.L. Williams, Hq. USGCC, an Joint US Advisors, EAC, Memo., "Subject: Use of German Military Personnel by Allied Nations After the Surrender of Germany", 25.5.1945, Abs.Nr. 5; RG 260/OMGUS AGTS/88/9 Vgl. unten 4. Teil, IV. Col. F.E. Emery, Deputy Director, OMGUS, Armed Forces Division, an Deputy Military Governor, Memo., "Subject: Status of Prisoners of War and Disarmed Enemy Forces", 17.12.1945; RG 260/OMGUS 44-46/88/1 Kenntnis von den Gefangenen konnte das Rote Kreuz auch keine Hilfe leisten. III.8. Aufhebung des DEF-Befehls a. Gleichstellungsbefehl vom März 1946. Anfang 1946 führte USFET Inspektionen in den verschiedenen Gefangenenlagern durch und kam zu dem Ergebnis, daß es keine merklichen Abweichungen in der Behandlung von Kriegsgefangenen, DEF und Zivilinternierten mehr gebe, und daß eine gewisse Klarstellung im Hinblick auf die praktische Anwendung der FM 27-10 ("Rules of Land Warfare") notwendig sei132. Die grundlegende Neuerung bestand in dem schlichten Satz: "Disarmed Enemy Forces henceforth to be considered Prisoners of War."133 Zur Begründung dieses Sinneswandels wurde angeführt, die Umstände, aufgrund derer ursprünglich eine Unterscheidung zwischen Kriegsgefangenen und DEF gemacht worden sei, existierten nicht mehr. Um die Verwaltung beider Kategorien zu vereinfachen, solle von nun an (23. März 1946) dieses Personal den Kriegsgefangenen zugerechnet und von ihnen als Kriegsgefangenen berichtet werden. Die Behandlung dieses als Kriegsgefangene zurückgehaltenen Personals werde grundsätzlich so eng wie möglich mit den Vorschriften von FM 27-10 und TM 19-500 übereinstimmen. Eine Ausnahme wurde jedoch auch weiterhin aufrechterhalten: Die Räumung von Minenfeldern sollte sich nicht nach den entsprechenden Vorschriften richten (§ 105, FM 27-10), sondern auf der Grundlage der alliierten Viermächteerklärung vom 5. Juni 1945 gehandhabt werden134. Hinsichtlich der Zivilinternierten ging man davon aus, daß sie weder der Genfer Konvention noch der HLKO unterfielen. 132 133 134 Brig. Gen. L.S. Ostrander, Hq. USFET, an Commanding Generals, "Subject: Treatment of Prisoners of War, Members of Disarmed Enemy Forces and Civilian Internees", 20.3.1945, Abs.Nr. 1; RG 260/OMGUS 44-46/88/1 Brig. Gen. L.S. Ostrander, ebd., Abs. Nr. 2 Brig. Gen. L.S. Ostrander, ebd., Abs. Nr. 3; über den Minenräumdienst vgl. unten 4. Teil, V. 495 Dennoch wurden die Kommandeure aufgefordert, sie nach dem amerikanischen Standard von Fairneß und Menschlichkeit zu behandeln ("... it is desired that treatment of civilian internees conform to US Standards of fairnes and humane- ness."). Innerhalb noch zu nennender Grenzen sollte ihnen im wesentlichen die gleiche Behandlung gewährt werden wie sie FM 27-10 für Kriegsgefangene bestimmte. Die Grenze dieser Behandlung bildeten noch im Umlauf befindliche Direktiven über die Ernährung, Versorgung und Beschränkungen von Besuchen in Zivilinterniertenlagern. Keine Rücksicht sollte zudem genommen werden auf den ehemaligen Rang oder die Stellung dieser Personen, und jede als notwendig erachtete Bevorzugung werde nur auf das Alter, das Geschlecht und den Gesundheitszustand zurückzuführen sein. Örtliche und vorübergehende Ausnahmen von dieser Regel könnten gemacht werden, sofern die militärische Notwendigkeit dies auferlege. Dies sollte beispielsweise für bestimmte Zeugen für die Kriegsverbrecherprozesse gelten, bei denen man durch die zeitweise Gewährung besonderer Privilegien bessere Resultate erwartete135. Nochmaliges Engagement des IKRK. Die Erklärung vom 20. März 1946 wurde jedoch entgegen der ausdrücklichen Anordnung nicht unmittelbar ausgeführt. Außerdem regelte sie nur das Problem der deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand. Weiter offen blieb hingegen das Problem japanischer Kriegsgefangener, die ein ähnliches Schicksal wie ihre deutschen Kameraden hatten. Deshalb richtete das IKRK am 6. September 1946 erneut ein Schreiben an die Alliierten, unter anderem an das amerikanische Außenministerium136, in dem es sich noch einmal für die Gleichbehandlung aller gefangenen Militärpersonen einsetzte: b. "Die bedingungslose Kapitulation der deutschen und japanischen Streitkräfte, die aus der Tatsache resultiert, daß die Streitkräfte ihre Waffen nieder- 135 136 496 Brig. Gen. L.S. Ostrander, ebd., Abs. Nr. 4 Vgl. oben 3. Teil, III.2.a. gelegt haben, ohne sich auf die Bestimmungen verlassen zu können, wie sie üblicherweise in einem Waffenstillstandsvertrag niedergelegt werden, bedeutet nicht ipso facto den Verzicht auf die Rechte, die in der Haager Landkriegsordnung und in der Genfer Konvention vorgesehen sind. Das IKRK versteht voll und ganz die besonderen Schwierigkeiten, denen sich die Gewahrsamsmächte bezüglich der Anerkennung bestimmter Artikel der Konvention gegenüber sahen. Es würde sich jedoch glücklich schätzen, wenn die Mächte davon Abstand nähmen, den Gefangenen die Vorteile der genannten Abkommen völlig zu versagen. Es ist außerdem hinzuzufügen, daß die Schaffung dieser neuen Kategorie von Militärgefangenen sogar den Status gefährdet, der in dem Abkommen von 1929 für die Kriegsgefangenen festgelegt wurde. Das IKRK kann dieser Situation nicht gleichgültig gegenüberstehen: es erachtet es für seine Pflicht, die Aufmerksamkeit der Regierungen auf die Gefahren zu lenken, die sich künftig aus einem solchen Präzedenzfall, der durch eine kriegführende Macht hervorgerufen werden könnte, ergeben könnten. Es liegt zweifellos im Interesse aller Staaten, schon im Frieden, mehr noch im Krieg, die Gewißheit zu haben, daß diejenigen ihrer Staatsbürger, die in die Hand des Feindes fallen könnten, stets die Vorteile der Konventionen genießen würden."137 Entsprechend dem auch in Washington mittlerweile eingetretenen Meinungswandel fiel dann auch die amerikanische Antwort aus. In der Note des Außenministeriums an das IKRK war demgemäß zu lesen: "Es ist die Politik der Regierung der Vereinigten Staaten, diesen Gefangenen den gleichen Status wie den Kriegsgefangenen zuzubilligen. Seien Sie versichert, daß der Bericht des Komitees die Aufmerksamkeit der zuständigen Militärbehörden gefunden hat. Es werden geeignete Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, daß das gesamte 137 IKRK-Report I, S. 565; dt. Übersetzung zit. nach: K.W. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand - Europa, S. 71 497 feindliche Militärpersonal, das sich in amerikanischer Hand befindet, die Behandlung erfährt, wie sie im Genfer Abkommen vorgesehen ist."138 Diese Erklärung beendete endgültig eine Kriegsgefangenenpolitik, deren Ursprünge seinerzeit in London von anglo- amerikanischen Diplomaten befürwortet und gegen die einhellige Ansicht aller rechtskundiger Stellen in Washington durchgesetzt worden war. Ihre vermeintliche Rechtlosigkeit machte die deutschen und österreichischen DEF zum Spielball der amerikanischen Besatzungstruppen; sie waren machtlos, rechtlos und wehrlos. Die Schutzmacht Schweiz wurde von den Vereinigten Staaten ihrer Pflichten entbunden, und gerade in den Zeiten, als die Kriegsgefangenen den völkerrechtlichen Schutz am stärksten benötigten, war er - mangels Durchsetzbarkeit und mangels amerikanischer Selbstbeschränkung bei der Machtausübung - am wenigsten vorhanden. So kam es, daß es die Soldaten der deutschen Wehrmacht und der paramilitärischen Einheiten waren, denen noch nach Beendigung der Feindseligkeiten neben den Vertriebenen mit das härteste und menschlich bestürzendste Schicksal beschieden war. IV. Übergabe deutscher Kriegsgefangener an andere Gewahrsamsmächte IV.1. Frühe völkerrechtliche Überlegungen im US-Kriegs- ministerium Während die amerikanischen Ministerien und die Streitkräfte bestrebt waren, den ihrer Verwaltung in Deutschland unterstehenden Kriegsgefangenen ihre rechtliche Stellung abzuerkennen, um sie nicht nach der Genfer Konvention behandeln zu müssen, ging ihr öffentlich bekundetes Interesse bei der Überstellung von zunächst in US-Gewahrsam gewesenen Kriegsgefangenen an Frankreich, Großbritannien und andere westliche Staaten dahin, diesen ihre Rechte zu gewährleisten oder zurückzugeben. Dabei waren sich die 138 498 IKRK-Report I, S. 566; dt. Übersetzung zit. nach: K.W. Böhme, ebd., S. 72 amerikanischen Behörden schon im Verlaufe des Krieges gar nicht völlig im klaren, ob eine solche Übergabe völkerrechtlich überhaupt zulässig war. Da aber weder der HLKO noch der Genfer Konvention von 1929 etwas Gegenteiliges zu entnehmen war, kam man im Kriegsministerium zu dem Ergebnis, der Transfer von Kriegsgefangenen von einem Alliierten zum anderen sei völkerrechtlich gestattet, um aber noch mahnend anzumerken: "However it is doubtful if such a transfer would relieve the transferor power of its liability to the country in whose army the prisoners served for observance with respect to them of the provisions of the Geneva Convention and other requirements of international law."139 Damit war das Problem jedoch noch nicht vom Tisch, da noch die weitere Möglichkeit bestand, die USA könnten noch aus Verträgen mit Preußen aus dem 18. und 19. Jahrhundert gehalten sein, keine ihrer Kriegsgefangenen an andere Gewahrsamsmächte zu überstellen. Die Vereinbarungen über die Kriegsgefangenen stammten vom 11. Juli 1799 und vom 1. Mai 1828. Artikel 24 des ersten Abkommens und Artikel 12 des zweiten sahen vor, daß die beiden Vertragspartner, um Verderben von den Kriegsgefangenen fernzuhalten, diese nicht in entfernte und harte Länder verschicken dürften, und sie stattdessen in Teile ihrer jeweiligen Herrschaftsgebiete in Europa und Amerika gebracht würden, wo sie unter gesunden Bedingungen leben könnten140. Der amerikanische Außenminister Lansing ging noch 1918 davon aus, dieses Abkommen sei für die Vereinigten Staaten 139 140 Col. A. King, JAGD, Chief, War Plans Division, "Memorandum for the Judge Advocate General "Subject: Transfer of prisoners of war to an ally", o.D.; RG 155 ABC 1942-1948, 383.6 (6-19-42) Sec. 1-A Art. 12 lautet: "And to prevent the destruction of prisoners of war, by sending them into distant and inclement countries, or by crowding them into close and noxious places, the two Contracting Parties solemnly pledge themselves to the world and to each other, that they will not adopt, any such practice; ... but that they shall be placed in some parts of their dominions in Europe or America, in wholesome conditions..." FRUS 1918, Suppl. 2 The World War, S. 55 499 bindend, und teilte dementsprechend mit: seinem Amtskollegen im Kriegsministerium "It is believed ... that the plan of sending to the United States the prisoners of war captured by our military and naval forces to be retained here is the proper course to follow as Germany might insist that under the treaty they should be returned to the United States."141 Als das Kriegsministerium 1942 befürchtete, auch in und nach dem Zweiten Weltkrieg an diese Abkommen der Vereinigten Staaten mit Preußen gebunden zu sein, richtete es eine entsprechende Anfrage an das Außenministerium. Von dort wurde telefonisch mitgeteilt, das Abkommen von 1828 sei mittlerweile durch die Wirkung des Friedensvertrages zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von 1921 außer Kraft getreten, da dieser den USA alle Vorteile und Rechte der Alliierten Vorbehalten habe, die den Versailler Vertrag unterzeichnet hätten. Artikel 289 dieses Vertrages aber sage, daß alle vorher existierenden Abkommen zwischen Deutschland und den Alliierten aufgehoben seien, mit Ausnahme solcher, die jeder der Alliierten ausdrücklich wieder in Kraft setze. Die Auskunft des Außenministeriums besagte weiter, die Vereinigten Staaten hätten nur einen der schon vorher bestehenden Verträge wieder in Kraft gesetzt, der sich aber mit Patenten befaßt habe142. Oberst Archibald King schlußfolgerte daraus: "It, therefore, appears that the treaties of 1799 and 1828, and in particular article 24 of the former with reference to prisoners of war, are no longer in force." 141 142 FRUS 1918, Suppl. 2, S. 56, Vgl. auch S. 59 Col. A. King, JAGD, Chief, War Plans Division, "Memorandum for the files", "Subject: Treatment of Prisoners of War - Treaty of July 11, 1799, between the United States and Prussia", 23.9.1942, Abs.Nr. 1; RG 165 ABC 1942-1948, 383.6 (6-19-42) Sec. 1—A 143 Col. A. King, ebd., Abs. Nr. 2 Somit war der Weg für Kriegsgefangenen-Überstellungen an andere verbündete Mächte grundsätzlich frei und völkerrechtlich nicht zu beanstanden. Oberst King hielt in einem Memorandum eine Aussage fest, die er im Hinblick auf die dabei zu beachtenden Rechtspflichten schon im Sommer 1942 gegenüber einem Offizier des Generalstabs abgegeben hatte: "I told him that in the absence of some express provision in a treaty between the particular powers involved, there is no general provision of international law forbidding such a transfer. I called attention to the Geneva Convention on Prisoners of War of 1929, and said that if those provisions as to the care of prisoners are observed that is all that the nation to whose army the prisoner belongs has a right to demand."144 IV. 2. Amerikanisch-französische Planungen und Überstellun- gen deutscher Kriegsgefangener a. Amerikanisch-französische Vereinbarungen. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, drangen die Vereinigten Staaten gegenüber Frankreich von Anfang an auf eine Vereinbarung, die den übergebenen Kriegsgefangenen ihre Rechte garantieren würde. Mitte November 1944 stellte SHAEF Grundbedingungen auf, deren Annahme durch die Franzosen Voraussetzung für die geplante Überstellung sein sollten. Zuerst wurde die Beachtung der Genfer Konvention in jeglicher Hinsicht ("in all respects") genannt. Auch sollte die französische Regierung den Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes ein Recht auf Besuche, Zutritt und Interviews gewähren, identisch mit dem in Artikel 86 der Genfer Konvention für die Schutzmacht vorgesehenen Recht. Die gleichen Rechte sollten auch der übergebenden Gewahrsamsmacht zugestanden werden145. Mit 144 Col. A. King, JAGD, Chief, War Plans Division, "Memorandum for the files", "Subject: Transfer of prisoners of war from one captor power to another", 20.7.1942, Abs. Nr. 1; RG 165 ABC 1942-1948, 383.6 (619-42) Sec., 1-A X45 Brig. Gen. T.J. Davis, SHAEF, an Head, Supr. Headqu., AEF, Mission (France), 18.11.1944, Abs. Nr. 4; RG 260/OMGUS 44501 dieser letzten Bestimmung mochten die Franzosen sich jedoch nicht einverstanden erklären. Sie stellten sich auf den Standpunkt, die übergebende Macht habe nach der Übergabe keine Verantwortung mehr und sollte die von den Vereinigten Staaten geforderten Rechte nicht beanspruchen. Mit der Begründung, die gegenwärtige französische Regierung sei ein voll entwickeltes Mitglied der Vereinten Nationen und der EAC, wurde daraufhin von den Amerikanern diese Bedingung fallengelassen146. In Washington war man sich bei den CCS - im Gegensatz zu der französischen Auffassung - der bleibenden Verantwortung für die übergebenen Kriegsgefangenen dennoch bewußt: "The United States and the British Governments have adopted the view that the act of transfer of a prisoner of war from the captor power to the custody of an Allied power does not divest the captor power of all its responsibility under the Geneva Convention.147 Dieser anglo-amerikanische Vorbehalt wurde aber nicht in die Vereinbarung aufgenommen. Auf amerikanischer Seite glaubte man wohl, durch das Zugeständnis einer Behandlung nach den Bestimmungen der Genfer Konvention und der Gewährleistung einer Art Schutzmachtfunktion für das IKRK die notwendigen Vorkehrungen für das Wohl der deutschen Kriegsgefangenen getroffen zu haben148. b. Überstellungen und Versorgungsschwierigkeiten. Vom 22. Februar bis Ende Mai 1945 wurde ein erstes Kontingent von 50.000 Mann an Frankreich abgegeben, von denen 15.000 aus britischen Lagern in der Normandie und aus Belgien, die restlichen 35.000 aus amerikanischen Sammellagern hinter 146 147 148 502 45/21/2, "Subject: Transfer of Prisoners of War to French Custody" Vgl. CCS, "Report by the Combined Administrative Committee", "Transfer of German Prisoners to the French", 17.1.1945, Abs. Nr. 2-4; RG 260/OMGUS AGTS/88/9 CCS, ebd., Abs. Nr. 7 Zum Inhalt der amerikanisch-französischen Vereinbarung vgl. Brig. Gen. T.J. Davis, SHAEF, "Subject: Transfer of Enemy Prisoners of War to French Custody", 14.2.1945; RG 260/OMGUS 44-45/21/2 der Invasionsfront kamen. Es handelte sich um das einzige "gemischte" Kontingent. Die Briten lieferten später nur noch insgesamt weitere 10.000 Kriegsgefangene. Alle anderen Übergaben erfolgten aus amerikanischem Gewahrsam und beliefen sich bis Mitte September 1945 auf rund 663.000 Personen149. Unter anderem übernahmen die Franzosen am 10. Juli 1945 von den Amerikanern acht Kriegsgefangenen- Sammellager mit 182.400 Insassen im Raum Koblenz/Mainz, darunter auch die berüchtigten "Rheinwiesenlager" Sinzig, Andernach, Siershahn, Bretzenheim Dietersheim, Koblenz, Hechtsheim und Diez, in denen das Elend besonders groß war, zumal sich unter den Gefangenen eine ganze Anzahl von Frauen, Jugendlichen, vereinzelt Kindern, alten Menschen sowie große Mengen Arbeitsunfähiger (Verwundete, Amputierte) und Unterernährter befanden150. Schon bald sah man sich in Frankreich bei der Versorgung dieser Kriegsgefangenen vor große und ernste Schwierigkeiten gestellt151. In dieser Situation erwies es sich als besonders vorteilhaft, daß die Vereinigten Staaten darauf bestanden hatten, dem IKRK einen schutzmachtähnlichen Status einzuräumen. Das Internationale Rote Kreuz war nun in der Lage, die Zustände in den Lagern zu analysieren und die gewonnenen Ergebnisse weiterzumelden und zu veröffentlichen. Bei ihren Inspektionsbesuchen stellten die IKRKRepräsentanten im Sommer 1945 fest, daß die Lage derart kritisch geworden war, daß nach ihrer Meinung die Gesundheit und sogar das Leben von 300.000 Gefangenen in französischen Lagern infolge von Unterernährung ernsthaft bedroht war. Die Pariser Delegation des Komitees appellierte daraufhin dringend an die amerikanischen Stellen in Frankreich um Hilfe, um die bevorstehende Katastrophe zu vermeiden152. Die Lagerbedingungen, die 149 150 151 152 Vgl. K.W. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen in französischer Hand, S. 16-18, wo auch die einzelnen Kontingente (insgesamt fünf) zahlenmäßig aufgeschlüsselt werden. K.W. Böhme, ebd., S. 27 Vgl. K.W. Böhme, ebd., S.61 ff. zur Ernährungssituation, S. 77 ff. zum Gesundheitswesen und der Mortalität. IKRK-Report I, S. 255 f. 503 Versorgung der Kriegsgefangenen und die Übergriffe der (auch amerikanischen) Wachmannschaften entsprachen in keiner Weise den Anforderungen der Genfer Konvention, zu deren Einhaltung sich Frankreich gegenüber den USA verpflichtet hatte. Das amerikanische Kriegsministerium wurde im September 1945 aufgeschreckt durch ein Memorandum des Generalsekretärs des "Federal Council of the Churches of Christ in America", Samuel McCrea Cavert, der über die von ihm in der Zeit von Mai bis August gemachten Erfahrungen berichtete. Die Kriegsgefangenen, so Cavert, befänden sich zwar hauptsächlich in französischen Lagern, seien jedoch durch amerikanische Streitkräfte in der letzten Phase des Krieges gefangengenommen und an die Franzosen übergeben worden. Deshalb habe Amerika "to bear much of the responsibility, especially so since many of the prisoners were turned over to the French in a halfstarved condition."153 Über die Lagerbedingungen in von Frankreich bewachten Camps konnte Cavert keine näheren Angaben machen, da er in diese keinen Einblick hatte nehmen dürfen. Selbst das nationale französische Rote Kreuz, so mußte er nach Washington melden, habe keine Erlaubnis zum Besuch dieser Lager erhalten154. Doch auch das, was er in den unter amerikanischer Kontrolle stehenden "Continental Centers Prisoner of War Enclosures" gesehen hatte, war äußerst besorgniserregend: "In May a visit to one of these camps revealed that the prisoner of war chaplains complained that the prisoners received as their entire ration a little thin soup twice a day and were sleeping on the ground. Several young prisoners had been beaten by American guards a fact which was confirmed by 153 154 504 J.L. Barclay, Executive, Special Group, G-1, an Assistant Chief of Staff, G-1, 30.10.1945, Anhang: "Memorandum on Conditions in Prisoner of War Camps in France" (Auszüge aus dem CavertMemorandum) vom 29.9.1945; RG 107 ASW 383.6 Enemy POW in American Hands (Germans in French Custody) J.L. Barclay, ebd., Abs. Nr. 3 the American chaplain when he was alone with the observer. ... At another similar camp, visited in May and again in August, it had been found on both occasions that insufficient food was provided, that the prisoners of war suffered so from hunger that some did not have the moral strength to endure this slow death and had tried to commit suicide. Many of them showed famished faces. Furthermore, they had to sleep on thin straw on the ground. It was nothing unusual to see men faint from weakness during the worship services."155 a. Übergabe-Stopp vom 30. September 1945. Aufgrund der Berichte aus Frankreich ließ Eisenhower am 30. September 1945 alle weiteren Übergaben deutscher Kriegsgefangener an Frankreich stoppen156. Für die schweren Fälle wurde die Repatriierung angeordnet, wovon insgesamt 73.000 Mann betroffen waren. Doch schon im Februar 1946 wurden neue Überstellungen vorgenommen, unter der Bedingung, daß das IKRK die Behandlung auch weiterhin überwachen durfte. Als dieses seiner Aufgabe jedoch erneut gerecht werden wollte und von wenigstens 120.000 deutschen Kriegsgefangenen berichtete, die unter Unterernährung litten, reagierte die amerikanische Armee nur sehr ungehalten und meinte, daß die Situation keine Repatriierungsaktionen rechtfertige, aber sorgfältig beobachtet werde. In einer nicht für das IKRK bestimmten zusätzlichen Notiz wurde außerdem festgehalten, die Berichte des Internationalen Roten Kreuzes seien in der Vergangenheit pessimistisch und überhuman gewesen157. 155 156 157 J.L. Barclay, ebd., Abs. Nr. 1 Gen. Eisenhower an 3. und 7. US-Army, 30.9.1945: "Effective immediately, no transfer of German PW's or DEF's will be made to French custody or into French Zone Germany"; RG 26O/OMGUS POLAD/728/25 A.L. Smith, Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg, Die Entlassung der deutschen Kriegsgefangenen, S. 28 f. 505 IV. 3. Frankreichs Auffassung vom Zweck der Kriegsgefangen schaft: Zwangsarbeit zu Reparationszwecken In Frankreich machte man indessen keinerlei Anstalten, die deutschen Kriegsgefangenen in ihre Heimat zurückzuführen, was ihr Los sicherlich erheblich gemildert und die Amerikaner und Franzosen ihrer Verantwortung entbunden hätte, einmal ganz abgesehen von der sich aus Artikel 75 der Genfer Konvention ergebenden Pflicht zur schnellstmöglichen Heimschaffung der Kriegsgefangenen nach Ende der Feindseligkeiten. Für Frankreich waren die Kriegsgefangenen jedoch nicht, wie es das Völkerrecht schon seit geraumer Zeit vorsah. Sicherheitsgefangene158, die mit dem Ziel festgehalten wurden, sie an der Fortführung des Kampfes zu hindern. Ihre Zurückhaltung wurde vielmehr mit einem ganz neuartigen Sinn und Zweck versehen, mit dem Reparationsgedanken. Für Frankreich gehe es um den Wiederaufbau seiner Wirtschaft, die in den Besatzungsjahren und durch die Kriegshandlungen ruiniert worden sei. Die Nutzung der Arbeitskraft der Gefangenen wurde als lebenswichtige Notwendigkeit für Frankreich angesehen. Schon die Verfasser der Friedensverträge, mit denen der Erste Weltkrieg beendet worden sei, hätten auf die früher üblichen Kriegsentschädigungen verzichtet und stattdessen von den Besiegten Beiträge zur Beseitigung der Zerstörungen gefordert, deren verantwortliche Urheber sie zu einem großen Teil gewesen seien. Es sei der Gedanke der "gerechten Reparation" entstanden, die von den Mächten geleistet werden müßten, die den Krieg verloren hätten. Die Notwendigkeit solcher Reparationen erachteten die Franzosen nach dem Zweiten Weltkrieg als noch unumgänglicher als nach dem vorangegangenen. Dieses Bedürfnis nach deutschen Reparationsleistungen glaubte Frankreich nicht durch entsprechende Sachleistungen oder Zahlungen befriedigen zu können, da Deutschlands gegenwärtiger Zustand es nicht in die Lage versetze, in absehbarer Zeit die Verpflichtungen 158 506 Vgl. J. Hinz, Das Kriegsgefangenenrecht, S. 52; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 2 (Kriegsrecht), S. 151; Chr. Meurer, Die Haager Friedenskonferenz, 2. Bd. (Das Kriegsrecht der Haager Konferenz), S. 123 zu erfüllen, die man das Recht habe, ihm aufzuerlegen. Aus diesem Grund müsse man auf die Kriegsgefangenen zurückgreifen, die als eine Ergänzung des für den Wiederaufbau der französischen Wirtschaft benötigten Arbeitskräftepotentials galten159. Aus der bloßen Sicherheitsverwahrung wurde somit, nachdem die Fortführung des Krieges ausgeschlossen und der Sicherungsgrund damit entfallen war, ein dem Völkerrecht bis dahin fremder Gesichtspunkt für die Zurückhaltung der Gefangenen entwickelt, der mit dem Sicherheitsgewahrsam nichts mehr zu tun hatte, und eine völkerrechtswidrige Nutzung der Arbeitskraft als reparationspolitische Notwendigkeit kaschierte. In der deutschen zeitgeschichtlichen Forschung ist diese fragwürdige Entwicklung teilweise noch mit Verständnis aufgenommen worden. Kurt W. Böhme hat in seiner Untersuchung über das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen in französischer Hand dazu ausgeführt: "Frankreich - und nicht nur Frankreich allein - ging den kürzesten Weg, als es den völkerrechtlich umstrittenen, jahrelangen Einsatz von Kriegsgefangenen zu Reparationsleistungen beschloß. Verständlich wird diese Haltung, wenn man einige ernsthafte Gesichtspunkte berücksichtigt. Der Zweite Weltkrieg endete ohne Waffenstillstandsvertrag, in dem die Gefangenenfrage geregelt worden wäre. Mehr noch. Am Ende des Krieges gab es im zerstörten Deutschland keine Regierung, mit der über die Wiedergutmachung hätte verhandelt werden können. Die Aussicht auf einen Friedensvertrag war damit in weite Ferne gerückt. Auf ihn zu warten, um die Frage der Wiedergutmachung zu reglementieren, schien den Franzosen angesichts der eigenen wirtschaftlichen Situation nicht vertretbar. So gingen sie, unterstützt von den USA, den Weg, der schnelle und wirksame Hilfe versprach: die Kriegsgefangenen wurden zu Arbeitskräften, um die Kriegsschäden zu beseitigen."160 159 160 K.W. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen in französischer Hand, S. 143 K.W. Böhme, ebd., S. 143 f. 507 Bei einer solchen Argumentation wird jedoch übersehen, daß es für die Kriegsgefangenenfrage gar keiner Vereinbarung - sei es Waffenstillstand oder Friedensvertrag - bedurfte, da sie nach geltenden Völkerrecht gerade in Ermangelung einer gegenteiligen Vereinbarung unmittelbar nach dem Wegfall des Sicherungsgrundes durch die endgültige Einstellung der Feindseligkeiten nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht - in ihre Heimat zu entlassen gewesen wären. Daß die französischen Reparationsforderungen möglicherweise aus den noch vorhandenen deutschen Ressourcen nicht hätten gedeckt werden können, ist eine ganz andere Frage, berechtigte jedoch weder die Franzosen noch die Amerikaner, deutsche Kriegsgefangene noch Jahre nach der militärischen Kapitulation des einen Kriegführenden als billige Arbeitskräfte zu nutzen. Treffender als Böhme hat denn auch sein amerikanischer Kollege Arthur L. Smith die Situation erkannt und beschrieben, die für das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmend war: "Ohne den Schutz durch eine Regierung wurde das Schicksal der Kriegsgefangenen ebenso 'bedingungslos' wie die Kapitulation selbst. ... Die bedingungslose Kapitulation gab den alliierten Mächten den Vorwand, den sie brauchten, um internationale Konventionen zu ignorieren und das Kriegsgefangenen-Problem nach Belieben zu behandeln. "161 IV. 4. Die Vereinigten Staaten bemühen sich um die Rückführung der Kriegsgefangenen Zwar fühlten sich die Vereinigten Staaten auch weiterhin für die aus ihrem Gewahrsam an andere Mächte überlassenen Gefangenen verantwortlich, doch waren ihre Einflußmöglichkeiten auf Frankreich nur äußerst begrenzt. Auch war ihre Verhandlungsgrundlage mit Frankreich nicht die beste, hatten die Amerikaner doch selbst über fast ein Jahr hinweg 161 A.L. Smith, Die deutschen Kriegsgefangenen und Frankreich 19451949, in: VfZG 1984, S. 103 508 die deutschen Kriegsgefangenen in US-Gewahrsam nicht als solche anerkannt und behandelt. Der Druck der Öffentlichkeit, die sich über diese neue Form von "Sklavenarbeit" zu recht immer mehr erbost zeigte, wurde jedoch zusehends stärker. Bei OMGUS verfiel man deshalb auf die Idee, die Rückführung der Kriegsgefangenen damit zu begründen, die Alliierte Reparationskommission habe diese Art Arbeit als Reparationsleistung gar nicht besprochen, so daß die entsprechende Verwendung der Kriegsgefangenen gar nicht gerechtfertigt sei. In einem Bericht vom 20. Juni 1946 hieß es demgemäß: "Under the Geneva Convention the United States remains responsible for these prisoners of war even though they have been transferred to another power. It is deemed desirable that these prisoners of war be returned to United States custody through the failure of the Allied Reparations Commission to discuss reparations or rehabilitation labor."162 Frankreich war jedoch nicht das einzige Land, mit dem es wegen der Rückführung der zuvor übergebenen Kriegsgefangenen zu Schwierigkeiten kam. Auch Großbritannien zeigte sich über das amerikanische Rückgabeverlangen alles andere als erfreut. Im USAußenministerium wurde man sich nun langsam der Bedeutung bewußt, die zum Schutz der Kriegsgefangenen deren Regierung oder aber einer unabhängigen internationalen Organisation wie beispielsweise dem IKRK zukommt. In einer Nachricht an Botschafter Robert Murphy im Juni 1946 hieß es, die Erklärung der britischen Regierung, "that the German POWs lacked the protection of any government and were not covered by Geneva Convention has created the new demand that the International Red Cross be authorized to assume the protection of POWs in the United Kingdom in the same manner that protection was exercised by the IRC 162 W.B. Lockling, OMGUS, Office of Political Affairs, "Subject: Staff Study on 'Return to U.S. Custody of German Prisoners of War Transferred to France, Belgium, the Netherlands, and Luxembourg", 20.6.1946; RG 260/OMGUS POLAD/745/38 509 over allied prisoners in German hands before VE-Day. The argument presented ... is that these POWs being without the protection of their own government, are more in need than ever of the protection of some body outside the control of .the Government holding them prisoners."163 Im Sommer 1946 begannen die Vereinigten Staaten und Frankreich mit Verhandlungen über die Repatriierung der Gefangenen. Das Interesse der französischen Regierung war jedoch denkbar gering, da sie so ohne weiteres nicht auf die mit der Gefangenenverwendung verbundenen Vorteile, vor allem wirtschaflicher Art, verzichten wollte. Sie versuchte deshalb, die aufgrund der Wahlen in Frankreich zeitweise ausgesetzten Gespräche nur schleppend wieder in Gang kommen zu lassen164. Auf Bitten der Franzosen vermied US-Außenminister James F. Byrnes lange Zeit jeden offiziellen Schritt in dieser Angelegenheit. Als diese Geheimdiplomatie jedoch ganz offensichtlich fruchtlos blieb, ließ er am 29. November 1946 die diplomatische Vertretung der Vereinigten Staaten in Paris - wie auch in Belgien, Luxemburg und den Niederlanden über eine neue und nachdrücklichere Vorgehensweise unterrichten165. Am 2. Dezember richtete er dann eine offizielle Note an die jeweiligen Regierungen166. Der durch die amerikanische Öffentlichkeit auf die Regierung in Washington ausgeübte Druck wurde von Byrnes als so erdrückend empfunden, daß er keine Alternative zu einem sofortigen Repatriierungsprogramm mehr erkennen konnte167. Die amerikanischen Botschafter wurden von ihrem Außenministerium deshalb mit Argumenten versehen, mit deren Hilfe sie auf ihre Verhandlungspartner einwirken sollten. Zu diesen Punkten gehörte vor allem: "The Geneva POW Convention, both in its letter and spirit, contemplates the re- 163 164 165 163 16 7 510 Harriman an R. Murphy, 5.6.1945; RG 260/OMGUS POLAD/745/38 Vgl. A.L. Smith, VfZG 1984, S. 110 FRUS 1947 III, S. 621 ff. Vgl. J.F. Byrnes, In aller Offenheit, S. 225 FRUS 1947 III, S. 621 patriation of POWs as soon as possible after the cessation of active hostilities. The concept of forced labor is repugnant to the American people. The growing feeling in this country, therefore, is that failure to repatriate POWs who are not charged with war crimes or who are not otherwise ineligible for repatriation is indefensible on moral as well as legal grounds."168 Das waren eindeutige Forderungen, die gar nicht notwendig gewesen wären, hätten die Amerikaner bereits zwei Jahre eher diesen Standpunkt bezogen, weil eine solche Situation dann gar nicht erst eingetreten wäre. Ganz offensichtlich mußte erst die breite Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten, und daneben insbesondere in Großbritannien, sich der Sache annehmen, um auch bei der amerikanischen Regierung eine Rückbesinnung auf die Prinzipien zu erreichen, für die zu kämpfen man während des Krieges angegeben hatte. Die Vereinigten Staaten ersuchten nun die Regierungen der betroffenen Länder, die Repatriierung der Gefangenen, für die die USA verantwortlich seien, bis zum 1. Oktober 1947 abzuschließen169. Während alle anderen Regierungen sich zu diesem Schritt bereitfanden, anerkannte ein Sprecher des französischen Außenministeriums zwar das Recht Washingtons, die Freilassung der 620.000 deutschen Kriegsgefangenen zu verlangen, die die amerikanische Armee Frankreich übergeben habe. Gleichzeitig machte er allerdings Argumente gegen dieses Begehren geltend. Insbesondere verwies er auf die immer noch gespannte französische Ernährungslage und den deshalb nach wie vor bestehenden Bedarf an den 200.000 in der Landwirtschaft eingesetzten Gefangenen, sowie die angebliche Notwendigkeit, 60.000 deutsche Kriegsgefangene weiterhin in den französischen Kohlengruben zu verwenden. Zudem hätten die amerikanischen Delegierten auf der Pariser Reparationskonferenz ein Jahr zuvor die Meinung vertreten, daß die in Frankreich arbeitenden deutschen Kriegsgefange 168 169 FRUS 1947 III, S. 621 f. FRUS 1947 III, S. 622 511 nen einen Teil der deutschen Reparationen an Frankreich abtragen sollten170. IV. 5. Bestrebungen in Deutschland, eine Rückführung der Kriegsgefangenen zu erreichen Länderrat wird aktiv. Das schwere Los der deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich und die Suche nach politischen Möglichkeiten, nachdrücklich auf ihre Entlassung hinzuarbeiten, beschäftigte natürlich auch die mittlerweile wieder geschaffenen öffentlichen Stellen in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Auf deutscher Seite versuchte man von Ende 1946 an, über die amerikanischen Behörden, die die Entlassung der in ihrem Gewahrsam befindlichen deutschen Kriegsgefangenen ohne größere Verzögerung durchgeführt hatten und die Auslieferung "eigener" Kriegsgefangener an Frankreich schon bereuten, Druck auf Frankreich auszuüben. Im Dezember 1946 stellte der Länderrat ein formelles Gesuch an die amerikanische Militärregierung in Deutschland, unter Berufung auf die Genfer Konvention alle deutschen Kriegsgefangenen freizulassen. Die Antwort der Amerikaner erschien durchaus ermutigend. Sie teilten dem Länderrat mit, daß alle Kriegsgefangenen bis Juli 1947 entlassen werden sollten. Außerdem hätten sie Frankreich, Belgien, Holland und Luxemburg aufgefordert, ihre Gefangenen bis Oktober 1947 ebenfalls zu repatriieren. In dieser positiven Haltung der Amerikaner sah der Länderrat "einen bedeutenden Schritt vorwärts" auf dem Weg zur endgültigen Heimschaffung der Gefangenen171. a. Der Der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard hatte bereits kurz vorher die Verwendung erzwungener Kriegsgefangenenarbeit mit völkerrechtlichen Argumenten lautstark vor der amerikanischen Presse moniert: "Es widerspricht dem Völkerrecht, die Kriegsgefangenen zu Arbeitsleistungen zurückzubehalten. Der Sinn der Kriegs- 170 171 512 Keesings Archiv der Gegenwart 1945/46, S. 945 (A); vgl. auch FRUS 1947 III, S. 623 ff. A.L. Smith, Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 61 f. gefangenschaft ist, eine Wiederaufnahme der Kampfhandlungen zu verhindern. Deutschland ist besetzt und entwaffnet. Die Kriegsgefangenen bedeuten also keine Gefahr mehr für die Alliierten. "172 Um die Hilfs- und Wohlfahrtsmaßnahmen für die Kriegsgefangenen zu koordinieren, genehmigte General Clay ein Länder- ratsbüro für Kriegsgefangene. Er bestand jedoch darauf, daß das Büro sich aus allen Angelegenheiten herauszuhalten hätte, die auf internationaler Ebene verhandelt werden müßten173. Die Repatriierungsfrage war der Zuständigkeit des Ausschusses damit entzogen. Rechtsgutachten von Professor Kaufmann. Im Länderrat dachte man deshalb verstärkt darüber nach, wie man in der Kriegsgefangenenfrage internationalen Handlungsspielraum bekommen könnte. Ein möglicherweise erfolgversprechender Weg schien die Anrufung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag zu bieten. Anfang 1947 kam man im Länderrat angesichts der Tatsache, daß weder der Länderrat noch irgendeine andere deutsche Körperschaft berechtigt war, außerhalb ihrer jeweiligen Besatzungszone direkten Kontakt mit einem internationalen Gerichtshof aufzunehmen, auf den Gedanken, einen Appell oder eine Petition über die Besatzungsbehörden laufen zu lassen174. Die rechtliche Fundierung einer derartigen Vorgehensweise wurde dem Völkerrechtler Erich Kaufmann übertragen. Kaufmann rekurrierte in seinem Gutachten "Die Freilassung und Heimschaffung der deutschen Kriegsgefangenen in völkerrechtlicher Beleuchtung"175 gezielt auf den Sinn und Zweck der Kriegsgefangenschaft, die mittlerweile entfallen seien, und die einschlägigen völkerrechtlichen Vorschriften. Zwar mußte Kaufmann zugestehen, daß weder die Voraussetzungen von Art. 2 0 HLKO Vorlagen, der vorsieht, daß die Kriegsgefangenen "nach dem Friedensschluß" binnen kürzester Frist in ihre Heimat b. 172 173 174 175 A.L. Smith, ebd., S. 62 A.L. Smith, ebd., S. 65; über die erfolgreiche Arbeit des Kriegsgefangenenausschusses vgl. ebd., S. 66 ff. A.L. Smith, ebd., S. 189 Abgedruckt in: SJZ 1947, S. 57 ff. 513 entlassen werden sollen, noch den Anforderungen des Art. 75 der Genfer Konvention genüge getan war. Dieser bestimmt nämlich, daß, wenn die Kriegführenden einen Waffenstillstandsvertrag schließen, sie in diesen grundsätzlich Bestimmungen über die Heimschaffung der Kriegsgefangenen aufzunehmen haben, wenn dahingehende Bestimmungen in dem Vertrag nicht aufgenommen werden konnten, haben die Kriegführenden demnach sobald wie möglich zu diesem Zweck miteinander in Verbindung zu treten. Auf alle Fälle hat die Heimschaffung der Kriegsgefangenen innerhalb kürzester Frist nach Friedensschluß zu erfolgen. Die Autoren dieser Vorschriften waren wie selbstverständlich davon ausgegangen, daß Kriege der bisherigen politischen und völkerrechtlichen Tradition entsprechend durch einen Waffenstillstand, auf jeden Fall aber durch einen der Beendigung der Feindseligkeiten alsbald nachfolgenden Friedensvertrag beendet würden. Eine rechtlich so völlig offene Situation wie die 1945 entzog sich ihrem Vorstellungsvermögen . Kaufmann stützte sich zunächst auf die Präambel der HLKO. Dort heißt es, daß es nicht möglich war, sich schon jetzt (1899/1907) über Bestimmungen zu einigen, die sich auf alle in der Praxis vorkommenden Fälle erstrecken, daß es aber nicht die Absicht der vertragschließenden Parteien sein konnte, daß die nicht vorgesehenen Fälle in Ermangelung einer schriftlichen Abrede der willkürlichen Beurteilung der militärischen Befehlshaber überlassen bleiben dürften und die Vertragsparteien es daher für zweckmäßig hielten, daß in den Fällen, die in den Bestimmungen der HLKO nicht einbegriffen sind, die Bevölkerung und die Kriegführenden unter dem Schutz und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts bleiben, wie sie sich ergeben aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens. Kaufmann meinte vor dem Hintergrund dieser Forderungen: "Geht man von diesen Grundsätzen aus, so wird es nicht nur in Deutschland, sondern auch im alliierten Lager, nicht wenige geben, die die Entlassung der deutschen Kriegsgefangenen mehr als 1 1/2 Jahre nach dem Ende der Kriegshandlungen als den Gesetzen der Menschlichkeit und den Forderungen des öffentlichen Gewissens entsprechend halten werden." 176 Aber auch das Genfer Abkommen selbst bot für Kaufmann Fingerzeige in diese Richtung. Es liege nahe, so Kaufmann, das, was Artikel 75 der Genfer Konvention den beiden Kriegführenden als Pflicht auferlege, auch als den siegreichen Mächten, vor denen die deutsche Wehrmacht kapitulieren mußte, als Pflicht auferlegt anzusehen. Und wenn der zweite Satz des Artikel 75 sogar für den Fall eines die Kriegshandlungen nur unterbrechenden Waffenstillstands den Kriegführenden die Pflicht auferlege, "sobald als möglich" zwecks Freilassung der Kriegsgefangenen in Verbindung zu treten, dann liege es ebenfalls nahe, im Falle einer Kapitulation von dem Sieger zu erwarten, daß er von sich aus zur Freilassung und Heimschaffung schreite, da dies ja gerade wegen der Kapitulation ohne jede Gefährdung militärischer und sogar ohne Gefährdung legitimer politischer Interessen möglich sei 177. Kaufmann verwies weiterhin auf die Überschrift von Artikel 75, die zwar keine normative Kraft habe, aber anerkanntermaßen zur Auslegung der von der Überschrift gedeckten Rechtsnormen herangezogen werden dürfe und herangezogen werden müsse, wenn die Frage auftauche, ob die betreffenden Rechtsnormen einengend oder ausdehnend zu interpretieren seien. Die Überschrift von Artikel 75 spricht von "Freilassung und Heimschaffung nach Beendigung der Feindseligkeiten", so daß hier weder auf einen Waffenstillstand noch einen Friedensvertrag abgestellt wird, sondern bloß die rein tatsächliche "Beendigung der Feindseligkeiten" für die Repatriierungspflicht maßgeblich ist. Daß bei einer bedingungslosen Kapitulation die Feindseligkeiten beendet seien, also auch eine militärische Verwendung der Gefangenen nicht 176 177 E. Kaufmann, ebd., S. 59 E. Kaufmann, ebd. 515 in Frage komme und ein Widerstand gegen die vom Sieger zu fordernden Friedensbedingungen nicht mehr möglich sei, meinte Kaufmann, bedürfe keiner weiteren Ausführung178. Das gleiche Ergebnis, eine bestehende Freilassungs- und Repatriierungspflicht der noch immer deutsche Kriegsgefangene zurückhaltenden alliierten Mächte, folgerte Kaufmann auch im Hinblick auf den traditionellen Sinn und Zweck der Kriegsgefangenschaft. Er schrieb dazu in seinem Gutachten: "Die Kriegsgefangenschaft ist eben nach hervorragenden Autoritäten des Völkerrechts lediglich Sicherheitshaft, die bewirken soll, daß der gefangene Soldat außer Gefecht gestellt ist und bleiben soll, um das Kriegspotential des Gegners für die Dauer der Feindseligkeiten zu schwächen. Die Heranziehung der Arbeitskraft der Kriegsgefangenen zur Ergänzung mangelnder eigener Arbeitskräfte, oder gar der von Bundesgenossen, nach Beendigung der Feindseligkeiten dürfte als ein nicht im Sinne des Instituts liegender Mißbrauch anzusehen sein." 179 Kaufmann konnte sich zur Zementierung dieser in der modernen völkerrechtlichen Literatur einhellig geteilten Auffassung sogar auf das Urteil des Internationalen Militärgerichts in Nürnberg berufen. Dieses hatte eine Aussage von Admiral Canaris aus dem Jahre 1941 rechtlich zu würdigen gehabt. Canaris hatte ausgeführt: " (Die Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts über die Behandlung von Kriegsgefangenen) haben sich seit dem 18. Jahrhundert dahin gefestigt, daß die Kriegsgefangenschaft weder Rache noch Strafe ist, sondern lediglich Sicherheitshaft, deren einziger Zweck es ist, die Kriegsgefangenen an der weiteren Teilnahme am Kampf zu verhin- 178 179 180 516 E. Kaufmann, ebd., S. 60 E. Kaufmann, ebd. K. Heinze/K. Schilling, Die Rechtsprechung der Nürnberger Militärtribunale, S. 41 Diese Protesterklärung von Canaris, die sich damals gegen die völkerrechtswidrige Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener gerichtet hatte, gab nach Auffassung des Nürnberger Gerichts "die rechtliche Lage richtig wieder"181. Auf der Grundlage dieser überzeugenden Rechtsauffassung, die insbesondere auch der Präambel der HLKO umfassend gerecht wurde, war die alsbaldige, ja die sofortige Heimschaffung der noch in alliiertem Gewahrsam befindlichen deutschen Kriegsgefangenen fast zwei Jahre nach der militärischen Kapitulation ein völkerrechtlich zwingender Schritt. Die entgegenstehenden politischen Erwägungen der Gewahrsamsmächte erschwerten jedoch auch weiterhin eine völkerrechtskonforme Lösung der Kriegsgefangenenfrage. IV. 6. Repatriierung der Kriegsgefangenen aus Frankreich Nach einigem diplomatischen Hin und Her kam es am 11. März 1947 endlich zu einem amerikanisch-französischen Abkommen, das zwei Tage später vom französischen Außenministerium veröffentlicht wurde. Danach hatten die Franzosen zu diesem Zeitpunkt noch 630.000 deutsche Kriegsgefangene unter ihrer Kontrolle, von denen 450.000 zuvor aus amerikanischem Gewahrsam überführt worden waren. Fast allen deutschen Kriegsgefangenen sollte ein Angebot unterbreitet werden, verbunden mit einer Überlegungsfrist von drei Monaten, das ihnen die Wahl gab, entweder weiter Kriegsgefangener zu bleiben, um dann nach einem festgelegten Zeitplan repatriiert zu werden, oder aber - auf freiwilliger Basis - einen Arbeitsvertrag zu unterzeichnen. Diejenigen, die sich entschieden, weiterhin Kriegsgefangene bleiben zu wollen, sollten in monatlichen Kontingenten von mindestens 20.000 Mann nach Deutschland zurückgebracht werden182. Eine abschließende Gesamtregelung über die Heimschaffung der deutschen Kriegsgefangenen wurde dann am 23. April 1947 auf der Außenministerkonferenz in Moskau zwischen den 181 182 K. Heinze/K. Schilling, ebd., S. 42 FRUS 1947 III, S. 629 f. 517 Vertretern der USA, der Sowjetunion, Frankreichs und Großbritanniens erreicht. Sie sah vor, bis zum 31. Dezember 1947 alle ehemaligen Angehörigen der deutschen Wehrmacht und der angeschlossenen Organisationen zu entlassen183. Zwar wurde am 13. Dezember 1948 offiziell von französischer Seite verkündet, die letzten deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich hätten fünf Tage zuvor die Heimreise angetreten, doch stimmte das nur bedingt. Von der Repatriierung blieben bestimmte Kreise nach wie vor ausgenommen: Kriegsgefangene, die ein Kriegsverbrechen begangen hatten oder eines solchen verdächtigt wurden, die Angehörigen der Waffen-SS und von Organisationen, die im Nürnberger Prozeß für verbrecherisch erklärt worden waren (sog. "gesperrte Einheiten") sowie NSDAP-Funktionsträger einschließlich der Blockleiter184. IV. Verwendung deutscher Kriegsgefangener im Minenräumdienst Die amerikanischen Überstellungen an Frankreich geschahen vor allem mit dem Ziel, die deutschen Kriegsgefangenen in der Wiederaufbauarbeit einzusetzen. Dabei waren sich die zuständigen US-Offiziere aber auch darüber im klaren, daß diese ihrer Verantwortung anvertrauten Gefangenen nicht nur im landwirtschaftlichen Bereich tätig werden sollten, sondern viele von ihnen auch im Minenräumdienst Verwendung finden würden. Ein Oberst der Armed Forces Division von OM- GUS meinte dazu im August 1947: "In regard to the prisoners of war transferred to the French authorities, be advised that these prisoners were on a loan basis for the purpose of rehabilitating areas destroyed by the former German Wehrmacht and for clearing danger areas such as mine fields ... . It is considered that this 183 K.W. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen in französischer Hand, S. 130; US-Außenminister Byrnes zeigte sich später mit diesem Ergebnis unzufrieden, da der von den USA zunächst anvisierte Entlassungszeitpunkt (1.10.1947) um mehr als ein Jahr überschritten wurde: "... wir hätten darauf bestehen sollen, daß Frankreich die Gefangenen, für die wir verantwortlich waren, bis zum 31. Oktober 1947 entließ.", J.F. Byrnes, In aller Offenheit, S. 226 184 K.W. Böhme, ebd., S. 132 f. 518 work is a proper function of responsible for the devastation."185 those Schon im Sommer 1945 stellte sich die amerikanische Militärregierung in Deutschland die Frage, ob eine Verwendung von Kriegsgefangenen im Minenräumdienst völkerrechtlich zulässig sei. Gegen die Legalität dieser Tätigkeit sprach insbesondere Artikel 32 der Genfer Konvention, nach dem gefährliche Arbeiten, und unter diesen Begriff fiel die Minenbeseitigung zweifellos, verboten waren. In einer Studie vom 3. Juni 1945 machte deshalb Oberstleutnant Ray Adams von der Policy Branch, G-1, SHAEF Bedenken gegen eine solche Nutzung der deutschen Kriegsgefangenen geltend. Er empfahl, statt der Kriegsgefangenen DEF für diese Arbeiten heranzuziehen, da diese weder unter die Genfer Konvention noch unter die HLKO fielen186. Die alliierten Planer in der EAC hatten aber auch für die Beantwortung dieser Fragestellung bereits Vorkehrungen getroffen. So enthielt die in London entworfene Kapitulations-Urkunde vom 25. Juli 1944 einen Passus über Minenräumarbeiten187, der unverändert in die Berliner Viermächteerklärung übernommen worden war188. Artikel 7 (b) verpflichtete die zuständigen deutschen Behörden, den Alliierten vollständige und ausführliche Auskünfte über Minen, Minenfelder und sonstige Hindernisse gegen Bewegungen zu Lande, zu Wasser und in der Luft zu geben. Diese sollten soweit wie möglich unschädlich gemacht werden. Weiter wurde bestimmt: "Unbewaffnetes deutsches Militärund Zivilpersonal mit der notwendigen Ausrüstung wird zur Verfügung gestellt und zu obigen Zwecken sowie zum Entfernen von Minen, Minenfeldern und sonstigen 185 186 Col. Th.B. Whitted, jr., Acting Director, Armed Forces Div., an Leg. Div., 27.8.1947, Abs. Nr. 3; RG 260/OMGUS 17/55-3/9 Lt. Col. R. Adams, Policy Branch, G-1, SHAEF, "Memorandum for General Barker", "Subject: Use of German PW in Clearing Minefields", 3.6.1945; RG 331 SHAEF, General Staff, G-1 Division, Adm. Sect., Dec. File 1944-45, 383.6/3-18 Employment of Enemy POW 187 188 Vgl. FRUS Malta und Jalta (dt.), S. 109 Vgl. W. Cornides/H. Volle, Um den Frieden mit Deutschland, S. 76 519 Hindernissen nach den Weisungen Alliierten Vertreter eingesetzt."189 der Diese Klausel war ursprünglich darauf gerichtet gewesen, die deutsche Regierung gegenüber den Alliierten zu einem Tätigwerden in diesem Sinne zu verpflichten. Nach welchen Kriterien die deutsche Regierung eine Auswahl der Minen- räumarbeiter vornehmen würde, war offengelassen bzw. ihrer eigenen Entscheidung überlassen worden. Es lag jedoch auf der Hand, daß eine noch existierende Regierung für diese Arbeiten ausgebildetes und auf freiwilliger Grundlage rekrutiertes Personal zur Verfügung gestellt und dadurch Komplikationen mit der Genfer Konvention vermieden hätte. Durch die Absetzung der Regierung Dönitz hatten sich die Alliierten die Möglichkeit eines solchen Vorgehens selbst vereitelt. Dennoch hielt das Außenministerium im Juli 1945 immer noch an der diesbezüglichen Bestimmung der Berliner Erklärung fest, die nun allerdings nicht mehr als Verpflichtung einer deutschen Regierung angesehen wurde, was mangels Existenz einer solchen und aufgrund der Einseitigkeit der Erklärung auch gar nicht möglich war, sondern in eine (einseitige) Ermächtigung für entsprechende Abweichungen von Artikel 32 der Genfer Konvention umgedeutet wurde. Der Stellvertretende US-Außenminister Grew teilte Ansprechpartner bei den europäischen Armeeeinheiten, Murphy, am 17. Juli 1945 mit: seinem Robert "Article 7 (b) of Declaration of June 5, issued at Berlin authorizes employment of German POWs for mine clearance. ... In Department's view, rights Germany may have under previous engagements such as Geneva Convention are superseded by requirements imposed thus upon Germany as a result of unconditional surrender."190 Damit machte Washington den Weg frei für den deutschen Minenräumdienst. In der amerikanischen und britischen Zone 189 190 520 W. Cornides/H. Volle, ebd. Grew an R. Murphy, 17.7.1945; RG 260/OMGUS POLAD/728/24 konzentrierte sich dieser Dienst, der im Sommer 1945 aufgenommen wurde, auf die Räumung von Häfen und Küstengewässern. Dieser Dienst wurde als Besatzungsmaßnahme im Dezember 1947 aufgelöst, die Arbeit ging aber bis 1951 weiter191. Zumindest auf englischer Seite wurde das Minensuchen auf deutschen Minensuchbooten den deutschen Marineangehörigen nicht freigestellt, sondern als normaler militärischer Dienst auf See angesehen, der in Übereinstimmung mit den Kapitulationsbestimmungen durchgeführt werden mußte192. Ähnlich erging es, und dafür waren die Vereinigten Staaten als Übergabenation mitverantwortlich, den deutschen Kriegsgefangenen in französischer Hand. Etwa 40.000 von ihnen wurden, vorwiegend in Frankreich selbst, im Minenräumdienst eingesetzt. Bei ihnen handelte es sich um keine Spezialisten auf diesem Gebiet, auch war ihr Einsatz nicht freiwillig. Sie erhielten zwar zunächst eine Unterweisung, um die Gefahr zu vermindern, doch war die Todesrate erschreckend hoch. Sie lag anfänglich bei etwa 40 Prozent, ging dann - nachdem das IKRK energisch interveniert hatte - auf ungefähr 4 Prozent zurück193. Das IKRK hat später über sein damaliges Tätigwerden folgendes berichtet: "Das Problem (der Minenräumung, d. Verf.) tauchte Anfang 1945 verschärft wieder in Frankreich auf. Die Presse nahm sich seiner an und schrieb, daß die Aufgabe der Minenbeseitigung denen zukäme, die sie gelegt hätten. Das IKRK vermied es, getreu seiner rein humanitären Aufgabe, zu polemisieren oder eine rein juristische These über die Anwendung der Verträge zu verfechten. Es wies die französische Verwaltung auf die Gefahren hin, die 191 192 A.L. Smith, Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 25 H.-L. Borgert, Zur Entstehung, Entwicklung und Struktur der Dienstgruppen in der britischen und amerikanischen Besatzungszone Westdeutschlands 1945-1950, in: ders./W. Stürm/ N. Wiggershaus, Dienstgruppen und westdeutscher Verteidigungsbeitrag. Vorüberlegungen zur Bewaffnung der Bundesrepublik Deutschland, S. 89 ff., 103 193 K.W. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen in französischer Hand, S. 172 ff. 521 eine durch Nichtspezialisten ausgeführte Minenräumung mit sich brächte. Unter den deutschen Kriegsgefangenen, die mit diesen Arbeiten beschäftigt waren, gab es jeden Monat 2000 bei tödlichen Unfällen ums Leben gekommene Opfer. Dies entspricht dem Verhältnis: ein Todesfall auf 5000 Minen. Man konnte leicht daraus schließen, daß eine unter diesen Umständen durchgeführte Minenräumung das Leben von 20.000 Gefangenen kosten würde. Das IKRK bestand auf der Notwendigkeit von Vorsichtsmaßnahmen und zählte diese auf. Dann beauftragte es seine Delegierten, vor allem auf deren Durchführung zu achten. Bei Einhaltung der Maßnahmen verringerte sich die Unfallrate jedesmal, bis sie beinahe bei Null lag."194 Daß das Internationale Rote Kreuz lediglich humanitär argumentierte, um das Los der deutschen Minenräumer einigermaßen zu erleichtern und die Gefahren auf ein Mindestmaß zu beschränken, und nicht auf die entgegenstehenden Vorschriften der Genfer Konvention verwies, auf deren Grundlage die gefährliche Verwendung der deutschen Kriegsgefangenen hätte umfassend eingestellt werden müssen, hatte seinen tieferen Grund in der Tatsache, daß Frankreich nicht bereit war, die juristischen Argumente anzuerkennen. Die Franzosen hatten bereits während des Krieges in Nordafrika Kriegsgefangene zum Minenräumdienst eingesetzt, nachdem die deutsch-italienischen Truppen dort im März 1943 kapituliert hatten. Die dagegen gerichtete Intervention des Delegierten des IKRK bei den zuständigen Behörden in Algier, gestützt auf die einschlägigen völkerrechtlichen Normen, war aber von Frankreich nicht akzeptiert worden. Der IKRK-Vertreter hatte lediglich erreicht, daß die Franzosen zusagten, zukünftig nur noch Soldaten von Pioniereinheiten mit der Minenräumung zu beauftragen195. Diese negativen Erfahrungen, insbesondere die mangelnde Zugänglichkeit Frankreichs für die völkerrechtlichen Argumente, haben das Internationale Rote 194 195 522 IKRK-Report I, S.343; dt. Übersetzung zit. nach: K.W. Böhme, ebd., S. 173 Vgl. IKRK-Report, ebd. Kreuz offenbar bewogen, sich in der ähnlichen Situation nach Kriegsende auf die humanitären Argumente zu beschränken, um für die deutschen Minenräumer wenigstens bessere Arbeitsumstände erreichen zu können. Es besteht aber kein Zweifel, daß das IKRK die zwangsweise Heranziehung deutscher Kriegsgefangener zur Minenräumung als völkerrechtswidrig erachtete. VI. Die Demontage von Industrieanlagen in Deutschland Der Begriff der "Demontage" entstammt ursprünglich der Technik, erhielt nach dem Zweiten Weltkrieg aber auch zunehmend rechtlichpolitische Bedeutung. Man versteht darunter den Abbau und die Wegnahme respektive die Zerstörung von Industriepotential zur Verwirklichung bestimmter Ziele. Zu diesen Zielen zählten insbesondere die Entnahme zum Zweck der Reparationsleistung sowie die Beseitigung des deutschen Rüstungspotentials und Beschränkung der übrigen Industriekapazität aus Sicherheitsinteressen der Siegermächte196. V. 1. Die Bestimmungen des Potsdamer Protokolls Inhalt des Potsdamer Protokolls. Zwar war der MorgenthauPlan einer vollständigen Agrarisierung Deutschlands aus Rücksichtnahme auf das damit verbundene Schicksal auch der anderen europäischen Nachbarländer nicht mehr aktuelle amerikanische Politik im Sommer 1945, doch bestand nach wie vor Einigkeit in den Reihen der Alliierten, daß eine umfassende Demontage der deutschen Rüstungsund Rüstungszulieferungsindustrie und eine Begrenzung und Kontrolle der Friedensindustrie absolute Notwendigkeit sei, um eine zukünftige deutsche Aggression zu vermeiden. Das Potsdamer Protokoll vom 2. August 1945 enthielt deshalb einen umfassenden Katalog von Verboten, Einschränkungen und Kontrollmaßnahmen für die deutsche Nachkriegswirtschaft. Um das deutsche Kriegspotential zu a. 196 H. Maier, Demontage, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, S. 343 523 vernichten, wurde die Produktion von Waffen, Kriegsausrüstung und Kriegsmitteln ebenso wie die Herstellung aller Typen von Flugzeugen und Seeschiffen verboten. Die für die erlaubte Industrie entbehrliche Produktionskapazität war entsprechend dem Reparationsplan entweder zu entfernen oder, falls dies nicht möglich war, zu vernichten. Außerdem legten Truman, Churchill und Stalin fest, das deutsche Wirtschaftsleben sei innerhalb der praktisch kürzesten Frist zu dezentralisieren, mit dem Ziel, die bestehende übermäßige Konzentration der Wirtschaftskraft zu vernichten. Bei der Organisation des deutschen Wirtschaftslebens sei das Hauptgewicht auf die Entwicklung der Landwirtschaft und der Friedensindustrie für den inneren Bedarf (Verbrauch) zu legen. Von besonderer Bedeutung war zudem die Bestimmung, wonach Deutschland während der Besatzungszeit - und ungeachtet der zonalen Einteilung - als eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten sei197. Einen gänzlich anderen Weg als nach dem Ersten Weltkrieg schlugen die Alliierten in der Reparationsfrage ein. Nach den in der Zwischenkriegszeit gemachten Erfahrungen waren sie nun an langfristigen Zahlungen und Entnahmen aus der laufenden Produktion kaum interessiert. Zwar hatten die "Großen Drei" in Jalta als mögliche Reparationsarten neben den Entnahmen aus dem deutschen Nationalvermögen auch noch jährliche Warenlieferungen aus der laufenden Produktion und die Verwendung deutscher Arbeitskräfte festgelegt198, doch wurden diese beiden letzten Punkte im Potsdamer Protokoll nicht mehr aufgeführt. Die Reparationsansprüche der Sowjetunion sollten durch Entnahmen aus der von ihr besetzten Zone und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben befriedigt werden. Die Reparationsansprüche der Vereinigten Staaten und Großbritanniens sowie aller anderen zu Reparationsansprüchen berechtigter Länder sollten aus den westlichen Zonen und ebenfalls aus deutschen Auslandsguthaben erfüllt werden. Darüber hinaus wurde in 197 198 524 W. Cornides/H. Volle, Um den Frieden mit Deutschland, S. 82; E. Deuerlein, Potsdam 1945, S. 357 W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 57 Potsdam vereinbart, die Sowjetunion erhalte aus den westlichen Zonen zusätzlich 15 Prozent der verwendungsfähigen und vollständigen industriellen Ausrüstung, vor allem der metallurgischen, chemischen und Maschinen erzeugenden Industrien, soweit sie für die deutsche Friedenswirtschaft unnötig und aus den westlichen Zonen Deutschlands zu entnehmen seien. Dafür sollte die UdSSR einen entsprechenden Wert an Nahrungsmitteln, Kohlen, Kali, Zink, Holz, Ton- und Petroleumprodukten sowie anderen Waren auf Austauschbasis zur Verfügung stellen. Dazu kamen noch weitere 10 Prozent der für die deutsche Friedenswirtschaft unnötigen, aus den westlichen Zonen zu entnehmenden und auf Reparationskonto an die Sowjetregierung zu übertragenden industriellen Ausrüstung, ohne daß dafür eine Bezahlung oder Gegenleistung anderer Art erbracht werden sollte199. Unklare Verwendung der völkerrechtlichen Terminologie. Die begriffliche Unterscheidung der Entnahmen aus der deutschen Wirtschaft anhand völkerrechtlicher Kategorien war vor, während und nach Potsdam jedoch nie so eindeutig, wie es der Text des Potsdamer Protokolls vermuten läßt. So hatten die alliierten Delegationen schon auf der Moskauer Reparationskonferenz keinen Konsens darüber erzielen können, was eigentlich unter Reparationen, Restitutionen und Kriegsbeute zu verstehen war200. Die sowjetischen Verhandlungsführer in Potsdam legten besonderen Nachdruck auf den Terminus "Kriegsbeute", dem sie eine Interpretation beigaben, der eine möglichst große Zahl Demontageobjekte umfaßte, um sie so einer Anrechnung auf das Reparationskonto zu entziehen. Unter "Kriegsbeute" fielen bei ihnen alle Fabriken und Maschinen, die Kriegsmaterial erzeugt hatten, sowie das gesamte der deutschen Wehrmacht b. 199 W. Cornides/H. Volle, ebd., S. 84; E. Deuerlein, Potsdam 1945, S. 360; vgl. auch W. Benz, Wirtschaftspolitik zwischen Demontage und Währungsreform, in: Westdeutschlands Weg zur Bundesrepublik: 19451949, S. 70, der bemerkt, gegenüber dem in Potsdam beschlossenen Reparationsprogramm habe sich der 26 Jahre zuvor diktierte Versailler Vertrag "geradezu harmlos aus(genommen)". 200 0. Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber Deutschland 1941-1945, S. 173 525 gehörende Eigentum. Selbst das von den Vertriebenen zurückgelassene Privateigentum wollten sie unter diesen Begriff subsumieren201. Dies widersprach ganz offensichtlich dem völkerrechtlichen Beutebegriff. Die HLKO kennt ein Beuterecht zur Bereicherung des Militärs nicht mehr. Artikel 53 HLKO gestattet dem Besatzungsheer lediglich, das bare Geld und die Wertgegenstände des Staates sowie die dem Staat zustehenden kontrollierbaren Forderungen, die Waffenniederlagen, Beförderungsmittel, Vorratshäuser und Lebensmittelvorräte zu beschlagnahmen, wie überhaupt alles bewegliche Eigentum des Staates, das geeignet ist, den Kriegsunternehmungen zu dienen. Hieraus ergibt sich aber gleichzeitig auch die zeitliche Einschränkung für die Zulässigkeit des Erwerbs von Kriegsbeute: das Beuterecht besteht nur bis zum Ende der Kampfhandlungen. Wenn Kriegsunternehmungen nicht mehr erforderlich sind, kann Beute an feindlichem Staatseigentum im Sinne des Artikels 53 I HLKO nicht mehr gemacht werden. Die gleiche Einschränkung gilt auch für die Beute von Privateigentum unter den Voraussetzungen des Artikels 53 II HLKO202. Dennoch hielten auch die amerikanischen Truppen bei ihren Eigentumsentnahmen in Deutschland auch nach dem Mai 1945 am Begriff der "Kriegsbeute" fest. Das Kriegsministerium stellte sich zur Differenzierung beider Kategorien auf den Standpunkt, daß das ganze weggenommene feindliche Kriegsmaterial Kriegsbeute sei. Andere Materialien könnten als Reparationen angesehen werden203. Die Gesamtentnahmen wurden Ende März 1947 auf 89.579.000 Dollar beziffert, von 201 202 203 526 Vgl. F. Faust, Die wirtschaftliche und politische Einheit Deutschlands im Potsdamer Abkommen, in: F. Klein/B. Meissner (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, 1. Teil: Geschichte und rechtliche Grundfragen, S. 128 Vgl. nur H. Maier, Demontage, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, S. 345; K.E. von Turegg, Deutschland und das Völkerrecht, S. 118 f. H.C. Petersen, Ass. Secr, of War, an J.H. Hilldring, Ass. Secr, of State, 31.3.1947; RG 107 ASW (Formerly-Security Classified Correspondence of Howard Petersen, Dec. 1945-Aug. 1947) 383.6 Captured Property denen nur ein geringer Teil (7.336.000 Dollar) als Reparationen angesehen wurden. Eine genaue Zuordnung war bei Eigentum im Wert von 2.201.000 Dollar nicht möglich. Der ganz überragende Teil der Eigentumsentnahmen (80.042.000 Dollar) wurde unter den Begriff "Kriegsbeute" gefaßt204. Ähnlich ging auch die französische Besatzungsmacht vor, die unter dem Titel "Beute" selbst Rohstoffe und solche Erzeugnisse entnahm, die nicht nur aus dem allgemein anerkannten Beutebegriff, sondern auch aus dem von der Militärregierung in eigenen Erlassen selbst gesteckten definitorischen Rahmen klar herausfielen205. Ein Teil der als Kriegsbeute deklarierten Entnahmen war jedoch soweit es sich um Kriegsmaterial und Produktionsstätten für solches handelte, die keinem friedlichen Zweck zugeführt werden konnten - dadurch völkerrechtlich gerechtfertigt, daß ihre Zerstörung oder Entfernung aus Sicherheitsgründen für die Alliierten unumgänglich war. Die HLKO setzt der Besatzungsmacht keine engen Grenzen, wenn es um den Schutz ihrer militärischen Interessen geht, und auch Artikel 43 HLKO verpflichtet die Besatzungsmacht Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung im besetzten Gebiet wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten. Aus diesen Erwägungen heraus waren etliche Maßnahmen der Demontage, soweit sie Waffenund Waffenproduktionsstättenzerstörung betrafen, völkerrechtlich zulässig206. 204 205 206 Lt. Gen. L.R. Lutes, Director of Service, Supply and Procurement, "Summary", "Property Removed from Germany by the U.S. Army", 31.3.1947, Abs. Nr. 1. e; RG 107 ASW (Formerly- Security-Classified Correspondence of Howard Peterson, Dec. 1945-Aug. 1947) 383.6 Captured Property K.-D. Henke, Politik der Widersprüche, in: VfZG 1982, S. 520, der hinzufügt, der Sache nach habe es sich um "vorweggenommene Reparationen" gehandelt. Vgl. M. Antoni, Das Potsdamer Abkommen - Trauma oder Chance?, S. 202 f., 224 ff.; J. Hacker, Die Entmilitarisierungs- Bestimmungen des Potsdamer Abkommens, in: B. Meissner/Th. Veiter (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, 2. Teil: Berliner Deklaration und Sonderfragen, S. 84 f. 527 VI.2. Der erste Industrieniveauplan. März 1946 a. General Clays Einstellung zu den Demontagen. Nachdem die drei Hauptsiegermächte in der Wirtschafts- und Reparationspolitik in Potsdam trotz aller terminologischer und politischer Gegensätze doch noch zu einer Vereinbarung gefunden hatten, der sich später auch Frankreich - unter Erhebung etlicher Vorbehalte grundsätzlich anschloß207, hatte der Kontrollrat sechs Monate Zeit, einen Industrieplan aufzustellen, der die "überflüssige" Industriekapazität definieren, die zur Demontage bereitstehenden Anlagen benennen und die Verteilung unter den Reparationsempfängern festlegen sollte. Für den Stellvertretenden US-Militärgouverneur, General Lucius D. Clay, waren Demontagen jedoch nicht nur ein Mittel, den alliierten Nationen Kriegsentschädigung für die erlittenen Verluste zukommen zu lassen oder Maßnahmen im Interesse der alliierten Sicherheit durchzuführen. Ende August 1945 verteidigte er vor den Regionalchefs der Militärregierung die Demontagen als notwendiges Mittel, um den Deutschen ihre Kriegsschuld zu demonstrieren. Für das Erreichen dieses Zwecks nahm er sogar in Kauf, daß darunter der Wille zu einer demokratischen Selbstverwaltung leiden werde208. Einigen Beamten im amerikanischen Militärregierungsapparat kamen bereits frühzeitig erhebliche Bedenken, daß der umfassende Abtransport deutscher Industrieanlagen in die befreiten Gebiete zu einer gravierenden Störung der Produktion führen und wahrscheinlich den Lebensstandard aller Beteiligten herabdrücken werde. Sowohl Außen- als auch Kriegsministerium unterstützten Clay jedoch in seiner Auffassung, das Potsdamer Abkommen könne und müsse wie geplant vollzogen werden. Zu diesem Zweck erhielten die Sowjets erheblich höhere Vorauslieferungen aus den Westzonen (50 Prozent) als ihnen aufgrund des Abkommens zustanden (insgesamt nur 25 Prozent). Der enge Kontext 207 208 528 Zur rechtlichen Bindung Frankreichs an das Potsdamer Abkommen: M. Antoni, ebd., S. 45 f. W. Krieger, General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik 1945-1949, S. 134 f. zwischen den Demontagen bzw. Reparationsleistungen einerseits, dem deutschen Lebensstandard andererseits war offensichtlich. Clay wollte keiner dieser beiden Militärregierungs-Aufgaben jedoch den Vorrang einräumen. Auf einer Pressekonferenz am 12. Oktober 1945 machte er sich noch einmal für die Demontage eines großen Teils der deutschen Schwerindustrie stark und fügte hinzu, ein Lebensstandard, der Massenelend verhindere, müsse von den Deutschen selbst erarbeitet werden209. Inhalt des Industrieniveauplans. Die Verhandlungen im Alliierten Kontrollrat über den Industrieniveauplan dauerten annähernd zwei Monate länger, als es im Potsdamer Abkommen vorgesehen war. Hauptstreitpunkt, der die Gespräche so über Gebühr schwierig gestaltete, war insbesondere die Höhe der Deutschland nach dem Ende der Demontagen zu belassenden Stahlproduktions-Kapazität. Großbritannien wollte zu Beginn der Verhandlungen eine Kapazität zur Herstellung von 10,5 Millionen Tonnen Rohstahl zugestehen, während die Sowjetunion 4,6 Millionen Tonnen als ausreichend ansah210. Der dann am 28. März 1946 vom Kontrollrat bekanntgegebene Industrieniveauplan211 sah eine Reduzierung der gesamten industriellen Tätigkeit Deutschlands auf 50 bis 55 Prozent des Wertes von 1938 vor. Als zu erreichende Ziele proklamierte der Plan die Eliminierung des deutschen Kriegspotentials und die industrielle Abrüstung Deutschlands, die Leistung von Reparationen an die Länder, die unter der deutschen Aggression gelitten hatten, die Entwicklung der Landwirtschaft und der friedensmäßigen Industrien in Deutschland sowie die Erhaltung eines mittleren europäischen Lebensstandards. Der Plan setzte voraus, daß die deutsche Nachkriegsbevölkerung 66,5 Millionen Menschen zählte, die vier Mächte Deutschland als wirtschaftliche Einheit behandelten und die deutschen Exporte auf den internationalen a. 209 210 211 W. Krieger, ebd., S. 135 f. Vgl. zu den langwierigen und kontrovers geführten Auseinandersetzungen: F. Jerchow, Deutschland in der Weltwirtschaft 1944-1947, S. 195 ff. Text in: G. Stolper, Die deutsche Wirklichkeit, S. 330 ft.; vgl. auch F. Jerchow, ebd., S. 202 ff. 529 Märkten akzeptiert würden. Zu den verbotenen Industrien und Industrieerzeugnissen gehörten unter anderem alle Kriegsmaterialien, einschließlich Flugzeugbau, alle Seeschiffe, schwere Werkzeugmaschinen, synthetisches Benzin, Öle und Gummi, Magnesium und Rohaluminium. Viele andere Zweige wurden mit Produktionsbeschränkungen belegt, darunter eine Reihe von Chemikalien, Maschinenbau, Traktoren für die Landwirtschaft, Lkw und Pkw, Kohle, Gummi, Papier, und selbst Schuhzeug wurde mit einer Höchstkapazität festgelegt. Trotz der großen Bedenken der Briten, die bei einem niedrigen Stahlproduktionsausstoß verhehrende Folgen für den deutschen Lebensstandard fürchteten, wie auch für die Wirtschaftsentwicklung Gesamteuropas, einigten sich die Alliierten, bei der Ermittlung des erlaubten Industrieniveaus eine Stahlproduktion von nur 5,8 Millionen Tonnen pro Jahr zugrundezulegen, die Produktionskapazität auf 7,5 Millionen Tonnen zu beschränken und alles darüber hinausgehende zur Demontage freizugeben212. c. Scheitern der "wirtschaftlichen Einheit" Deutschlands Industrieabbau und Versorgungsprobleme. Hatte